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Therapeutisches Reiten in der Traumaarbeit - Kristina Hänel

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<strong>Therapeutisches</strong> <strong>Reiten</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Traumaarbeit</strong><br />

Hausarbeit<br />

im Rahmen <strong>der</strong> Ausbildung zum Erwerb <strong>der</strong> Zusatzqualifikation<br />

„Heilpädagogisches <strong>Reiten</strong> und Voltigieren“<br />

vorgelegt von<br />

Krist<strong>in</strong>a <strong>Hänel</strong><br />

im<br />

Juni 2001<br />

1


Glie<strong>der</strong>ung<br />

Vorbemerkung S. 3<br />

1 <strong>Therapeutisches</strong> <strong>Reiten</strong> als neuer Ansatz <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Traumaarbeit</strong><br />

1.1 Projekt Leihgestern S. 4<br />

1.2 Sett<strong>in</strong>g S. 4<br />

1.3 Theoretischer H<strong>in</strong>tergrund S. 5<br />

2 Was bedeutet Trauma?<br />

2.1 Trauma. E<strong>in</strong>e Begriffsdef<strong>in</strong>ition S. 6<br />

2.2 Folgen <strong>der</strong> Traumatisierung für die Betroffenen S. 6<br />

2.3 Ansätze <strong>der</strong> therapeutischen <strong>Traumaarbeit</strong> S. 8<br />

3 Praktische Arbeit im Projekt Leihgestern<br />

3.1 Gruppenarbeit mit Flüchtl<strong>in</strong>gsk<strong>in</strong><strong>der</strong>n S. 9<br />

3.2 E<strong>in</strong>zelaspekte <strong>der</strong> Arbeit mit traumatisierten K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und jungen Frauen S.12<br />

3.2.1 Angst/Vertrauen S.12<br />

3.2.2 Macht/Ohnmacht S.14<br />

3.2.3 Körperwahrnehmung/Körpergefühl S.15<br />

3.2.4 Aggression S.16<br />

3.2.5 Integration S.18<br />

3.3 Integrative Gruppen für K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit und ohne Handicaps S.20<br />

3.3.1 Beschreibung e<strong>in</strong>er Gruppe S.20<br />

Perspektiven S.24<br />

Schlussbemerkung S.25<br />

Anhang: Literaturliste S.26<br />

2


Vorbemerkung<br />

Von Iris Galey, <strong>der</strong> Autor<strong>in</strong> des Buches „Ich we<strong>in</strong>te nicht, als Vater starb“, lernte ich, dass es nicht<br />

nur me<strong>in</strong>e Geschichte war, <strong>in</strong> <strong>der</strong> das Pferd e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e, heilsame Kraft zum Überleben<br />

spendete. Diese Erfahrung <strong>in</strong> den entsprechenden theoretischen Kontext zu setzen und <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

praktischen Arbeit an<strong>der</strong>en Menschen zugute kommen zu lassen, ist e<strong>in</strong> Teil me<strong>in</strong>es beruflichen<br />

Alltags geworden. Durch die Anfor<strong>der</strong>ung des Deutschen Kuratoriums für <strong>Therapeutisches</strong> <strong>Reiten</strong>,<br />

im Rahmen me<strong>in</strong>er Ausbildung e<strong>in</strong>e Hausarbeit zu verfassen, wurde ich veranlasst, me<strong>in</strong>e<br />

Gedanken und Erfahrungen zu bündeln und nie<strong>der</strong>zuschreiben. Für diese Veranlassung b<strong>in</strong> ich<br />

dankbar. Ich danke ebenso me<strong>in</strong>er Kolleg<strong>in</strong> Petra Pickenhahn, mit <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> täglichen Arbeit e<strong>in</strong><br />

ständiger Gedankenaustausch stattf<strong>in</strong>det, sowie Heidrun Lippold-von Hörde, die dank ihrer<br />

jahrelangen Erfahrung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hippotherapie stets e<strong>in</strong>e sehr geschätzte Freund<strong>in</strong> und Ratgeber<strong>in</strong> für<br />

mich ist. Zuletzt geht me<strong>in</strong> Dank an me<strong>in</strong>e Pferde, die mich immer wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Besseren belehren.<br />

3


1 <strong>Therapeutisches</strong> <strong>Reiten</strong> als neuer Ansatz <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Traumaarbeit</strong><br />

1.1 Projekt Leihgestern<br />

Obwohl bereits <strong>in</strong> zahlreichen Projekten mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Erwachsenen, die Gewalterfahrungen<br />

haben, erfolgreich gearbeitet wird, ist bisher das Therapeutische <strong>Reiten</strong> als spezifischer Ansatz <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Traumaarbeit</strong> noch nicht explizit benannt worden. Im Projekt Leihgestern wird dieser Ansatz <strong>in</strong><br />

den Mittelpunkt gestellt. Im Rahmen me<strong>in</strong>er Tätigkeit als Ärzt<strong>in</strong> und Sexualtherapeut<strong>in</strong> habe ich<br />

seit ca. 20 Jahren mit Frauen zu tun, die <strong>in</strong> ihrer K<strong>in</strong>dheit sexualisierte Gewalt erlebt haben.<br />

Zunächst arbeitete ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Beratungsstelle <strong>der</strong> Pro Familia, war dann Mitbegrün<strong>der</strong><strong>in</strong> des<br />

Vere<strong>in</strong>s Wildwasser Gießen, <strong>der</strong> sich die Beratung, Betreuung und Prävention bei sexuellem<br />

Missbrauch an Mädchen und Frauen zum Ziel gemacht hat, sowie 11 Jahre Lehrbeauftragte an <strong>der</strong><br />

Universität Gießen im Fachbereich Erziehungswissenschaft zum Thema sexuelle Traumatisierung<br />

im K<strong>in</strong>desalter. Die Idee für das Projekt entstammt dieser langjährigen praktischen Erfahrung, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> ich mir oft e<strong>in</strong>en zusätzlichen Zugang zu den Klient<strong>in</strong>nen gewünscht habe neben <strong>der</strong> verbalen<br />

Intervention. Zudem war es mir persönlich e<strong>in</strong> Anliegen neben <strong>der</strong> immer auch belastenden Arbeit<br />

<strong>der</strong> Aufdeckungs- und Er<strong>in</strong>nerungsarbeit noch mehr im Bereich <strong>der</strong> Heilung, des Rückgriffs auf die<br />

noch vorhandenen Ressourcen arbeiten zu können, wie mir das beim Therapeutischen <strong>Reiten</strong><br />

möglich ist.<br />

Das Projekt Leihgestern wurde im Sommer 1998 gestartet. Es f<strong>in</strong>det auf me<strong>in</strong>er Hofreite <strong>in</strong><br />

L<strong>in</strong>den-Leihgestern statt, e<strong>in</strong>er Kle<strong>in</strong>stadt mit dörflichem Charakter, 7 km von Gießen entfernt. Auf<br />

dem Hof bef<strong>in</strong>den sich drei Boxen für die Pferde, e<strong>in</strong> gepflasterter Innenhof mit<br />

Anb<strong>in</strong>dmöglichkeiten, e<strong>in</strong> Rasenreitplatz von ca. 20x40 Metern, <strong>der</strong> überwiegend nur bei guter<br />

Witterung genutzt werden kann, sowie e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e, im Durchmesser knapp 15 Meter große<br />

Reithalle, <strong>in</strong> <strong>der</strong> bei schlechter Witterung gearbeitet wird. Des Weiteren nutzen wir die umliegenden<br />

Feld- und Wiesenwege für Spaziergänge und Kutschfahrten sowie das nahegelegene Gelände des<br />

Reitvere<strong>in</strong>s. Es besteht zusätzlich die Möglichkeit, die Reithalle des Gießener Reitvere<strong>in</strong>s für das<br />

Therapeutische <strong>Reiten</strong> zu nutzen, dort f<strong>in</strong>det regelmäßig zweimal wöchentlich die Hippotherapie<br />

des Vere<strong>in</strong>s für <strong>Therapeutisches</strong> <strong>Reiten</strong> Mittelhessen e.V. statt, dem auch unser Projekt angehört.<br />

1.2 Sett<strong>in</strong>g<br />

Ich arbeite mit e<strong>in</strong>er Kolleg<strong>in</strong> zusammen, die aus dem Voltigiersport kommt, während ich<br />

überwiegend vom <strong>Reiten</strong> geprägt b<strong>in</strong>. Das bietet den Vorteil, dass die Therapie nicht ausfallen<br />

muss, wenn e<strong>in</strong>e von uns verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t ist. Sowohl K<strong>in</strong><strong>der</strong> als auch Pferde kennen uns beide genauso<br />

gut. Allerd<strong>in</strong>gs versuchen wir, sowohl <strong>in</strong> Gruppen- als auch <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelsituationen e<strong>in</strong>e<br />

Rollenverteilung durchzuhalten, die besagt, dass e<strong>in</strong>e die Aktive ist, während die an<strong>der</strong>e die<br />

Beobachtungsposition hat. (vergl. hierzu KRÖGER S. 64) Vor und nach den Stunden tauschen wir<br />

unsere Beobachtungen aus, um die Planung für die nächsten E<strong>in</strong>heiten vornehmen zu können, z.B.<br />

überlegen wir, welchem K<strong>in</strong>d wir welches Pferd anbieten, welche Schritte als nächstes anstehen<br />

und welche Übungen wir dazu e<strong>in</strong>setzen können. Auch ist es immer wie<strong>der</strong> spannend, wie die<br />

an<strong>der</strong>e die gemachten Fortschritte bzgl. Motorik, Wahrnehmung, Kognition, Verhalten e<strong>in</strong>schätzt,<br />

wo sie welche Defizite wahrnimmt, etc. Obwohl wir uns dreimal wöchentlich sehen, kommt es<br />

immer wie<strong>der</strong> vor, dass wir zusätzlich noch telefonieren, weil noch diese o<strong>der</strong> jene E<strong>in</strong>zelheit aus<br />

<strong>der</strong> Therapie e<strong>in</strong>gefallen ist, die dann besprochen wird.<br />

In <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelarbeit kommen die K<strong>in</strong><strong>der</strong> für e<strong>in</strong>e halbe Stunde. Die Pferde s<strong>in</strong>d geputzt und<br />

gesattelt o<strong>der</strong> für e<strong>in</strong>fache Sitzübungen an <strong>der</strong> Longe gegurtet. Nach dem Aufwärmen geht das K<strong>in</strong>d<br />

auf das Pferd. Es bef<strong>in</strong>det sich ca. 25 M<strong>in</strong>uten auf dem Pferd. Je nach Möglichkeiten des K<strong>in</strong>des<br />

wird im Schritt, Trab o<strong>der</strong> Galopp gearbeitet. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> werden zum Teil geführt, wenn nötig auch<br />

von e<strong>in</strong>er zweiten Person gesichert, machen Übungen an <strong>der</strong> Longe o<strong>der</strong> reiten selbständig.<br />

4


In <strong>der</strong> Gruppenarbeit s<strong>in</strong>d bis zu sechs K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gruppe. Sie kommen für <strong>in</strong>sgesamt 1 ½<br />

Stunden. Die Gruppe teilt sich auf und die e<strong>in</strong>en übernehmen Putzen, Hufeauskratzen, die an<strong>der</strong>en<br />

den Stalldienst. Nach dem geme<strong>in</strong>samen Aufsatteln und Auftrensen werden zunächst<br />

Aufwärmspiele mit Gruppe und Pferd durchgeführt. Dann beg<strong>in</strong>nt das <strong>Reiten</strong>. Im Anschluss werden<br />

die Pferde geme<strong>in</strong>sam versorgt und entwe<strong>der</strong> auf die Weide o<strong>der</strong> im W<strong>in</strong>ter <strong>in</strong> den Stall gebracht.<br />

E<strong>in</strong>- bis zweimal pro Jahr organisieren wir im Rahmen e<strong>in</strong>er Festveranstaltung (z.B. Sommerfest,<br />

Weihnachten, Benefizkonzert für den Vere<strong>in</strong> etc.) e<strong>in</strong>e öffentliche Vorführung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

beispielsweise im Rahmen e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>sam erarbeiteten Theaterstücks sich selbst im Umgang mit<br />

den Pferden vor Publikum präsentieren können. An diesen Vorführungen s<strong>in</strong>d dann alle K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

geme<strong>in</strong>sam beteiligt.<br />

1.3 Theoretischer H<strong>in</strong>tergrund<br />

Das Therapeutische <strong>Reiten</strong> ersche<strong>in</strong>t als nonverbale, körperorientierte Methode aus verschiedenen<br />

Gründen sehr geeignet zur Therapie nach traumatischen Erfahrungen. Das Pferd agiert und reagiert<br />

immer e<strong>in</strong>deutig. Im Umgang mit ihm muss <strong>der</strong> Mensch neue Kommunikations- und<br />

Verhaltensmuster ausprobieren, um die erwünschte Reaktion zu erreichen. Dabei spiegelt das Pferd,<br />

ohne moralisch wertend zu se<strong>in</strong>, das Verhalten des Menschen wi<strong>der</strong>, <strong>der</strong> sich mit ihm befasst.<br />

J.P.Reemtsma bezeichnet den Zustand des traumatisierten Menschen treffend als e<strong>in</strong> „aus <strong>der</strong> Welt<br />

geschlagen worden Se<strong>in</strong>“. Menschen, die Überlebende von Katastrophen werden, verlieren für e<strong>in</strong>e<br />

Zeit die Fähigkeit zur realen E<strong>in</strong>schätzung ihrer Umwelt. Gehen die katastrophalen E<strong>in</strong>wirkungen<br />

von an<strong>der</strong>en Menschen aus, so wird zusätzlich <strong>der</strong> Rückweg <strong>in</strong> die Welt dadurch erschwert, dass<br />

Hilfestellungen, die ja von an<strong>der</strong>en Menschen ausgehen müssten, nicht mehr angenommen werden<br />

können. Das Vertrauen <strong>in</strong> die Mitmenschen ist erschüttert. Die Natur und Tiere können hier e<strong>in</strong>e<br />

erste Brücke bauen. Das Pferd eignet sich von se<strong>in</strong>er Natur her ganz beson<strong>der</strong>s als re<strong>in</strong>er<br />

Pflanzenfresser und Fluchttier. Es bietet sowohl durch das Getragenwerden Aspekte <strong>der</strong> Sicherheit<br />

und Geborgenheit als durch den Bewegungsdialog die Möglichkeit des Wachsens. Das Pferd <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Therapie dient als heilen<strong>der</strong> Mittler zur Rückkehr des Menschen <strong>in</strong> die Welt.<br />

5


2 Was bedeutet Trauma?<br />

2.1 Trauma. E<strong>in</strong>e Begriffsdef<strong>in</strong>ition<br />

Nach dem Wörterbuch <strong>der</strong> Psychiatrie und Mediz<strong>in</strong>ischen Psychologie bezeichnet <strong>der</strong> Begriff<br />

Trauma e<strong>in</strong> „Erlebnis, auf das e<strong>in</strong> Mensch nicht <strong>in</strong> angemessener Weise reagieren, das er nicht<br />

verarbeiten kann und das daher häufig aus dem Bewusstse<strong>in</strong> verdrängt wird. Vom Unbewussten her<br />

entfaltet das traumatische Erlebnis ständig e<strong>in</strong>e Wirkung. so als ob <strong>der</strong> Betroffene ständig mit dem<br />

Erlebnis konfrontiert sei, auf das s<strong>in</strong>nvoll zu reagieren, se<strong>in</strong>e dauernde ungelöste Aufgabe bleibt.“<br />

(zit. nach ECKHARDT, S. 123)<br />

Traumen können ausgelöst werden durch Unfälle, Naturkatastrophen, Begegnungen mit extremer<br />

