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8 19./20. OKTOBER 2019<br />
KRIMI<br />
VonGünther Grosser<br />
HITPARADE<br />
VonDagmar Leischow<br />
Der weibliche Blick<br />
„Ich ertrage diese Scheiße nicht mehr länger.<br />
Ich fahre nach Paris und nehme mir Gretchen<br />
Teigler persönlich vor“, faucht Anna<br />
McDonald alias Sophie Bukaran kurz vor<br />
dem Ende von Denise Minas wahnwitzigem<br />
Thriller „Klare Sache“. Gretchen ist die<br />
reichste Frau der Welt und die Sache mit der<br />
Parisreise bestimmt keine gute Idee, aber<br />
was soll’s,indiesem Buch ist bis dahin schon<br />
so viel Irrwitziges passiert, da wird die Gute<br />
auch die Höhle der Löwin überstehen. Anna<br />
wurde vonihrem Mann verlassen, der etwas<br />
mit der Frau des Popstars anfing, mit dem<br />
Anna dann nach Norden fährt, während sie<br />
einen Podcast hört über den mysteriösen<br />
Untergang einer teuren Jacht, deren Besitzer<br />
sie kannte, als sie noch Sophie war. Der war<br />
mit Gretchen verheiratet, ging nun also mit<br />
der Jacht unter,damuss Anna natürlich was<br />
unternehmen –und das ist erst der Anfang!<br />
Das Erstaunliche an diesem Roman ist jedoch<br />
weder die Geschwindigkeit noch der<br />
Absurditätsgrad, sondernder weibliche Blick<br />
auf dieses so männlich vorschablonierte<br />
Genre der Jagd auf das Böse, die nichts und<br />
niemand aufhalten kann. Hier nehmen die<br />
Frauen alles in die Hand, das Böse und das<br />
Gute, und telefonieren<br />
auch mitten im<br />
anstrengendsten<br />
Schlagabtausch<br />
schnell noch mit<br />
den Kindern. Toll.<br />
Väter und Söhne<br />
DeniseMina: Klare Sache.<br />
Thriller. Deutsch vonZoë<br />
Beck.Argument, Hamburg<br />
2019. 352 S.,21Euro<br />
Dies ist ein großer deutscher Roman: Selim<br />
Özdogans „Der die Träume hört“, einer, der<br />
sich als Krimi aus dem Ruhrgebiet mit street<br />
credibility, Mackertum und Testosterongehabe<br />
anschleicht, um dann als Familiengeschichte<br />
im postmigrantischen Milieu von<br />
Weisheit, Schmerz und Immer-Weitermachen<br />
zu erzählen. Nizar Benali ist Privatdetektiv<br />
und soll im Darknet einen Drogen-<br />
Dealer ausfindig machen, als ihm ein 17-jähriger<br />
Sohn in den Schoß fällt, von dessen<br />
Existenz ihm nichts bekannt war.Also balanciert<br />
erspäte Erziehung, schwierige Familienverhältnisse<br />
und gefährliche Fahndungsarbeit,<br />
indem er alles zusammenwirft und<br />
versucht, das Beste daraus zu machen. Özdogan<br />
schreibt fiebernde Literatur,bis obenhin<br />
vollgesogen mit Erfahrung, mit Straße<br />
und Hood und Dönerbude und Wohnzimmer<br />
und Mercedes und Knast und Club und<br />
HipHop, und er hat eine Sprache dafür, für<br />
Frust, für Schmach, für den kulturellen<br />
Schrägstand türkischer Migranten, der für<br />
die darauffolgende Generation –die nun selber<br />
Eltern sind –zueinem ständigen Balanceakt<br />
führte zwischen Anpassung und Rebellion.<br />
Es ist auch ein intensiver Roman über<br />
Väter und Söhne und<br />
über die derzeitige<br />
Rebellion, die eher<br />
wie Verweigerung<br />
und Trotz daherkommt.<br />
Großartig.<br />
Selim Özdogan: Der die<br />
Träumehört. Kriminalroman.<br />
Edition Nautilus, Hamburg<br />
2019. 288 S.,18Euro<br />
Brooklyn 1968: Die Bürgerrechtsbewegung zerreißt in „Mendel Kabakov“eine Familie in unversöhnliche politische Lager.<br />
Die emotionale Lücke<br />
Der in Deutschland lebende Amerikaner Steven Bloom erzählt ein amerikanisches Leben<br />
Alle anderen gehen über die Straße,<br />
als die Ampel im dichten NewYorker<br />
Verkehr auf Grün schaltet, nur<br />
eine junge Frau mit weißem Stock<br />
bleibt stehen. Dies ist der Anfangsmoment<br />
zwischen der blinden Sonia und dem Geschichtsstudenten<br />
Mendel, der ihr seine<br />
Hilfe anbietet, und von daanist sein Leben<br />
ein anderes.<br />
DerIch-Erzähler Mendel Kabakoverzählt<br />
