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8 7./8. DEZEMBER 2019<br />
Sie hatte ihrer Mutter das Bett ans Fenster<br />
geschoben, es war die hellste Stelle<br />
des Raums, die Sonne schien herein.<br />
Darüber freute sich die Mutter.<br />
Abends, wenn sie von der Arbeit nach<br />
Hause kam, breitete ihre Mutter glücklich die<br />
Arme aus.Wie ein kleines Mädchen saß sie im<br />
Bett, feixte mit ihrer Tochter oder stritt sich<br />
nach dem Abendbrot mit ihr um das Fernsehprogramm.<br />
Am liebsten schaute sie Krimis,am<br />
besten rund um die Uhr. Am Sonnabend fuhren<br />
Mutter und Tochter meistens spazieren,<br />
gingen shoppen, saßen im Café oder besuchten<br />
ein Museum.<br />
Das waren die Momente, in denen Ruth<br />
Schneeberger wusste,dass sie das Richtige getan<br />
hatte: ihre Mutter zu sich zu nehmen, die<br />
nach einem Schlaganfall im Jahr 2007 halbseitig<br />
gelähmt war und nicht mehr laufen und<br />
sprechen, nicht mehr allein essen und sich im<br />
Bett drehen konnte.<br />
Ruth Schneeberger war die Einzige,die ihre<br />
Mutter auch ohne Worte verstand. Ein Blick –<br />
und sie wusste, was los war. Und sie wusste,<br />
dass sich ihreMutter in ihren letzten Jahren vor<br />
allem an den kleinen Dingen des Lebens freute.<br />
Die Frau mit dem schwarzen Pagenkopf lächelt,<br />
wenn sie von den Ausflügen spricht.<br />
„Den ganzen Sonntag war meine Mutter dann<br />
erschöpft und glücklich.“<br />
WIR TREFFEN RUTH SCHNEEBERGER IN BER-<br />
LIN. 41 Jahre alt ist sie heute, 29war sie zu Beginn<br />
der Pflege. Eine junge Frau, die in München<br />
gerne tanzen ging, die ihr Studium ein Jahr<br />
zuvor beendet hatte und als Journalistin bei der<br />
Süddeutschen <strong>Zeitung</strong> angefangen hatte.<br />
Alles lief gut –bis ihre Mutter, die am Niederrhein<br />
lebte, plötzlich so schwer krank<br />
wurde. „Mir war relativ schnell klar, dass ich<br />
meine Mutter zu Hause pflege.Das verlieh mir<br />
damals Flügel. Bis ich auf die ersten Hindernisse<br />
stieß.“<br />
Ruth Schneeberger hat sich für unser Treffen<br />
ein turbulentes Café ausgesucht; sie mag<br />
den Trubel, dort kann sie am besten arbeiten:<br />
E-Mails schreiben, Anfragen beantworten. Sie<br />
trinkt einen Cappuccino und liebäugelt mit<br />
dem Lachs-Frühstück.<br />
Zurzeit häufen sich die Termine für sie,weil<br />
sie einen Finger in die Wunde gelegt hat. Es ist<br />
die Pflegewunde.<br />
Ruth Schneeberger hat ein Jahr nach dem<br />
Todihrer Mutter ein Buch geschrieben. Es trägt<br />
den Titel „Mama, du bleibst bei mir“ (Blanvalet,<br />
18 Euro). DerUntertitel zeigt gleich, es gibt zwei<br />
Seiten bei dem Thema: „Vom Glück und Unglück,<br />
einen Angehörigen zu pflegen.“ In dem<br />
Buch schreibt sie sehr persönlich über ihre Geschichte,über<br />
ihreplötzlich schwer kranke Mutter<br />
und darüber, wie sie alles organisierte und<br />
erst einmal dafür kämpfen musste, ihre Mutter<br />
überhaupt pflegen zu können.<br />
„Niemand schien mir das zuzutrauen, und<br />
