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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 214 · 1 4./15. September 2019 11<br />
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Berlin<br />
Sie waren Waisen und<br />
Wolfskinder aus Ostpreußen.<br />
Sie versuchten, dem<br />
Hungertod zu entgehen.<br />
Nach dem Krieg bekamen<br />
sie in Kyritz ein neues<br />
Zuhause. Dort wird nun<br />
ein Gedenkort eingeweiht<br />
Gisela Troll im Alter<br />
von drei Jahren mit<br />
ihren ElternGertrud<br />
und Ernst Broosch.<br />
Die heute 82-Jährige<br />
erinnertsich gerne<br />
an ihre Kyritzer Zeit.<br />
PRIVAT, BLZ<br />
VonKatrin Bischoff<br />
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schieden können. „Das belastet<br />
mich noch heute“, sagt der alte Herr<br />
schluckend und mit zitternder<br />
Stimme.<br />
Heinrich Kenzler ist beim Todder<br />
Mutter elf Jahrealt. Er und seine sieben<br />
Geschwister bleiben zurück, als<br />
Waise.Als Wolfskinder.Eine Schwester<br />
verhungert. DerTod bedeutet einen<br />
Esser weniger. Heinrich Kenzler<br />
sagt:„Es gab nur zwei Möglichkeiten,<br />
entweder du überlebst, oder du<br />
stirbst.“ Es hörtsich grausam an. Das<br />
weiß Heinrich Kenzler selbst. Aber so<br />
sei es nun einmal gewesen.<br />
Die Geschwister kommen nach<br />
dem härtesten Hungerwinter, den<br />
sie hatten, im Frühjahr 1948 schließlich<br />
in ein sowjetisches Kinderheim.<br />
Vondortwerden sie ein paar Monate<br />
später in ein Sammellager nach Königsberg,<br />
dem heutigen Kaliningrad,<br />
verlegt, Ende 1948 fahren die Kenzler-Geschwister<br />
mit dem Zug nach<br />
Ostdeutschland.<br />
Brot,Kartoffeln, Milch und Fleisch<br />
Die ersten Kinder, die dort eintrafen,<br />
kamen zunächst in ein Lager nach<br />
Eggesin, von dort nach Pinnow bei<br />
Angermünde. 1949 zogen die Mädchen<br />
und Jungen nach Kyritz um.<br />
„Das Gebäudeensemble war einmal<br />
ein Wanderarbeiterheim“, erzählt<br />
Angela Städeke vomKyritzer Heimatverein.<br />
1949 sei es als Kinderdorfausgebaut<br />
worden – viele Waisen aus<br />
Ostpreußen hätten hier ein neues Zuhause<br />
gefunden.„Man kann das wirklich<br />
mit einem heutigen SOS-Kinderdorfvergleichen“,<br />
sagt die 53-Jährige.<br />
Es habe richtige Familiengruppen gegeben,<br />
die Erzieher seien oft Ehepaare<br />
gewesen, deren Kinder mit in<br />
den Gruppen lebten. Das Heim bedeutete<br />
für die Waisen nicht nur ein<br />
Zuhause, esgab auch regelmäßiges<br />
Essen: Brot, Kartoffeln, Milch, sogar<br />
Fleisch. Im September 1949 begann<br />
für die Heimkinder auch wieder die<br />
Schule. Und in den Ferien ging es an<br />
die Ostsee, ins Elbsandsteingebirge,<br />
nach Berlin oder Leipzig.<br />
Angelika Städeke erzählt, dass<br />
sich einstige Heimkinder noch heute<br />
regelmäßig träfen. Im Frühjahr 2016<br />
hätten sie an die Bürgermeisterin<br />
von Kyritz geschrieben und sich einen<br />
Erinnerungsort gewünscht.<br />
Daraufhin habe der Heimatverein<br />
die Geschichte des Kinderheimes<br />
und auch der Wolfskinder recherchiert.<br />