Gewalt wie etwa <strong>in</strong> Kriegs- o<strong>der</strong> Foltersituationen. Bei <strong>der</strong> Vergewaltigung kommt die<br />

Sexualisierung <strong>der</strong> Gewalterfahrung h<strong>in</strong>zu. In <strong>der</strong> K<strong>in</strong>dheit können traumatische Erlebnisse<br />

auftreten durch Misshandlung, sexuellen Missbrauch o<strong>der</strong> das Erleben extremer Defizite bei<br />

Verwahrlosung o<strong>der</strong> etwa dem gewaltsamem Verlust von Bezugspersonen. (vergl. OLBRICHT,<br />

S.52 ff.) Wichtige Faktoren s<strong>in</strong>d Ohnmacht, Abhängigkeit und Ausweglosigkeit. Durch e<strong>in</strong> Trauma<br />

wird die körperliche Unversehrtheit o<strong>der</strong> das Leben bedroht, die Betroffenen erleben sich als Opfer<br />

schrecklicher, unfassbarer Ereignisse, denen sie hilflos ausgeliefert s<strong>in</strong>d. Handeln hat ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n<br />

mehr, we<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand noch Flucht s<strong>in</strong>d möglich. Es kommt zum Zusammenbruch des<br />

Selbstschutzsystems.<br />

„Psychisches Trauma ist das Leid <strong>der</strong> Ohnmächtigen. Das Trauma entsteht <strong>in</strong> dem Augenblick, wo<br />

das Opfer von e<strong>in</strong>er überwältigenden Macht hilflos gemacht wird. Ist diese Macht e<strong>in</strong>e Naturgewalt,<br />

sprechen wir von e<strong>in</strong>er Katastrophe. Üben an<strong>der</strong>e Menschen diese Macht aus, sprechen wir von<br />

Gewalttaten. Traumatische Ereignisse schalten das soziale Netz aus, das dem Menschen gewöhnlich<br />

das Gefühl von Kontrolle, Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>em Beziehungssystem und S<strong>in</strong>n gibt.“ (zit. nach<br />

HERMAN, S. 53)<br />

2.2 Folgen <strong>der</strong> Traumatisierung für die Betroffenen<br />

Nach <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen statistischen Klassifikation <strong>der</strong> Krankheiten und verwandter<br />

Gesundheitsprobleme (ICD-10) werden verschiedene psychische und Verhaltensstörungen<br />

beschrieben, die ursächlich mit e<strong>in</strong>em Trauma <strong>in</strong> Zusammenhang stehen. Verwiesen sei an dieser<br />

Stelle auf die Posttraumatische Belastungsstörung, PTBS genannt, (F43.1 Klassifizierung nach<br />

ICD-10) sowie verschiedene Dissoziative Störungen, die mit Spaltungsphänomenen e<strong>in</strong>hergehen<br />

(F44.- Klassifizierung nach ICD-10).<br />

Die amerikanische Psychiater<strong>in</strong> Judith Lewis Herman, die seit ca. 30 Jahren mit<br />

Holocaustüberlebenden, Vietnamkriegsveteranen sowie Opfern von Vergewaltigung o<strong>der</strong> Vater-<br />

Tochter-Inzest arbeitet, fasst die vielfältige Symptomatik von Traumaopfern treffend <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Satz<br />

zusammen: „Die Symptome des Patienten weisen auf das Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es unaussprechlichen<br />

Geheimnisses h<strong>in</strong> und lenken gleichzeitig davon ab.“ (zit. nach HERMAN, S. 201) Beim Thema<br />

Gewalt, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e wenn es sich um sexualisierte Gewalt handelt, haben wir es mit e<strong>in</strong>em Tabu<br />

zu tun. Bis vor e<strong>in</strong>igen Jahren existierte das Thema sowohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit als auch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Fachwelt sche<strong>in</strong>bar gar nicht. Hier ist <strong>in</strong> den letzten Jahren e<strong>in</strong>e positive Entwicklung erkennbar.<br />

Inzwischen können wir auf e<strong>in</strong>e Fülle von Literatur zurückgreifen, spezialisierte Beratungsstellen<br />

und Behandlungszentren s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>stalliert. Dennoch bef<strong>in</strong>den sich Traumaopfer sowohl<br />

<strong>in</strong>nerpsychisch als auch gesellschaftlich im Kernpunkt dieses Tabus, sozusagen an e<strong>in</strong>em Ort,<br />

„woh<strong>in</strong> die Sprache nicht reicht“ (zit. nach KEILSON).<br />

Dieses Phänomen <strong>der</strong> Sprachlosigkeit lässt sich <strong>in</strong>zwischen auch auf hirnorganischer Ebene<br />

nachweisen. Im Gehirn existieren zwei unterschiedliche Gedächtnissysteme. Das kognitive<br />

Gedächtnis des Hippokampus zeichnet Ereignisse <strong>in</strong> geordneten räumlichen und zeitlichen<br />

Abläufen ab. Er<strong>in</strong>nerungen werden nur mit wenigen sensorischen E<strong>in</strong>drücken aufgezeichnet, sie<br />

werden als Wort-Repräsentanz kodiert. Im System <strong>der</strong> Amygdala (=Mandelkern), das dem<br />

6


Limbischen System zuzuordnen ist, werden Affekte und Emotionen ohne zeitlichen Zusammenhang<br />

und ohne Struktur gespeichert, Er<strong>in</strong>nerungen werden ohne Zuordnungsmöglichkeit mit den<br />

dazugehörigen sensorischen E<strong>in</strong>drücken als Gefühls-Repräsentanz kodiert. Im Falle e<strong>in</strong>es<br />

traumatischen Erlebnisses gew<strong>in</strong>nt die Speicherung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Amygdala an zunehmen<strong>der</strong> Bedeutung.<br />

Ab e<strong>in</strong>em gewissen Punkt schaltet sich <strong>der</strong> Hippokampus ganz aus. Diesen Punkt me<strong>in</strong>t <strong>der</strong><br />

Volksmund mit dem Satz, „dem hat es die Sprache verschlagen.“<br />

An<strong>der</strong>s ausgedrückt, bef<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong> Mensch, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> Trauma erfährt, <strong>in</strong> diesem Moment auf<br />

e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Ebene <strong>der</strong> Realitätswahrnehmung. Stellen wir uns e<strong>in</strong>e L<strong>in</strong>ie vor, auf <strong>der</strong> sich unsere<br />

Realität abspielt . Im Moment des Traumas geraten wir auf e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Ebene <strong>der</strong><br />

Wahrnehmung . Bei wie<strong>der</strong>holten Traumata bef<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong> Mensch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zustand<br />

ständigen Schwankens zwischen den verschiedenen Realitätsebenen.<br />

Das Bewusstse<strong>in</strong>, welche Ebene die normale ist, geht verloren.<br />

Spaltungsphänomene entstehen.<br />

Symptome und Folgen können sehr vielfältig se<strong>in</strong>, sie reichen von Angstzuständen,<br />

autoaggressivem bzw. aggressivem Verhalten, sexualisiertem Verhalten,<br />

Sprachentwicklungsstörungen, Auffälligkeiten im Bereich des Atmens (Asthma,<br />

Erstickungsanfälle) sowie <strong>der</strong> Nahrungsaufnahme (Anorexie, Bulimie, Esssucht) und <strong>der</strong><br />

Ausbildung von Suchtverhalten bis h<strong>in</strong> zu Schmerzzuständen unklarer Genese mit <strong>der</strong> Folge<br />

gehäufter operativer E<strong>in</strong>griffe. Wir können nicht aufgrund e<strong>in</strong>es Symptoms kausal auf traumatische<br />

Erfahrungen rückschließen. Es gibt aber typische Folgeersche<strong>in</strong>ungen, die ich <strong>in</strong> Anlehnung an<br />

HERMAN (S. 55 ff.) kurz skizzieren möchte.<br />

Übererregung<br />

Das Selbstschutzsystem sche<strong>in</strong>t sich <strong>in</strong> permanenter Alarmbereitschaft zu bef<strong>in</strong>den. Das<br />

Grundniveau ist e<strong>in</strong> Zustand ständiger Erregung. Dies betrifft sowohl den Schlaf- als auch den<br />

Wachzustand. Albträume, Angstzustände, Schlafstörungen, vegetative Störungen und<br />

psychosomatische Beschwerden treten auf.<br />

Intrusion<br />

Da ke<strong>in</strong>e Verarbeitung und E<strong>in</strong>ordnung des Erlebnisses im Hippokampus stattf<strong>in</strong>den kann, z.B.<br />

fehlt die zeitliche Zuordnungskategorie „es ist vorbei“, wird das traumatische Ereignis ständig<br />

wie<strong>der</strong>erlebt, als ob es gerade jetzt geschähe. Die Menschen sche<strong>in</strong>en wie von e<strong>in</strong>er „fixen Idee“<br />

besessen. Sie bef<strong>in</strong>den sich sozusagen <strong>in</strong> den Fesseln ihrer Er<strong>in</strong>nerung. Kle<strong>in</strong>ste Auslöser, auch<br />

Trigger genannt, können zur <strong>in</strong>neren Rückkehr <strong>in</strong> die traumatische Situation führen. Dieses<br />

Phänomen wird auch als Flashback bezeichnet. Da re<strong>in</strong> physiologisch die Nervenverb<strong>in</strong>dung <strong>in</strong>s<br />

Limbische System schneller funktioniert als zum Hippokampus kann e<strong>in</strong>e harmlose Umarmung von<br />

h<strong>in</strong>ten bei e<strong>in</strong>er Frau, die vergewaltigt worden ist, Todesangst auslösen. Die Erkenntnis, dass es<br />

sich um ihren Ehemann handelt, <strong>der</strong> sie mit e<strong>in</strong>em Strauß Blumen überraschen wollte, braucht viel<br />

länger, um <strong>in</strong> ihr Bewusstse<strong>in</strong> zu dr<strong>in</strong>gen, als die Alarmierung ihres Warnsystems. Diese Reaktion<br />

ist von ihr nicht bee<strong>in</strong>flussbar, sie läuft automatisch ab.<br />

Konstriktion<br />

Wenn Flucht o<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand nicht möglich s<strong>in</strong>d, bleibt nur die Kapitulation. Bei Tieren kennen<br />

wir diesen Zustand als Erstarren, wenn sie angegriffen werden. Auf psychischer Ebene f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e<br />

E<strong>in</strong>engung des Bewusstse<strong>in</strong>s statt. Wenn die Schmerzen zu groß werden, können wir uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

<strong>der</strong> Trance ähnlichen Bewusstse<strong>in</strong>szustand versetzen. Bekannt ist z.B. das Unfallopfer, das mit dem<br />

abgetrennten Arm sche<strong>in</strong>bar „gefühlskalt“ zum nächsten Krankenhaus läuft und erst dort physisch<br />

und psychisch zusammenbricht. Ebenso schütten Frauen unter <strong>der</strong> Geburt Endomorph<strong>in</strong>e aus, sie<br />

dopen sich also sozusagen selbst, um die Schmerzen nicht <strong>in</strong> voller Stärke wahrnehmen zu müssen.<br />

Nach wie<strong>der</strong>holten, unaufgearbeiteten traumatischen Erfahrungen treten <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />

Phänomene <strong>der</strong> Derealisation und Depersonalisation auf. „Da verließ ich me<strong>in</strong>en Körper. Ich stand<br />

drüben, neben dem Bett, und schaute dem Geschehen zu ... Ich stand neben mir, und auf dem Bett<br />

lag nur die Hülle ... Da war nur noch Leere.“ (zit. nach HERMAN, S.66) Die extremste Form <strong>der</strong><br />

Dissoziation liegt bei <strong>der</strong> so genannten Multiplen Persönlichkeitsstörung vor. Hier geht die<br />

7


Spaltung so weit, das quasi verschiedene Persönlichkeiten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Körper wohnen, ohne dass sich<br />

das „Haupt-Ich“ dessen bewusst ist.<br />

Zum Abschluss noch e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>weis zur spezifischen Form <strong>der</strong> sexualisierten Gewalt. Jede Form<br />

körperlicher Gewalt ist e<strong>in</strong> Angriff auf die Person des Opfers. Bei <strong>der</strong> sexuellen Gewalt greift dieser<br />

Mechanismus zusätzlich die Integrität <strong>der</strong> Person von <strong>in</strong>nen heraus an. Um dies zu beschreiben<br />

benutzte Alice Miller den Begriff Seelenmord. Unabhängig wie die Übergriffe erlebt wurden,<br />

„f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> allen Erzählungen missbrauchter K<strong>in</strong><strong>der</strong>, Jugendlicher und Erwachsener<br />

Vertrauensverlust, Sprachlosigkeit, Schuld- und Schamgefühle, Ohnmacht, Angst und Zweifel an<br />

<strong>der</strong> eigenen Wahrnehmung wie<strong>der</strong>.“ (zit. nach ENDERS, S. 129) Egal, ob die Übergriffe häufiger<br />

stattfanden o<strong>der</strong> nur e<strong>in</strong>mal, meist fühlen sich die Opfer irgendwie mitschuldig, da ihr Körper an<br />

dem Geschehen beteiligt war. Es ist auch möglich, dass es während des Traumas physiologisch zur<br />

sexuellen Erregung kommt. Dies betrifft nicht nur Erwachsene, son<strong>der</strong>n auch K<strong>in</strong><strong>der</strong> und sogar<br />

Säugl<strong>in</strong>ge. Dieser Aspekt ist für das spätere Leben beson<strong>der</strong>s belastend und mitverantwortlich für<br />

die große Zahl sexueller Funktionsstörungen als Folgeersche<strong>in</strong>ung.<br />

2.3 Ansätze <strong>der</strong> therapeutischen <strong>Traumaarbeit</strong><br />

Es gibt tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutische, familientherapeutische, systemische,<br />

gruppentherapeutische und körpertherapeutische Ansätze. Viel Erfahrung besteht im Bereich <strong>der</strong><br />

Selbsthilfearbeit sowie <strong>in</strong> kreativen Verfahren wie Schreiben, Malen und Musik. Nach den<br />

Ausführungen <strong>in</strong> Kapitel 1.2 zur Sprachlosigkeit <strong>der</strong> Opfer ist offensichtlich, dass re<strong>in</strong><br />

gesprächstherapeutische Verfahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Traumaarbeit</strong> nur begrenzt e<strong>in</strong>setzbar s<strong>in</strong>d.<br />

Die therapeutische Arbeit verläuft <strong>in</strong> drei Phasen. HERMAN benutzt für die Stationen <strong>der</strong><br />

Genesung die Begriffe Stabilisierung, Er<strong>in</strong>nern und Trauern, Wie<strong>der</strong>anknüpfung.<br />

Stabilisierung<br />

In <strong>der</strong> ersten Phase geht es um die Wie<strong>der</strong>herstellung von Sicherheit. Da durch die traumatische<br />

Erfahrung das Vertrauen bee<strong>in</strong>trächtigt ist, geht es zunächst darum, e<strong>in</strong>e Vertrauensbasis<br />

aufzubauen um überhaupt arbeiten zu können. Im Unterschied zu sonstigen therapeutischen<br />

Vorgehensweisen ist hier e<strong>in</strong> überwiegend stützendes Verhalten angebracht.<br />

Bearbeitung des Traumas: Er<strong>in</strong>nern und Trauern<br />

In <strong>der</strong> zweiten Phase wird <strong>in</strong> dosierter Weise e<strong>in</strong>e Re-Exposition mit <strong>der</strong> traumatischen Erfahrung<br />

herbeigeführt. Diese Phase <strong>der</strong> Bearbeitung muss mehrere Ebenen berühren: das Geschehen auf <strong>der</strong><br />

faktischen Ebene, die affektiven Reaktionen, die Körperempf<strong>in</strong>dungen <strong>in</strong>cl. S<strong>in</strong>nesqualitäten (z.B.<br />

