Das Fotobuch in Kunst und Gesellschaft
ISBN 978-3-86859-580–2
ISBN 978-3-86859-580–2
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Das Fotobuch
in Kunst und
Gesellschaft
Partizipative Potenziale
eines Mediums
Herausgeberin
Montag Stiftung
Kunst und Gesellschaft
11
15
20
Inhalt
Willkommen
Gemeinsam sind wir mehr 27
Kooperationen in Zeiten des Umbruchs
Ruth Gilberger
Fotobücher für alle! 31
Eine Einleitung
Ruth Gilberger
1. Einführungen
Zwischen Roman und Film 55
Eine kurze Geschichte des Fotobuchs
Gerry Badger
Was steckt da eigentlich drin? 67
Erfahrung mit Partizipation durch Kunst
Susanne Bosch
Widersprüchliche Welten 77
Zwischen globalen Umbrüchen und lokalen Realitäten
Shalini Randeria
Umbruch im Fotobuch 87
Bücher einer Ausstellung
Anne-Katrin Bicher, Frederic Lezmi, Markus Schaden
21
Inhalt
2. Ein mobiles Fotobuch-Projekt: Welt im Umbruch
Vom Konzept zur Realisation 151
Neue Zugänge zum Fotobuch
Anne-Katrin Bicher
2.1. Allianzen vor Ort
Interviews mit Projektpartnerinnen und -partnern 199
Michaela Selling (Kulturamt Rostock)
Frank Jebavy (Kulturbetriebe Duisburg)
Tobias Hartung (Kulturamt Kassel)
Yasemin Ínce Albayrak/Birgit Hengesbach-Knoop (Frauentreff Brückenhof, Kassel)
Dieter Neubert (Fotobookfestival Kassel)
2.2. Fotobücher anders ausstellen
Blättern erwünscht! 231
Anmerkungen zu Präsentationsformen des Fotobuchs
Anne-Katrin Bicher
Wie bitte geht eine ästhetische Erfahrung? 239
Ruth Gilberger
2.3. Fotobücher publizieren
Aus den Artist Talks 279
Andrea Diefenbach
Peter Bialobrzeski
Carolyn Drake
Carlos Spottorno
2.4. Siebzig Dummys für die Zukunft
Fotobücher kann jeder! 311
Frederic Lezmi, Markus Schaden
22
Inhalt
Wie begegne ich dem visuellen Chaos? 314
Ein editorischer Leitfaden
Linn Phyllis Seeger, Wolfgang Zurborn
Von Umbrüchen und Neuanfängen 319
Erfahrungen aus den Fotobuch-Workshops
Ursula Birkner
Arax Karapetjan
Renate und Wolfgang Krieg
Prem Lüers
Joseph Maher
Gabriele Luck
Yasemin İnce Albayrak
Big Little City 387
Nico Baumgarten
3. Perspektiven
Hyperpräsenz und Betrachtung 407
Das Fotobuch unter digitalen Bedingungen
Michael Hagner
Stand Up and Speak Out! 413
Fotobücher von Frauen
Russet Lederman
Das Fotobuch zwischen Kolonialismus, 425
Propaganda und Aktivismus
Perspektiven aus Indonesien
Gunawan Widjaja
Teilhaben und Neues wagen 433
Partizipative Potenziale eines Mediums
Ruth Gilberger, Markus Schaden
23
Inhalt
Auf Wiedersehen
Die Organisationen 454
Autorinnen und Autoren 455
Fotografien 460
Danke 467
Impressum 468
24
WILLKOMMEN
Gemeinsam sind wir mehr 27
Kooperationen in Zeiten des Umbruchs
Ruth Gilberger
Fotobücher für alle! 31
Eine Einleitung
Ruth Gilberger
25
54
ZWISCHEN
ROMAN
UND FILM
EINE KURZE GESCHICHTE
DES FOTOBUCHS
Gerry Badger
Einführungen
„Ein Fotobuch ist eine autonome
Kunstform, vergleichbar mit einer
Skulptur, einem Theaterstück oder
einem Film.“
Ralph Prins 1
Ralph Prins gehörte zu den Ersten, die dem Wort Fotobuch eine besondere Bedeutung
gaben. Es bezeichnet nämlich nicht irgendein mit Fotos illustriertes Buch, sondern eines,
das seine wichtigste Botschaft mit Fotografien transportiert. Fotobuch bedeutet auch,
