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Berliner Zeitung 25.11.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 274 · M ontag, 25. November 2019 3 *<br />

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Seite 3<br />

Die Big-City-Story<br />

Hier geht keiner nach Hause. An der Alten Försterei wird gefeiert.<br />

DPA/SÖREN STACHE<br />

Und alle staunen. Und (fast) alle<br />

sind begeistert. Und jeder fragt<br />

sich, wie das sein kann, dass der<br />

1. FC Union in seiner ersten Bundesliga-Saison<br />

nach zwölf Spieltagen mit<br />

sechzehn Punkten auf Platz elf zu finden ist.<br />

Dass man inzwischen schon gar nicht mehr<br />

von einer Überraschung sprechen und<br />

schreiben mag, wenn die Köpenicker –wie<br />

am Sonnabend geschehen –vor heimischem<br />

Publikum den Tabellenführer Borussia Mönchengladbach<br />

verdient mit 2:0 bezwingen.<br />

Ja,Union ist nicht nur zu Besuch in der höchsten<br />

deutschen Spielklasse, sondern indiesen<br />

Tagen fraglos die aufregendste Nummer im<br />

deutschen Klub-Fußball – oder eben nach<br />

vier Siegen aus den letzten fünf Spielen die<br />

Mannschaft der Stunde. So verabschiedete<br />

sich auch Max Eberl, der Manager der Mönchengladbacher,<br />

mit einem dicken Lob an<br />

den Sieger aus Berlin.„Wir haben gegen einen<br />

guten Gegner gespielt, der würdig in der Bundesliga<br />

und total angekommen ist“, sagte er.<br />

Und: „Wir gehen immer davon aus, dass ein<br />

Aufsteiger Fußball spielen kann. Aber sie machen<br />

das eben herausragend.“<br />

Die Antwort auf die Frage, wie das sein<br />

kann, ist allerdings komplex. Weil sich die<br />

Gegenwart imBesonderen für diesen Klub<br />

nicht ohne einen Blick in die Vergangenheit<br />

erklären lässt. Undweil es sich bei dieser Erfolgsgeschichte<br />

nicht um das Werk einer Interessensgruppe,sondernumdasWerk<br />

einer<br />

Glaubensgemeinschaft handelt. Nun, der<br />

Stadtrivale Hertha BSC mag vielleicht eines<br />

Tages tatsächlich der Big-City-Klub sein, den<br />

der Investor Lars Windhorst im Zuge seines<br />

Engagements im Sinn hat, die Big-City-Story<br />

schreibt in diesen Tagen aber fraglos der<br />

1. FC Union.<br />

Euphorie in Energie umgewandelt<br />

Es war einmal ein Außenseiter: Union ist nicht nur zu Besuch in der<br />

höchsten deutschen Spielklasse, sondern in diesen Tagenfraglos die<br />

aufregendste Nummer im deutschen Klub-Fußball<br />

Es ist die Geschichte eines Klubs, der aufgrund<br />

seiner wechselvollen Geschichte tatsächlich<br />

nur noch als Kiezklub wahrgenommen<br />

wurde. Der in den Neunzigerjahren,<br />

aber auch zu Beginn des neuen Jahrtausends<br />

mehr Tiefen als Höhen erlebte, sich aber<br />

doch tatsächlich mit ganz langem Atem neu<br />

erfunden hat. Als Selfmade-Klub mit unverwechselbarem<br />

Image. Alles wirkt bei Union<br />

echt –und kein bisschen aufgesetzt. Da muss<br />

keine Markenbotschaft zwanghaft formuliert<br />

und übermittelt werden, alles ist ganz<br />

einfach: Unsere Liebe. Unsere Mannschaft.<br />

Unser Stolz. Unser Verein. Eisern Union! So<br />

ist es letztlich vielleicht gar nicht so verwunderlich,<br />

dass der Klub seine durch den Aufstieg<br />

gewonnene Euphorie in Energie umwandeln<br />

konnte. Union ist der bewegte Verein,<br />

der durch den Aha-Effekt Aufstieg womöglich<br />

erst sein ungeheures Potenzial<br />

entfalten kann.<br />

Sonnabend, 15. Spielminute: Mönchengladbachs<br />

Mann für das Zentrum, Denis Zakaria,<br />

patzt bei der Ballannahme im Mittelfeld,<br />

Unions Christopher Lenz spurtet flugs<br />

dazwischen, passt mit seinem zweiten Kontakt<br />

sogleich auf Marcus Ingvartsen, der mit<br />

seinem Laufweg über den linken Flügel die<br />

Abwehr der Gäste letztlich vor ein unlösbares<br />

Problem gestellt hat. Ingvartsen verliert<br />

dank seiner feinen Technik bei der Ballmitnahme<br />