als alter Mann sein Leben –als jemand, dessen<br />
Zugang zur Welt nahezu ausschließlich<br />
über Wissen und analytisches Denken führt.<br />
Als Professor für Amerikanische Geschichte<br />
hatte er in New York ander Universität seinen<br />
Ortgefunden, und da ihn im Leben (außer<br />
Sonia) nichts anderes wirklich bewegt als<br />
der Drang, die tieferen historischen Zusammenhänge<br />
seines Landes zu ergründen,<br />
schleicht sich diese Thematik nicht nur hinein<br />
in seine Lebenserzählung, sondern wird<br />
zu deren zentralem Stoff.<br />
Wie kam der amerikanische Präsident<br />
Wilson dazu, Amerika, welches er aus dem<br />
Ersten Weltkrieg heraushalten wollte, dann<br />
doch in den Krieg zu führen mit dem merkwürdigen<br />
Argument, es sei ein „Krieg, der die<br />
Welt demokratiefest mache“? Washat es für<br />
das amerikanische Demokratie- und Gerechtigkeitsverständnis<br />
im 20. Jahrhundert<br />
bedeutet, dass die vor Pogromen und dem<br />
Holocaust aus Europa flüchtenden Juden<br />
sich in Amerika „in einem Land wiederfanden,<br />
in dem die Hautfarbe viel wichtiger war<br />
als die Religion“? Undwas erzählen der Vietnamkrieg<br />
und die Rückkehr Richard Nixons<br />
auf die politische Bühne überhaupt über die<br />
amerikanische Demokratie?<br />
Denn das Jahr,indem das Buch spielt, ist<br />
das„Jahr des Affen“ 1968. Undesist nicht nur<br />
die Bürgerrechtsbewegung, die Mendels Familie<br />
in unversöhnliche politische Lager zerrissen<br />
hat. Während Sonia und ihre Tochter<br />
Eva„gerechte Kriege“ immer für ein Ding der<br />
Unmöglichkeit hielten, hatte sich der Sohn<br />
VonBernadette Conrad<br />
Steven Bloom: Mendel Kabakov und das Jahr des Affen.<br />
Ausdem Englischen vonSilvia Morawetz. Wallstein, Göttingen2019.<br />
200 S.,20Euro<br />
Sammy beim amerikanischen Kriegseintritt<br />
nach Pearl Harbour sofort freiwillig zur Armee<br />
gemeldet.<br />
Als zudem begeisterter Anhänger Israels<br />
finden„seine Schwester und seine Eltern(…)<br />
bei ihm keine Milde,waren wir in seinen Augen<br />
doch säkulare Juden der schlimmsten<br />
Sorte, schämten uns unseres Judeseins und<br />
scherten uns nicht um das Schicksal des jüdischen<br />
Volkes“. Als nun auch noch Sammys<br />
Sohn Aaron vom College verschwindet, um<br />
sich möglicherweise aus jugendlichem Idealismus<br />
in Vietnam verheizen zu lassen, dreht<br />
Sammy vollends am Rad und bittet seinen<br />
alten Vater Mendel, den Abtrünnigen nach<br />
Hause zu holen.<br />
Immer wieder fragt man sich, ob die Figuren<br />
inSteven Blooms Roman nicht ein bisschen<br />
zu sehr Diskussionsteilnehmer an den<br />
großen politischen Erörterungen sind, die<br />
GETTY IMAGES<br />
den Roman durchziehen.Wobei es in diesem<br />
assoziativ und nachdenklich erzählten Lebensrückblick<br />
auch wesentlich darum geht,<br />
dass solch obsessiveIntellektualität mindestens<br />
ebenso sehr Schwäche wie Stärke ist.<br />
Selbstkritisch schaut Mendel darauf, und es<br />
sind genau diese sozialen und emotionalen<br />
„Lücken“ seiner Existenz, durch die dann<br />
doch genug Romanhandlung schimmert.<br />
Denn was mit Sonia begann, scheint auch<br />
mit ihr zu enden. 1968, in Mendels 80. Jahr,<br />
ist Sonia seit kurzem tot, und mit ihr auch<br />
das,was sie ermöglicht hatte.„DieSinne,die<br />
ich als Kind abgeschaltet hatte, waren teilweise<br />
mein ganzes Leben lang abgeschaltet<br />
geblieben.VonSonia hatte ich gelernt, Musik<br />
zu hören, Blumen zu riechen und die Nahrung,<br />
die ich zu mir nahm, wirklich zu<br />
schmecken.“ Wasbleibt, ist die Erinnerung<br />
daran, was Sonia in bestimmten Situationen<br />
getan hätte: Und soist es nun Mendel, der<br />
seine Kinder zum Essen einlädt oder der Eva<br />
über die Wange streicht, wenn sie weint.<br />
Steven Bloom, 77, hat schon vor40Jahren<br />
sein NewYorker Leben gegen ein deutsches<br />
Leben eingetauscht. In Brooklyn geboren<br />