dass Autor oder Autorin einen gestalterischen Anspruch haben – und es steht für einen
qualitativen Unterschied. Der amerikanische Fotograf John Gossage hat das Wesen eines
guten Fotobuchs so definiert:
„Erstens sollte es großartige Arbeiten enthalten. Zweitens sollte es aus diesen Arbeiten
eine eigenständige Welt im Buch entstehen lassen. Drittens sollte das Design den Inhalt
des Buches perfekt ergänzen. Und schließlich sollte der Inhalt von anhaltendem Interesse
sein.“ 2
Sowohl Prins als auch Gossage weisen darauf hin, dass das Fotobuch ein integraler
Teil der fotografischen Welt ist, zu der es fest dazugehört. Es ist aber auch eine eigene
Welt, mit einem eigenen Kanon großer und angesehener Werke. Dabei stammen viele der
wichtigsten Fotobücher von führenden Fotografinnen und Fotografen unserer Zeit und
haben wesentlich zur Entwicklung der fotografischen Ästhetik beigetragen. Aber auch
Fotografinnen und Fotografen, die nicht zu den großen Namen gehören, können einen Platz
in der Geschichte des Fotobuchs haben. In jüngster Zeit gab es exzellente Fotobücher sogar
von Nicht-Fotografen, mit Fotos aller Art.
Das allererste Fotobuch erschien innerhalb von fünf Jahren nach Erfindung des Mediums.
Das erste fotografische Verfahren, die 1839 von Louis Daguerre in Frankreich eingeführte
Daguerreotypie, war ein einzelnes Bild auf einer Kupferplatte, also kaum für die Buchherstellung
geeignet. Erst William Henry Fox Talbots Kalotypie-Negativ, von dem beliebig viele
Positive abgezogen werden konnten, schuf die Grundlage für die moderne Fotografie und insbesondere
das Fotobuch. Talbot produzierte 1844 in Großbritannien den ersten Teil seiner
mehrbändigen Arbeit The Pencil of Nature 3 (1844–1846) mit eingeklebten Kalotypien und
begleitenden Kommentaren zu Vorzügen und Zukunft der Fotografie. The Pencil setzte einen
gewissen Standard für das Genre: Als Portfolio versammelte und präsentierte es das Werk
56
Zwischen Roman und Film – Gerry Badger
eines Fotografen und war zugleich eine Streitschrift für die Fotografie als Medium. Talbot
interessierte sich für die praktische Anwendung der Fotografie.
Talbots Pencil war bereits 1843 der Band Photographs of British Algae 4 (1843–1853) der
britischen Botanikerin Anna Atkins zuvorgekommen, der heute zu Recht als das erste
Fotobuch gilt. Atkins setzte einen anderen Standard. Während Talbots Buch seiner Zeit
verhaftet ist, könnte das von Atkins heute verlegt worden sein. Das simple, aber schöne
Repetieren der Bilder in Blau und Weiß nimmt die konzeptuellen Fotobücher von Künstlerinnen
und Künstlern der 1960er und 1970er Jahre um mehr als ein Jahrhundert vorweg.
In ihren Anfängen galt die Fotografie als „halb Kunst, halb Wissenschaft“. Erfunden wurde
sie in Großbritannien und Frankreich, den beiden größten Kolonialmächten der Zeit, und
war schon bald Teil der Wissensbeschaffungsindustrie für das imperialistische System. So
war die Fotografie des 19. Jahrhunderts und insbesondere das Fotobuch, das Bilder sammeln
und kategorisieren konnte, vor allem auf die praktische und nicht die künstlerische
Seite des Mediums konzentriert, nämlich das Dokumentieren der Welt.