nicht an Tempo, nimmt nach fünf,<br />

sechs schnellen Schritten den Kopf hoch,<br />

sieht, dass Anthony Ujah vom rechten Flügel<br />

in die Mitte zieht. Ingvartsen flankt mit<br />

viel Gefühl über die gegnerischen Verteidiger<br />

hinweg, Ujah köpft mit aller Wucht zum<br />

1:0 ein – und hat nach ein paar Handküsschen<br />

Richtung Haupttribüne ein konkretes<br />

Ziel: die Ersatzbank der Eisernen, wo<br />

er schließlich Ersatzspieler Sebastian Polter<br />

in die Arme fällt.<br />

Was sich aus diesen 15 Sekunden zwischen<br />

dem frühen Ballgewinn durch Lenz<br />

und dem ungewöhnlichenTorjubel vonUjah<br />

und Polter ablesen lässt, ist einerseits ein<br />

Hinweis auf die spielerische Qualität, welche<br />

die Eisernen seit dem Aufstieg gewonnen haben,<br />

andererseits auch ein Hinweis auf den<br />

Teamspirit, der die Eisernen allem Anschein<br />

nach eint und bewegt. Es ist ja keine Selbstverständlichkeit,<br />

dass sich zwei Angreifer,die<br />

sich die Woche über im Training indirekt um<br />

einen Platz in der Startformation duellieren,<br />

den Erfolg gegenseitig gönnen. Alles eine<br />

Frage des Charakters! Alles zu schön, um<br />

wahr zu sein? Das Bild, das bleibt, und die<br />

Worte, die folgten, sprechen dagegen.<br />

Dort der 29 Jahre alte Nigerianer, der im<br />

Sommer für die Rekordablösesumme von<br />

zwei Millionen Euro aus Mainz gekommen<br />

war und sich als erfahrener Bundesligaprofi<br />

grundsätzlich wohl auch ein bisschen mehr<br />

Einsatzzeit erhofft hatte. Hier der 28 Jahre<br />

alte Wilhelmshavener, der in Köpenick seit<br />

seiner Rückkehr im Januar 2017 als Identifikations-<br />

und Integrationsfigur in Erscheinung<br />

tritt und wahrscheinlich gerade deshalb<br />

schon im vergangenen Jahr mit seiner<br />

Reservistenrolle doch arg zukämpfen hatte.<br />

„Wir unterstützen einander. Egal, wer spielt.<br />

Die Harmonie müssen wir beibehalten“, erklärte<br />

Ujah, der bei Polters Siegtreffer im<br />

Stadtderby gegen Hertha BSC als erster Gra-<br />

VonMarkus Lotter und Patrick Berger<br />

tulant zur Stelle gewesen war.Den Subtext zu<br />

seinem Jubel mit Polter wollte er indes nicht<br />

liefern. „Da müssen Sie den Trainer fragen.<br />

Ich kann das nicht verraten. Wir haben da<br />

eine kleine …naja, nur der Trainer kann sagen,<br />

was war. Wenn er darüber sprechen<br />

möchte, gerne.“ Undder Erfolg gegen Mönchengladbach?<br />

Ujah antwortete: „Überrascht<br />

bin ich nicht. Wir wissen schon, was<br />

wir können.“<br />

AnthonyUjah (M.) feiertmit Sebastian Polter das<br />

1:0, Michael Parensen (r.) lobt den Schützen. CONTRAST<br />

Nun kann ein Trainer nicht alles beeinflussen,<br />

was in der Kabine passiert, wie sich<br />

im Alltag der Profis zwischenmenschlich das<br />

eine mit dem anderen fügt. Doch scheint der<br />

Schweizer UrsFischer in Absprache mit Manager<br />

Oliver Ruhnertbei der Zusammenstellung<br />

seines Erstligakaders schon mal fast alles<br />

richtig gemacht zu haben. Beim Relaunch<br />

einer Aufstiegsmannschaft ist das kein leichtes<br />

Unterfangen. Hierarchien verschieben<br />

sich, Helden werden zu Ergänzungsspielern,<br />

Zugänge im besten Fall zu neuen Helden.<br />

Siehe den aus Heidenheim verpflichteten<br />

RobertAndrich, der den imVorjahr gesetzten<br />

Manuel Schmiedebach aus der Startelf verdrängt<br />

hat. Siehe den vom belgischen Meister<br />

KRC Genk verpflichteten Ingvartsen, der<br />

nach einer kurzen Eingewöhnungsphase<br />

zum Leidwesen vonSuleiman Abdullahi immer<br />

besser in Schwung kommt. InsbesondereFischer<br />

ist da als Psychologe und Moderator<br />

gefragt, als einer, der offen, zugleich<br />

überzeugend mit seinen Spielernkommuniziert,<br />

und das nicht nur mit seinem Spielführer,<br />

sondernauch mit der Nummer 32 im Kader.<br />

Abschied vomCapo<br />

Fakt ist, dass Fischer und Ruhnert den Klub<br />