es war in dieser hohen Pflegestufe auch nicht<br />
vorgesehen“, sagt sie.Doch sie habe nicht aufgegeben,<br />
um ihrer Mutter noch ein paar glückliche<br />
Jahre schenken zu können. Und weil die<br />
positiven Momente die schlechten aufgewogen<br />
haben. Auch wenn sie –vor allem nach<br />
dem plötzlichen, unerwarteten Todihres Bruders<br />
– am Ende selber schweren Bluthochdruck<br />
bekam. Sie war an einer Grenze, an die<br />
viele pflegende Angehörige irgendwann stoßen.<br />
Ihr Buch ist daher auch ein Appell an die<br />
Gesundheitspolitik, nicht länger die häusliche<br />
Pflege zu vernachlässigen und die Angehörigen<br />
nicht alleinzulassen. Denn pflegende Angehörige<br />
hätten keine Lobby, sagt sie.„Unddas<br />
muss sich dringend ändern.“ Die Pflege zu<br />
Hause werdeeinem schwer gemacht –von Behörden,<br />
Ärzten, Pflegern und der Krankenkasse.<br />
„In der deutschen Gesundheitspolitik<br />
wird meistens nur über die Pflege in Heimen<br />
geredet“, klagt Ruth Schneeberger. „Doch<br />
meine Mutter hätte dort keine drei Monate<br />
überlebt. Das haben die ersten Erlebnisse im<br />
Heim und in Krankenhäuserngezeigt, dortwaren<br />
schlimme pflegerische und medizinische<br />
Fehler passiert.“<br />
DiePflege funktioniereinden Heimen aktuell<br />
kaum noch, sagt sie: Entweder sie seien auf<br />
lange Zeit ausgebucht oder ganze Stationen<br />
müssten wegen Personalmangels geschlossen<br />
werden. Und viele Pflegebedürftige wollten<br />
auch gar nicht ins Heim, sie hätten Angst davor.<br />
„Es spricht alles für eine Pflege zu Hause.Die<br />
nur endlich besser unterstützt werden muss,<br />
weil Angehörige auf Dauer sonst selbst zum<br />
Pflegefall werden können und zusätzlich vonAltersarmut<br />
bedroht sind“, sagt Ruth Schneeberger.„Es<br />
ist fahrlässig, die Angehörigen politisch<br />
so zu vernachlässigen, weil sie in meinen Augen<br />
oft sogar am besten pflegen können.“<br />
Allerdings wisse sie auch, dass das nicht immer<br />
machbar ist: „Ich habe großen Respekt vor<br />
jedem, der Demenzkranke pflegt; das hätte ich<br />
wahrscheinlich nicht gekonnt. Weil das psychisch<br />
schwierig werden kann, wenn der eigene<br />
Angehörige mich nicht mehr erkennt oder aggressiv<br />
wird.“ Oder wenn man Probleme habe,<br />
schwer zu heben, oder man sich mit dem Angehörigen<br />
schlicht nicht gut verstehe –auch da<br />
könneein Heim die bessereLösung sein.<br />
DiePflegewunde in Deutschland. DieAutorin<br />
ist nicht die Erste, die sie verarztet sehen<br />
möchte. Jüngst verordnete Bundesgesundheitsminister<br />
Jens Spahn (CDU) den Heimen<br />
einen neuen Pflege-TÜV. Viele zweifelten sofort,<br />
ob dies helfe, die Qualität in den Heimen<br />
zu verbessern.<br />
Doch warum gilt dieser TÜV nicht auch für<br />
ambulante Pflegedienste,auf die viele Angehörige<br />
angewiesen sind? Angeblich ist er in Arbeit.<br />
Dabei gab die Bundesregierung vorJahren<br />
die Parole aus, Pflege zu Hause werde vorwiegend<br />
unterstützt. Ruth Schneeberger sagt:<br />
„Tatsächlich drehen sich aber alle aktuellen<br />
