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Berliner Zeitung 14.09.2019

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2 14./15. SEPTEMBER 2019<br />

Berlin-Mitte, draußen regnet es in<br />

Strömen. Nora Tschirner steht im<br />

Flur des Mandala-Hotels am Potsdamer<br />

Platz und ist trotz rappelvollem<br />

Interviewtag bestens gelaunt. Die38-<br />

jährige Schauspielerin beginnt augenblicklich,<br />

herumzualbern, wie es sich für eine Humoristin<br />

wie sie gehört. Dabei entkommt<br />

keiner ihren Witzen, weder die Interviewerin,noch<br />

die Make-up-Künstlerin oder der<br />

Fotograf: Alle bringt sie binnen kürzester Zeit<br />

zum Lachen. „Ernsthaftigkeit triggert meine<br />

Albernheit“, sagt sie, und lässt sich in einen<br />

grauen Sessel gleiten. Und dann zur Makeup-Künstlerin:<br />

„Mach es dir gemütlich, wir<br />

sind schließlich nicht jeden Tag im Mandala!“<br />

Anlass für das Gespräch ist ihr neuer<br />

Film „Gut gegen Nordwind“, der auf Daniel<br />

Glattauers Bestseller-Liebesroman basiert.<br />

Kann man sich wirklich verlieben ...<br />

Ja!Mist, wieder zu schnell geantwortet.<br />

... wenn man sich noch nie persönlich gesehen<br />

hat, über E-Mail, wie Leo und ihre Figur<br />

Emma in „Gut gegen Nordwind“?<br />

Die Frage habe ich für mich noch nicht<br />

abschließend beantwortet. Ich vermute<br />

aber, wenn man sich überhaupt verlieben<br />

kann, warum dann nicht auch so. Eher als<br />

mit der Form hat es damit zu tun, wie weit<br />

beide Seiten bereit sind, sich zu zeigen. Und<br />

das kann man auf vielerleiWeise tun. Aufden<br />

Bällen vor Hunderten von Jahren, die man<br />

aus Gesellschaftsromanen kennt, haben sich<br />

die Leute auch wenig gezeigt. Kommunikation<br />

verrät aber immer die Individualität, die<br />

Ausdrucksform ist fast zweitrangig. Eine Begegnung<br />

kann in der bildenden Kunst, im<br />

Tanz, letztendlich auch beim Kochen entstehen.<br />

Überall, wo jemand erkannt werden<br />

möchte,kann man ihn erkennen. Undwenn<br />

der dann etwas Kompatibles hat, kann man<br />

sich auch verlieben.<br />

Die Ehe zwischen Emma und ihrem Mann<br />

Bernhard wirkt nicht besonders unglücklich,<br />

im Gegenteil. Man versteht nicht so recht,<br />

warum Emma diese E-Mail-Affäreanfängt.<br />

Was esinmeinen Augen schon gibt, ist<br />

eine bestimmte Unachtsamkeit, die sich eingeschlichen<br />

hat. Ich glaube, die fällt einem<br />

vielleicht nicht auf, weil man viele Beziehungen<br />

sieht, die so sind. Bernhard und Emma<br />

haben keine eigene Insel mehr. Sie sind<br />

wahrscheinlich zu sehr in die Alltags-Verantwortlichkeiten<br />

ihres gemeinsamen Lebens<br />

gedriftet. Das ist ein über Jahre schleichender<br />

Prozess.Inseln der Zweisamkeit im Alltag<br />

zu integrieren, ist wohl die riesige Herausforderung,<br />

wenn daraus eine lange freundliche<br />

Beziehung werden soll. Mir fehlt oft die gesellschaftliche<br />

Milde mit dem Scheitern eines<br />

solch gewagtenVersuchs.Heute herrscht<br />

immer noch große Empörung, wenn Leute<br />

ausbrechen. Ich finde in solchen Szenarien<br />

die Begrifflichkeiten ja sehr spannend. Entweder<br />

kommen sie aus der Wirtschaft, dem<br />

Militär oder der Tierhaltung. Wir reden von<br />

„Betrug“, „Verrat“ und davon, „jemanden<br />

auszuspannen“! Es marschiert quasi direkt<br />

die versammelte Kavallerie ein, um ein Wirtschaftsverbrechen<br />

zu ahnden! Aber dieser<br />

