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Muelheimia_#3_2019_web

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17 <strong>#3</strong> September <strong>2019</strong> Mülheimia Quarterly Stadt. Kultur. Soziales<br />

Jahrzehnte aufgebaute Plattensammlung. An einem solchen<br />

Privatstand versuche ich mein Glück, denn auch ich<br />

bin auf der Suche nach einer ganz bestimmten Platte von<br />

der australischen Indie-Band „The Go-Betweens“, populär<br />

vor allem in den 80ern. Inhaber des kleinen Standes<br />

ist Marvin, ein sympathischer Mitte-Zwanzigjähriger. Er<br />

muss aber trotz seines bunten Angebots von Jazz, Rock,<br />

Funk, Soul usw. auf meine Nachfrage leider passen. Fündig<br />

werde ich auch nicht am nächsten Stand, mit einem<br />

etwas üppigeren Angebot, übersichtlich sortiert und<br />

liebevoll von Hand ausgezeichnet nach Fächern, etwa für<br />

Kraut, Progressive, Beatles und Soundtrack. Viele Platten<br />

zum sagenhaften Preis von drei oder fünf Euro. Für den ca.<br />

50 Jahre alten sympathischen Spediteur ist das Verkaufen<br />

nur ein Hobby. Nur so zum Spaß stoße er Teile seiner<br />

ständig wachsenden Sammlung ein bis zweimal im Monat<br />

am Wochenende auf den Börsen ab und verdiene dabei<br />

jeweils so 150 bis 200 €. Ich versuche meine Erfolgsaussichten<br />

zu steigern und steuere den imposantesten Stand<br />

der Börse an. Auf 14 Meter Länge finden sich zehntausende<br />

Platten aus allen Musikrichtungen und -epochen. Der<br />

Herr dieses Imperiums nach eigenen Aussagen fast ein<br />

„Global Player“. Weltweit sei er als „Adrenalin-Mensch“<br />

seit zwanzig Jahren mit seinen derzeit ca. 100.000 Platten<br />

auf jährlich ca. 50 Plattenbörsen und -messen bis ins<br />

ferne Kanada unterwegs (er betont, dass er zwei Kinder<br />

habe). Auf die jährlich größte Schallplattenmesse in<br />

Utrecht/Holland reise er mit sechs Mitarbeitern und zwei<br />

bis drei LKWs an. Die Go-Betweens kennt er natürlich, die<br />

von mir ersehnte Scheibe hat er jedoch nicht im Portfolio.<br />

Da ich mich als Jazzliebhaber geoutet habe, bietet er mir<br />

stattdessen zum Trost eine sehr rare südafrikanische<br />

Erstpressung von Dollar Brand aus den 70er für 1.100 € an,<br />

was ich freundlich dankend ablehne. Das sei noch lange<br />

nicht seine teuerste Platte; für einen hohen vierstelligen<br />

Betrag, raunt er, könne ich auch eine seltene deutsche<br />

Beatles-Platte erwerben.<br />

Ich verabschiede mich und sehe zu, dass ich mich rasch<br />

zu einem meinem bescheidenen Budget adäquateren<br />

Stand bewege. Immerhin entdecke ich nebenan die erste<br />

Platte von den Go-Betweens auf der Börse, „The friends of<br />

Rachel Wood“ für schlappe 100 €. Den recht hohen Preis<br />

erklärt mir fast entschuldigend der Verkäufer damit, dass<br />

es sich um einen Erstdruck in kleiner Auflage aus den 90er<br />

handele. Das Sammlerherz bringt diese Mitteilung zwar<br />

leicht zum Erzittern, aber es ist gerade nicht die gesuchte<br />

Platte; sie wurde mir kurz zuvor vor der Nase weggekauft,<br />

so der Verkäufer. Nach der vergeblichen fast einstündige<br />

Suche gilt es nun, flexibel Frustkäufe vermeidend nach<br />

Alternativen zu graben. Es muss nicht unbedingt eine<br />

Platte sein, die unter die Kategorie „Mint“ fällt (absolut<br />

neuwertiger Zustand, im Idealfall noch versiegelt – „sealed“<br />

- oder ungespielt), es reicht allemal ein „Very Good“<br />

(VG), bei der sich die Gebrauchsspuren in Grenzen halten.<br />

An manchen Ständen im Belagerungszustand ist nur<br />

schwer eine Lücke zu finden. Dort knubbelt sich das bunte<br />

Volk: Frauen mit Dreadlocks im coolen Hippie-Outfit<br />

stöbern lässig nach alten Soulscheiben, Metallfans mit<br />

langen ergrauten Haaren fingern mit stoischer Ruhe nach<br />

obskurem Heavy-Metall-Material und der etablierte Kenner<br />

will seine umfangreiche Sammlung mit einer äußerst<br />

raren (und teuren) Jazzplatte von Coltrane krönen. Doch<br />

ich warte geduldig bis ich an der Reihe bin. Musikgeschmacklich<br />

breit aufgestellt, werde ich auch irgendwann<br />

fündig. Aretha Franklins berühmte Live-Aufnahme in<br />

einer Kirche „Amazing Grace“ hatte ich schon lange im<br />