So bediente ein Buch wie Égypte, Nubie, Palestine et Syrie 5 (1852) von Maxime du Camp
die Disziplinen Reise und Altertumskunde, ebenso wie Auguste Salzmanns Jérusalem 6
(1856) und Egypt, Sinai and Jerusalem 7 (1862/63) von Francis Frith und viele andere. Wie
die Vergangenheit war auch die Gegenwart von Interesse. Crystal Palace 8 (1855) von Philip
Delamotte und Chemins de fer de Paris à Lyon 9 (1861–1863) von Édouard Baldus repräsentieren
Architektur, Ingenieurskunst und Nationalstolz. Auch der Krieg war ein Thema für die
Fotografen, nicht etwa, um ihn zu verurteilen, sondern um die Entscheidungen der Politik
zu rechtfertigen, insbesondere den Krimkrieg in Großbritannien und den amerikanischen
Bürgerkrieg, so in George N. Barnards Photographic Views of Sherman’s Campaign 10 (1866).
John Thomsons Illustrations of China and Its People 11 (1873), ein scheinbar objektives Buch
über das Land, seine Architektur und Ethnologie, bedient tatsächlich kolonialistische
Konventionen.
Von solchen Büchern gab es viele. Die Fotografie interessierte sich immer schon dafür,
das „Andere“ zu dokumentieren, sodass Fotografinnen und Fotografen aus der meist
europäischen Mittelklasse Menschen aus unteren Klassen und anderen Kulturkreisen
fotografierten. Einige Bücher dienten auch dubiosen Wissenschaften wie der Phrenologie:
Sie untersucht die menschliche Physiognomie, um Kriminelle anhand ihrer körperlichen
Eigenschaften zu erkennen. Fotografische Dokumentation war zweifellos ein Mittel sozialer
Kontrolle, konnte aber auch fortschrittlichen sozialen Zielen dienen, wie Old Glasgow 12
(1878/79) von Thomas Annan, das die Lebensbedingungen in Armutsvierteln zeigen und
Gegenden festhalten wollte, die dem sozialen Wohnungsbau weichen mussten.
Alle bislang erwähnten Bücher waren mit Originalabzügen illustriert, die auf die Seiten
geklebt wurden – ein ebenso aufwendiges wie teures Verfahren. Von Anfang an haben
deshalb erfinderische Menschen versucht, die Fotografie mit Tinte zu verbinden, um sie mit
57
Einführungen
Food
Henk Wildschut
Wie schmeckt die Zukunft?
Für einen Auftrag fotografierte Henk Wildschut in den Niederlanden
zwei Jahre lang die Arbeit von Landwirtinnen und Unternehmerinnen die
auf der Suche nach Innovationen in der Lebensmittelproduktion sind.
Ihre Arbeit fasziniert ihn. Er ertappt sich dabei, wie er Bio-Produkte
zu stark romantisiert und realisiert: Unser Essen entsteht in einer
klinischen Welt von Vorschriften und Protokollen, die zu komplex ist, um
in ihr zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können.
Wildschut, Henk: Food. Amsterdam 2013.
The Table of Power 2
Jacqueline Hassink
Strippenzieher der Macht
Wie sehen eigentlich die Zentren der Macht der größten Unternehmen
dieser Welt aus? Dies interessiert Jacqueline Hassink (1966–2018) bereits
Anfang der 1990er-Jahre, als sie zum ersten Mal um den Globus reist
und die Vorstandsetagen der 40 wichtigsten Weltkonzerne und Banken
fotografiert (The Table of Power , 1996). 15 Jahre später kommt sie wieder,
weil es sie interessiert, ob sich in den Konzernen und Sitzungssälen nach
der globalen Finanzkrise von 2007 etwas verändert hat. Wie schon 1993,
bleiben für die Fotokünstlerin einige Türen verschlossen, beispielsweise
auch die der Daimler AG in Stuttgart.
Hassink, Jacqueline: The Table of Power. Amsterdam 1996.
Hassink, Jacqueline: The Table of Power 2. Ostfildern 2011.
92
Umbruch im Fotobuch – Frederic Lezmi, Markus Schaden
Die Mauer ist weg!
Mark Power
Eine Party ohne Einladung
Als Mark Power durch einen glücklichen Zufall und mit seinem letzten
Geld in der Tasche am 9. November 1989 von London nach Berlin fliegt,
ahnt er noch nicht, dass in dieser Nacht die Mauer fällt und dies sein
Leben verändern wird. Wie auf einer „Party, zu der ich keine Einladung
hatte“, 1 fühlte sich Power beim Fotografieren der Freudenfeiern im
Niemandsland am Checkpoint Charlie. Am nächsten Morgen verbreiten
Nachrichtenagenturen seine Fotos in der ganzen Welt. Seine Karriere als
Pressefotograf hat begonnen und die Berliner Boulevardzeitung B.Z.
titelt: „Die Mauer ist weg!“ – was ihn 20 Jahre später zu diesem Buch
inspiriert.