Vorgang, wenn eine Person bei jemand anders<br />

landet, hat doch für alle Seiten etwas<br />

sehr Trauriges, Intimes, Berührendes. Man<br />

hat sich doch aus Versehen verloren, irgendwie<br />

verpasst, zuzuhören, einander zu bewahren.<br />

Das macht ja niemand vorsätzlich.<br />

Eine Beziehung nach außen zu verteidigen,<br />

zu sagen, wir sind jetzt mal ein paar Stunden<br />

auf der Insel, und wir haben hier auch überhaupt<br />

keinen Empfang, dumm gelaufen, das<br />

passiert sehr selten, ist aber wahrscheinlich<br />

das Wichtigste.<br />

Hat Sie an der Figur der Emma gereizt, dass<br />

sie ausbricht?<br />

Ich hätte da jeden gespielt, denn an Daniel<br />

Glattauers Roman fand ich so toll, dass<br />

er sich nicht moralisch nähert, sonderndass<br />

er ein richtiges Dilemma zwischen den Figuren<br />

darstellt. Dass man Bernhard, den Ehemann,<br />

der betrogen wird, lieb hat. Dass man<br />

nicht denkt, boah, den jetzt schnell mal für<br />

den neuen hotten Typen loswerden.<br />

Wiespielt man eine Liebesgeschichte, bei dem<br />

man keine Szene mit dem geliebten Menschen<br />

teilt, sondern ihm nur E-Mails schreibt?<br />

Eigentlich wie immer, weil es ja in allen<br />

Fällen um den Zugang zum eigenen inneren<br />

Kosmos geht. Das, was man emotional bearbeiten<br />

muss, andem man anknüpft, ist etwas<br />

Privates und Teil der eigenen Gefühlswelt.<br />

Natürlich gibt es eine Dynamik mit<br />

dem Gegenüber,aber die Dinge,die ich freischalten<br />

muss, ummeine Gefühle der Figur<br />

zu geben, sind immer meine Nora-Sachen.<br />

Im schlimmsten Fall kann es sogar ablenkend<br />

sein, wenn jemand da ist. Undjeweniger<br />

Leute im Raum sind, desto kürzerist der<br />

Wegzwischen mir und dem Text. In dem Moment,<br />

wo die Kamera läuft, ist die Vorstellungskraft<br />

gefragt. Genau wie im Sychronstudio,<br />

wo alles abgedunkelt ist, ist man<br />

dann plötzlich sehr nah am eigenen Kern<br />

vonsich selbst.<br />

Warum gibt es in unserer Gesellschaft so eine<br />

Fokussierung auf den Anfang der Liebe?<br />

Weil wir darauf seit Jahrhunderten geprägt<br />

sind, in jüngster Zeit zum Beispiel<br />

auch durch Filme, bei denen ich mitgemacht<br />

habe. Romantikvorstellungen beeinflussen<br />

uns. Wir erkennen Magie nur,<br />

wenn sie uns völlig aufs Maul haut. Aber<br />

wenn sie nicht so bunt ist, sich anders verkleidet,<br />

aber doch sehr tief geht, dann fällt<br />

es uns schwerer, sie zu sehen. Wenn man<br />

das nicht verhandelt bekommt, wächst<br />

man, glaube ich, in eine Fehlannahme<br />

rein. Wirhören dauernd: „Finde den einen,<br />

und dann geht es aber los!“ Was geht’n<br />

dann los? Dann geht eine Riesen-Aufgabenstellung<br />

los. Und wenn Leute das Wort<br />

Aufgabe hören, fangen sie an zu schreien:<br />

zu viel Druck! Alles muss sich toll anfühlen!<br />

Wenn man Aufgaben für sich innen drin<br />

Ich geh’<br />

nirgends<br />

auf halber<br />

Arschbacke<br />

hin<br />

Nora Tschirner ist geborene Entertainerin, kann aber auch ernst.<br />

Ein Gespräch über die Droge Internet und wie man ihr entkommen kann,<br />

das Dauerthema Ost-West und ihren Zukunftstraum<br />

Interview: Sarah Pepin<br />

Gerne in Grauzonen: Nora Tschirner als Emma in „Gut gegen Nordwind“.<br />

NoraTschirner ...<br />

…kam 1981 in Ost-Berlin zur Welt und wuchs in Pankow auf. Ihre Elternsind der<br />

Dokumentarfilmer Joachim Tschirner und die Hörfunk-Journalistin Waltraud Tschirner.<br />