und aufgewachsen, hatte er noch in New<br />
York studiert, aber dann bald als junger Dozent<br />
amerikanische Landeskunde an der<br />
Universität Heidelberg gelehrt. Er leitet am<br />
dortigen Deutsch-Amerikanischen Institut<br />
auch Diskussionsgruppen zur amerikanischen<br />
Geschichte.Vielleicht kein Zufall, dass<br />
politische Diskussionen und Analyse eine so<br />
bedeutsame Rolle in seinen bisher sechs Romanen<br />
spielen. Anders verhält es sich mit<br />
der „political correctness“, wenn er in „Mendel<br />
Kabakov“ Schwarze durchweg als „Neger“<br />
bezeichnen lässt. Dahinter steht, so<br />
kann man vermuten, eine Abwehr gegen politische<br />
Schönfärberei und Scheinheiligkeit.<br />
In Amerika erschienen sind Blooms Bücher,<br />
wie auch das vorliegende –souverän vonSilvia<br />
Morawetz übersetzt –jedenfalls bisher<br />
nicht.<br />
Schluss mit Hadern<br />
Michael Kiwanuka ist ein Mensch, der sich<br />
sehr intensiv mit sich selbst auseinandersetzt.<br />
Auch das dritte Album des Londoner<br />
Soulboys dokumentiert die Suche nach der<br />
eigenen Identität.Wenn er in dem introspektiven<br />
Lied „Solid Ground“ fragt: „How does it<br />
feel when it's quiet and calm and without me<br />
being there?“, stellt er seinen Hang zum<br />
Grüblerischen ganz offen zur Schau. Obwohl<br />
die Grundstimmung der Platte melancholisch<br />
ist, hadert der 32-Jährige nun aber insgesamt<br />
weniger mit sich als in der Vergangenheit,<br />
und das spiegelt seine Musik durchaus<br />
wider.Mal umgarnen funkige Rhythmen<br />
den markanten Gesang, mal ein Gospelchor.<br />
Die entrückte Klavierballade „Piano Joint<br />
(This Kind of Love)“ kontrastiert mit dem<br />
treibenden „You Ain't The Problem“, einem<br />
Mutmachlied mit der Botschaft: Hadere<br />
nicht so viel mit dir selbst. Beim Interludium<br />
„Another Human Being“ gehen sanfte Pianoklänge<br />
plötzlich in eine Schießerei über.<br />
Die akustische Gitarre akzentuiert „Hero“ –<br />
Pate für dieses Stück stand der schwarze Bürgerrechtler<br />
Fred Hampton. „Final Days“<br />
schließlich ist eine Collage aus 80er-Jahre-<br />
Synthesizern, psychedelischen Klanglandschaften<br />
und einem Astronauten-Sample,<br />
die eindeutig die Handschrift des NewYorker<br />
Produzentenstars<br />
Danger Mouse<br />
trägt. So facettenreich<br />
kann Soul<br />
sein.<br />
Zurück auf Los<br />
Michael Kiwanuka:<br />
Kiwanuka:<br />
Universal<br />
Mit„Bang“ setzen Mando Diao den Kurs fort,<br />
den sie mit ihrem letzten Album „Good<br />
Times“ eingeschlagen haben: Melodieseliger<br />
Rock und zackige Gitarrenriffs bilden wieder<br />
die zentralen Pfeiler der Musik –sowie in der<br />
Frühphase der Schweden. Die elektronischen<br />
Experimente, die auf der Platte<br />
„Aelita“ die treue Gefolgschaft eher verwirrten<br />
als begeisterten, sind wohl seit dem Ausstieg<br />
des Sängers und Gitarristen Gustaf<br />
Norén im Jahr 2015 endgültig passé. Jetzt<br />
steht fröhlicher Folkpop von „Long Long<br />
Way“ gleichberechtigt neben dem temperamentvoll<br />
vorpreschenden Kracher „One Last<br />
Fire“. Das groovige „Bang My Head“<br />
schwingt sich zur hedonistischen Party-<br />
Hymne auf. Einen der besten Momente bietet<br />
„I Was Blind“ mit seinem stampfenden<br />
Blues und Björn Dixgards rauem Gesang.<br />
„My Woman“ wagt den Flirt mit dem<br />
Westcoast-Sound. Mit„Scream ForYou“ lotet<br />
Dixgard alle Facetten seiner Stimme aus –<br />
vonden ganz tiefen Tönen bis zu kraftvollem<br />
Gebrüll. Und „Society“ gibt am Ende auch<br />
noch dem Schlagzeug den nötigen Raum,<br />
um richtig Fahrtaufnehmen zu können, was<br />
schon genügt, um die Fans der ersten Stunde<br />
demütig auf die Knie sinken zu lassen. Hier<br />
findet sich zwar kein potenzieller Hit àla<br />
„Dance With Somebody“,<br />
aber vor allem<br />
die noisigen<br />
Nummern funktionieren<br />
gut.<br />
MandoDiao:<br />
Bang<br />
Playground Music/Cargo<br />
OL