Es habe eine Ausstellung gegeben,<br />
die sich der Zeit von 1949 bis<br />
Ende 1952 widmete. „Ich habe mit<br />
vielen einstigen Heimkindern gesprochen.<br />
Es herrschte eine sehr<br />
emotionsgeladene Atmosphäre, die<br />
man nicht beschreiben kann, als sie<br />
ihr Schicksal schilderten. Es war, als<br />
wäreman dabei gewesen, damals.“<br />
Nicht alles Kinder,die in Kyritz ein<br />
neues Zuhause fanden, sind in der<br />
DDR geblieben. Mehr als 500 Kilometer<br />
von Oranienburg entfernt liegt<br />
Wuppertal. Hier lebt Gisela Troll. Die<br />
82-jährige toughe Frau bittet lachend<br />
in ihr Haus.Auch sie hat ihreErinnerungen<br />
an ihre Kindheit und Jugend<br />
auf dem Tisch in ihrem Haus ausgebreitet.<br />
Darunter ist ein Fotoalbum.<br />
Es gibt wenige Fotos,auf denen sie als<br />
Kind auch mit ihren Eltern zusehen<br />
ist. Die Fotos hat sie später von einer<br />
Tante erhalten. „Wir hatten bei der<br />
Flucht ja alles verloren.“<br />
Aber es gibt viele Bilder aus der<br />
Heimzeit in Kyritz. EinGruppenfoto,<br />
vor dem Haus, Bilder vom Ostseestrand.<br />
Fotos von den Freundinnen.<br />
Es sind Bilder von fröhlichen Kinder<br />
und Jugendlichen. „Das Kinderheim<br />
in Kyritz war wie ein Anker in unserem<br />
Leben“, sagt Gisela Troll. Sie<br />
seien eine tolle Gemeinschaft gewesen.<br />
Die Freundschaften von einst<br />
hätten bis heute gehalten. Sie erinnertsich<br />
noch, dass sie damals Flöte<br />
und Mandoline lernte.Esgab Sportund<br />
Bastelkurse. Alle seien mit<br />
Freude bei den Pionieren gewesen.<br />
Gisela kommt in Mollehnen, dem<br />
heutigen Kaschtanowka, zur Welt. Es<br />
ist das nördlichste Ostpreußen. 1945<br />
muss die Familie fliehen, das Gebiet<br />
wird von der russischen Armee besetzt.<br />
Doch dann werden die Flüchtlinge<br />
von den russischen Truppen<br />
überrollt. „Wir sind wieder zurückgegangen<br />
in die Dörfer“, sagt Gisela<br />
Troll. Doch dann wurden russische<br />
Familien angesiedelt. Für Gisela Troll<br />
und ihreFamilie war kein Platz mehr.<br />
DerVater ist im Krieg, die Oma 1945<br />
gestorben, die Mutter versucht, Arbeit<br />
zu finden. Sie verunglückt und<br />
„Das Kinderheim<br />
in Kyritz war wie ein Anker<br />
in unserem Leben. Wir waren eine<br />
tolle Gemeinschaft. Freundschaften<br />
halten bis heute“<br />
Gisela Troll,<br />
kam als Elfjährige nach dem Todder Mutter 1948 von Ostpreußen in die<br />
sowjetische Besatzungszone. Ihr Vater war noch in Gefangenschaft<br />
stirbt. Ärzte, die ihr helfen können,<br />
gibt es nicht mehr. Die Mutter und<br />
eine ebenfalls gestorbene Nachbarin<br />
werden auf einen Wagen gelegt und<br />
zu ihrem Begräbnis gefahren. Nicht<br />
auf dem Friedhof, da dürfen die beiden<br />
Mütter ihreletzte Ruhe nicht finden.<br />
Sie werden ineinem Massengrab<br />
in einem Waldstück verscharrt.<br />
Gisela pflückt ein paar Blumen von<br />
den Wiesen undwirft sie in das Grab.<br />
Jahrzehnte später hat Gisela Troll das<br />
Grab ihrer Mutter nicht mehr wiedergefunden.<br />
„Der Wald hat sich alles<br />