Auge; zudem fülle ich wieder eine Lücke in meiner breiten<br />

„Neil-Young-Sammlung.“ Dies muss für heute reichen,<br />

schont auch einigermaßen den Geldbeutel. Auch andere<br />

sind zurückhaltend: Schon vom Verkäufer herabgesetzte<br />

40 Euro für den Klassiker von Deep<br />

Purple „Made in Japan“ ist meinem<br />

Nebenmann immer noch entschieden<br />

zu teuer. Und auf Massenankauf bin<br />

ich nicht aus, obgleich die Angebote<br />

verlockend sind („vier für zehn Euro“).<br />

Beim Herausgehen treffe ich einen älteren<br />

Mann mit hochrotem Gesicht und<br />

einer beeindruckenden Sammlung von<br />

Stones- und Beatles-Platten auf dem<br />

Arm, die er an einen der Profi-Händler<br />

im Saal verkaufen wollte. Mit unverkennbarem<br />

kölschen Akzent mault er:<br />

drinnen seien nur „Kniesköpp“, die<br />

ihn „verarschen“ wollten; 200 Euro für<br />

seine 30 Platten habe niemand zahlen<br />

wollen. Zehn Euro habe man ihm maximal<br />

für die Sammlung geboten, da<br />

verkaufe er sie lieber im Netz.<br />

Der Fluch der Moderne: Die Flucht vor der Realität ins<br />

Internet. Als stets verfügbare Alternative hat dieses aber<br />

auch seine Nachteile. Bieten die Plattenbörsen doch jede<br />

Menge sinnliche Erfahrungen (Fühlen, Riechen, Sehen) –<br />

nur der „Hörtest“ unterbleibt leider – und unmittelbare<br />

freundliche Kommunikation mit gleichgesinnten Liebhabern<br />

und Kennern von Pop-, Rock- und Jazzmusik in<br />

allen Spielarten in der Gemeinschaft der „Börsianer*innen.<br />

Wer Vinyl über Internet bestellt, etwa bei discogs<br />

(vgl. auch Überblick auf: https://www.musikexpress.de/<br />

vinyl-im-netz-die-besten-vinyl-online-portale-im-ueberblick-343051/),<br />

ist selber schuld: Er kauft, bezüglich<br />

des Zustandes der Platte und der Hülle, die ,Katze im Sack‘.<br />

Wer das Echte mag und nicht drei Monate bis zur nächsten<br />

Plattenbörse in der Stadthalle warten möchte, der ist in<br />

Köln auch zwischenzeitlich gut versorgt. Das „Magazin<br />

für Vinyl-Kultur“, die Monatszeitschrift „Mint“, listet in<br />

ihrem „Großen Platten-Guide fürs Rheinland“ (Ausgabe<br />

7/2018) allein für Köln siebzehn Plattenläden auf (nur für<br />

Mülheim fehlt noch einer...).<br />

Was macht die Faszination des Vinyls aus, die den<br />

Plattenbörsen und Recordstores einen solchen Hype<br />

verschafft hat? Kann man doch an sich jedes gewünschte<br />

Stück in Sekundenschnelle streamen und anhören.<br />

Zunächst sicher der warme, geschmeidige Sound, der uns<br />

von Platte aus den Lautsprechern herausströmend wohlig<br />

umfängt und dem nichts Sauberes und Glattes anhaftet.<br />

Das Knistern und Rauschen als Begleitmusik nimmt man<br />

dabei fast gerne in Kauf, wie auch Kratzer, die wir alle<br />

auch abbekommen, hat man mal ein paar Lebensjahre<br />

auf dem Buckel. Wer die Mühen der Ebenen des Ankaufs<br />

auf sich nimmt, entreißt zudem seine spezielle Musik der<br />

Beliebigkeit und ständigen Verfügbarkeit und macht sie<br />

zu etwas Besonderem. Sie berührt uns mehr, wir fühlen<br />

uns mit ihr, auch vermittelst eines greifbaren, sorgsam<br />

gehüteten Objekts, enger verbunden. Hinzukommt der<br />

spezielle Charme der Vergangenheit, der besonders der<br />

Musik der 60er- und 70er anhaftet, die mit ihrem oft revolutionären<br />

Anspruch politisch zudem auf der Höhe der<br />

Zeit war. Der Vinyl-Hype ist nicht zuletzt Ausdruck eines<br />

krisengeschüttelten Zeitgeistes „auf der Suche nach der<br />

verlorenen Zeit“: Je düsterer uns die Zukunft erscheint,<br />

desto mehr hängen wir an einer (meist zu glorifizierten)<br />

Vergangenheit mit der Musik als Balsam für unsere vernarbten<br />

und unsicher gewordenen Seelen. In wenigen Monaten<br />

wird die schmucklose Mülheimer Stadthalle wieder<br />

zum Mekka der Börsianer*innen werden, die wieder (fast)<br />

jeden Preis zahlen für die eine Platte, deren Besitz bei<br />

allen gegenwärtigen Schwankungen Sicherheit verspricht<br />

und deren nostalgische Magie sie stets an vergangene<br />

vermeintlich bessere Zeiten erinnert.»<br />

Sammlerinnen, eher<br />

selten.<br />

Das wertvollste Stück seines heutigen Angebotes:<br />

„BEATLES AT“<br />

> www.muelheimia.koeln/<br />

plattenboerse

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