Power, Mark: Die Mauer ist weg!. Brighton 2014, o.S.
1 Power, Mark: Die Mauer ist weg!. Brighton 2014.
Wild Pigeon
Carolyn Drake
Collagen des Widerstandes
Wie lernt man Menschen kennen, die aufgrund staatlicher Zensur
öffentlich nicht frei reden können? Man tauscht mit ihnen Bilder aus.
So jedenfalls hat sich die amerikanische Fotografin Carolyn Drake den
Uiguren genähert, die im autonomen Gebiet Xinjiang im Westen der
Volksrepublik China leben. Der Titel ihres im Eigenverlag erschienenen
Buches Wild Pigeon (2014) ist eine Hommage an den uigurischen
Schriftsteller Nurmuhemmet Yasin, der 2004 für die Veröffentlichung
seiner gleichnamigen Erzählung („Wilde Taube“) in China inhaftiert
wurde und laut Amnesty International 2011 im Gefängnis verstarb. 1
Drake, Carolyn: Wild Pigeon. O. O. (Selbstverlag) 2014.
1 O. V.: „China. Uigurischer Schriftsteller im Gefängnis gestorben“. In: Amnesty.de, 03.01.2013,
https://www.amnesty.de/2013/1/3/china-uigurischer-schriftsteller-im-gefaengnis-gestorben.
93
Julian Germain
For Every Minute You Are Angry You Lose Sixty Seconds Of Happiness
London 2005 (Mack)
104
Yves Gellie
Human Version
Paris 2013 (Loco)
137
Ein mobiles Fotobuch-Projekt: Welt im Umbruch
Ein mobiles
Fotobuch-
Projekt
Ausstellung
Herzstück von Welt im Umbruch war die Fotobuch-Ausstellung mit Arbeiten
von 22 international arbeitenden Fotografinnen und Fotografen, die
gegenwärtige Umbrüche thematisieren. Das Themenspektrum der ausgestellten
Bücher war groß: Klimawandel, Urbanisierung, Migration und
Flucht, politische und wirtschaftliche Umwälzungen, um einige zu nennen
– ebenso der Umgang mit individuellen Umbrüchen. Die Bücher wurden
in drei Frachtcontainern ausgestellt und lagen frei zugänglich zum Lesen
und Anfassen bereit. Die räumliche Inszenierung war reduziert und kurze
Texte führten inhaltlich in die Bücher ein.
Outdoor-Installation
Den Großteil der einzelnen Fotografien aus dem Bildatlas zeigten wir im
XXL-Format als wetterfeste PVC-Prints auf Europaletten aufgezogen. Sie
standen außerhalb der Ausstellungscontainer auf dem Ausstellungsgelände,
sodass Passantinnen und Passanten direkt mit den Bildern interagieren,
Selfies machen oder Details studieren konnten – auch hier galt:
Bitte berühren! Diese wie die anderen Ausstellungselemente blieben an
allen Orten unversehrt, obwohl wir uns bewusst gegen einen Sicherheitsdienst
entschieden hatten. In Rostock half das Team der Ehrenamtlichen
nicht nur bei der Produktion der Outdoor-Installation, sondern ko-kuratierte
aus dem Arbeitsprozess heraus auch die Position der Bilder auf dem
Gelände.
156
Vom Konzept zur Realisation – Anne-Katrin Bicher
Katalog-Werkstatt
In der Katalog-Werkstatt konnten Besucherinnen und Besucher kostenlos
ihren eigenen Ausstellungskatalog mit Fotografien aus den verschiedenen
Fotobüchern als Loseblattsammlung zusammenstellen. Es erwies sich als
sehr kurzweilige und gut angenommene Art, sich noch einen Moment länger
mit dem Gesehenen zu beschäftigen, Bildkombinationen zu erproben
und sich über seine eigenen visuellen Präferenzen mit Mitbesuchenden
oder dem Vermittlungsteam zu verständigen. In der Werkstatt konnten die
Katalogseiten auch zu Collagen oder Ähnlichem weiterverarbeitet werden
und sie bot Schutz bei einer Schlechtwetterfront für die sonst unter freiem
Himmel stattfindenden Kinder-Workshops.
