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Kiek äs Ausgabe 29 / 2019

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GESICHTER UND GESCHICHTEN<br />

schön; besonders seine Eigenschaft. Als<br />

mein Vater ihn mir vor dreizehn Jahren<br />

gab, sagte er ›Junge, gehe niemals Stephanus<br />

Steinigen in Reken ohne den<br />

Stein in deiner Tasche. Du möchtest dich<br />

doch nicht in der Kneipe blamieren? Trage<br />

ihn immer bei dir und wenn der Stein<br />

anfängt zu drücken, oder du ihn im<br />

besoffenen Kopp strahlen siehst, dann<br />

ist es gut gewesen. Dann wird es Zeit für<br />

dich, nach Haus zu kommen.‹«<br />

»War es denn auch so?«, fragte die<br />

Bedienung. Nachdenklich betrachtete<br />

sie den Stein.<br />

»Ich weiß es nicht, ich habe es einfach<br />

getan. Auch wenn es dann manchmal<br />

fünf Uhr morgens war. Meinem<br />

Vater hat es gereicht, wenn ich ihm<br />

dann erklärt habe, dass der Stein einfach<br />

nicht eher zu drücken angefangen<br />

hatte. Was haben wir darüber gelacht!«,<br />

er schnaufte kurz, bevor er weitersprach.<br />

»Alte Zeiten. Papa und ich hatten<br />

eigentlich immer ein gutes Verhältnis.<br />

Nur als ich ihm vor sechs Jahren<br />

sagte, dass ich nicht in Reken bleiben<br />

will und in die Welt hinaus gehen möchte,<br />

da wurde es kalt zwischen uns.<br />

Nicht, dass er es mir nicht gegönnt hatte.<br />

Nein, er hatte nur Angst, dass wir uns<br />

aus den Augen verlieren würden.«<br />

»Hatte er recht?«<br />

»Leider ja. Ich arbeite in einer großen<br />

Firma. Muss viel reisen. Vor fünf Tagen<br />

war ich noch in Los Angeles. Ach ja, die<br />

Arbeit. Karriere. Ist das nicht verrückt?<br />

Ich habe Zeit, um mit irgendwelchen<br />

Geschäftspartnern essen zu gehen und<br />

schaffe es nicht ein Mal, meine Eltern<br />

über Weihnachten anzurufen?« Er<br />

schnaufte erneut und seine Mundwinkel<br />

hoben sich wieder zu einem spöttischen<br />

Grinsen. »Die letzten Jahre wusste<br />

ich eigentlich so gut wie überhaupt<br />

nicht, was mit meinen Eltern los ist. Zu<br />

Anfang haben wir noch telefoniert. Mama<br />

hat immer gefragt, wann ich denn<br />

wieder in Deutschland bin. Ich habe sie<br />

stets vertröstet. Dann habe ich es nicht<br />

mehr geschafft anzurufen und habe ihr<br />

lediglich übers Handy Kurznachrichten<br />

geschrieben. Wieder fragte sie, wann<br />

ich es denn mal schaffen würde. Damals<br />

hatte sie schon angedeutet, dass<br />

es Papa nicht so gut gehen würde. Aber,<br />

das war vor drei Jahren und ich stand<br />

kurz davor, einen guten Posten zu bekommen.<br />

Also ignorierte ich ihre Worte.<br />

Seit Anfang des Jahres hatte ich dann<br />

nichts mehr von ihnen gehört. Keine<br />

Kurznachrichten, keine Emails, nicht<br />

einmal einen Brief.«<br />

Er schluckte. Die Bedienung öffnete<br />

ihren Mund, doch er kam ihr zuvor. »Ich<br />

habe es nicht bemerkt. Absolut nichts<br />

registriert. Ich wäre noch heute völlig<br />

ahnungslos, wenn ich nicht …«, er verstummte<br />

und starrte wieder auf den<br />

Stein.<br />

Schweigen. Selbst das Gefluche der<br />

Skatspieler schien verstummt zu sein.<br />

Minuten verstrichen. Erst als eine Träne<br />

von seiner Nasenspitze zu Boden tropfte,<br />

flüsterte er: »Im Januar hatte Vater<br />

einen Schlaganfall. Mama war mit der<br />

Situation völlig überfordert. Sie hat einfach<br />

nicht daran gedacht, mich darüber<br />

zu informieren. Es wäre ja eh verschwendete<br />

Zeit gewesen. Ich hätte es<br />

nie erfahren, wenn nicht …«, seine Hand<br />

zuckte in Richtung seines Gesichtes. Ihr<br />

kam es vor, als würde er sich am liebsten<br />

selbst ohrfeigen. »… Wenn ich nicht vor<br />

fünf Tagen diesen Stein in einem Seitenfach<br />

meines Koffers gefunden hätte.<br />

Der Stein, der mich mit seinem türkisen<br />

Glanz aus meinem Alltagstrott zog. Ich<br />

hatte ihn nicht da hineingelegt. Vielleicht<br />

war es mein Vater? Möglich wäre<br />

es. Schließlich habe ich diesen Koffer<br />

schon seit damals, als ich Reken verließ.<br />

Jedenfalls hat mich dieser Stein an<br />

etwas erinnert, an die Worte meines<br />

Vaters.« Nun nahm er sein Bierglas und<br />

leerte es in einem Zug. Er stieß auf und<br />

sagte dann mit bebender Stimme:<br />

„Und wenn der Stein anfängt zu drücken,<br />

oder du ihn in besoffenem Kopp<br />

strahlen siehst, dann ist es gut gewesen.<br />

Dann wird es Zeit für dich, nach<br />

Haus zu kommen! Das tat ich dann<br />

auch und nun bin ich hier.« Er schwieg<br />

wieder und betrachtete den Stein.<br />

»Und, wie geht es Ihrem Vater?«,<br />

fragte die Bedienung, dabei konnte sie<br />

ihre Neugierde nur schwer verstecken.<br />

Bei ihren Worten rannen weitere Tränen<br />

an seiner Nasenspitze herab. »Er wird<br />

doch nicht … nicht bevor Sie es rechtzeitig<br />

geschafft haben?« Sie hielt sich<br />

die Hand vor den Mund.<br />

Er sah sie nicht an, als er ihr mit belegter<br />

Stimme antwortete.<br />

»Sagen wir es so. Ich bin froh, dass<br />

ich diesen Stein habe. Doch bereue ich<br />

es, dass ich nicht in der Lage gewesen<br />

war, ihn und seine Bedeutung eher zu<br />

sehen.«<br />

Dann sagte er nichts mehr.<br />

Er sah nur stumm auf den türkis<br />

schimmernden Stein in seiner Hand.<br />

Zuhause<br />

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