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Miriam Rademacher

Sommerferien auf dem Jansenhof! Cordula, Lars-Olaf und Katla sind zurückgekehrt und sehen aufregenden Tagen entgegen. Das nächste blaue Rätsel muss gelöst werden! Was hat es mit den Buchstaben A und C auf sich? Schon bald nach ihrer Ankunft unternehmen sie ihren ersten Ausflug nach Schloss Clemenswerth. Was als lustige Kutschfahrt mit Talisman beginnt, verwandelt sich rasch in ein spannendes Abenteuer, in dem die Kinder sich vielem allein stellen müssen. Denn Talisman kann seine Freunde weder in einen unterirdischen Gang noch in das Haus der hundert Ecken begleiten. Als aber die Dunkelheit sich über den Klostergarten senkt, und die Tänzer der Nacht hervorkommen, ist Talisman an ihrer Seite. Mit ihm trotzen die Kinder sogar den Schlossgespenstern. Und vor Gespenstern muss man sich sowieso nicht fürchten. Oder doch?

Sommerferien auf dem Jansenhof!
Cordula, Lars-Olaf und Katla sind zurückgekehrt und sehen aufregenden Tagen entgegen. Das nächste blaue Rätsel muss gelöst werden! Was hat es mit den Buchstaben A und C auf sich? Schon bald nach ihrer Ankunft unternehmen sie ihren ersten Ausflug nach Schloss Clemenswerth. Was als lustige Kutschfahrt mit Talisman beginnt, verwandelt sich rasch in ein spannendes Abenteuer, in dem die Kinder sich vielem allein stellen müssen. Denn Talisman kann seine Freunde weder in einen unterirdischen Gang noch in das Haus der hundert Ecken begleiten.
Als aber die Dunkelheit sich über den Klostergarten senkt, und die Tänzer der Nacht hervorkommen, ist Talisman an ihrer Seite. Mit ihm trotzen die Kinder sogar den Schlossgespenstern. Und vor Gespenstern muss man sich sowieso nicht fürchten. Oder doch?