Geruch, Geräusche), die kognitiven Aspekte. (vergl. LAMPRECHT, S. 67)<br />

Integration und Wie<strong>der</strong>anknüpfen<br />

In <strong>der</strong> dritten Phase geht es um die Planung <strong>der</strong> Zukunft. Der Körper, die Wahrnehmung, das neue<br />

Selbst werden entdeckt.<br />

8


3 Praktische Arbeit im Projekt Leihgestern<br />

Im Projekt Leihgestern f<strong>in</strong>den z.Zt. vier Gruppen wöchentlich statt sowie ca. acht E<strong>in</strong>zeltherapien.<br />

Im folgenden werden aus den verschiedenen Bereichen <strong>der</strong> Arbeit e<strong>in</strong>zelne Aspekte vorgestellt. Die<br />

Namen und evtl. Lebensdaten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>soweit abgeän<strong>der</strong>t, dass die realen Personen <strong>in</strong> ihnen nicht<br />

wie<strong>der</strong>erkennbar s<strong>in</strong>d.<br />

3.1 Gruppenarbeit mit Flüchtl<strong>in</strong>gsk<strong>in</strong><strong>der</strong>n aus Kriegs- und<br />

Bürgerkriegsgebieten<br />

Ausgehend von dem Konzept, die Möglichkeiten des Therapeutischen <strong>Reiten</strong>s <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>n mit traumatischen Erfahrungen zukommen zu lassen, starteten wir im Sommer 1999 e<strong>in</strong>e<br />

Gruppe für K<strong>in</strong><strong>der</strong> aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten, die e<strong>in</strong> halbes Jahr lang regelmäßig<br />

e<strong>in</strong>mal pro Woche stattfand. In Gießen bef<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong> Aufnahmelager für Flüchtl<strong>in</strong>ge, so dass wir<br />

<strong>in</strong> unserem unmittelbaren Umfeld mit zahlreichen Opfern des Krieges <strong>in</strong> Ex-Jugoslawien<br />

konfrontiert werden. Über dieses Projekt haben wir bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verbandszeitschrift berichtet (vgl.<br />

HÄNEL/PICKENHAHN/PLETSCH/LUTZ).<br />

Vorbemerkung<br />

E<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d wächst normalerweise unter Bed<strong>in</strong>gungen auf, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die Eltern o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />

Sorgeberechtigte Verantwortung und Kontrolle über se<strong>in</strong> Leben haben. Diese familiären Strukturen<br />

s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e gesellschaftliche Ordnung, <strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um die Elterngeneration angehört, zu<br />

gehorchen hat. E<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, das miterleben musste, wie die Menschen, die es normalerweise<br />

beschützen, selbst existentiell bedroht o<strong>der</strong> vernichtet wurden, verliert auf doppelte Weise den Halt<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt. Vergleicht man se<strong>in</strong> Verhältnis zu den Eltern mit <strong>der</strong> Umlaufbahn des Mondes um die<br />

Erde, so hat es sozusagen se<strong>in</strong>en Dreh- und Angelpunkt verloren. Die Erdung ist verlorengegangen.<br />

Die Vorstellung liegt weit entfernt, Verantwortung für das eigene Leben übernehmen zu können,<br />

wenn nicht e<strong>in</strong>mal die Eltern dazu <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage waren. Der durch die gemachten Erfahrungen<br />

ausgelöste Rückzug <strong>in</strong> sich selbst, <strong>der</strong> durch den Verlust <strong>der</strong> gewohnten Umgebung, <strong>der</strong><br />

Sozialkontakte etc. noch verstärkt wird, lässt sich durch den Kontakt mit Tieren schneller aufheben<br />

als durch den Kontakt zu Menschen.<br />

Die Gruppe<br />

In <strong>der</strong> Gruppe befanden sich sechs Jungen und Mädchen zwischen 8 und 14 Jahren mit den<br />

Herkunftslän<strong>der</strong>n Kosovo und Kurdistan. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> wurden e<strong>in</strong>mal pro Woche von Mitarbeitern<br />

des Sozialamtes für zwei Stunden zu uns gebracht. Sie wurden daran beteiligt, die Pferde von <strong>der</strong><br />

Weide zu holen, den Stall auszumisten, zu putzen sowie Sattel- und Zaumzeug anzulegen. An<br />

Bewegungserfahrung auf dem Pferd konnten e<strong>in</strong>fache Übungen auf dem an <strong>der</strong> Longe gehenden<br />

Pferd gemacht werden o<strong>der</strong> es wurden kle<strong>in</strong>e Spaziergänge mit Sattel unternommen. Bei diesen<br />

Ausritten konnten diejenigen, die führten, die auf dem Pferd <strong>Reiten</strong>den dabei unterstützen, die<br />

Kontrolle über das Pferd zu erlangen, den Weg des Tieres zu bestimmen. Im Anschluss wurden die<br />

Pferde wie<strong>der</strong> geme<strong>in</strong>sam auf die Weide bzw. im W<strong>in</strong>ter <strong>in</strong> den Stall gebracht und gefüttert. Um<br />

e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>blick über den Ablauf zu geben, beschreibe ich im Folgenden e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit.<br />

Stundenplanung<br />

Da die Gruppe sehr heterogen war, verfolgten wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> Planung das Ziel, den Geme<strong>in</strong>s<strong>in</strong>n zu<br />

för<strong>der</strong>n, das Wir-Gefühl zu stärken. Es war klar, dass e<strong>in</strong>e Aufgabe an die Gruppe gestellt werden<br />

musste, die geme<strong>in</strong>sam ausgeführt werden sollte und bei <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e gegenseitige Unterstützung nötig<br />

wäre. Wir entschieden uns für Slalomreiten. Bei drei Pferden und sechs K<strong>in</strong><strong>der</strong>n würde jeweils e<strong>in</strong><br />

K<strong>in</strong>d durch den Slalom reiten, das an<strong>der</strong>e behilflich se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> zweiter Lernaspekt sollte die Stärkung<br />

des Selbstbewusstse<strong>in</strong>s se<strong>in</strong>. Er könnte erreicht werden durch das Gel<strong>in</strong>gen dieser relativ<br />

schwierigen Aufgabe.<br />

9


Verlauf<br />

Als die K<strong>in</strong><strong>der</strong> kamen, wurden zuerst die Pferde von <strong>der</strong> Weide geholt. Wir waren gewarnt<br />

worden, dass die K<strong>in</strong><strong>der</strong> von ihren Heimatlän<strong>der</strong>n her e<strong>in</strong>en eher ruppigen Umgang mit Tieren als<br />

re<strong>in</strong>e Nutztiere gewöhnt seien. Diese Annahme bestätigte sich aber nicht. Sie waren sehr <strong>in</strong>teressiert<br />

und um Kommunikation mit den Pferden bemüht, z.B. rupften sie Gras vom Wegrand, um die Tiere<br />

damit anzulocken. Durch die geme<strong>in</strong>same Interaktion mit den Pferden wurde <strong>der</strong> Kontakt <strong>in</strong>nerhalb<br />

<strong>der</strong> Gruppe relativ schnell <strong>in</strong>tensiviert. Dann begann das Putzen. Zwei K<strong>in</strong><strong>der</strong> wählten e<strong>in</strong> Pferd, für<br />

das sie sowohl beim Putzen als auch beim <strong>Reiten</strong> und <strong>in</strong> <strong>der</strong> anschließenden Versorgung zuständig<br />

waren. Jedes Pferd hat bei uns e<strong>in</strong>e Farbe. Mit dieser s<strong>in</strong>d Putzkisten, Bürsten, Hufkratzer, Trense,<br />

Sattel, Ausb<strong>in</strong><strong>der</strong> und Gurte markiert. Das ermöglicht es auch den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, die nicht lesen können,<br />

die Sachen für die Pferde zu f<strong>in</strong>den. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> verteilten sich auf die Pferde und jeweils zwei<br />

putzten geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong> Pferd. E<strong>in</strong> beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Junge hatte größere Schwierigkeiten im<br />

Körperkontakt mit dem Pferd. Er hatte Angst und wusste nicht, wie er das Tier anfassen sollte. Er<br />

versuchte, auf gewaltsame Art Kontakt aufzunehmen, <strong>in</strong>dem er gegen den Hals schlug etc. Das<br />

verstärkte natürlich die Unruhe des Pferdes, was wie<strong>der</strong>um se<strong>in</strong>e Angst vergrößerte. Über die<br />

Beobachtung <strong>der</strong> Reaktion des Pferdes und mit <strong>der</strong> Erklärung, dass er auch nicht gehauen werden<br />

möchte und dass das dem Pferd wehtut, konnte er lernen, wie er das Pferd anfassen konnte, ohne<br />

hauen zu müssen. Danach taute er sichtlich auf, das Gewaltpotential den Tieren gegenüber<br />

verschwand zunehmend und machte e<strong>in</strong>em liebevollen Umgang Platz. Parallel zur Entspannung des<br />

Pferdes entspannte er sich, konnte sich freuen und lachte. Das Hauen des Pferdes kam später nicht<br />

mehr vor. Beim Auskratzen <strong>der</strong> Hufe hielten wir die Hufe hoch, die K<strong>in</strong><strong>der</strong> durften kratzen. Hieran<br />

waren bis auf e<strong>in</strong>en Jungen, <strong>der</strong> sich auch später überwiegend zurückhielt und das Ganze aus <strong>der</strong><br />

Ferne betrachtete, alle K<strong>in</strong><strong>der</strong> eifrig beteiligt.<br />

Nach dem Satteln brachten wir die Pferde auf die Wiese, wo wir zuvor mit Strohballen e<strong>in</strong>en<br />

Slalom aufgebaut hatten. Wir begannen mit <strong>der</strong> üblichen Aufwärmübung, die die K<strong>in</strong><strong>der</strong> schon von<br />

den vorigen E<strong>in</strong>heiten her kannten. Dann versuchten wir, die Aufgabenstellung zu erklären. Da die<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> kaum Deutsch sprachen, waren wir auf wenige verbale Äußerungen angewiesen, <strong>der</strong> Rest<br />

musste mit den Händen gezeigt werden. An dieser Stelle passierte etwas ganz Erstaunliches. E<strong>in</strong><br />

älteres albanisches Mädchen schaffte es, unsere Anweisungen für die kurdischen K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er für<br />

diese verständlicheren Sprache weiterzugeben, obwohl sie gar ke<strong>in</strong> Kurdisch konnte und die<br />

kurdischen K<strong>in</strong><strong>der</strong> Albanisch nicht verstanden. Diese Rolle <strong>der</strong> „Übersetzer<strong>in</strong>“ sollte sie auch <strong>in</strong><br />

späteren E<strong>in</strong>heiten beibehalten. Das Aufsteigen begann. Offensichtlich waren die K<strong>in</strong><strong>der</strong> es<br />

gewohnt, sich selbst zu helfen. Des öfteren hatten sie <strong>in</strong> früheren E<strong>in</strong>heiten versucht, e<strong>in</strong>fach auf das<br />

Pferd zu klettern, ohne sich um jemanden zu bemühen, <strong>der</strong> ihnen vielleicht hätte h<strong>in</strong>aufhelfen<br />

können. Dies Verhalten kann e<strong>in</strong> Zeichen von Selbständigkeit se<strong>in</strong>, kann aber auch bedeuten, dass<br />

sie sich lieber nicht jemand an<strong>der</strong>em anvertrauen. Im Verlauf zeigte sich <strong>in</strong> diesem Verhalten e<strong>in</strong>e<br />

Än<strong>der</strong>ung. Sie waren jetzt zunehmend <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, sich gegenseitig zu helfen und Hilfe von uns<br />

anzunehmen.<br />

Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> versuchten, den Slalom zu durchreiten. Es klappte nicht. Das e<strong>in</strong>e Pferd g<strong>in</strong>g an den<br />

Strohballen vorbei, das nächste stellte sich quer, es entstand sozusagen e<strong>in</strong>e etwas chaotische<br />

Situation. E<strong>in</strong> Junge aus dem Kosovo, <strong>der</strong> sich normalerweise eher zurückgehalten hatte, wollte nun<br />

unbed<strong>in</strong>gt ausprobieren, e<strong>in</strong> Pferd durch den Slalom zu führen. Er war zusammen mit dem<br />

albanischen Mädchen bei unserer Stute, die nicht ganz e<strong>in</strong>fach zu führen ist. Wenn jemand nicht<br />

souverän auftritt und gleichzeitig ihre Grenzen respektiert, kann sie bissig werden, sodass wir sie<br />

nur bed<strong>in</strong>gt zum Führen durch die K<strong>in</strong><strong>der</strong> e<strong>in</strong>setzen. Der Junge wollte aber unbed<strong>in</strong>gt ausprobieren,<br />

wie sie sich führen lässt und er wollte, dass sie durch den Slalom geht und nicht an den Strohballen<br />

vorbei. Er nahm selbstbewusst den Zügel und zeigte dem Pferd deutlich, wo er h<strong>in</strong>wollte, obwohl er<br />

dar<strong>in</strong> noch wenig Erfahrung hatte. Die Stute folgte ihm bereitwillig. Diese Erfahrung war für den<br />

Jungen so zufriedenstellend, dass er für e<strong>in</strong>en längere Zeit lieber mit dem Führen beschäftigt war,<br />

als zu reiten. Die an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong> hatten ihn beobachtet und probierten das Gleiche. Alle drei Pferde<br />

schafften daraufh<strong>in</strong> den Slalom. Als danach getauscht wurde, klappte das Slalomreiten auf Anhieb.<br />

10


Nachdem die Pferde abgesattelt waren und ihr obligatorisches Stück Brot zur Belohnung<br />

bekommen hatten, sollten sie wie<strong>der</strong> zur Weide gebracht werden. Durch die vorherige Erfahrung<br />

bestärkt fanden sich sofort drei K<strong>in</strong><strong>der</strong>, die gerne die Pferde selbst auf die Weide führen wollten.<br />

Für diesen Zweck legten wir den Pferden e<strong>in</strong>e Tell<strong>in</strong>gton-Führkette an. Wir mussten hier und da e<strong>in</strong><br />

wenig mithelfen, da die Pferde durch das saftige Gras am Wegrand sehr verlockt wurden, stehen zu<br />

bleiben und zu fressen, aber im Großen und Ganzen waren die K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, die Pferde<br />

eigenständig zur Weide zu führen. Spannend wurde es noch, als sich zwei <strong>der</strong> Pferde, die zuvor<br />

geschwitzt hatten, auf <strong>der</strong> Weide zu wälzen begannen. Jetzt sahen die K<strong>in</strong><strong>der</strong> auch, woher <strong>der</strong><br />

Dreck kam, den sie zuvor weggeputzt hatten.<br />

Fazit<br />

In dieser Stunde waren Verän<strong>der</strong>ungen bei den e<strong>in</strong>zelnen Gruppenmitglie<strong>der</strong>n und <strong>der</strong> Gruppe<br />

<strong>in</strong>sgesamt zu beobachten. Diese betreffen die Bereiche Angst und Aggression, Kommunikation und<br />

die Übernahme von Verantwortung. Auch <strong>in</strong> dieser Stunde fiel uns wie<strong>der</strong> auf, wie die Gruppe im<br />

Gesamtverhalten trotz <strong>der</strong> Sprachverständigungsschwierigkeiten durch e<strong>in</strong>e praktische Solidarität<br />

gekennzeichnet war. E<strong>in</strong> gegenseitiges Helfen fand hier oft spontaner statt als <strong>in</strong> unseren sonstigen<br />

Gruppen, <strong>in</strong> denen die K<strong>in</strong><strong>der</strong> sehr viel häufiger zunächst uns um Rat fragen statt sich gegenseitig<br />

zu helfen o<strong>der</strong> erst e<strong>in</strong>mal auszuprobieren.<br />