…war ab 2001 als Moderatorin bei MTV tätig.Ihre Schauspielkarriere begann kurz<br />

darauf, als sie in der ARD-Serie „Sternenfänger“ und später neben Christian Ulmen in<br />

dessen Serie „Ulmens Auftrag“ zu sehen war.2003 hatte sie in „Soloalbum“ ihre<br />

erste Hauptrolle in einem Kinofilm.<br />

…gelang durch TilSchweigers romantische Komödien „Keinohrhasen“ (2007) und<br />

„Zweiohrküken“ (2009) der schauspielerische Durchbruch. Seit 2013 ermittelt sie<br />

neben Christian Ulmen im Weimarer „Tatort“ als Kira Dorn.<br />

…führte 2012 Regie bei dem Dokumentarfilm „Waiting Area“ über soziale Ächtung<br />

unter äthiopischen Frauen. Außerdem spielte sie ein paar Jahre lang in der Band Prag<br />

Gitarre und produzierte 2017 den Film „Embrace“ über weibliche Schönheitsideale<br />

und Selbstliebe.<br />

toll definiert, fühlt das sich aber total gut<br />

an. Niemand bringt das Ganze sogut auf<br />

den Punkt wie der Philosoph Alain de<br />

Botton. Derhat eigentlich immer recht ...<br />

... wenn er schreibt, dass Liebe eine Fähigkeit<br />

ist, die wir über Jahre lernen müssen, und<br />

dass sie sich immer zwischen zwei auf die eine<br />

oder andere Weise geschädigten Menschen<br />

entwickelt.<br />

Wenn man sich noch nicht so ganz eingearbeitet<br />

hat, ist man vielleicht erschlagen davon,<br />

und denkt, das Gegenteil dieser überzogenen<br />

Romantik sei so ein Sich-Begnügen,<br />

eine Bescheidenheit, nach dem Motto, is'<br />

eben nicht alles Schmetterlinge. Aber dabei<br />

vergisst man, dass da noch ganz andere Insekten<br />

kommen. Es geht dabei um eine Weiterführung,<br />

eine Vertiefung, um den wirklichen<br />

Zauber von Verbindung. Letztendlich<br />

SONY<br />

ist das die grundmenschliche Sehnsucht,<br />

sich wirklich zu verbinden. Unddas ist möglich,<br />

nur wir haben nicht richtig gelernt, wie.<br />

Glauben Sie, dass unsereVerbindungen heute<br />

immer oberflächlicher werden, StichwortSocial<br />

Media und Tinder?<br />

Mein Gefühl ist: Es sieht erschreckender<br />

aus, weil alles viel klarer visualisiert<br />

wird. Die Versuchung für uns Menschen,<br />

oberflächlich zu sein statt in eine Wahrhaftigkeit<br />

zu kommen, war aber schon immer<br />

da. Nur sieht man es halt jetzt mehr.<br />

Aber solange Menschen geboren werden,<br />

gibt es für jede Generation, die neu heranwächst,<br />

die Chance, sich aufs Menschsein<br />

zu besinnen. Gesellschaftlich kann man<br />

durchaus vom Weg abkommen, aber die<br />

Möglichkeit, den Kurs zu korrigieren, besteht.<br />

Früher war das auch so. Als der<br />

Fernseher eingeführt wurde, haben alle<br />

dauernd ferngeguckt. Macht heute auch<br />

keiner mehr. Ich beobachte jetzt schon<br />

eine klare Gegenbewegung.<br />

Siewirken sehr optimistisch.<br />

Sehen Sie, Sie gehen mit einem Hoffnungsplus<br />

nach Hause.<br />

Sie verordnen sich selbst also kein Digital Detox?<br />

Doch, natürlich. Ichbin umgeben voneiner<br />

drogenbezogenen Gesellschaft und damit<br />

muss ich mich auseinandersetzen. Digitales<br />

ist abhängig-machender Stoff. Wasdagegen<br />

hilft, ist, sich so viel wie möglich mit<br />

anderen Sachen zu beschäftigen. Wenn ich<br />

das genug mache, dann habe ich gar keine<br />

Lust mehr darauf. Es sind die klassischen Sachen,<br />

wie Natur, und Zeit mit Menschen zu<br />

verbringen. Das klingt wie Bauernkalender,<br />

funktioniert aber. Wir sind halt Tiere. Wir<br />

brauchen Erde unter den Füßen, Luft, Anerkennung<br />

von der Gruppe und sinnvolle Tätigkeiten.<br />

All das setze ich dagegen. Und Instagram<br />

(lacht).<br />

Auf Ihrem Instagram-Kanal geben Sie zum<br />

Beispiel eine berlinernde Claudi, die Makeup-„Tutohriels“<br />