politischen Maßnahmen um die Heimpflege.<br />
Dabei lebt nur ein Viertel (700 000) der Pflegebedürftigen<br />
in Heimen, während die allermeisten,<br />
nämlich drei Viertel, also 2,7Millionen der<br />
Pflegebedürftigen, zu Hause versorgt werden,<br />
diemeisten vonihren Angehörigen.“<br />
Außerdem gebe es zirka 1,1 Millionen Pfleger<br />
in Deutschland, aber 2,5 Millionen offiziell<br />
pflegende Angehörige. Neue Studien besagen,<br />
dass jeder zehnte Deutsche jemanden pflegt.<br />
Das sind acht Millionen Menschen. Die Autorin:<br />
„Über diese Menschen müssen wir sprechen,<br />
weil sie von der Politik alleingelassen<br />
werden und den Löwenanteil in der Pflege<br />
selbst schultern, oft auf eigene Kosten. Die<br />
pflegenden Angehörigen sind der größte Pflegedienst<br />
der Nation.Würde man sie besser unterstützen,<br />
hätten wir keinen Pflegenotstand.“<br />
ES WAR IM NOVEMBER 2007. Ruth Schneeberger<br />
kam von einer Party und sah, dass ihre<br />
Mutter angerufen hatte. Die Tochter solle sich<br />
bitte melden. Als Ruth Schneeberger sie danach<br />
nicht erreichte, nahm sie den nächsten<br />
Flieger an den Niederrhein. Dort lebte ihre<br />
Mutter, die sich in der politisch tiefschwarzen<br />
Region für die Grünen im Stadtrat engagierte,<br />
sich um Obdachlose,Bedürftige, Tiereund die<br />
Umwelt kümmerte. Die rigoros die Grünen<br />
verließ und eine eigene Öko-Partei gründete,<br />
als Joschka Fischer 2003 Ja zum Irak-Krieg<br />
sagte. Die Tochter: „Ihr Lebensmotto war von<br />
Erich Kästner:,Es gibt nichts Gutes, außer man<br />
tut es.“ Sielächelt.<br />
Sieund ihr Bruder seien bei einer kämpferischen,<br />
mutigen und von starkem Gerechtigkeitssinn<br />
geprägten Löwen-Mama aufgewachsen,<br />
die sehr liebevoll und lustig gewesen sei:<br />
„Sie war ein echtes kölsches Mädchen: gesellig<br />
und mit viel Humor.“<br />
Es brauchte damals, injenem November,<br />
viel Geduld, ihre Mutter zu überreden, sich in<br />
ein Krankenhaus fahren zu lassen. Die damals<br />
61-Jährige wehrte sich. Irgendwann landeten<br />
Tochter und Mutter in einem Krankenhaus,<br />
das in der Region einen schlechten Rufgenoss,<br />
schildertdie Autorininihrem Buch.<br />
UndRuth Schneeberger stand wenig später<br />
fassungslos vorden Ärzten,die ihreMutter,die<br />
unübersehbar einen Schlaganfall erlitten<br />
hatte, wieder wegschicken wollten und sich<br />
beschwerten, dass diese nicht reden konnte.<br />
Sie schüttelt empört den Kopf: „Sie behandelten<br />
uns, als wären wir dort eingedrungen und<br />
hätten unter vorgehaltener Schusswaffe Absurditäten<br />
eingefordert.“ Das war nicht das<br />
einzige Mal. Außerdem habe es immer wieder<br />
Fehldiagnosen gegeben. Ihre Mutter sei falsch<br />
oder gar nicht behandelt worden.<br />
Als Ruth Schneeberger nach dem Todihrer<br />
Mutter in der Einäscherungshalle stand,<br />
dachte sie: „Mit der Leiche meiner Mutter haben<br />
sie sich Mühe gegeben, mehr als mit ihrem<br />
kranken Körper,als sie noch lebte.“<br />
IM JUNI 2018 SCHRIEB RUTH SCHNEEBERGER<br />