Im Anschluss an die E<strong>in</strong>heit erfuhren wir noch per Telefon über e<strong>in</strong>en Jungen aus <strong>der</strong> Gruppe,<br />

dass bei ihm an diesem Tag e<strong>in</strong> starke Verän<strong>der</strong>ung e<strong>in</strong>getreten sei. Dieser Junge war immer eher<br />

zurückhaltend und beobachtend gewesen. Auch an diesem Tag hatte er eher beobachtet und fast die<br />

ganze Zeit, als die an<strong>der</strong>en mit Führen und <strong>Reiten</strong> beschäftigt waren, im Apfelbaum gesessen. Nur<br />

für kurze Zeit hatte er auf dem Pferd sitzen wollen und sich dann schon wie<strong>der</strong> zurückgezogen und<br />

zugeschaut. Laut Angaben <strong>der</strong> Betreuer war er, <strong>der</strong> seit den drei Monate zurückliegenden<br />

Ereignissen <strong>der</strong> Flucht nicht mehr gelacht hatte, am Tag nach dem Besuch bei uns wie<br />

ausgewechselt. Er nahm von sich aus Kontakt auf, lachte und erzählte, dass es se<strong>in</strong> schönster Tag<br />

gewesen sei. Offensichtlich hatte sich <strong>in</strong> ihm e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Blockade gelöst.<br />

11


3.2 E<strong>in</strong>zelaspekte <strong>der</strong> Arbeit mit traumatisierten K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und jungen Frauen<br />

An e<strong>in</strong>zelnen Phänomenen soll <strong>der</strong> Zusammenhang zwischen Traumafolgen und <strong>der</strong> heilenden<br />

Wirkung des Pferdes/des Therapeutischen <strong>Reiten</strong>s aufgezeigt werden.<br />

3.2.1 Angst/Vertrauen<br />

Angst<br />

„Angst, das war und ist bis zum heutigen Tag das Gefühl, das mir am vertrautesten ist. Damit habe<br />

ich gelebt.“ (M.F., 35 Jahre, zit. nach GARDINER-SIRTL <strong>in</strong> ENDERS S.145) Über Angst ist im<br />

Zusammenhang mit Therapeutischem <strong>Reiten</strong> an verschiedenen Stellen geschrieben worden (vergl.<br />

KRÖGER S. 82 ff., MEHLEM u.a.). Das Wahrnehmen, Benennen und Mit-Ihr-Arbeiten setze ich<br />

voraus. Aus dem spezifischen Blickw<strong>in</strong>kel <strong>der</strong> <strong>Traumaarbeit</strong> betrachtet ist Angst als<br />

vorherrschendes Grundgefühl e<strong>in</strong>e typische Folge <strong>der</strong> Traumaerfahrung. Das Vertrauen sowohl <strong>in</strong><br />

die Welt als auch <strong>in</strong> sich selbst ist zutiefst erschüttert.<br />

Normalerweise tritt Angst als Reaktion auf e<strong>in</strong>e Bedrohung auf und ist von daher als angemessene<br />

psychische Reaktion zu werten. Der Satz „die Angst ist de<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong>, sie bewahrt dich vor<br />

Gefahr“, be<strong>in</strong>haltet diesen Schutzcharakter, den Angst normalerweise hat. Als Symptom nach<br />

Traumaerfahrungen tritt Angst oft an unangemessenen Stellen auf, sie überflutet den Menschen und<br />

macht ihn handlungsunfähig. O<strong>der</strong> aber sie wird durch Phänomene <strong>der</strong> Spaltung nicht mehr<br />

wahrgenommen, damit geht ihr warnen<strong>der</strong> Charakter verloren. Das Pferd als Fluchttier spiegelt sehr<br />

deutlich die vorhandene Angst. Ihm ist von <strong>der</strong> Natur nur die Reaktion <strong>der</strong> Flucht auf drohende<br />

Gefahr gegeben. Der Mensch mit Gewalterfahrung kann sich zum e<strong>in</strong>en sicher fühlen, weil das<br />

Pferd ihn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht unvermittelt grundlos angreifen wird, wie es se<strong>in</strong>er bisherigen<br />

Erfahrung entspricht, zum an<strong>der</strong>en lernt er durch den Spiegel, den das Pferd ihm vorhält, wie stark<br />

die Angst ist, wie sie alles an<strong>der</strong>e überdeckt.<br />

z.B. Raphael<br />

E<strong>in</strong> Beispiel zum Thema Angst erlebte ich mit Raphael, e<strong>in</strong>em Jungen, dem bereits unter <strong>der</strong><br />

Geburt per Kaiserschnitt e<strong>in</strong> Be<strong>in</strong>bruch zugefügt wurde, <strong>der</strong> mehrfach wegen falscher Reponierung<br />

nachoperiert wurde. E<strong>in</strong> Junge mit zusätzlichen multiplen Handicaps, <strong>der</strong> aus e<strong>in</strong>er Familie stammt,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Schläge an <strong>der</strong> Tagesordnung waren und <strong>der</strong> <strong>in</strong>zwischen im Heim untergebracht ist. Raphael<br />

ist 9 Jahre alt und hat multiple physische und psychische Defizite. Es besteht e<strong>in</strong>e<br />

Entwicklungsverzögerung, se<strong>in</strong> Be<strong>in</strong> ist verkürzt, die Wirbelsäule verkrümmt, es bestehen visuelle<br />

und auditive Störungen, Wahrnehmungsstörungen, Sprachstörungen. Se<strong>in</strong> Sozialverhalten ist<br />

auffällig, die Toleranzgrenze niedrig. Er kam schon seit ca. e<strong>in</strong>em halben Jahr zu uns, als das Pferd<br />

aufgrund e<strong>in</strong>es Gewitters scheute und aus dem Schritt heraus e<strong>in</strong>en Sprung machte. Raphael war<br />

sehr erschrocken, obwohl nichts weiter passiert war. Er war kreidebleich und sackte förmlich <strong>in</strong> sich<br />

zusammen. Er hatte sehr genau wahrgenommen, dass das Pferd <strong>in</strong> dem Moment große Angst hatte,<br />

obwohl er e<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige Situation (Scheuen) noch nie mit dem Pferd erlebt hatte. Als ich ihm klar<br />

machte, dass das Pferd genau wie er Angst gehabt habe und wir beide überlegten, wer wohl <strong>in</strong> dem<br />

Moment mehr Angst gehabt hätte, schien es für ihn sehr bee<strong>in</strong>druckend, dass dieses große Tier<br />

womöglich noch mehr Angst vor Gewitter hat als er selbst.<br />

Kontrollverlust<br />

Da es sich beim sexuellen Missbrauch um e<strong>in</strong>e Grenzverletzung handelt, ist e<strong>in</strong> typisches<br />

Symptom die Angst vor Kontrollverlust. Beim <strong>Reiten</strong> spiegelt sich diese Angst <strong>in</strong> den<br />

verschiedensten Bereichen wi<strong>der</strong>, z.B. f<strong>in</strong>det sie sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Panik, die ausbrechen kann, wenn das<br />

Pferd zu schnell wird. Manche Menschen vermeiden darum den Jagdgalopp und galoppieren auch<br />

im Gelände immer nur im versammelten Tempo bzw. im dressurmäßigen Arbeitsgalopp. Ebenso<br />

gut ist es auch möglich, dass die Grenzen gar nicht mehr gezogen werden können und die Angst als<br />

warnen<strong>der</strong> Faktor völlig ausfällt.<br />

12


z.B. Patricia<br />

Als Beispiel für die Angst vor Kontrollverlust will ich Patricia anführen, e<strong>in</strong>e 27-jährige geistig<br />

beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Frau. Patricia lebt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er betreuten Wohnstätte. Sie wurde von ihrer Betreuer<strong>in</strong> zum<br />

Therapeutischen <strong>Reiten</strong> angemeldet mit <strong>der</strong> Begründung, dass <strong>Reiten</strong> e<strong>in</strong> sehr großes Anliegen von<br />

ihr sei, <strong>der</strong> Versuch, sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em normalen Reitbetrieb unterzubr<strong>in</strong>gen aber gescheitert sei. Sie habe<br />

dort zu viel Angst gehabt und sei auch den Anfor<strong>der</strong>ungen nicht gewachsen gewesen. Patricia ist<br />

mental auf dem Stand e<strong>in</strong>er 6-jährigen, motorisch relativ unauffällig, Koord<strong>in</strong>ation und Kognition<br />

s<strong>in</strong>d bee<strong>in</strong>trächtigt. In <strong>der</strong> Sprachwahl verwendet sie oft stereotype Satzwie<strong>der</strong>holungen. Patricia<br />

kommt seit ca. 1 ½ Jahren aus Kostengründen nur 14 täglich, d.h. sie hat z.Zt. ca. 40 E<strong>in</strong>heiten<br />

Reittherapie gemacht. Da wir das Gruppenangebot momentan nur für K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche<br />

bereithalten, kommt sie zur E<strong>in</strong>zeltherapie, obwohl sicherlich e<strong>in</strong> Gruppenangebot gerade für<br />

Patricia e<strong>in</strong>e gute Alternative wäre. Bei ihrer Anmeldung wurde „vergessen“, mich davon zu<br />

unterrichten, dass Patricia über e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum <strong>in</strong> ihrer Wohngruppe vom betreuenden<br />

Leiter <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung missbraucht worden ist. Ich erfuhr später durch e<strong>in</strong>en Zufall davon. E<strong>in</strong><br />

entsprechen<strong>der</strong> Gerichtsprozess endete mit e<strong>in</strong>em Freispruch für den ehemaligen Wohnheimleiter,<br />

da Patricias Aussagen durch das fehlende Zeitgitter nicht juristisch bewertbar e<strong>in</strong>zuordnen waren.<br />

Sie war auch vor Gericht nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage o<strong>der</strong> willens gewesen, Beschreibungen, die sie zuvor<br />

e<strong>in</strong>er Betreuer<strong>in</strong> gegenüber gegeben hatte und die den Heimleiter belasteten, zu wie<strong>der</strong>holen.<br />

Während <strong>der</strong> Prozess lief, war Patricia schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reittherapie, sie war auch offensichtlich sehr<br />

belastet, vermied es aber mir gegenüber, über die Vorfälle zu sprechen.<br />

Auffällig war zu Beg<strong>in</strong>n, dass Patricia die Befürchtung hatte, nicht mehr wie<strong>der</strong> kommen zu<br />

dürfen, wie es ihr <strong>in</strong> dem vorherigen Reitstall ergangen war. Als sie etwas Vertrauen gefasst hatte,<br />

wie<strong>der</strong>holte sie stereotyp den Satz, dass sie mich lieb habe. Wenn wir das Wort Liebe mit<br />

„Jemandem das Herz öffnen, Vertrauen zu Jemandem haben“, übersetzen, denke ich, dass sie<br />

diesen <strong>in</strong>neren Schritt damit ausdrücken wollte. Inzwischen ist diese Bemerkung mir gegenüber<br />

weggefallen, um so mehr spricht sie davon, wie sehr sie das Pferd liebt und was ihr alles an ihm<br />

gefällt. Sie ist sehr aufmerksam, ob das Pferd ihr gut gesonnen ist und fragt viel nach <strong>der</strong> Bedeutung<br />

<strong>der</strong> Gesten des Pferdes. Patricia ist nach geraumer Zeit auf eigenen Wunsch auf e<strong>in</strong> Pferd<br />

umgestiegen, das sie an genau ihrer Angst vor Kontrollverlust, vor Geschw<strong>in</strong>digkeit herausfor<strong>der</strong>t.<br />

Sie hat es <strong>in</strong>zwischen geschafft, eigenständig e<strong>in</strong> Pferd im Gelände zu reiten, wenn ich vor ihr reite.<br />

Anfangs ritt sie e<strong>in</strong> sehr ruhiges Pferd, das sie nicht richtig vorwärts treiben konnte (wollte?). Beim<br />

Antraben, auch wenn sie dies selbst wünschte, erschrak sie jedes Mal und stieß e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Schrei<br />

aus. Jetzt ist sie auf e<strong>in</strong> gangfreudiges Pferd umgestiegen und reitet zunächst nur im Schritt.<br />

Während des gesamten Ausrittes ist sie damit beschäftigt, ihre Furcht vor dem Schnellerwerden des<br />

Pferdes <strong>in</strong> den Griff zu bekommen, wünscht aber genau diese Herausfor<strong>der</strong>ung. Patricia hatte sehr<br />

lange das Problem, dass sie <strong>in</strong> Panik beim Führen geriet, wenn das Pferd h<strong>in</strong>ter ihr her lief. Sie hat<br />

ca. e<strong>in</strong> Jahr gebraucht, <strong>in</strong> dem sie neben mir her lief, wenn die Pferde von <strong>der</strong> Weide geholt wurden,<br />

bis sie dann Stückchen für Stückchen das Führen selbst übernahm.<br />

Vertrauen<br />

E<strong>in</strong>e Übung, die <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für Traumatisierte e<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung darstellt, ist das „ Sich<br />

h<strong>in</strong>tenüber auf den Rücken legen.“ (vergl. auch BAUM S. 256 und KLÜWER S. 19) Die Be<strong>in</strong>e so<br />

weit zu spreizen, wie es für das Sitzen auf dem Pferd nötig ist, kann für sexuell missbrauchte<br />

Mädchen bereits e<strong>in</strong> Problem darstellen. E<strong>in</strong>e mögliche Hilfe ist es, das Mädchen im Seit- o<strong>der</strong><br />

Damensitz auf dem Pferd sitzen zu lassen. Berücksichtigt werden sollte auch, dass die Stimulation<br />

im Genitalbereich auf dem blanken Pfer<strong>der</strong>ücken o<strong>der</strong> wenn dieser nur mit e<strong>in</strong>er Decke versehen<br />

ist, zu stark se<strong>in</strong> kann (vergl. Kapitel 2.2 über sexuelle Erregung im Zusammenhang mit sexuellem<br />

Missbrauch). E<strong>in</strong>e Entlastung kann hier <strong>der</strong> Sattel br<strong>in</strong>gen, <strong>der</strong> den direkten Kontakt zunächst<br />

vermeidet. Für die Übung des H<strong>in</strong>tenüberlegens kann das starke Spreizen verr<strong>in</strong>gert werden, wenn<br />

die Be<strong>in</strong>e über die Haltegriffe des Gurtes gelegt werden. Der nächste Faktor ist das Loslassen,<br />

„Sich- H<strong>in</strong>geben“. Oft ist es nur, wenn überhaupt, für Sekunden möglich. Auf ke<strong>in</strong>en Fall sollte <strong>der</strong><br />

Wi<strong>der</strong>stand durch Zureden o<strong>der</strong> womöglich Druck angegangen werden, welches Vorgehen ja<br />

ohneh<strong>in</strong> dem Grundsatz des Sachorientierten Arbeitens im HPVR wi<strong>der</strong>sprechen würde (vergl.<br />

13


KRÖGER). Kann e<strong>in</strong>e Person sich nicht H<strong>in</strong>tenüber auf das Pferd legen o<strong>der</strong> nur für e<strong>in</strong>en sehr<br />

kurzen Moment, so ist dies zunächst e<strong>in</strong>e Schutzfunktion, möglicherweise aus Angst vor<br />

Kontrollverlust.<br />

z.B. Jasm<strong>in</strong><br />

Jasm<strong>in</strong> kam mit vier Jahren zu uns. Zunächst <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zeltherapie, später <strong>in</strong> die Gruppe. Jasm<strong>in</strong><br />

wurde mit sieben Monaten aus <strong>der</strong> Herkunftsfamilie herausgenommen und lebt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Pflegefamilie. Die Vorkommnisse <strong>der</strong> ersten Monate s<strong>in</strong>d nicht vollständig aufgedeckt. Fest steht,<br />

dass es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie Vernachlässigung, Gewalt und Drogen gab. E<strong>in</strong> weiteres K<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Familie ist<br />

unter diesen Umständen zu Tode gekommen. Vermutet wird bei Jasm<strong>in</strong> zusätzlich e<strong>in</strong>e sexuelle<br />