Café Courage
In Groß Klein war das Courage noch ein Prototyp. Der an einer langen
Seite offene Open-Side-Container war als wichtiger sozialer Treffpunkt
konzipiert. Bei kühler Witterung und aufgrund seiner vergleichsweise
puristischen Ausstattung bot das Café in Rostock jedoch noch nicht die
entspannende Atmosphäre und künstlerische Reibungsfläche, die es
brauchte. So wurde im Folgenden die Gestaltung des Courage deutlich
weiterentwickelt und die Gastronomie auf kostenlose Getränke, die vom
Team angeboten wurden, beschränkt. Mit der gewünschten Wirkung: Im
Projektverlauf trug das Courage zur sozialen Qualität von Welt im Umbruch
erheblich bei und wurde von den Besucherinnen und Besuchern als inspirierender
Kommunikationsraum stark frequentiert.
Fotobuch-Workshops
Die Workshops boten den Teilnehmenden die intensivste künstlerische
Erfahrung mit dem Fotobuch und ihrer eigenen fotografischen Praxis.
Innerhalb von zwei Tagen konnte ohne jegliche Vorkenntnisse der Fotografie
oder Buchproduktion mit der Unterstützung von Fotografinnen,
Fotografen und Buchgestalterinnen bzw. Buchgestaltern produziert werden.
Gearbeitet wurde mit Fotos vom Smartphone, von der Digitalkamera
oder in Form analoger Fotoabzüge. In Rostock zeigte sich, welches Potenzial
dieses intensive Format der eigenen künstlerischen Erfahrung mit dem
Fotobuch für die Teilnehmenden hatte. Daraufhin optimierten wir das
Format, erhöhten die Anzahl der Workshops und legten großen Wert auf
eine möglichst hohe Diversität der Gruppen hinsichtlich Alter, Geschlecht,
sozialem Kontext und fotografischen Interessen.
157
Fotobücher publizieren
„Ignorierst du das Publikum,
wird das Publikum dich
ignorieren.“
Carlos Spottorno
Carlos Spottorno und Markus Schaden sprachen in Kassel über neue Strategien der
Herstellung und des Vertriebs von Fotobüchern, darüber, wie ein größeres Publikum zu
erreichen sei und über Reisen mit leichtem Gepäck.
Für The Pigs 1 (2013) hast du die Zeitschrift The Economist imitiert, für das
Fotobuchprojekt Wealth Management 2 (2015) hast du eine Webseite der fiktiven
WTF-Bank eingerichtet. Wie bist du auf die Ideen für diese außergewöhnlichen
Fotobuchprojekte gekommen?
Ich hatte mich bereits seit Längerem intensiv mit der ökonomischen Krise in Südeuropa
beschäftigt und wollte mich für das Buch The Pigs mit der Story „Europa“ auseinandersetzen.
In erster Linie hatte ich vor, ein teures und optisch ansprechendes Buch herzustellen,
weil ich den Kontrast zwischen äußerst prekären gesellschaftlichen Verhältnissen
und ihrer Darstellung in einem hochpreisigen Buch interessant fand. Irgendwann aber
dachte ich mir: „Warum imitiere ich nicht einfach die Quelle, auf die die Bezeichnung
‚Pigs‘ zurückgeht?“ So kam mir die Idee, ein Fotobuch im Erscheinungsbild eines Finanzmagazins
zu gestalten. Das Schwierigste dabei war, das richtige Papier zu finden.
Hat das Fotobuch ein neues Publikum aus unterschiedlichen gesellschaftlichen
Bereichen gewinnen können? Gab es Reaktionen auf das Buch, mit denen du nicht
gerechnet hast?
Ein größeres Publikum zu erreichen, ist für mich seit langer Zeit das Ziel. Ja, The Pigs
ist billig und es ist leicht. Du kannst das Buch daher mühelos überallhin mitnehmen.
Wenn du an Festivals oder anderen Fotobuchveranstaltungen teilnimmst, bietet es sich
förmlich an, Bücher von geringem Gewicht herzustellen. Die Leute kaufen sie gerne, da
sie sich leichter mit nach Hause nehmen lassen.