anleitet, wo sie persönliche<br />

„Wau-Colours“ empfiehlt. Zum Kaputtlachen.<br />

IstIronie und Humor ihr Gegenplan?<br />

Wasich da mache,ist die Arbeit eines Humoristen.<br />

Ich finde es aber auch nicht<br />

schlimm, wenn jemand sich wirklich Makeup-Tutorials<br />

anschaut.<br />

Undwas ist mit dem größer werdenden Narzissmus?<br />

Klar gibt es Leute, die denken, geil, jetzt<br />

kann ich mich beim Stuhlgang filmen. Und<br />

das würden Sieund ich nicht. Aber wenn alle<br />

immer nur alles so machen würden wie Sie<br />

und ich, würden wir heute noch auf einem<br />

Ast sitzen. Da denke ich an Christian Ulmen.<br />

Nicht, dass er sich beim Stuhlgang filmt. Obwohl,<br />

natürlich filmt er sich beim Stuhlgang.<br />

Unddas sehr unterhaltsam. Egal, jedenfalls:<br />

Wenn Alexa als System noch nicht von den<br />

Machern erfunden ist, hat Christian schon<br />

sein ganzes Haus und den Garten mit zwei<br />

Formen vonAlexa ausgestattet. Es muss beides<br />

geben: Leute, die sagen, ach die Natur,<br />

und andere, die sagen, jippie, die Technik<br />

und „Star Trek“. Christian Ulmen sagt zum<br />

Beispiel, ihm wäre esamliebsten, wenn wir<br />

alle wie auf dem Raumschiff Enterprise lebten.<br />

Ich persönlich sehe mich eher in einer<br />

moosbewachsenen Hügeljurte. Irgendwo<br />

dazwischen kommen wir alle voran.<br />

Vorzwei Jahren haben sie den Film „Embrace“<br />

über Körperliebe mitproduziert. Warum hadern<br />

Frauen so viel mit sich?<br />

VonFrauen wird eher erwartet, dass sie<br />

optisch gefällig, niedlich und hot sind. Ich<br />

möchte mit Männern aber nicht tauschen,<br />

die traditionell mit anderen Arten von ähnlich<br />

heftigen gesellschaftlichen Erwartungen<br />

konfrontiertwaren, aber anders hadern. Für<br />

sie hat die Leistungsgesellschaft andereAuswüchse<br />

angenommen. Sie haben lange<br />

keine Kommunikationskultur beigebracht<br />

bekommen, keine Erlaubnis, Emotionen<br />

verbal zu kanalisieren. Deswegen findet alles<br />

leiser statt. Das Hadern sucht sich dann andere<br />

Wege: Magengeschwüre, Witzelsucht,<br />

Härte und Zynismus, Krebs. Ich finde, beide<br />

Arten von Druck können wir jetzt mal langsam<br />

lassen.<br />

Aber verändertdas Rollenverhältnis sich zum<br />

Guten? Findet ein Umdenken statt?<br />

Hoffentlich. Das hängt auch davon ab,<br />

wie sehr wir mit dem Finger aufeinander zeigen.<br />

Wenn der feministische Diskurs die<br />

Männer nicht mitnimmt, steuern wir in die<br />

nächste Katastrophe hinein.<br />

Würden Siesich denn als Feministin bezeichnen?<br />

Ja und nein. Meine Erfahrung ist, dass<br />

viele Menschen, die sich als irgendwas mit<br />

Ismus bezeichnen und mit wehenden Fahnen<br />

voranlaufen, meistens versuchen, ihre<br />

Ego-Müllhalden dahinter zu vertuschen.<br />

Dasmacht mich skeptisch.<br />

Haben Sie Angst, in eine Schublade gesteckt<br />

oder falsch verstanden zu werden?<br />

Nö. Ich finde einfach nur ungebremste<br />

Gruppendynamik gefährlich, in denen es<br />

sich der Einzelne gemütlich machen kann,<br />

ohne erst mal sein eigenes Seelenhausaufgabenheft<br />

abzuarbeiten. Ich mag es nicht,<br />

wenn alles zu missionarisch ist. Natürlich<br />

bin ich am Ende des Tages absolut Feministin<br />

und lebe das. Ich versuche aber, keinen<br />

Dialog gegen jemanden zu führen, denn damit<br />

kommen wir nicht weiter. Wenn wir es<br />

für alle besser machen wollen, müssen wir<br />

alle zusammen arbeiten. Dassehe ich zurzeit<br />

aber nicht überall.<br />

Wasmeinen Siedamit?<br />

Natürlich ist es wichtig, ein gesellschaftspolitisches<br />

Thema voranzutreiben. Aber<br />

wenn mich interessiert, ob meine Botschaft

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