Traumatisierung. Sie wurde ursprünglich angemeldet mit <strong>der</strong> Symptomatik von Defiziten im<br />

Bereich <strong>der</strong> Grobmotorik, e<strong>in</strong>em schlaffen Muskeltonus im oberen Bereich,<br />

Gleichgewichtsstörungen, Wahrnehmungsstörungen, Sprachstörungen und auffälligem<br />

Sozialverhalten. Jasm<strong>in</strong> war kaum <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage sich anfassen zu lassen, konnte nicht artikulieren,<br />

was sie wollte o<strong>der</strong> nicht wollte, das Wort Ne<strong>in</strong> kam <strong>in</strong> ihrem Sprachschatz nicht vor. Nach e<strong>in</strong>em<br />

Jahr Reittherapie und zusätzlicher Betreuung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Frühför<strong>der</strong>ung, Logopädie und<br />

Krankengymnastik haben sich die motorischen Auffälligkeiten von Jasm<strong>in</strong> annähernd gegeben.<br />

Probleme bestehen noch <strong>in</strong> den Bereichen Wahrnehmung und Kommunikation. Inzwischen nimmt<br />

Jasm<strong>in</strong> an e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tegrativen Gruppe teil.<br />

Als wir ihr zu Beg<strong>in</strong>n die oben beschriebene Übung vorstellten, war es ihr nicht möglich, sich<br />

nach h<strong>in</strong>ten zu legen. Sie drehte sich daraufh<strong>in</strong> von selbst um, so dass sie verkehrt herum auf dem<br />

Pferd saß und konnte sich aus dieser Position heraus bäuchl<strong>in</strong>gs auf das Pferd legen. Nach e<strong>in</strong>er<br />

längeren regressiven Phase, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sie öfter am liebsten e<strong>in</strong>fach verkehrt herum auf dem Pferd saß<br />

und die Kruppe streichelte, wurde es ihr später möglich, sich auch h<strong>in</strong>tenüber h<strong>in</strong>zulegen.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs bleibt sie nur für e<strong>in</strong>en sehr kurzen Moment <strong>in</strong> dieser Position.<br />

3.2.2 Macht/Ohnmacht<br />

Sexueller Missbrauch spielt sich immer <strong>in</strong> Beziehungen ab, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong>en Machtgefälle besteht,<br />

Macht missbraucht wird. Das Erleben von Ohnmacht ist e<strong>in</strong> Grundgefühl des Opfers. Das Pferd ist<br />

e<strong>in</strong> spannendes Übungsfeld zu diesem Thema. Es ist e<strong>in</strong>erseits übermächtig groß und verlangt<br />

an<strong>der</strong>erseits klare Kommunikation, um den Menschen als Mächtigeren, als Leittier anzuerkennen.<br />

Als Übung hierzu eignet sich das Führen des Pferdes. E<strong>in</strong> typisches Phänomen ist, dass<br />

missbrauchte Mädchen es schwer aushalten, nach <strong>der</strong> Tell<strong>in</strong>gton Jones Methode e<strong>in</strong> Pferd zu<br />

führen, d.h. das K<strong>in</strong>d/die Erwachsene läuft sozusagen als Leittier vorne weg, das Pferd folgt<br />

automatisch. Sehr oft habe ich erlebt, dass <strong>in</strong> dem Moment, wo sich etwas h<strong>in</strong>ter dem Rücken des<br />

K<strong>in</strong>des bewegt, <strong>in</strong> diesem Fall das Pferd, e<strong>in</strong>e spontane tiefe Angstreaktion erfolgt, e<strong>in</strong> Sich-<br />

Ducken und <strong>der</strong> Versuch wegzulaufen. Dieses Weglaufen verstärkt die Reaktion des Pferdes, was<br />

meist sehr schnell zu e<strong>in</strong>er „Grenzüberschreitung“ gegenüber dem K<strong>in</strong>d führt. Es lässt das Pferd an<br />

sich vorbei laufen und gibt sofort jedwede Aktivität auf. Lernaufgabe ist es hier, auszuhalten, dass<br />

das Pferd im Rücken ist und das Gefühl <strong>der</strong> Ohnmacht h<strong>in</strong>ter sich zu lassen, um die<br />

„Führungsrolle“ übernehmen zu können, zu agieren statt zu reagieren.<br />

z.B. Meik<br />

Mit Meik, e<strong>in</strong>em 9-jährigen Jungen haben wir hier e<strong>in</strong>e entsprechende positive Erfahrung machen<br />

können. In <strong>der</strong> Herkunftsfamilie waren Alkohol, Vernachlässigung und Gewalt an <strong>der</strong><br />

Tagesordnung. Meik ist <strong>in</strong>zwischen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Heim untergebracht. Er zeigt Emotionalstörungen,<br />

Sprachstörungen, Störungen im Sozialverhalten, Entwicklungsretardierung, E<strong>in</strong>nässen und<br />

sexualisiertes Verhalten. Se<strong>in</strong>e Frustrationstoleranz ist extrem niedrig. In <strong>der</strong> Gruppe fällt er<br />

außerdem durch aggressives Verhalten auf, was <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reittherapie nicht zum Ausdruck kommt. Da<br />

Meik e<strong>in</strong> sehr ger<strong>in</strong>ges Selbstvertrauen hat, war es schwierig, ihn zu motivieren, Übungen auf dem<br />

Pferd auszuprobieren, die er nicht auf Anhieb konnte. Z. B. mussten wir das Pferd grundsätzlich<br />

anhalten, damit er e<strong>in</strong>e Mühle ausführen konnte, obwohl er von Motorik und Koord<strong>in</strong>ation her <strong>in</strong><br />

14


<strong>der</strong> Lage gewesen wäre, es im Schritt auszuprobieren. Sobald er aber e<strong>in</strong> wenig <strong>in</strong>s Rutschen kam,<br />

bekam er soviel Angst, dass er se<strong>in</strong>en Körper nicht mehr <strong>in</strong>s Gleichgewicht korrigieren konnte, er<br />

schien wie gelähmt zu se<strong>in</strong>. Beim <strong>Reiten</strong> mit Zügel war es ihm anfangs nicht möglich, das Pferd zu<br />

lenken. Sobald dieses nur e<strong>in</strong>mal nicht sofort auf e<strong>in</strong>e zu vorsichtig gegebene Hilfe reagierte,<br />

schmiss er die Zügel weg, behauptete, er könne das gar nicht und war nicht mehr zu bewegen, es<br />

noch e<strong>in</strong>mal zu versuchen. In dieser Phase ließ er sich dennoch darauf e<strong>in</strong>, das Pferd selbst auf die<br />

Wiese zu führen, auf <strong>der</strong> wir reiten wollten. Auf Anleitung probierte er die Kommandos „Halt“ und<br />

„Marsch“ aus und zu se<strong>in</strong>em Erstaunen reagierte das Pferd auf ihn. Aus dieser Position heraus hatte<br />

er es geschafft, klar und deutlich zu reden und auch se<strong>in</strong>e Körpersprache war aus <strong>der</strong> ohnmächtigen<br />

und hypotonen Position heraus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e aufrechte und klare Haltung gewechselt. Daraufh<strong>in</strong> hatte das<br />

Pferd ihn als Führungsperson akzeptiert. Dieser für ihn ungewohnten Erfahrung gab er im<br />

folgenden mehrmals Ausdruck mit dem Satz: „Das hört auf mich!“ In <strong>der</strong> folgenden Arbeit war es<br />

immer wie<strong>der</strong> möglich, auf dieser Erfahrung aufzubauen. Ganz langsam beg<strong>in</strong>nt er nun auch <strong>in</strong> den<br />

an<strong>der</strong>en Bereichen <strong>in</strong> die aktive Rolle zu gehen, die Führung zu übernehmen.<br />

Die Zügel <strong>in</strong> die Hand nehmen<br />

Diese Formulierung (s. auch BAUM, SCHULZ) drückt treffend aus, welche Bedeutung das<br />

eigenständige <strong>Reiten</strong> <strong>in</strong> diesem Zusammenhang haben kann. Da <strong>Reiten</strong> nicht nur auf körperlicher<br />

Stärke und Sportlichkeit aufbaut, son<strong>der</strong>n entscheidend von <strong>der</strong> Kommunikation mit dem Partner<br />

Pferd abhängt, können auch Menschen mit Handicap sehr gute Reiter<strong>in</strong>nen und Reiter werden. Auf<br />

diesem Phänomen baut <strong>der</strong> Ansatz des Therapeutischen <strong>Reiten</strong> u.a. auf. In <strong>der</strong> <strong>Traumaarbeit</strong><br />

gew<strong>in</strong>nt dieser Aspekt e<strong>in</strong>e spezifische Bedeutung, weil nur reiten kann, wer den Willen hat, dem<br />

Pferd zu sagen, wo es langgeht und auch lernt, wie er diesen Willen durchsetzt.<br />

z.B. Raphael, Meik, Jasm<strong>in</strong><br />

Raphael beispielsweise, e<strong>in</strong> multipel gehandicaptes K<strong>in</strong>d, <strong>der</strong> schmal und relativ kle<strong>in</strong> ist, hat<br />

diesen Willen bereits entwickeln können. Bei Meik, <strong>der</strong> viel größer und körperlich stärker ist,<br />

bestehen noch Probleme <strong>in</strong> diesem Bereich. Wenn er versucht, e<strong>in</strong> Pferd <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Richtung zu lenken<br />

und es nicht gleich funktioniert, gibt er auf. Das, was ihm beim Führen möglich ist, klare Signale zu<br />

senden, geht beim <strong>Reiten</strong> noch nicht. Er verfällt dann schnell <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Ohnmachtshaltung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> das<br />

Pferd die Oberhand gew<strong>in</strong>nt und den Weg bestimmt. Jasm<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> fasz<strong>in</strong>ierendes Beispiel. Sie, die<br />

es bisher nur <strong>in</strong> ganz vertrauter Umgebung schafft, ihren Willen kundzutun, ist nach e<strong>in</strong>em Jahr<br />

Reittherapie mit ihren fünf Jahren bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, selbständig unsere Stute zu lenken, wenn e<strong>in</strong>e<br />

Begleitperson zur Sicherheit nebenher geht.<br />

3.2.3 Körperwahrnehmung-Körpergefühl<br />

Da <strong>in</strong> <strong>der</strong> traumatischen Situation die Realität verloren zu gehen sche<strong>in</strong>t (s. Kap. 2.2) und<br />

zusätzlich Täter oft durch Lügen und Schuldzuschreibungen an das Opfer dieses Phänomen<br />

verstärken, ist es auch später oft nicht mehr klar, was als wahr angenommen werden kann. Ebenso<br />

ist <strong>der</strong> Körper, <strong>der</strong> Ort des Geschehens ist und vielleicht sogar <strong>in</strong> <strong>der</strong> Missbrauchssituation mit<br />

Erregung reagiert hat, ke<strong>in</strong> verlässlicher Partner mehr. Berührungen, Bewegungsempf<strong>in</strong>dungen,<br />

unterschiedlichen S<strong>in</strong>nesreizen ausgesetzt zu Se<strong>in</strong>, ohne dass e<strong>in</strong>e Gefahr weiterer Übergriffe<br />

besteht, ist Herausfor<strong>der</strong>ung und Heilungschance im Therapeutischen <strong>Reiten</strong>.<br />

z.B. Silvia<br />

Silvia ist 30 Jahre alt, Mutter von zwei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, wurde von ihrem Partner verlassen und lebt von<br />

Sozialhilfe, von <strong>der</strong> sie auch die Reittherapie f<strong>in</strong>anziert. Silvia leidet an e<strong>in</strong>er Angstneurose, war<br />

lange suizidal und kann oft für e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum das Haus nicht verlassen. Silvia war über<br />

10 Jahre <strong>in</strong> psychoanalytisch orientierter E<strong>in</strong>zeltherapie, die sie abbrach, weil die Symptomatik sich<br />

zunehmend verschlimmerte. Silvia brauchte e<strong>in</strong> Jahr, um sich bei mir für die Reittherapie<br />

anzumelden, an <strong>der</strong> sie seit ca. 1 ½ Jahren regelmäßig teilnimmt. Silvia hatte <strong>in</strong> ihrer Jugend<br />

Kontakt zu Pferden und ist auch geritten. Zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Therapie hat sie viel erzählt. Sie wurde von<br />

ihrem Vater sexuell missbraucht, er<strong>in</strong>nerlich ab ca. dem dritten Lebensjahr bis sie 17 wurde. Ich<br />

15


will weitere E<strong>in</strong>zelheiten nicht aufzählen, nur e<strong>in</strong>e Strategie des Vaters erwähnen, die das Thema<br />

Verwirrung, Wahrnehmung berührt. Als sie noch kle<strong>in</strong> war, tat <strong>der</strong> Vater immer so, als ob er etwas<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Hose versteckt hätte, dass sie suchen musste. Als Silvia zu Beg<strong>in</strong>n kam, war das <strong>Reiten</strong> sehr<br />

anstrengend für sie. An <strong>der</strong> Longe fiel es ihr schwer, für längere Zeit breitbe<strong>in</strong>ig auf dem Pferd zu<br />

sitzen, sie saß dann viel im Damensitz. Sie wirkt zwar äußerlich ruhig, ist aber <strong>in</strong>nerlich <strong>in</strong><br />

dauern<strong>der</strong> Anspannung. Diese überträgt sich auf das Pferd. Silvia hat e<strong>in</strong>e für Missbrauchsopfer oft<br />

typische erhöhte Sensibilität. Sie merkt genau, wenn das Pferd unruhig und angespannt ist und<br />

reagiert ihrerseits dann wie<strong>der</strong> mit vermehrter Anspannung. Bei Sitzübungen fällt es ihr nicht nur<br />

schwer, sich zu entspannen, sie hat auch Probleme, aufrecht zu sitzen. Auffällig war, dass sie<br />

Übungen, <strong>in</strong> denen die Brustmuskulatur gestreckt werden sollte, nicht durchführen konnte. Die<br />

meisten Menschen haben e<strong>in</strong> Übergewicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Brustbeugemuskulatur, bei Mädchen und Frauen,<br />

die sexuell missbraucht wurden, kommt oft zusätzlich e<strong>in</strong> Phänomen <strong>der</strong> Scham, des<br />

Versteckenwollens h<strong>in</strong>zu. Das typische Kommando „Brust raus“ kann hier zum Desaster führen.<br />

Hilfreich ist es, durch Übungen wie Armkreisen rückwärts u.a. vorsichtig e<strong>in</strong> Dehnen zu<br />

ermöglichen. Ebenso sollten weite Pullover und Jacken erlaubt se<strong>in</strong>, damit die Mädchen und Frauen<br />

sich nicht bloßgestellt vorkommen. Wenn es Sitzprobleme <strong>in</strong> Trab und Galopp gibt, kann dieser<br />

Aspekt auch als mögliche Ursache e<strong>in</strong>mal mit berücksichtigt werden. Von Scham betroffen s<strong>in</strong>d ja<br />

nicht nur Mädchen und Frauen nach Missbrauchserfahrungen.<br />

Gangarten<br />

Die Bedeutung <strong>der</strong> Gangarten u.a. auf die psychische Verfassung ist an an<strong>der</strong>en Stellen bereits<br />

beschrieben worden. (vergl. KLÜWER, S.10) Der Schritt kann e<strong>in</strong>e beruhigende Wirkung haben.<br />

Er för<strong>der</strong>t die Konzentration. Zu achten ist darauf, dass das Pferd nicht übereilt geht, dass das<br />