290
Aus den Artist Talks – Carlos Spottorno
Für den Vertrieb von The Pigs hast du dich Guerillastrategien bedient. Erzähl uns davon!
Das passierte eher zufällig. Direkt im Anschluss an das Fotofestival in Arles musste
ich innerhalb von 48 Stunden nach Los Angeles reisen. In den Flughäfen, an denen ich
zwischenlandete, steckte ich das Magazin in die Auslagen der dortigen Zeitschriftenläden
und veröffentliche Fotos davon auf Facebook und Instagram. Daraufhin waren
einige Leute davon überzeugt, dass ich tatsächlich The Pigs an Flughäfen verkaufte. Es
funktionierte ziemlich gut, auf diese Weise Aufmerksamkeit zu erzielen und den Eindruck
zu vermitteln, es sei tatsächlich möglich, Fotobücher über den Mainstream-Buchhandel
an ein Massenpublikum zu verkaufen.
Wenn du ein Fotobuch herstellst, wie wichtig ist dir dabei die Resonanz des Publikums?
Inwieweit spielt es eine Rolle für deine Motivation?
Bei allem was ich tue, treibt mich zunächst mein eigenes Interesse an einem Thema an
und nicht das des möglichen Publikums. Wenn ich mich dann aber für ein Sujet entschieden
habe, bemühe ich mich auf jeden Fall darum, ein neues Publikum zu erreichen.
Ignorierst du das Publikum, wird dich das Publikum ignorieren. Das ist der Grundgedanke,
an den ich glaube, seit ich in der Werbung tätig war. Wenn die Menschen nicht
verstehen, was du sagen willst, hat es keinen Zweck. Ja, tatsächlich ist es mein Ziel,
Menschen zu erreichen und ihr Feedback ist mir sehr wichtig. Es ist ein wesentlicher Teil
der Gleichung.
Wie sah der nächste Schritt nach The Pigs aus? Wie kam es zu Wealth Management?
Wealth Management imitiert die Broschüre einer Privatbank. Ich hatte mich mit der
Finanzwelt im Rahmen einer Auftragsarbeit beschäftigt. Dafür war ich in die Schweiz,
nach Luxemburg und London gereist, um Menschen und Situationen zu fotografieren, die
auf mich so wirkten, als schmiedeten reiche Gangster, von der Gesellschaft unbemerkt,
Pläne, um sich noch mehr zu bereichern. Für The Pigs fotografierte ich von der Armut
betroffene Menschen, für Wealth Management fotografierte ich wohlhabende Menschen.
Nach der Fertigstellung des Buches stellte ich es auf dem Festival in Kassel vor, und
Martin Parr stellte mir die Frage: „Carlos, was steckt hinter deinen Persiflagen? Kannst
du auch etwas Anderes machen?“ Ich antwortete ihm: „Ja, ich arbeite gerade an etwas
Neuem.“ Allerdings lief mein neues Buch schließlich auch auf eine „Persiflage“ hinaus
La Grieta 3 (2016).
Lass uns über dein neues Buch sprechen. Mit La Grieta hast du praktisch ein neues
Genre des Fotobuchs entwickelt: die „Photographic Novel“. Was hat dich dazu bewogen?
Auch dieses Buchprojekt begann mit einem Auftrag für ein Magazin, in dessen Rahmen
Aufnahmen von den Grenzen der Europäischen Union zu machen waren. Als der Autor
291
Siebzig Dummys für die Zukunft
WIE BEGEGNE ICH
DEM VISUELLEN
CHAOS?
EIN EDITORISCHER LEITFADEN
Im Rahmen des vielseitigen Workshop-Formats Welt im Umbruch haben sich über die
Jahre bestimmte editorische Herangehensweisen herauskristallisiert, mit deren Hilfe es
möglich ist, jedes noch so heterogene Bildmaterial zu analysieren und zu strukturieren.
Auf den folgenden Seiten wird grafisch erläutert, wie es überhaupt zur Bilderflut kommt
und wie man mit dem visuellen Chaos der eigenen Bilder umgeht, ohne seine Lebendigkeit
an konventionelle Ordnungssysteme zu verraten.
