Wohnen war und ist eines der zentralen Themen für dérive. Wir haben uns – beginnend mit den ersten Heften – immer wieder intensiv damit auseinandergesetzt; in den letzten Jahren besonders kritisch mit der Warenförmigkeit von Wohnen. In dieser Sonderausgabe veröffentlichen wir eine Reihe dieser Texte und zwar von und mit: Anita Aigner, Diana Botescu, Christoph Chorherr, Elisabeth Ertl, Edeltraud Haselsteiner, Susanne Heeg, Andrej Holm, Florian Humer, Justin Kadi, Michael Klein, Anna Kokalanova und Haotian Lin.
MICHAEL KLEIN
When SPECTRES
R E T U R N
Woh nungswesen,
WOHNREFORM und die
Vorstellung vom GUTEN WOHNEN
Wohnungsfrage, Geschichte des Wohnungswesens,
Wohnreform, Diskurse des Wohnens
Alle Fotos Chris Bethell
(ursprünglich für VICE fotografiert).
Debatten um das Wohnen erleben gegenwärtig
wieder Aktualität. Nachdem die Wohnungsfrage die
Städte, das gesellschaftliche Zusammenleben in
Städten und ihre Konflikte im 19. und 20. Jahrhundert
über weite Strecken begleitet und maßgeblich
geprägt hatte, war es um sie ruhig geworden.
Nun ist sie wieder da – und mit ihr einige Themen,
die auf die Debatte um die Wohnungsfrage eingewirkt
haben.
Wohnungsfrage und Funktionalismuskritik
Wenige Jahre, nachdem sich nahezu jede zeitgenössische
Architektur nach der Moderne mit Selbstverständnis und
dezidiert von den Wohnsiedlungen der Moderne abgegrenzt
hatte, die einmal als Wohnbunker, ein anderes mal als Retortenstädte
gebrandmarkt über Jahrzehnte schlechtgeredet wurden,
ist das Wohnen wieder im Kanon der Architektur, der Planung
und in der Öffentlichkeit angekommen. In Ausstellungen und
Festivals, Konferenzen, Artikeln und Büchern wird wieder
darübe r nachgedacht, wie das Wohnen in Städten für die Masse
gesichert werden kann 1 – ein Wort, das zwischenzeitlich aus
den (Architektur-)diskursen verbannt schien.
Die Jahre der Kritik an der Monotonie und Langeweile
der modernen Vorstadt, an der Funktionstrennung der modernistischen
Stadtplanung und an ihrem strukturellen Mangel
sind an Architektur und Planung nicht spurlos vorübergegangen. 2
Die Durchmischung von Funktionen, die Gleichzeitigkeit
verschie dener Programme und das romantische Bild der historischen
Innenstadt werden weiterhin bemüht, wenn es um die
Wunschbilder der Stadt von morgen geht, schließt man aus Renderings
und Collagen von PlanerInnen. Aber fast wirkt es, als
wäre die Architektur von ihrer Wirklichkeit eingeholt worden:
Die historischen Innenstädte bergen nicht länger die unsanierten,
aber günstigen Nischen in sich, in denen scheinbar alles möglich
ist, wie noch in den frühen Tagen der Funktionalismuskritik.
Sie sind nun Austragungsort in einem Wettkampf um hohe Mieten,
um Aufwertung und der Frage, wer früher geht und wegzieht;
und Funktionsmischung läuft oft auf die Ergänzung des
Wohnungsbestandes durch Shopping hinaus oder aber auf
das Einstreuen kurzzeitig mietbarer Apartments, mit denen sich
über Online-Plattformen noch höhere Erträge erwirtschaften
lassen als mit Wohnungsmieten. Die gegenwärtige Sorge gilt also
dem Wohnen.
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dérive N o 65 — HOUSING THE MANY Stadt der Vielen