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14./15. SEPTEMBER 2019 5<br />
HUMBOLDTS LEBEN<br />
1804<br />
•<br />
Alexander von<br />
Humboldt war einer<br />
der großen Denker<br />
der Globalisierung.<br />
Er erforschte, lange<br />
bevor man ihn<br />
sehen konnte,<br />
den Globus Erde<br />
VonArnoWidmann<br />
Humboldt betrat nach fünf Jahren<br />
wieder europäischen Boden.<br />
Das materielle Ergebnis der Reise waren<br />
mehr als 30 Kisten voller Sammlungen,<br />
umfangreiche Tagebuchaufzeichnungen,<br />
etwa 6000 Pflanzenspezies.<br />
Ab 1805 verbrachte Humboldt zwei Jahre<br />
in Berlin. König Friedrich Wilhelm III.<br />
machte ihn zu seinem Kammerherrn,<br />
schickte ihn auf diplomatische<br />
Missionen und nahm ihn später auch<br />
auf Reisen mit. Der Preußischen<br />
Akademie der Wissenschaften gehörte<br />
Humboldt bereits ab 1800 an.<br />
1807<br />
•<br />
Humboldt verlegteseinen Wohnsitz<br />
nach Paris, wo er bis1827 lebte.<br />
In derFolgezeitschrieb er bedeutende<br />
Werke, darunter:„IdeenzueinerGeographie<br />
derPflanzen“ mit einem „Naturgemäldeder<br />
Anden“(in Deutsch:1807),<br />
„Ansichten der Natur“ (1808), das<br />
Humboldtals „Lieblingsbuch“<br />
bezeichnete, „PittoreskeAnsichten<br />
der Cordilleren und Monumente<br />
americanischerVölker“(1810),<br />
„Reise in die Aequinoctial-Gegendendes<br />
neuenContinents“,das als amerikanischesReisewerk<br />
in verschiedenen Varianten<br />
herauskam. Dieeinzige vonHumboldt<br />
autorisierte Übersetzungerschien<br />
1859bei Cotta.<br />
schreibung ist Beschreibung alles Geschaffenen,<br />
alles Seienden im Raume (der Natur-<br />
Dinge undNatur-Kräfte) als eines gleichzeitig<br />
bestehenden Natur-Ganzen.“<br />
Das ist das Großartige und das ist die<br />
Grenze des Humboldt’schen Blicks auf die<br />
Welt. Seine Stärke: Globus und Kosmos gehören<br />
zusammen. DieErdehängt ab vonihrer<br />
Position im All. Aber Humboldts All ist<br />
noch das von „Laterne, Laterne, Sonne,<br />
Mond und Sterne“. Er hatte keine Vorstellung<br />
davon, wie weit entfernt selbst die<br />
Sterne sind, die wir sehen können. Und<br />
schon garnicht vomAlter des Universums.<br />
AN ANDERER STELLE schreibt Humboldt:<br />
„Die natürliche Reihenfolge der Pflanzenund<br />
Tierbildungen wirdhier als etwas Gegebenes<br />
betrachtet. So ist es die Aufgabe der<br />
physischen Geographie, nachzuspüren, wie<br />
auf der Oberfläche der Erde sehr verschiedenartigeFormen,<br />
bei scheinbarer Zerstreuung<br />
der Familien und Gattungen, in geheimnisvoller<br />
genetischer Beziehung zueinander<br />
stehen; wie die Organismen ein tellurisches<br />
(irdisches) Naturganzes bilden, durch Atmen<br />
und leise Verbrennungsprozesse den Luftkreis<br />
modifizieren und, vom Lichte in ihrem<br />
Gedeihen, ja in ihrem Dasein prometheisch<br />
bedingt, trotz ihrer geringen Masse,doch auf<br />
das ganze äußere Erden-Leben einwirken.“<br />
Wiesoll man an diesem Passus nicht die„leisen<br />
Verbrennungsprozesse“ und die Modifikation<br />
des Luftkreises lieben? Wie sehr<br />
nimmt Humboldt einen nicht für sich ein,<br />
durch seine Art, die Erde als Ganzes zu sehen,<br />
in dem alle Teile auf einander wirken?<br />
Gaia steht gleich hinter der nächsten Ecke.<br />
Aber es ist eine sehr einfache Gaia. Humboldt<br />
erklärtdieWelt nicht, indem er ihreGeschichte<br />
erzählt. Die genetischen Beziehungen<br />
waren ihm nur ein Geheimnis.Der historische<br />
Zusammenhang, in dem alles erst sich<br />
konstituiert, als Einzelne und das jeweilige<br />
Ganze, entging ihm. Das Ganze ist für ihn<br />
nichts als ein Funktionszusammenhang.<br />
Keine historisch flüchtige Konstellation. Der<br />
Status quo ist für Alexander von Humboldt<br />
trotz seiner Einsicht in die geologischen Revolutionen<br />
keine prekäre Gemengelage. Er<br />
steht nicht auf der Kippe: DieWelt ist dieWelt<br />
ist die Welt. Sieist Kosmos,ein hervorragend<br />