geholt“, sagt sie.<br />
Gisela ist nun allein, sie weiß<br />
nicht, wo ihr Vater ist. Entfernte Verwandte<br />
wollen das temperamentvolle<br />
Kind nicht zu sich nehmen, sie<br />
haben selber Kinder,die satt werden<br />
wollen. Dann landet das elternlos<br />
Mädchen bei einer Tante, die zwei<br />
Kinder hat. Gisela muss auf das jüngere<br />
Kind aufpassen, kochen. Sie leben<br />
auf engstem Raum in einem<br />
Zimmer. Bis 1948 ein Laster kommt<br />
und die Deutschen abholt –für den<br />
Transportnach Westen.<br />
Gisela besteigt mit ihren Verwandten<br />
einen Viehwaggon, in dem<br />
40 Menschen Platz finden. Nur<br />
Handgepäck dürfen sie mitnehmen.<br />
Gisela hat nur das, was sie am<br />
Körper trägt. Unterwäsche, ein<br />
Kleid, ein paar Sandalen. Sie weiß<br />
nicht, wie lange die Reise nach Westen<br />
geht. Der Zug fährt amTag und<br />
auch nachts. Sie weiß nur noch,<br />
dass sie einen Beutel mit etwas Reis<br />
und Brot bekam. Um nicht zu verhungern.<br />
„Wir haben uns damals<br />
auch Fischgräten geröstet, um nicht<br />
zu sterben“, erzählt sie.<br />
Der Zug hält in Pasewalk. Mitarbeiter<br />
des Deutschen Roten Kreuzes<br />
laufen durch den Zug –umelternlose<br />
Kinder zu registrieren. DieTante<br />
meldet Gisela an. Sie hat genug mit<br />
ihren eigenen Kindern zutun. „Ich<br />
habe damals bitterlich geweint“, erinnertsich<br />
Gisela Troll. „Jetzt war ich<br />
wieder allein.“ Sie kam in ein Lager.<br />
Sie weiß noch, dass es spät war. Zu<br />
spät, umnoch etwas von der Schokoladensuppe<br />
zu bekommen.<br />
Noch im Heim in Pinnow macht<br />
sie in kurzer Zeit die Schule bis zur<br />
vierten Klasse nach. 1949 zieht sie mit<br />
den anderen Kindernnach Kyritz. Bis<br />
zu 250 Kinder sind dort untergebracht.<br />
Sieschlafen zu dritt oder viert<br />
in einem Raum. Ab 1952 besucht Gisela<br />
die Oberschule in Waldsieversdorf,<br />
lebt dort imInternat. Bis sie ihrenaus<br />
der Kriegsgefangenschaft entlassenen<br />
Vater in Westdeutschland<br />
besucht –und bei ihm bleibt.<br />
Wohnungen für junge Familien<br />
Gisela Troll sagt heute, dass sie vielleicht<br />
studiert hätte, wenn sie damals<br />
wieder zurückgegangen wäre.<br />
Sie sollte Lehrerin für Geografie und<br />
Deutsch werden. So hat sie in Jugendherbergen<br />
gearbeitet, bis sie im<br />
Jahr 1959 heiratete.„Ichbin dankbar<br />
für die Zeit in Kyritz. Dortwurden wir<br />
Kinder gefordert und gefördert“, erzählt<br />
sie.Sie könne über dieses Heim<br />
nichts Schlechtes sagen. Daher will<br />
auch sie am Dienstag nach Kyritz<br />
kommen. In ihr altes Zuhause.<br />
Die Gebäude des einstigen Kinderheimes<br />
sind mittlerweile saniert.<br />
Heute gibt es dort acht Unterkünfte<br />
für betreutes Wohnen und „ganz<br />
viele Wohnungen für junge Familien“,<br />
sagt Angela Städeke vom Heimatverein.<br />
Das Heim, wo einst<br />
Wolfskinder ein neues Zuhause fanden,<br />
sei für Kyritz zu einer begehrten<br />
Wohnanlage geworden.<br />
Katrin Bischoff erschüttert<br />
das Schicksal der einstigen<br />
Wolfskinder