im sportlichen Bereich eine bis dato noch nie<br />

dagewesene Professionalität verliehen haben<br />

und bestens auf das Abenteuer Bundesliga<br />

vorbereitet waren. Da wird nicht von<br />

Klub-DNA geschwafelt wie andernorts, sondern<br />

einfach aus Überzeugung gearbeitet.<br />

Da verfällt keiner in Panik, was nach dem 0:4<br />

beim Ligadebüt gegen RB Leipzig schon<br />

leicht mal hätte der Fall sein können. Alles<br />

immer ganz cool, was für den Beobachter indes<br />

nicht immer ganz so einfach ist. So gab<br />

Fischer nach dem Erfolg gegen die hoch gehandelte<br />

Borussia aus Mönchengladbach<br />

freilich mal wieder den Mahner. Hören wir<br />

nur kurzmal rein: „ImMomentsiehtessehr<br />

gut aus, aber das ist nur eine Momentaufnahme.“<br />

Und: „Es kann ganz schnell gehen.<br />

Wir dürfen auch nicht zu euphorisch werden.<br />

Jetzt sind wir wieder gefordert, Ruhe zu<br />

bewahren.“<br />

Sonnabend, unmittelbar nach Spielschluss:<br />

Hier bewahrt keiner die Ruhe. Keiner<br />

geht hier nach Hause. Im Stadion An der<br />

Patrick Berger<br />

träumt schon vom<br />

Europapokal.<br />

AltenFörsterei wirdgefeiert. UndTränen fließen,<br />

weil Fabian Voss zuvor seinen letzten<br />

Auftritt als Einpeitscher auf derWaldseite gegeben<br />

hat und nun von den Spielern auf<br />

Händen getragen wird. Der Verein hat zum<br />

Abschied des „Capo“ ein T-Shirt bedrucken<br />

lassen. „10.5.2006 VonFinkenkrug bis Gladbach<br />

23.11.2019 steht drauf“ und in dicken<br />

Letternzudem„Danke,Vossi!“ DerVorsänger<br />

hat alles miterlebt, vonder Oberliga bis zum<br />

Aufstieg in die Bundesliga, ab sofort will er<br />

sich aber mehr um seine Familie kümmern.<br />

Nicht Ujah oder Andersson, der in der<br />

Schlussminute das 2:0 gegen Mönchengladbach<br />

erzielte, stehen im Mittelpunkt, nein,<br />

Voss ist also letztlich der Star des Spätnachmittags.„Es<br />

ging nicht nur um uns und um<br />

das Fußballspiel“, sagte Kapitän Christopher<br />

Trimmel. „Wie man gesehen hat, ist unser<br />

Capo heute abgetreten und der Tagwar wirklich<br />

perfekt.“<br />

Und auch hier hatte man nicht das Gefühl,<br />

dass einem etwas vorgegaukelt wird.<br />

Die Kurve ist bei Union nicht nur Kulisse,<br />

hier schlägt das Herz des 1. FC Union, hier<br />

wird die Niederlage nicht nur als betrübliches<br />

Ereignis wahrgenommen, sondern als<br />

kollektiver Schmerz. Wenngleich es auch in<br />

der eisernen Kurve freilich schwarze Schafe<br />

gibt, wie der Versuch eines Platzsturms nach<br />

dem Schlusspfiff beim Derbygezeigt hat.<br />

Der 1.FCUnion, das darf andieser Stelle<br />

aber nicht unerwähnt bleiben, darf imUmfeld<br />

der Bundesliga inzwischen aber nur<br />

noch bedingt als „David“ wahrgenommen<br />

werden. Am Mittwochabend schon wirdPräsident<br />

Dirk Zingler auf der Jahreshauptversammlung<br />

von einem neuen Rekordumsatz<br />

berichten dürfen, darüber hinaus von einer<br />

ziemlich guten Perspektive samt wachsenden<br />

Mitgliederzahl und der Aussicht auf ein<br />

Stadion mit einem Fassungsvermögen von<br />

38 000 Zuschauern. Das zieht im Umkehrschluss<br />

eine doch ziemlich anstrengende<br />

Konsequenz nach sich: Es gibt kein Zurück<br />

mehr.<br />

So weit mag Fischer natürlich noch nicht<br />

denken. Für den Mittwoch hat er folgende<br />

Einschätzung parat: „Die Siege geben uns<br />

natürlich ein gutes Gefühl. Es ist meine<br />

zweite Mitgliederversammlung hier bei<br />

Union und auf die freu ich mich.“ Und für<br />

den Freitag, wenn Union bei Schalke 04 zu<br />

Gast ist, dies hier:„Schalke wirdeine schwierige<br />

Aufgabe, ähnlich wie Gladbach. Ich<br />

glaube aber, dass Schalke weiß, was auf sie<br />

zukommt.“<br />

Stimmt schon: Es war einmal ein Außenseiter,der<br />

hieß Union.<br />

Markus Lotter<br />

ist überzeugt, dass Union<br />

die Klasse hält.

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