Fotografie als Reaktion auf die Bilderwelt
Die Fotografie spiegelt heutzutage nicht nur die Begegnung mit der Wirklichkeit, sondern
auch mit der kollektiven Bilderwelt, denn im Alltag bewegen wir uns nicht nur durch
Architektur, Landschaft und soziale Begegnungen, sondern auch durch Bilder, mit denen
wir konstant im Stadtraum und in den Medien konfrontiert werden. Unser Bewusstsein
ist deshalb von früh auf geprägt durch die Wahrnehmung von Bildern, deren Inhalt und
Bedeutung sich weit über Sprachbarrieren hinaus kommunizieren. Dieses kollektive Bildgedächtnis
ist Teil unseres Sehens und beeinflusst die Fotografien, die wir produzieren.
Die Fotografie einer Landschaft zeigt in diesem Sinne nicht nur die Landschaft selbst,
sondern gibt auch Aufschluss über die bereits existenten Bilder jener Landschaft sowie
über den persönlichen Blick des Fotografen oder der Fotografin.
314
Wie begegne ich dem visuellen Chaos? – Linn Phyllis Seeger, Wolfgang Zurborn
Wie begegne ich dem visuellen Chaos?
Die Welt, in der wir uns bewegen, ist eine chaotische – zumindest, sobald man einmal
hinauszoomt: Abgesehen von dem möglicherweise durchstrukturierten Mikrokosmos
unseres Alltags, befinden wir uns in einer Welt, in der sich unzählige Kulturen, Realitäten,
Identitätsgeflechte, Gewohnheitsstrukturen und Mentalitäten überlagern. Darin
besteht der Reichtum der Welt, den zu entdecken viele Menschen suchen, wenn sie
reisen und aus ihrem Mikrokosmos auszubrechen versuchen. Im Akt des Fotografierens
werden Momente und Situationen in diesem Chaos entdeckt und aus ihm herausgelöst.
Doch aus einer Intuition heraus entstandene Bilder lassen die Fotografin oder den Fotografen
oft selbst ratlos zurück: Warum habe ich dieses Bild gemacht? Ein neues Chaos
entsteht: das Chaos auf dem Tisch, wenn Dutzende und Hunderte solcher Bilder darauf
warten, ediert zu werden. An diesem Punkt gilt die Prämisse, das Chaos nicht aufzuräumen
oder zu bereinigen, sondern zu strukturieren. Der Intuition des Fotografen muss
vertraut werden. Der Grund, weshalb der Auslöser gedrückt wurde, muss nur gefunden
werden – durch Analyse der Bildsprache und der visuellen Module.
Ordnungen schaffen, ohne das Chaos zu verraten
Fotografien folgen einer visuellen Syntax, die entschlüsselt werden muss. In jedem
noch so ungeordneten Konglomerat an Bildern gibt es bildsprachliche Module, nach
denen es sortiert werden kann. Beschreibt die Ansammlung der Bilder beispielsweise
eine Reise, so kann die Erfahrung durch Module wie „Mensch“ – „Raum“ – „Objekt“
oder ähnliche definiert werden. Das macht zum Beispiel Porträts zu einem Modul,
weil sie den Menschen als ein Element der Erzählung definieren. Ebenso beschreiben
Architektur, Landschaft oder Innenaufnahmen den Ort, um den es geht, und fungieren
so als Modul „Raum“. In der Regel werden außerdem gerne objets trouvés fotografiert,
die etwas über Vorgänge, Gewohnheiten und Besonderheiten des Lebens an dem
jeweiligen Ort erzählen können. Dennoch drückt jeder Fotograf solche Module in
unterschiedlicher visueller Form aus. Der Prozess, die individuellen bildsprachlichen
Mittel und Module zu analysieren, ist ein nachträglicher. Der vermeintlichen Beliebigkeit
wird so nach und nach durch Strukturen und Kriterien eine nachvollziehbare
Vergleichbarkeit entgegengesetzt.
315
360
ARCHEOLOGY OF THE SOUL
„Cardie“ – Marie Schlüter
Duisburg 2017
452
AUF
WIEDERSEHEN
Die Organisationen 454
Autorinnen und Autoren 455
Fotografien 460
Danke 467
Impressum 468
453