Becken, das evtl. festgehalten wird, genug mitschw<strong>in</strong>gen kann. Die Gangart Trab kann aus<br />

genannten Gründen e<strong>in</strong>e Problematik be<strong>in</strong>halten, es sei denn, es wird leichtgetrabt. Um im Trab<br />

aussitzen zu können, ist e<strong>in</strong>e Weichheit und e<strong>in</strong> Mitschw<strong>in</strong>gen im Bereich des Beckens nötig. Es<br />

kann se<strong>in</strong>, dass dies zunächst für e<strong>in</strong>e längere Zeit nicht möglich ist. Zusätzlich kann <strong>der</strong><br />

Berührungsreiz zu stark se<strong>in</strong>. (s. auch Kap. 2.2) Der Galopp kann e<strong>in</strong>e belebende Funktion haben,<br />

kann aber auch zunächst Angst auslösen, bzw. <strong>der</strong> Bewegungsreiz auch hier anfangs zu stark se<strong>in</strong>.<br />

z.B. Jasm<strong>in</strong><br />

E<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d mit Wahrnehmungsstörungen aufgrund sozialer Deprivation und Traumaerfahrung ist<br />

Jasm<strong>in</strong> (s. auch S. 14). Sie vermied lange Zeit Körperkontakte, Schmusen war ihr nicht möglich.<br />

Wenn ihr jemand weh tat, konnte es se<strong>in</strong>, dass sie es nicht bemerkte o<strong>der</strong> aber ke<strong>in</strong>e Meldung<br />

darüber abgab. Z.B. wurde ihr e<strong>in</strong>mal bei e<strong>in</strong>em Friseurbesuch versehentlich die Klammer des<br />

Umhangs <strong>in</strong> die Haut des Halses geklemmt. Jasm<strong>in</strong> ließ sich nichts anmerken, erst als die Mutter<br />

bemerkte, dass <strong>der</strong> Hals anf<strong>in</strong>g, sich zu röten, wurde <strong>der</strong> Fehler entdeckt.<br />

Jasm<strong>in</strong> verbrachte anfangs längere Zeit damit, das Pferd zu spüren, zu betasten und nach e<strong>in</strong>er<br />

Gewöhnungsphase sich bäuchl<strong>in</strong>gs auf es h<strong>in</strong>zulegen. Später begann sie erst mit Turnübungen auf<br />

dem Pferd und <strong>Reiten</strong> lernen. Inzwischen hat sich ihr Verhältnis zum Körperkontakt mit Menschen<br />

verän<strong>der</strong>t. Irgendwann berichtete die Mutter von Zuhause, dass e<strong>in</strong> gelegentliches Schmusen<br />

<strong>in</strong>zwischen möglich sei. Seit sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe ist, hält sie viel Körperkontakt mit uns o<strong>der</strong> sogar<br />

auch mit den an<strong>der</strong>en, größeren Mädchen. Zunehmend beschäftigt sie sich auch damit, mit dem<br />

Hund zu spielen und ihn zu streicheln.<br />

3.2.4 Aggression<br />

E<strong>in</strong>e Vorbemerkung zum E<strong>in</strong>satz und Schutz des Pferdes <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Traumaarbeit</strong>. Als ich mit dieser<br />

Arbeit anf<strong>in</strong>g, versuchte ich Kontakt mit an<strong>der</strong>en <strong>in</strong> Deutschland tätigen Personen aufzunehmen,<br />

um auf <strong>der</strong>en Erfahrungen zurückgreifen zu können. An dieser Stelle wurde ich des öfteren gewarnt<br />

vor dem zerstörerischen Potential, das von Gewaltopfern ausgehe. Explizit wurde hier die große<br />

Belastung <strong>der</strong> Pferde <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund gestellt. Im E<strong>in</strong>führungskapitel wurde zum Thema Folgen<br />

für die Betroffenen J.L. Herman zitiert, die u.a. darauf h<strong>in</strong>weist, dass die Übertragungsreaktionen<br />

16


ei Traumaopfern so <strong>in</strong>tensiv seien, als g<strong>in</strong>ge es um Leben o<strong>der</strong> Tod. (HERMAN, S. 188) E<strong>in</strong><br />

Phänomen, das im übrigen aus me<strong>in</strong>er langjährigen Erfahrung im Umgang mit sexuell<br />

traumatisierten Frauen heraus als diagnostisches Kriterium durchaus mit berücksichtigt werden<br />

kann. Wenn wir im Umgang mit Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Zustand von Ohnmacht, Verwirrung o<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

Gefühl existentieller Bedrohung geraten, sollten wir darüber nachdenken, ob wir es mit <strong>der</strong><br />

Übertragungsreaktion auf die Erlebnisse e<strong>in</strong>es Traumaopfers zu tun haben. Beim Therapeutischen<br />

<strong>Reiten</strong> ist das Pferd als Therapeut anzusehen, so dass hier auch mit Übertragungsreaktionen auf das<br />

Pferd zu rechnen ist. Darum ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Traumaarbeit</strong> ganz beson<strong>der</strong>s darauf zu achten, dass das Pferd<br />

angemessen geschützt wird, bzw. genug Freiraum hat, sich zu wehren, wenn es angegriffen wird.<br />

Wenn dies berücksichtigt wird, halte ich das Übertragungsrisiko nicht für e<strong>in</strong> Gegenargument gegen<br />

den E<strong>in</strong>satz des Pferdes <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Traumaarbeit</strong>.<br />

Es liegt auf <strong>der</strong> Hand, dass Menschen, die Opfer von Gewalthandlungen wurden, e<strong>in</strong> kompliziertes<br />

Verhältnis zur Gewalt als solcher haben. Aggression ist mit Gewalt eng verknüpft. Oft richten<br />

Mädchen die Aggression gegen sich selbst, während Jungen gewalttätig gegen an<strong>der</strong>e werden.<br />

Mädchen implodieren, Jungen explodieren. Der psychische Mechanismus <strong>der</strong> Identifikation mit<br />

dem Aggressor (vergl. HERMAN; REEMTSMA; ENDERS, HUBER u.a.) führt zu e<strong>in</strong>em sehr<br />

komplexen <strong>in</strong>neren Geschehen. Um die Situation überleben zu können, <strong>in</strong> <strong>der</strong> absolute<br />

Abhängigkeit vom Täter besteht, werden dessen Gefühle, Gedanken, Verhaltensweisen,<br />

Anschauungen übernommen. Der Verstehensversuch „warum ist gerade mir das passiert?“ wird mit<br />

<strong>der</strong> Annahme des Schlechten <strong>in</strong> sich selbst beantwortet: „Ich b<strong>in</strong> schlecht, e<strong>in</strong>e Zumutung,<br />

schmutzig, nicht vertrauenswürdig, nicht liebenswürdig, habe selbst Schuld.“ (zit. nach ENDERS,<br />

S. 147) Im Umgang mit Pferden haben Scham und Schuldgefühle ke<strong>in</strong>en Platz, sie spielen ke<strong>in</strong>e<br />

Rolle, da Pferde im Gegensatz zu Menschen nicht moralisch denken. Sie drohen nicht mit<br />

Liebesentzug, sie unterdrücken nicht aus re<strong>in</strong>er Bosheit, quälen niemanden. Aber sie setzen z.B. <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Hackordnung auf <strong>der</strong> Weide klare Grenzen und Regeln, an die sich gehalten wird. Wenn wir mit<br />

ihnen umgehen wollen, müssen wir unser Gewaltpotential, das ja <strong>in</strong> jedem Menschen steckt,<br />

s<strong>in</strong>nvoll verwenden und <strong>in</strong> geordnete Bahnen lenken, sonst kommen wir nicht zum Ziel.<br />

z.B. Steve<br />

E<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, das se<strong>in</strong>e häuslichen Gewalterfahrungen bereits <strong>in</strong> eigene Gewalttätigkeiten umsetzte,<br />

ist Steve. Steve kam mit 12 Jahren <strong>in</strong>s Projekt nach e<strong>in</strong>em Aufenthalt <strong>in</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und<br />

Jugendpsychiatrie. Er lebte noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie, <strong>in</strong> <strong>der</strong> er vom Vater regelmäßig geschlagen worden<br />

war, u.a. mit Ketten. Es war auch vorgekommen, dass <strong>der</strong> Vater die Hände des K<strong>in</strong>des auf die heiße<br />

Herdplatte gelegt hatte. Steve war im Sozialkontakt auffällig geworden durch se<strong>in</strong> aggressives<br />

Verhalten an<strong>der</strong>en gegenüber. Steve ist e<strong>in</strong> eher kle<strong>in</strong>er, motorisch unauffälliger Junge mit<br />

hyperaktiven Tendenzen. Im Umgang mit den Pferden zeigte er sich eher von se<strong>in</strong>er bedürftigen<br />

Seite. Er war sehr liebevoll zu se<strong>in</strong>er Stute und passte auch im Gelände auf, dass sie den rechten<br />

Weg fand, nachdem sie e<strong>in</strong>mal gestolpert war. Er hätte es nicht geduldet, wenn sie geschlagen<br />

worden wäre. Wichtig im Umgang mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n mit Gewalterfahrungen ist, das wir den E<strong>in</strong>satz von<br />

Peitsche und Gerte als unserem verlängertem Arm erläutern. Sie bekommen, wenn sie unvorbereitet<br />

s<strong>in</strong>d, sonst übergroße Angst, wenn wir diese Hilfsmittel e<strong>in</strong>setzen. Steve konnte sich <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

E<strong>in</strong>zeltherapie so weit auf die Beziehung zum Pferd und zur Therapeut<strong>in</strong> e<strong>in</strong>lassen, dass wir ihn <strong>in</strong><br />

die Gruppe aufnehmen wollten. Lei<strong>der</strong> scheiterte diese Maßnahme an den zuständigen<br />

Bewilligungen. An diesem Fall zeigt sich auch die Problematik, wenn wir mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n arbeiten, die<br />

nicht geschützt s<strong>in</strong>d, son<strong>der</strong>n weiter <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie des Täters o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Täter<strong>in</strong> leben. Es ist nur<br />

selten möglich, e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d so weit zu stabilisieren, dass es sich erfolgreich gegen weitere Übergriffe<br />

wehren kann. Heilungsarbeit ist aber nicht möglich, wenn die Wunden immer wie<strong>der</strong> aufgerissen<br />

werden.<br />

17


z.B. Miriam<br />

Miriam ist e<strong>in</strong> Beispiel für versteckte Aggressionen, wie sie bei Mädchen häufiger anzutreffen<br />

s<strong>in</strong>d. Miriam ist 13 Jahre alt. Sie lebt im Heim. Der Entzug des Sorgerechts läuft zur Zeit. Bei ihr<br />

bestehen Defizite im Bereich <strong>der</strong> Wahrnehmung, Zustand nach Gewalterfahrungen und Verdacht<br />

auf sexuellen Missbrauch, <strong>der</strong> aber nicht abgeklärt ist. Miriam ist übergewichtig. In <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung<br />

hat sie auch direkte Aggressionen gezeigt, z.B. ist sie e<strong>in</strong>mal auf e<strong>in</strong>e Betreuer<strong>in</strong> losgegangen. Im<br />

Umgang mit den Pferden kommt die Aggression nur <strong>in</strong>direkt zum Tragen. Als erstes fiel uns auf,<br />

dass unser Pferd, als Miriam auftauchte, sche<strong>in</strong>bar zufällig nach me<strong>in</strong>er Kolleg<strong>in</strong> schnappte. Diese<br />

Vorgänge wie<strong>der</strong>holen sich regelmäßig. E<strong>in</strong>mal kam Miriam und schon von weitem begann e<strong>in</strong><br />

Pferd zu scheuen. Äußerlich stellt sich ihr Verhalten als großer Liebesbeweis dar, sie will die Pferde<br />

füttern, streicheln, merkt aber nicht, dass sie ihnen zu abrupt zu nahe kommt. Sie erkennt die<br />

Grenze <strong>der</strong> Tiere nicht. Durch ihr Verhalten erfährt sie aber immer wie<strong>der</strong> die gewohnte<br />

Ablehnung, weil die Pferde sich wehren müssen. Beim Sitzen auf dem Pferd kommen ähnliche<br />

Reaktionen. Verstärkt durch ihr extremes Übergewicht und ihre abrupten Bewegungen s<strong>in</strong>d die<br />

Pferde oft unwillig. Es fällt ihr schwer, sich zu konzentrieren, obwohl sie sich sehr anstrengt und<br />

alles richtig machen will. Am ehesten ist Entspannung möglich, wenn sie <strong>in</strong>s Gespräch vertieft ist.<br />

Der erste Lernschritt von Miriam wird se<strong>in</strong>, den Spiegel, den ihr das Pferd vorhält, erkennen zu<br />

können, um ihre Aggression beherrschen zu lernen und die Kraft, <strong>der</strong> sie sich nicht bewusst ist,<br />

zielgerichtet e<strong>in</strong>zusetzen.<br />

3.2.5 Integration<br />

Integration <strong>in</strong>s Selbst<br />

Nach <strong>der</strong> Phase des Er<strong>in</strong>nerns und Trauerns folgt die Zusammensetzung des neuen Selbst. Die<br />

Aspekte, die verloren gegangen waren, können wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>tegriert werden. Die übermächtigen<br />

Strukturen, die das Überleben sicherten, können langsam <strong>in</strong> den Normalzustand überführt werden.<br />

Das Therapeutische <strong>Reiten</strong> liefert hierfür e<strong>in</strong>e Fülle von Erfahrungsmöglichkeiten auf den Gebieten<br />

<strong>der</strong> Motorik, Wahrnehmung, Kognition und Verhalten.<br />

z.B. Raphael, Miriam<br />

E<strong>in</strong> Junge wie Raphael, <strong>der</strong> durch das <strong>Reiten</strong> e<strong>in</strong>e För<strong>der</strong>ung se<strong>in</strong>er Wahrnehmung erfährt, dessen<br />

Selbstbewusstse<strong>in</strong> gestärkt wird, wird diese Erfahrungen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Alltag übertragen können. Aus<br />

<strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> er untergebracht ist, wird berichtet, dass er zeitgleich mit <strong>der</strong> Entwicklung,<br />

die ihm im <strong>Reiten</strong> möglich war, auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule und im Alltag e<strong>in</strong>e große Verän<strong>der</strong>ung gezeigt<br />

hat. Se<strong>in</strong>e Frustrationstoleranz ist besser geworden, er neigt nicht mehr so stark zu aggressiven<br />

Ausbrüchen, wenn ihm nicht die ganze Aufmerksamkeit zuteil wird, se<strong>in</strong>e Konzentrationsfähgikeit<br />

und damit e<strong>in</strong>hergehend se<strong>in</strong> Lernverhalten haben sich auffallend gebessert. Miriam steht noch ganz<br />

am Anfang, bei ihr steht <strong>der</strong> Aufbau e<strong>in</strong>er tragfähigen Arbeitsbeziehung im Vor<strong>der</strong>grund. Wenn sie<br />

es durch die Therapie mit Hilfe des Pferdes schafft, ihre aggressiven Impulse zu erkennen, wird sie<br />

diese als ihr zugehörig erleben können, sie <strong>in</strong>tegrieren und dann kontrollieren können. Dies wird<br />

schließlich auch ihre Schwierigkeiten im Sozialkontakt verm<strong>in</strong><strong>der</strong>n, unter denen sie bisher als<br />

unbeliebtes, oft gehänseltes K<strong>in</strong>d leidet und die ihre weitere Entwicklung hemmen.<br />

Integration <strong>in</strong> die Geme<strong>in</strong>schaft<br />

„Da kaum jemand die ständigen, strengen Prüfungen des Vertrauens bestehen kann, zieht sich das<br />