organisiertes Schmuckkästchen.<br />
Heute erscheint sie mehr als Bastelstube,<br />
in der die verschiedensten Teile immer wieder<br />
neu organisiert werden. Nicht nur der<br />
berühmte Sternenstaub –also alle Elemente<br />
außer Wasserstoff –,sondern auch jede seiner<br />
Weiterentwicklungen steht Millionen<br />
Jahre zur Verfügung und wartet auf Wiederverwendung.<br />
IstHumboldt doch ein Mann der Vergangenheit?<br />
Natürlich ist er das.Wir dürfen das<br />
nicht übersehen. Aber wir müssen ihn dennoch<br />
auch zu unserem Future-Man machen.<br />
In Deutschland studieren 150 000 Menschen<br />
Biologie,Physik oder Chemie und 60 000 Mathematik.<br />
240 000 dagegen Betriebswirt-<br />
Das Gemälde von Eduard Ender (1822-1883) zeigt „Humboldt und Bonpland in ihrer Dschungelhütte“. Zu<br />
ihrem Gepäck gehörten Dutzende wissenschaftlicher Instrumente aller Art.<br />
IMAGO IMAGES<br />
schaftslehre und 116 000 Jura. Nichts belegt<br />
besser den Mangel an Neugierde in unserer<br />
Gesellschaft. Ich gehörte zu denen, die 1966<br />
ihre Neugierde ganz auf die Gesellschaft<br />
konzentrierten und Soziologie studierten.<br />
Definitiv ein Fehler, denke ich heute. Vielleicht<br />
habe ich mich darum in Alexander von<br />
Humboldt verliebt.<br />
Er ist der andere. Derzuwerden man sich<br />
selbst nicht traute.Humboldts sind Mangelware.<br />
Aber sie sind es generell. Wir werden<br />
ein solches Genie nicht aus dem Boden<br />
stampfen können. Aber wir –jeder Einzelne<br />
und die Gesellschaft –könnten uns dazu entschließen,<br />
seinenWegzugehen.Wirkönnten<br />
damit anfangen, uns als ein Stück Natur zu<br />
betrachten. Nicht nur im Großen und Ganzen,<br />
sondernauch gerade in dem, worauf wir<br />
besonders stolz sind. Wirwerden entdecken,<br />
dass es nahezu nichts Menschliches gibt, das<br />
Erst vor einem halben Jahrhundertentstanden die ersten Aufnahmen der Erde aus dem All. IMAGO IMAGES<br />
wir nicht auch beiTieren und sogar bei Pflanzenfinden<br />
können.<br />
Alexander von Humboldts Vorsprung gegenüber<br />
den meisten aktuellen Globalisierungsdenkern<br />
sehe ich darin, dass er vom<br />
Globus ausgeht und nicht vom Warenverkehr.<br />
Die natürlichen Grundlagen unseres<br />
Lebens sind global. Sie müssen erkannt, genutzt<br />
und –womöglich –erhalten werden.<br />
Mehr als sieben Milliarden Menschen leben<br />
heute auf der Erde. Als ich 1946 auf die Welt<br />
kam, waren wir etwas mehr als zwei Milliarden.<br />
Wir werden unseren Lebensstandard<br />
nicht halten, geschweige denn verbreiten<br />
können. Daswar die Illusion, in der die heute<br />
Siebzigjährigen aufwuchsen. Manche von<br />
ihnen wollen sie mit Klauen und Zähnen verteidigen.<br />
Alexander Gauland zum Beispiel.<br />
Humboldt war nicht nur Weltreisender<br />
und Naturforscher.Erwar auch ein Erfinder.<br />
Nicht nur der Natur, wie Andrea Wulf ihn in<br />
ihrem gleichnamigen Buch beschreibt. Er<br />
beschäftigte sich auch mit der Verbesserung<br />
von Spinnmaschinen und Grubenlampen,<br />
Technik gehörte bei ihm dazu. Er war eingebettet<br />
in eine internationale Forschergemeinschaft,<br />
die sich informierte über die<br />
neuesten Entwicklungen. Ein World Wide<br />
WebimKutschenzeitalter.<br />
Alexander von Humboldt interessierte<br />
sich nicht nur für Luftdruck, für Steine,<br />
Pflanzen und Tiere. Er studierte auch immer<br />
wieder die Menschen, auf die er bei seinen<br />
Fahrten stieß. Dabei kam er mit vielen seiner<br />
Zeitgenossen zu einem Verständnis vom<br />
Menschengeschlecht, gegen das in den ihm<br />
folgenden Jahrzehnten immer wieder Sturm<br />
gelaufen wurde.<br />
Hier am Ende mögen Alexander und Wilhelm<br />
von Humboldt noch einmal das Wort<br />
haben. In einem Artikel, der im April1845 in<br />
der Allgemeinen <strong>Zeitung</strong> erschien, erklärte<br />
Alexander von Humboldt: „Indem wir die<br />
Einheit des Menschengeschlechtes behaupten,<br />
