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Loccumer Pelikan 4/2019

Mensch und Tier

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10<br />

grundsätzlich<br />

in alle Richtungen machen und kann sich nicht<br />

umdrehen. Die Sau leidet unter der Einschränkung<br />

ihrer Bewegungsfreiheit und wird so am<br />

Ausleben natürlicher Verhaltensweisen gehindert.<br />

Durch die Fixierung der Mutter soll verhindert<br />

werden, dass sie ihre Ferkel erdrückt<br />

(und damit tötet), wenn sie sich auf den Boden<br />

legt. Denn der Tod jedes Ferkels bedeutet einen<br />

ökonomischen Verlust für den*die Landwirt*in.<br />

Im Kastenstand können die Ferkel ungehindert<br />

Milch trinken und leichter entkommen, wenn<br />

sich die Mutter hinlegt. Trotzdem kann auch<br />

der Kastenstand Erdrückverluste nicht gänzlich<br />

unterbinden. An den*die Tierethiker*in ergeht<br />

daher folgende Frage: Dürfen wir Muttersauen<br />

im Kastenstand halten, um das Leben ihrer Ferkel<br />

zu schützen und / oder den ökonomischen<br />

Gewinn des*der Landwirt*in zu sichern?<br />

Das Werkzeug philosophischer<br />

Tierethiker*innen:<br />

Ethische Theorien<br />

Ethische Theorien bilden die Grundlage für die<br />

Reflexion über tierethische Probleme. Bei der Begründung<br />

unserer moralischen Verpflichtungen<br />

gegenüber Tieren kann zwischen zwei großen<br />

Theoriesträngen unterschieden werden: Erstens<br />

dem Differentialismus, der die Unterschiede zwischen<br />

Mensch und Tier betont und Tieren auf<br />

dieser Grundlage jegliche direkte moralische Berücksichtigung<br />

abspricht. 3 Der zweite Theorieansatz<br />

ist der Assimilationismus, der den Fokus<br />

auf die Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier<br />

richtet 4 und sich darauf aufbauend für die moralische<br />

Berücksichtigung von Tieren einsetzt.<br />

Zu den bekanntesten differentialistischen<br />

Positionen gehört Immanuel Kants 5 Verrohungsargument.<br />

Nach Kant unterscheidet sich der<br />

Mensch durch seine Vernunftbegabung vom<br />

Tier. Die Vernunft ist das wesentliche Kriterium<br />

seiner Argumentation, weil nur vernunftbegabte<br />

Wesen auf moralisch relevante Weise geschädigt<br />

werden können. Aufgrund dieses Mangels<br />

sind Tiere in moralischen Belangen nicht um ihrer<br />

selbst willen zu berücksichtigen, sondern nur,<br />

insofern diese Rücksichtnahme den Menschen<br />

selbst dient. Menschen dürfen Tiere daher nicht<br />

grausam behandeln, weil Tierquälerei dazu bei-<br />

3<br />

Vgl. Grimm / Wild: a.a.O., 33; Wild, a.a.O., 36.<br />

4<br />

Vgl. Wild: a.a.O., 36f.<br />

5<br />

Vgl. Kant: Die Metaphysik der Sitten, §17; Kant: Vorlesung<br />

über allgemeine praktische Philosophie und<br />

Ethik, 345ff.; Grimm / Wild, a.a.O., 33ff.<br />

trägt, dass Menschen in ihrem Verhalten verrohen<br />

und folglich dazu neigen, auch andere<br />

Menschen schlecht zu behandeln. Kants ethischem<br />

Ansatz zufolge dürfen wir Zuchtsauen<br />

im Kastenstand halten: Da sie nicht vernünftig<br />

sind, werden sie durch die Einschränkung ihrer<br />

Bewegungsfreiheit nicht auf moralisch relevante<br />

Weise geschädigt. Wir dürfen die eingesperrten<br />

Tiere aber nicht mutwillig quälen, weil wir<br />

durch dieses Verhalten abstumpfen und dann<br />

auch Menschen quälen könnten.<br />

In Bezug auf den Assimilationismus lassen<br />

sich verschiedene theoretische Ansätze unterscheiden.<br />

Den verbreitetsten Theorierahmen<br />

bildet der moralische Individualismus. Moralische<br />

Individualisten verknüpfen die moralische<br />

Berücksichtigung von tierlichen Individuen mit<br />

dem Besitz bestimmter Eigenschaften, über die<br />

auch Menschen verfügen. 6 Ihrer Position liegt<br />

zunächst die Annahme zugrunde, dass die moralische<br />

Schutzwürdigkeit von Menschen auf<br />

den Besitz einer bestimmten Eigenschaft X zurückzuführen<br />

ist. Weist nun ein Tier ebenfalls<br />

diese Eigenschaft X auf, dann muss es ebenso<br />

moralisch berücksichtigt werden. Denn es gibt<br />

in diesem Fall keine Rechtfertigung, das Tier anders<br />

als einen Menschen zu behandeln. Besitzt<br />

ein Wesen Eigenschaft X hingegen nicht, dann<br />

gibt es keine Pflicht, es moralisch zu berücksichtigen.<br />

Ein bekannter Vertreter des moralischen<br />

Individualismus in der Tierethik ist Peter<br />

Singer 7 , der die besagte Eigenschaft X in der<br />

Empfindungsfähigkeit gegeben sieht: Ist ein Lebewesen<br />

empfindungsfähig, dann hat es positive<br />

und negative Zustände und auch ein Interesse<br />

daran, nicht zu leiden. Dieses muss folglich<br />

– wie menschliche Interessen – moralisch berücksichtigt<br />

werden.<br />

Singers Argumentation beruht auf einem<br />

Gleichheitsgrundsatz, der besagt, dass gleiche<br />

Interessen gleich berücksichtigt werden müssen<br />

und ungleiche Interessen ungleich. Das ist<br />

bereits im zwischenmenschlichen Bereich relevant:<br />

Wir fügen anderen Menschen in der Regel<br />

nicht mutwillig Schmerz zu, weil wir aus<br />

eigener Erfahrung wissen, wie unangenehm<br />

Schmerz ist. Unter der begründeten Annahme,<br />

dass auch Tiere das Interesse besitzen, nicht zu<br />

leiden, weitet sich unsere moralische Verantwortung<br />

auf Tiere aus. Da Singers Ansatz utilitaristisch<br />

ist, wird die Güte einer Handlung an<br />

ihren Konsequenzen bemessen. In der Praxis<br />

6<br />

Vgl. Grimm / Wild: a.a.O., 50ff.; Grimm: Das Tier an<br />

sich?, 56ff.<br />

7<br />

Vgl. Singer: Animal Liberation; Grimm/Wild: a.a.O.,<br />

57ff.<br />

<strong>Loccumer</strong> <strong>Pelikan</strong> | 4/ <strong>2019</strong>

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