Opfer im Lauf <strong>der</strong> Zeit mehr und mehr aus allen Beziehungen zurück. Das Opfer bleibt auch nach<br />

<strong>der</strong> Befreiung isoliert.“ (zit. nach HERMAN, S. 132) Ist die Integration <strong>in</strong>s Selbst gelungen, kann<br />

auch die Integration <strong>in</strong> die Geme<strong>in</strong>schaft, <strong>der</strong> Aufbau von tragfähigen Sozialkontakten erfolgen.<br />

Neben dem Kontakt zum Pferd und zur Reitpädagog<strong>in</strong> besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppenarbeit die<br />

Möglichkeit, Kommunikation zu verschiedenen an<strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Gruppe zu üben.<br />

18


z.B. Patricia, Silvia<br />

Patricia und Silvia, die beiden erwachsenen Frauen mit sehr unterschiedlichem reiterlichem<br />

Können und kognitiven Fähigkeiten, hatten beide h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> ihren Term<strong>in</strong> zur Reittherapie. Sie<br />

haben zwischenzeitlich von sich aus beschlossen, die Term<strong>in</strong>e zusammenzulegen, um geme<strong>in</strong>sam<br />

ausreiten zu können.<br />

z.B. Astrid, Jasm<strong>in</strong><br />

Jasm<strong>in</strong> hat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jahr E<strong>in</strong>zeltherapie die Blockaden, die <strong>der</strong> Entwicklung ihrer motorischen<br />

Fähigkeiten entgegenstanden, abbauen können. Sie ist e<strong>in</strong> sportliches kle<strong>in</strong>es Mädchen geworden.<br />

Sie hatte irgendwann von sich aus ke<strong>in</strong>e Lust mehr, alle<strong>in</strong>e zu kommen und sich darauf gefreut, mit<br />

an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n geme<strong>in</strong>sam zu kommen. In <strong>der</strong> Gruppe war sie erst abwartend und hat den an<strong>der</strong>en<br />

zugeschaut, beg<strong>in</strong>nt aber langsam mitzumachen und über Imitation <strong>der</strong> älteren Mädchen Schritte zu<br />

wagen, die ihr vorher verschlossen blieben. Astrid wird im Rahmen <strong>der</strong> <strong>in</strong>tegrativen Gruppenarbeit<br />

ausführlich beschrieben. Auch bei ihr wurde es möglich, konstruktive Beziehungen zur<br />

Geme<strong>in</strong>schaft aufzunehmen, nachdem sie die zuvor unentdeckten eigenen Fähigkeiten im Umgang<br />

mit dem Pferd entwickeln konnte.<br />

19


3.3 Integrative Gruppen für K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit und ohne Handicaps<br />

Aufgrund <strong>der</strong> zahlreichen Nachfragen nach e<strong>in</strong>er Reitmöglichkeit von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, die über die<br />

Ferienspiele unsere Pferde kennen gelernt hatten und <strong>der</strong> Tatsache, dass e<strong>in</strong>ige K<strong>in</strong><strong>der</strong> aus <strong>der</strong><br />

E<strong>in</strong>zelarbeit soweit stabilisiert waren, dass sie an e<strong>in</strong>er Gruppe teilnehmen konnten, begannen wir<br />

mit <strong>der</strong> Arbeit mit <strong>in</strong>tegrativen Gruppen.<br />

Voraussetzungen <strong>der</strong> <strong>in</strong>tegrativen Gruppenarbeit<br />

Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> unseren Gruppen s<strong>in</strong>d zwischen 3 und 16 Jahren alt. Sie s<strong>in</strong>d alle zusätzlich über<br />

e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>gen Beitrag im örtlichen Reitvere<strong>in</strong> angemeldet, um den Versicherungsschutz zu<br />

gewährleisten, da es sich ja <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen nicht um e<strong>in</strong>e Teilnahme am <strong>Reiten</strong> aus<br />

therapeutischen Erwägungen heraus handelt. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> kommen e<strong>in</strong>mal pro Woche für 1 ½<br />

Stunden. Die Eltern o<strong>der</strong> Betreuer s<strong>in</strong>d während <strong>der</strong> Maßnahme <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht anwesend. Wenn<br />

e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d zu Beg<strong>in</strong>n Angst hat, alle<strong>in</strong>e dazubleiben ist es aber möglich, dass die Bezugsperson so<br />

lange anwesend bleibt, wie es nötig ist. Meistens ist das nur für e<strong>in</strong> bis zwei Stunden <strong>der</strong> Fall. Die<br />

Gruppen werden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel e<strong>in</strong>em Pferd zugeteilt, für das sie mit Putzen, Misten und evtl. Füttern<br />

an dem Tag verantwortlich s<strong>in</strong>d, an dem sie kommen. Oft arbeiten wir aber mit mehreren Pferden,<br />

z.B. bei Spaziergängen nehmen wir alle drei Pferde mit sowie zusätzlich den Hund, <strong>der</strong><br />

abwechselnd an <strong>der</strong> Le<strong>in</strong>e geführt wird. Diese Aufgabe ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel sehr beliebt bei den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

und gibt häufig Anlass zu Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen, die von den Gruppenmitglie<strong>der</strong>n gelöst werden<br />

müssen.<br />

Stundenablauf<br />

Jede Stunde hat feste Rituale, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel gleichbleibend s<strong>in</strong>d. Es beg<strong>in</strong>nt damit, dass die<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> unter sich ausmachen, wer welches Pferd putzt und wer die Weide entäppelt, bzw. im<br />

W<strong>in</strong>ter den Stall ausmistet. Diese Aufgaben werden abwechselnd ausgeführt. Die Frage, ob<br />

ausgeritten wird, auf den Platz gegangen wird, mit Sattel o<strong>der</strong> mit Gurt geritten wird, entscheidet<br />

die Gruppe. Wenn es <strong>in</strong> gewissen Punkten ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>igung gibt, wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel geknobelt. Dann<br />

werden die Pferde meist von den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n zum <strong>Reiten</strong> geführt und mit dem Aufwärmen begonnen.<br />

Beim <strong>Reiten</strong> wechseln sich die K<strong>in</strong><strong>der</strong> ab und helfen sich dabei gegenseitig auf das Pferd.<br />

Anschließend werden die Pferde abgesattelt, mit Futter belohnt und entwe<strong>der</strong> geme<strong>in</strong>sam auf die<br />

Weide o<strong>der</strong> im W<strong>in</strong>ter <strong>in</strong> den Stall gebracht.<br />

3.3.1 Beschreibung e<strong>in</strong>er Gruppe<br />

Die Gruppe besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> jetzigen Zusammensetzung seit August 2000. Ich beschreibe den<br />

Verlauf von 10 Monaten, also bis Mai 2001. Es handelt sich um e<strong>in</strong>e heterogene Gruppe <strong>in</strong> Bezug<br />

auf Alter, Geschlecht, motorische und kognitive Fähigkeiten sowie soziales Verhalten.<br />

Die Gruppenmitglie<strong>der</strong><br />

• Felicitas ist jetzt 9 Jahre alt. Sie ist <strong>in</strong> dieser Gruppe das e<strong>in</strong>zige K<strong>in</strong>d, das ke<strong>in</strong>e Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen<br />

o<strong>der</strong> Bee<strong>in</strong>trächtigungen hat. Felicitas kam zu uns zusammen mit ihrer 4 Jahre älteren<br />

Schwester, die geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t ist und ca. 1 Jahr lang an e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tegrativen Gruppe<br />

teilgenommen hat. Felicitas ist kle<strong>in</strong>, drahtig, aufgeweckt. Im Sozialverhalten ist sie zugewandt,<br />

aber hat durch das Zusammenleben mit ihrer beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten Schwester manchmal Probleme mit<br />

<strong>der</strong> Dom<strong>in</strong>anz. Für sie ist <strong>der</strong> Umgang mit den an<strong>der</strong>en beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, auf die sie aber<br />

nicht so viel Rücksicht nehmen muss wie zu Hause auf ihre Schwester, e<strong>in</strong>e Lernerfahrung, die<br />

ihr im geschützten Rahmen die Möglichkeit des Ausprobierens neuer Verhaltensmuster gibt.<br />

• Marianne ist knapp 10 Jahre alt. Sie hat leichte Defizite <strong>in</strong> <strong>der</strong> Koord<strong>in</strong>ation und geht zusätzlich<br />

zur ergotherapeutischen Behandlung. Sie ist e<strong>in</strong> ruhiger, unauffälliger, hilfsbereiter Typ, <strong>der</strong>en<br />

motorische Defizite kaum auffallen. Sie ist zwar zurückhaltend, aber nicht ängstlich, was ihr im<br />

Umgang mit den Pferden zugute kommt.<br />

20


• Adele hat Wahrnehmungsstörungen und e<strong>in</strong>en verm<strong>in</strong><strong>der</strong>ten Muskeltonus im Schulterbereich.<br />

Sie besucht e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tegrative Schule. Im sozialen Bereich ist sie voll <strong>in</strong>tegriert, es bestehen ke<strong>in</strong>e<br />

Kontaktstörungen zu an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Diese kommunikative Stärke zeigt sich auch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Gruppe.<br />

• Benjam<strong>in</strong> ist 10 Jahre alt und hat Wahrnehmungsstörungen. Er besucht die Regelschule.<br />

Zusätzlich zum Therapeutischen <strong>Reiten</strong> hat er jahrelang Ergotherapie gemacht. Er begann<br />

zunächst mit E<strong>in</strong>zeltherapie, war dann e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Projekt zum Therapeutischen <strong>Reiten</strong><br />

und kommt jetzt seit längerer Zeit <strong>in</strong> die Gruppe.<br />

• Mayo ist 12 Jahre alt und hat Down-Syndrom. Er kam zunächst zur E<strong>in</strong>zeltherapie und hat<br />

anfangs sehr lange gebraucht, bis er se<strong>in</strong>e Angst vor dem Pferd überw<strong>in</strong>den konnte. Er ist etwas<br />

übergewichtig, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Motorik und Koord<strong>in</strong>ation e<strong>in</strong>geschränkt. Die mentale und physische<br />

Ausdauer ist verm<strong>in</strong><strong>der</strong>t. Dafür war von Anfang an e<strong>in</strong> starker Wille zum Kontakt mit dem<br />

Pferd vorhanden. Z.B. bestand er darauf, dass se<strong>in</strong> Zivi dem Pferd das mitgebrachte Brot<br />

fütterte, auch wenn er selbst sich auf ca. 50 Meter Sicherheitsabstand zurückgezogen hatte.<br />

• Astrid ist 13 Jahre alt und wurde uns über die behandelnde K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendpsychiater<strong>in</strong><br />

zugeschickt. Anne ist übergewichtig mit familiärer Veranlagung, sie hat Probleme mit<br />

Gleichgewicht und Fe<strong>in</strong>koord<strong>in</strong>ation, die sich im Verlauf <strong>der</strong> Therapie gebessert haben. Ihr<br />

Hauptsymptom ist die Enkopresis (E<strong>in</strong>koten). Sie war bereits für e<strong>in</strong> halbes Jahr stationär <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendpsychiatrie untergebracht, dort hatte sie auch das Therapeutische<br />

<strong>Reiten</strong> kennen gelernt, was ihr sehr gut getan hat. Zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Maßnahme war ihre<br />

Frustrationstoleranz extrem niedrig, sie f<strong>in</strong>g sehr schnell an zu we<strong>in</strong>en.<br />

Verlauf<br />

Beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> dieser Gruppe, die durch ihre Heterogenität anfangs sehr chaotisch und anstrengend<br />

war, waren feste Regeln und Rituale hilfreich. Es gab e<strong>in</strong>e Gruppenbildung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die drei Mädchen<br />

Felicitas, Marianne und Adele zusammengehörten. Mayo war e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>zelbetreuung durch den<br />

Zivildienstleistenden gewohnt und wir wussten zu Beg<strong>in</strong>n nicht, ob er es schaffen würde, sich an<br />

die Abläufe anzupassen. Benjam<strong>in</strong> for<strong>der</strong>te die ganze Aufmerksamkeit für sich. Astrid fiel durch ihr<br />

Alter und durch ihr Übergewicht zunächst ziemlich aus <strong>der</strong> Gruppe heraus. Im Verlauf hat sich die<br />

Gruppe zu e<strong>in</strong>er sehr konstruktiven, eher ruhig mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> arbeitenden E<strong>in</strong>heit herausgebildet. An<br />

e<strong>in</strong>igen Beispielen soll exemplarisch die Entwicklung e<strong>in</strong>zelner Gruppenmitglie<strong>der</strong> dargestellt<br />

werden.<br />

z.B.Benjam<strong>in</strong><br />

Da er bereits von <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zeltherapie her die Pferde und den Umgang mit ihnen kannte, bestand<br />

von Beg<strong>in</strong>n an e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive Beziehung zum Pferd. Am Putzen nahm er aber nicht wirklich aktiv<br />

teil, so dass se<strong>in</strong>e Möglichkeiten <strong>der</strong> Kontaktaufnahme, des Berührens usw. auf die Zeit des <strong>Reiten</strong>s<br />

beschränkt war. Für ihn war <strong>der</strong> Sprung von <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelbetreuung <strong>in</strong> die Gruppe problematisch.<br />

Se<strong>in</strong>e durch die Wahrnehmungsstörung bed<strong>in</strong>gten Defizite versuchte er nicht auffällig werden zu<br />

lassen, <strong>in</strong>dem er sich dauernd den Übungen verweigerte. An<strong>der</strong>erseits versuchte er durch Stören die<br />

ganze Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Gruppe zu erhalten: Beispielsweise begann er <strong>in</strong> den ersten Stunden<br />

lautstark Noten für die angebliche Leistung <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu verteilen. Interessanterweise<br />

g<strong>in</strong>g die Gruppe an diesem Punkt überhaupt nicht auf ihn e<strong>in</strong> und nach e<strong>in</strong>igen Stunden hörte er auf<br />

damit. Auch die Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Reittherapeut<strong>in</strong> for<strong>der</strong>te er extrem. Gerade für ihn waren feste<br />

Regeln dr<strong>in</strong>gend notwendig. Er versuchte immer wie<strong>der</strong>, diese zu durchbrechen. Wenn die an<strong>der</strong>en<br />

putzten o<strong>der</strong> misteten, kasperte er rum und erzählte Geschichten, was dazu führte, dass die an<strong>der</strong>en<br />

unzufrieden waren, da sie die Arbeit alle<strong>in</strong>e hatten. Es wurde deutlich, dass es gerecht sei, wenn nur<br />

diejenigen K<strong>in</strong><strong>der</strong> reiten dürfen, die auch an den Arbeiten beteiligt s<strong>in</strong>d. Irgendwann akzeptierte er<br />

diese Regelung. Inzwischen ist die Teilnahme an diesen Aufgaben ke<strong>in</strong> Problem mehr. Er entdeckte<br />

sogar, dass er beim Aufsammeln <strong>der</strong> Pferdeäpfel, die beim <strong>Reiten</strong> verloren werden, kaum<br />

Schwierigkeiten hatte, da dann die Schubkarre viel leichter zu fahren war als beim Stall ausmisten.<br />

Diese Arbeit beanspruchte er von da an für sich und nannte sich fortan den „Äppeldienst“, was die<br />

an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong> ihm bereitwillig überließen. In <strong>der</strong> ersten Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> er sehr oft unsere Grenzen<br />

herausfor<strong>der</strong>te und uns provozierte, ereignete sich e<strong>in</strong>e Situation, die sich für mich zunächst sehr<br />

21


schwierig gestaltete, im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> aber als Schlüsselerlebnis herausstellte. Bei e<strong>in</strong>em unserer<br />