widerstreben wir auch jeder unerfreulichen<br />
Annahme von höheren und niederen<br />
Menschenrassen. Es gibt bildsamere, höher<br />
gebildete, durch geistige Kultur veredelte,<br />
aber keine edleren Volksstämme. Alle sind<br />
gleichmäßig zur Freiheit bestimmt –zur Freiheit,<br />
welche in roheren Zuständen dem Einzelnen,<br />
in dem Staatenleben bei dem Genuss<br />
politischer Institutionen der Gesamtheit als<br />
Berechtigung zukommt.“<br />
UND JETZT FÄHRT ER, seinen Bruder Wilhelm<br />
(1767–1835) zitierend, fort: „Wenn wir<br />
eine Idee bezeichnen wollen, die durch die<br />
ganze Geschichte hindurch in immer mehr<br />
erweiterter Geltung sichtbar ist, wenn irgend<br />
eine die vielfach bestrittene,aber noch vielfacher<br />
missverstandene Vervollkommnung des<br />
ganzen Geschlechtes beweist, so ist es die<br />
Idee der Menschlichkeit: Das Bestreben, die<br />
Grenzen welche Vorurteile und einseitige Ansichten<br />
aller Artfeindselig zwischen die Menschen<br />
gestellt, aufzuheben, und die gesamte<br />
Menschheit, ohne Rücksicht auf Religion, Nation<br />
und Farbe,als Einen großen nahe verbrüderten<br />
Stamm, als ein zur Erreichung eines<br />
Zweckes, der freien Entwicklung innerlicher<br />
Kraft, bestehendes Ganzes zu behandeln. Es<br />
ist dies das letzte äußerste Ziel der Geselligkeit,<br />
und zugleich die durch seine Natur selbst<br />
in ihn gelegte Richtung des Menschen auf unbestimmte<br />
Erweiterung seines Daseins. Er<br />
sieht den Boden so weit er sich ausdehnt, den<br />
Himmel so weit ihm entdeckbar als er vonGestirnen<br />
umflammt wird, als innerlich sein, als<br />
ihm zur Betrachtung und Wirksamkeit gegeben<br />
an. Schon das Kind sehnt sich über die<br />
Hügel, über die Seen hinaus welche seine<br />
enge Heimat umschließen; es sehnt sich dann<br />
wieder pflanzenartig zurück: denn es ist das<br />
Rührende und Schöne im Menschen, dass<br />
Sehnsucht nach Erwünschtem und nach Verlornem<br />
ihn immer bewahrt, ausschließlich an<br />
dem Augenblick zu haften.“<br />
1827<br />
•<br />
Humboldt zog nach Berlin.<br />
Im November 1827 begann er eine<br />
Reihe vonKosmos-Vorlesungen an der<br />
<strong>Berliner</strong> Universität. Eine Reihe für<br />
größeres Publikum lief im Haus der<br />
Sing-Akademie. 1828 organisierte er mit<br />
Martin Heinrich Lichtenstein die Jahrestagung<br />
der Gesellschaft deutscher Naturforscher<br />
und Ärzte. 500 Gäste kamen.<br />
1829 reiste Humboldt in das russische<br />
Reich bis an die chinesische Grenze.<br />
1842 traf er Darwin in London.<br />
1845<br />
•<br />
Der erste Band des Spätwerks „Kosmos“<br />
erschien –eine Gesamtschau wissenschaftlicher<br />
Welterforschung,der sich<br />
Humboldt seit 1834 widmete. Weitere<br />
vier Bände kamen bis 1862 heraus.<br />
1859<br />
•<br />
Am 6. Mai 1859, etwa fünf Monate<br />
vorseinem 90. Geburtstag,<br />
starb Humboldt in seiner Wohnung in<br />
der Oranienburger Straße 67.<br />
Er wurde im Park vonSchloss Tegel<br />
im Familiengrab beigesetzt.<br />
2019<br />
•<br />
Im Umfeld des 250. Geburtstages<br />
Alexander vonHumboldts sind einige<br />
wichtigeWerkeerschienen.<br />
Hier eine Auswahl:<br />
Alexander von Humboldt: Ansichten der<br />
Natur Die Andere Bibliothek (Band 17),<br />
Berlin 2019. 520 Seiten, 24 Euro<br />
Andrea Wulf: Alexander von Humboldt<br />
und die Erfindung der Natur<br />
C. Bertelsmann Verlag,München 2016.<br />
560 Seiten, 24,99 Euro<br />
Alexander von Humboldt: Sämtliche<br />
Schriften (Studienausgabe), herausgegeben<br />
vonOliver Lubrich und Thomas<br />
Nehrlich. dtv,München 2019.<br />
6848 Seiten, 250 Euro<br />
Alexander von Humboldt: Das zeichnerische<br />
Werk.Die bislang unveröffentlichen<br />
Originalzeichnungen, wbg Edition,<br />
Darmstadt 2019. 448 Seiten, 100 Euro<br />
Alexander von Humboldt, Henriette<br />
Kohlrausch: Die Kosmos-Vorlesung an<br />
der <strong>Berliner</strong> Sing-Akademie Insel,<br />
Berlin 2019. 325 Seiten, 16 Euro