das erste Maleinen Artikel über ihrePflegezeit.<br />
Darüber,wie die Pflege zu Hause das Leben ihrerMutter<br />
zehn Jahreverlängerthatte,obwohl<br />
die Ärzte ihr anfangs nur ein halbes Jahr gegeben<br />
hatten. Und darüber, wie sie die Rollen<br />
tauschten: „Ich wurde die Mutter,sie die Tochter.“<br />
Und sie habe in der Zeit ihre Angst vor<br />
dem Todverloren, sei inzwischen davon überzeugt,<br />
dass es falsch sei, Krankheit und Sterben<br />
zu tabuisieren.„Ohne diese Angst lebt man viel<br />
gelassener“, sagt sie.<br />
Das Echo, das sie auf den Artikel bekam,<br />
überraschte sie.Zahlreiche pflegende Angehörige<br />
schrieben ihr, bedankten sich für die offenen<br />
Worte. Und fast alle beklagten ebenso die<br />
Zustände, die Überforderung und dass die<br />
Pflege sie arm gemacht habe. Darunter viele<br />
Männer,die selber pflegten.<br />
Ruth Schneeberger nickt. „Ja, das ist das<br />
nächste Problem. Pflege kann auch arm machen.“<br />
Auch sie erhielt unentwegt Mahnungen<br />
von nicht bezahlten Pflegediensten. Oft bearbeitete<br />
die Kasse die Anträge nicht zeitnah,<br />
überwies das Geld nicht. „Irgendwas war immer“,<br />
sagt sie.Ruhe sei anders.Sie lacht.<br />
Nach dem Artikel lud man sie in die TV-<br />
Talk-Runde „Hartaber fair“ ein. Siefreute sich,<br />
an die Politik appellieren zu können. Doch sie<br />
konnte lediglich schildern, wie glücklich sie<br />
mit der Pflege und wie überfordert sie gleichzeitig<br />
vonder Bürokratie gewesen sei.<br />
Und dass sie das Glück hatte, dass ihr Bruder<br />
Anwalt war.„Der hat sich durch dieses Behördendickicht<br />
gekämpft, ansonsten hätten<br />
wir das nicht geschafft. Es ist ein Unding, dass<br />
man keinen Angehörigen pflegen kann, ohne<br />
einen Rechtsanwalt an seiner Seite zu haben“,<br />
klagte sie in der Sendung.<br />
Es blieb gerade noch die Zeit, sich direkt an<br />
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zu<br />
wenden, der ebenso in der Runde saß. Warum<br />
nie über die pflegenden Angehörigen geredet<br />
werde? „Was tun Sie für die?“, fragte sie den<br />
CDU-Politiker. Der Minister blickte betroffen<br />
zu ihr rüber.<br />
Eine wirkliche Antworthabe sie nicht erhalten,<br />
sagt sie.„Ichwunderemich, dass es keinen<br />
Aufstand der Angehörigen gibt. Denn so geht<br />
es in unserem Pflegesystem nicht weiter.Vor allem<br />
organisatorischer und finanzieller Art.“<br />
Jüngst war sie bei Markus Lanz zu Gast. Diesmal<br />
hatte sie immerhin 17 Minuten Redezeit.<br />
Anne-Kattrin Palmer<br />
fragt sich inzwischen auch, wo derAufschrei<br />
der Angehörigen bleibt.<br />
Mama<br />
bleibtbei<br />
mir<br />
Ruth Schneeberger pflegte zehn<br />
Jahre lang ihre schwer kranke<br />
Mutter.Für beide war das ein<br />
großes Glück –wenndanicht der<br />
zermürbende Kampf mit den<br />
Behörden gewesen wäre<br />
VonAnne-Kattrin Palmer<br />
Ruth Schneeberger mit Mama: „Pflegenotstand ist unnötig.“ FOTO: SIBYLLE FENDT/OSTKREUZ<br />
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