Ausritte gab es mal wie<strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen, wer den Hund halten dürfe. Da die zuvor<br />

festgelegte Reihenfolge klar auf e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es K<strong>in</strong>d fiel, bekam dieses den Hund. Benjam<strong>in</strong> wollte<br />

diese Entscheidung nicht akzeptieren, er sagte, er g<strong>in</strong>ge jetzt nach Hause. Ich stand zwischen ihm<br />

und den an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Wir waren ca. 1 km vom<br />

Dorf entfernt. Ich antwortete ihm, dass ich se<strong>in</strong>en Entschluss nicht än<strong>der</strong>n könne, dass das aber<br />

bedeuten würde, dass ich ihn nicht mehr mitnehmen könne beim Ausreiten, da ich me<strong>in</strong>e<br />

Aufsichtspflicht verletzen würde, wenn er den Weg alle<strong>in</strong>e gehen würde. Dann g<strong>in</strong>g ich mit den<br />

an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n weiter. Er überlegte noch e<strong>in</strong>e Weile und kam dann ohne weitere Diskussion<br />

h<strong>in</strong>ter uns her. Ab diesem Zeitpunkt waren diese Konflikte vorbei. Im motorischen Bereich war<br />

gleichzeitig mit se<strong>in</strong>er Fähigkeit zur Integration <strong>in</strong> die Gruppe e<strong>in</strong>e zunehmende Verän<strong>der</strong>ung und<br />

Entspannung zu erkennen. Beson<strong>der</strong>s deutlich wurden se<strong>in</strong>e motorischen und koord<strong>in</strong>ativen<br />

Probleme beim Aufsteigen. Er ist nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, abzuspr<strong>in</strong>gen und hat darum Probleme, auf das<br />

Pferd zu kommen. Anfangs beschränkte er sich auf dem Pferd auf zwei bis drei ihm bekannte<br />

Übungen. Irgendwann wurde <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe Leichttraben geübt. Es stellte sich heraus, dass er<br />

aufgrund e<strong>in</strong>es guten Rhythmusgefühls sehr gut mithalten konnte, bzw. hier e<strong>in</strong>e Aufgabe gefunden<br />

war, <strong>in</strong> <strong>der</strong> er beson<strong>der</strong>s gut war. Mit diesem Erfolgserlebnis war <strong>der</strong> Leistungsdruck, den er sich<br />

selbst gemacht hatte, etwas genommen und er konnte entspannter sich den jeweils angebotenen<br />

Übungen stellen. Dementsprechend entwickelte er zunehmend Körpergefühl und motorische<br />

Fähigkeit. E<strong>in</strong> weiterer wichtiger Entwicklungsschritt war das <strong>Reiten</strong> mit Zügel. Als diese Aufgabe<br />

anstand, stellte sich heraus, dass er sich schon länger gewünscht hatte, selber lenken zu dürfen. Mit<br />

viel Eifer stellte er sich <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung, die für ihn e<strong>in</strong> hohes Maß an Aufmerksamkeit und<br />

Koord<strong>in</strong>ation erfor<strong>der</strong>te. Inzwischen ist Benjam<strong>in</strong> <strong>in</strong> die Gruppe voll <strong>in</strong>tegriert. Er hat e<strong>in</strong>e<br />

beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong>tensive Beziehung zu Felicitas aufgebaut. Dies hat u.a. dazu geführt, dass die zuvor<br />

feste Dreiergruppe <strong>der</strong> jüngeren Mädchen durchlässiger geworden ist.<br />

z.B. Mayo<br />

Unsere Bedenken, ob es möglich se<strong>in</strong> würde, Mayo an <strong>der</strong> Gruppe teilnehmen zu lassen, wurden<br />

relativ bald zerstreut. Er war nur kurze Zeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zeltherapie gewesen und noch sehr ängstlich<br />

im Umgang mit den Pferden. Anfangs stand er neben mir, wenn das Pferd an <strong>der</strong> Longe g<strong>in</strong>g und<br />

ich musste ihn mit im Kreis rumdrehen, weil er nicht verstand, wo er sich aufzuhalten hatte. Er<br />

wusste nicht, wann er an <strong>der</strong> Reihe war und lief mehrfach vom Hof weg auf die Weide um nach den<br />

an<strong>der</strong>en Pferden zu gucken, wenn ihm das Warten zu lange wurde. Wi<strong>der</strong> Erwarten hat er die<br />

Regeln schnell gelernt. Bei <strong>der</strong> Aufwärmübung, wenn die K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Reihe nach h<strong>in</strong>ter dem Pferd<br />

herlaufen und abwechselnd e<strong>in</strong>e Übung vormachen, die die an<strong>der</strong>en nachmachen, macht er, so gut<br />

er kann mit. Wenn er selbst an <strong>der</strong> Reihe ist und nicht weiß, was er turnen soll, beg<strong>in</strong>nt er oft, wie<br />

e<strong>in</strong> Pferd zu schnauben, dann machen die an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong> eben dies nach. Se<strong>in</strong>en beson<strong>der</strong>en Bedarf<br />

an Betreuung übernehmen e<strong>in</strong>zelne Gruppenmitglie<strong>der</strong> mit. Wenn er sich beispielsweise e<strong>in</strong>en<br />

Helm aussuchen soll, <strong>der</strong> ihm passt, geht jemand von den an<strong>der</strong>en mit. Se<strong>in</strong>e Entwicklung auf dem<br />

Pferd ist bee<strong>in</strong>druckend. Anfangs war es ihm kaum möglich, im Schritt zu sitzen, ohne sich<br />

festzuklammern. E<strong>in</strong>e Unterstützung für ihn war, ihn viel zu beschäftigen, wenn er auf dem Pferd<br />

saß. Das gelang entwe<strong>der</strong> durch Ballspielen o<strong>der</strong> durch e<strong>in</strong> Lied, bei dem bestimmte Abläufe per<br />

Handbewegung unterstrichen wurden, welches er immer und immer wie<strong>der</strong> auf dem Pferd gesungen<br />

haben wollte. Auch Berührungen z.B. beim Streicheln, Putzen o<strong>der</strong> Füttern, hielt er anfangs nur für<br />

Sekunden aus. Jetzt beteiligt er sich am Putzen, wenn auch nicht kont<strong>in</strong>uierlich. Er sitzt entspannt<br />

im Trab und traut sich ab und zu auch freihändig zu sitzen. Die Gruppe akzeptiert se<strong>in</strong> Lernniveau.<br />

Wenn er beispielsweise freihändig trabt, bekommt er manchmal spontan e<strong>in</strong>en Applaus <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en.<br />

Für Mayo, <strong>der</strong> erst so viel Angst hatte, üben die Pferde e<strong>in</strong>e unwi<strong>der</strong>stehliche Anziehung aus. Er<br />

besucht sie auch während <strong>der</strong> übrigen Woche mehrmals mit se<strong>in</strong>er Mutter auf <strong>der</strong> Weide und br<strong>in</strong>gt<br />

ihnen Brot mit. In dieser Gruppe hat sich e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>es Ritual e<strong>in</strong>gespielt. Im Anschluss an das<br />

<strong>Reiten</strong>, werden die Pferde geme<strong>in</strong>sam auf die Weide gebracht. E<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> darf dabei auf<br />

dem ungesattelten Pferd sitzen, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Teil führt unter unserer Aufsicht. Das <strong>Reiten</strong> ohne Sattel<br />

ist sehr beliebt und e<strong>in</strong> häufiger Streitpunkt ist, wer auf welchem Pferd sitzen darf. Da Michaels<br />

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Gleichgewicht noch nicht sehr ausgeprägt war, konnten wir ihn zunächst nicht ohne Sattel reiten<br />

lassen. Irgendwann haben wir es aber auf se<strong>in</strong> großes Drängen h<strong>in</strong> probiert. Zunächst klammerte er<br />

sich ängstlich an <strong>der</strong> Mähne fest, hielt aber durch und wurde zunehmend gelöster. Er war so<br />

begeistert, dass er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fort „ich liebe dich“ zu dem Pferd sagte. Dies Erlebnis war für se<strong>in</strong>e<br />

motorische Entwicklung auch für spätere Stunden e<strong>in</strong> wichtiger Schritt.<br />

z.B. Astrid<br />

Auch bei Astrid hatten wir anfangs große Bedenken. Ihr Hauptsymptom, das E<strong>in</strong>koten, ließ sich<br />

auf e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Grundhaltung übertragen, die <strong>in</strong> etwa lautete: „Ich b<strong>in</strong> Scheiße, aus mir kommt nur<br />

Scheiße raus.“ Wir versuchten, sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zeltherapie soweit zu för<strong>der</strong>n, dass sie den an<strong>der</strong>en e<strong>in</strong><br />

Stück voraus ist, damit sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe standhalten könnte. Auch organisierten wir ihre Stunden<br />

so, dass sie beim Misten helfen konnte, da wir sie mit dem Thema Scheiße <strong>in</strong> direkte Berührung<br />

br<strong>in</strong>gen wollten. Durch den Bewegungsdialog mit dem Pferd und die Bestätigung, die sie beim<br />

<strong>Reiten</strong> erfuhr, än<strong>der</strong>ten sich ihr Verhalten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule und Zuhause. Durch diese Vorerfahrung<br />

war Astrids Kontakt zum Pferd bereits positiv etabliert. Sie war oft diejenige, die das Pferd bei den<br />

Aufwärmübungen führte. Als die Gruppe begann, fiel zu Beg<strong>in</strong>n auf, dass sie sich mit Mayo<br />

identifizierte und ihn <strong>in</strong> Schutz nahm. Wenn er traben sollte, bot sie an, nebenher zu laufen und das<br />

Pferd zu führen. Das Mitlaufen fiel ihr anfangs durch ihr Übergewicht nicht leicht. Inzwischen ist<br />

sie rout<strong>in</strong>iert dar<strong>in</strong>. Zu den an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n entwickelte sich erst allmählich e<strong>in</strong> Beziehung. Beim<br />

Putzen entstand zunächst immer die Situation, dass die Dreiergruppe <strong>der</strong> jüngeren Mädchen e<strong>in</strong><br />

Pferd putzte, Astrid das an<strong>der</strong>e, Mayo mit <strong>der</strong> Bürste <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand im Hof herum lief und Benjam<strong>in</strong><br />

Quatsch machte. Irgendwann begannen Marianne und Astrid mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu putzen und Benjam<strong>in</strong><br />

auch mal mit den an<strong>der</strong>en beiden Mädchen. Astrid war meist diejenige, die auf Gerechtigkeit<br />

achtete. Sie lernte auch, Ihre Interessen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen und nicht nur über die<br />

Erwachsenen durchzusetzen. Astrid hat sich im Laufe <strong>der</strong> Zeit sehr verän<strong>der</strong>t. Die Eltern berichten,<br />

dass ihre Leistungen im Sport auffällig angestiegen seien, ihre Probleme <strong>in</strong> <strong>der</strong> Koord<strong>in</strong>ation haben<br />

sich gebessert. Sie liest flüssiger, fährt Fahrrad, geht Schwimmen, treibt zusätzlich zur Schule<br />

Sport. Astrid war immer bemüht, dem Pferd gerecht zu werden. Das hat sie motiviert. So versuchte<br />

sie, abzunehmen, <strong>in</strong>dem sie gesün<strong>der</strong> aß, z.B. gab sie ihr Taschengeld nicht mehr nur für<br />

Süßigkeiten aus, son<strong>der</strong>n kaufte stattdessen Leckerli für Pferd o<strong>der</strong> Hund. Vor e<strong>in</strong>igen Wochen<br />

erzählte Astrid uns, dass sie e<strong>in</strong>en Freund habe, mit dem sie jetzt gehe.<br />

Resümee<br />

Die große Herausfor<strong>der</strong>ung dieser Gruppe war und ist ihre Heterogenität. Das Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>klaffen<br />

<strong>der</strong> Fähigkeiten <strong>der</strong> Gruppenmitglie<strong>der</strong> <strong>in</strong> allen physischen und psychischen Bereichen, wie sie für<br />

die Arbeit <strong>in</strong> <strong>in</strong>tegrativen Gruppen typisch ist, ist hier beson<strong>der</strong>s stark ausgeprägt. Gerade diese<br />

starken Unterschiede haben sich aber als Motor für das Ausprägen e<strong>in</strong>es Geme<strong>in</strong>schaftsgefühls<br />

herausgestellt. Weniger <strong>der</strong> Leistungsdruck stand im Vor<strong>der</strong>grund als vielmehr die größtmögliche<br />

Entwicklung jedes e<strong>in</strong>zelnen K<strong>in</strong>des auf dem je eigenen Niveau. Als Hilfe hierfür hat sich im<br />

Ablauf bewährt, dass nicht allen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n immer die gleiche Aufgabe gestellt wurde, was <strong>in</strong> dieser<br />

Gruppe auch gar nicht möglich gewesen wäre. Das e<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>d z.B. lernt auf dem Pferd zu stehen,<br />

während das an<strong>der</strong>e versucht, freihändig zu reiten.<br />

Gel<strong>in</strong>gt wie im beschriebenen Fall die Integration aller Gruppenmitglie<strong>der</strong>, gibt es nichts<br />

Schöneres als <strong>Therapeutisches</strong> <strong>Reiten</strong> mit Integrativen Gruppen.<br />

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Perspektiven<br />

In <strong>der</strong> Literatur schwanken die Zahlen über die Häufigkeit von Missbrauch und Misshandlung.<br />

Fest steht, dass das Vorkommen so zahlreich ist, dass wir diese Diagnosen mit berücksichtigen<br />

müssen. Zu wünschen ist, dass das Erkennen von Traumafolgen sowie das Verständnis für<br />

traumatisierte Menschen e<strong>in</strong>fließt <strong>in</strong> die tägliche Arbeit des Therapeutischen <strong>Reiten</strong>s <strong>in</strong> den drei<br />

Bereich Hippotherapie, Heilpädagogisches Voltigieren und <strong>Reiten</strong> sowie <strong>Reiten</strong> als Sport für<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te.<br />

Der wertvolle Nutzen <strong>der</strong> Arbeit mit Tieren und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e mit Pferden im Umgang mit<br />

traumatisierten Menschen wird bisher nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Projekten explizit benannt (vergl.<br />

GEO,ROBERTS). Es ist e<strong>in</strong> wünschenswertes Ziel, dass sich diese Möglichkeit unter den<br />

traumatherapeutischen Ansätzen etabliert.<br />

24


Schlussbemerkung<br />

Me<strong>in</strong> Entschluss, mit traumatisierten K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen arbeiten zu wollen, wurde durch<br />

e<strong>in</strong>en Jungen bestärkt, <strong>der</strong> durch Schläge so schwer geschädigt ist, dass er kaum laufen kann und<br />

fast nichts sieht. Mit se<strong>in</strong>er Hilfe ist das folgende Lied entstanden.<br />

DER PFERDERÜCKEN<br />

Jan sitzt auf dem Pfer<strong>der</strong>ücken, Olli wirft so weit die Bälle,<br />

die Vögel s<strong>in</strong>gen ihm e<strong>in</strong> Lied. Dem Pferd hängt er 'nen Reif ans Ohr.<br />

Janas Zähne haben Lücken, Geht’s ihm gut, auf alle Fälle<br />

durch diese pfeift sie fröhlich mit. Lacht er dem Roman etwas vor.<br />

Lalala ... Lalala...<br />

Phils Be<strong>in</strong>e haben schlechte Laune, Manche sche<strong>in</strong>en vielleicht bl<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

das macht ihm heute gar nichts aus. Und laufen nicht so schnell wie du.<br />

Kunststückchen führt er vor zum Staunen, Pferde lieben alle K<strong>in</strong><strong>der</strong>,<br />

die Mama ruht sich e<strong>in</strong>mal aus. Sie hören jedem Menschen zu.<br />

Lalala ... Lalala...<br />

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Literaturverzeichnis<br />

Literatur zu <strong>Reiten</strong>/Pferdehaltung<br />

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