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Das Emsland


<strong>Miriam</strong> <strong>Rademacher</strong><br />

und die Tänzer<br />

der Nacht


www.verlag-monikafuchs.de<br />

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation<br />

in der Deutschen Nationalbibliografie;<br />

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<br />

http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

ISBN 978-3-947066-06-3<br />

auch als eBook erhältlich<br />

© 2017 by Verlag Monika Fuchs |Hildesheim<br />

Layout und Satz: Die Bücherfüxin | www.buecherfuexin.de<br />

Covermotiv und Illustrationen: Marina Köller |Hildesheim/Müden Ö.<br />

Text: <strong>Miriam</strong> <strong>Rademacher</strong> | Osnabrück<br />

Printed in EU 2017


7 Talisman und seine Gäste<br />

9 Mit allen Mitteln<br />

20 Plattes Land und platte Wörter<br />

33 Pony mit Sahne<br />

42 Das Versprechen der Hand<br />

57 Das rätselhafte A<br />

70 Ein schwarzer Kasten<br />

79 Im Geheimgang<br />

89 Von schwarzen Männern und weißen Frauen<br />

99 Die Tänzer der Nacht<br />

111 Das Haus der hundert Ecken<br />

124 Prinzessin hoch zu Ross<br />

138 Die Autorin: <strong>Miriam</strong> <strong>Rademacher</strong><br />

Die Illustratorin: Marina Köller aka Marry<br />

Das Pferd: Svalur von der Rutenmühle<br />

5


Talisman ist der Star auf dem Jansenhof<br />

im emsländischen Werpeloh. Vor vielen Jahren<br />

kam das Islandpferd direkt von der nordischen<br />

Insel nach Norddeutschland und<br />

treibt seitdem die Hofbesitzer Britta und<br />

Sören regelmäßig zur Verzweiflung. Auch in<br />

diesem Abenteuer gelingt es Talisman mühelos,<br />

jede Menge Unruhe zu stiften.<br />

Cordula ist zwölf Jahre alt und lebt<br />

mit ihren Eltern in Düsseldorf. Obwohl sie<br />

vorher noch nie auf einem Pferd gesessen<br />

hat, verbindet sie mit Talisman gleich eine<br />

besondere Freundschaft. Ob sie ihm aber<br />

auch den fürchterlichen Schrecken verzeiht,<br />

den er ihr diesmal einjagen wird?<br />

Katla lebt erst seit zwei Jahren in Deutschland<br />

und kommt genauso wie Talisman aus<br />

Island. Die isländischen Sagen über Trolle<br />

und Elfen haben sie geprägt, was das Rätsel<br />

um die Tänzer der Nacht für Katla zu einem<br />

der schwersten machen wird.<br />

7


Lars-Olaf ist gerade dreizehn Jahre alt<br />

geworden und versucht manchmal mit Angebereien<br />

davon abzulenken, dass er sich<br />

vor vielen Dingen fürchtet. Insekten findet<br />

er ganz besonders gruselig. Doch seine<br />

Gummihandschuhe, die er zum Schutz mit<br />

in dieses Abenteuer nimmt, werden nicht<br />

nur ihm gute Dienste leisten.<br />

Lukas ist in diesem Sommer zum ersten<br />

Mal auf dem Jansenhof. Er ist zehn Jahre alt<br />

und ein wenig rundlich. Sein Asthma macht<br />

ihm viel seltener zu schaffen, als er selber<br />

glaubt. Abenteuer reizen ihn sehr und er will<br />

auf jeden Fall dabei sein, wenn das zweite<br />

Rätsel gelöst wird.<br />

David ist genauso alt wie Lukas. Auf den<br />

ersten Blick könnte man ihn für ein Mädchen<br />

halten. Seine Haare sind etwas länger als die<br />

der anderen Jungen und auch seine Kleidung<br />

ist irgendwie anders. David spricht nicht viel,<br />

schon gar nicht über seine Ängste. Aber auch<br />

er ist mutig genug, um sich den blauen Rätseln<br />

zu stellen.<br />

Und jetzt geht die Geschichte los!<br />

8


»<br />

A<br />

ber ich muss zurück nach Werpeloh!«<br />

Lars-Olaf stand neben der Gartenliege seiner Mutter und<br />

schwankte zwischen Verzweiflung und Trotz. Die Sommerferien<br />

standen vor der Tür. Sechs sorgenfreie Wochen voller Sonnenschein,<br />

Abenteuer und Eiscreme. Und seine Eltern hatten<br />

allen Ernstes vor, ihn nach Italien zu verschleppen! Dabei hatte<br />

Lars-Olaf eigene Pläne. Er musste zurück auf den Ferienhof<br />

der Jansens, wo er die vergangenen Osterferien<br />

verbracht hatte. Denn dort wartete nicht<br />

nur ein Haufen spannender Rätsel um ein<br />

verstecktes Erbe auf ihn, sondern auch<br />

ein zotteliges Islandpony namens Talisman<br />

und seine beiden besten Freunde. An der<br />

italienischen Riviera erwartete ihn hingegen<br />

nur Langeweile, davon war er überzeugt.<br />

Seine Mutter richtete sich auf ihrer<br />

Gartenliege auf und sah ihn über den<br />

Rand ihrer Sonnenbrille hinweg streng<br />

an. »Junger Mann! Italien im Sommer ist<br />

wunderschön. Jeder andere Junge würde<br />

vor Freude ausflippen, wenn …« Sie<br />

brach ab und tupfte sich mit einem Taschentuch<br />

die Schweißtropfen von der<br />

9


Stirn. Es war heiß im Garten der Familie Luitgen. Ganz Lübeck<br />

litt unter einer Hitzewelle, die alle Rekorde brechen wollte. Jeder<br />

wartete auf Abkühlung, doch Lars-Olaf war die Hitze egal.<br />

Ihm war sowieso gerade heiß vor Ärger.<br />

»Jeder andere Junge, der keine panische Angst vor Insekten<br />

und Bakterien hat«, brach es aus ihm heraus. »In Italien wimmelt<br />

es bestimmt von Mücken und Libellen, und im Meerwasser<br />

lauern die fürchterlichsten Krankheitserreger auf mich! Italien<br />

ist noch viel dreckiger als ein deutscher Garten, das weiß<br />

man doch!«, rief er und machte eine umfassende Geste, die<br />

den elterlichen Garten mit all seinen Obstbäumen und Blumenbeeten<br />

mit einschloss.<br />

»Dieser Garten ist nicht dreckig! Und Italien ist es auch<br />

nicht.« Seine Mutter nahm die Sonnenbrille ab und verdrehte<br />

die Augen. »Außerdem haben wir das alles schon zigmal durchgekaut.<br />

Die Bakterien haben es nicht auf dich abgesehen und<br />

den Insekten bist du auch egal. Und dein Therapeut hat mir<br />

erzählt, dass deine Ängste gar nicht mehr so schlimm sind wie<br />

noch vor ein paar Monaten. Warum also willst du deine Sommerferien<br />

lieber auf diesem Bauernhof in irgendeinem emsländischen<br />

Kuhdorf verbringen, anstatt mit mir und deinem Vater<br />

nach Italien zu fahren? Mal ganz davon abgesehen, dass der<br />

Jansenhof unmöglich sauberer sein kann als unser Garten.«<br />

»Wenn ich inzwischen weniger Angst vor Insekten und Bakterien<br />

habe, dann ist das nicht das Verdienst des Therapeuten.<br />

Das waren ausschließlich die Mutmachferien auf dem Jansenhof«,<br />

trumpfte Lars-Olaf auf.<br />

Seine Mutter blinzelte ein paar Mal und schien angestrengt<br />

nachzudenken. Lars-Olaf kannte diesen Gesichtsausdruck be-<br />

10


eits aus langjähriger Erfahrung. Jetzt würde sie ihre Strategie<br />

ändern, um ihn zu überzeugen. Sie würde ihm auf halber Strecke<br />

entgegenkommen, nur um seine Gründe als Kinderkram<br />

abzutun. Er hatte richtig vermutet.<br />

»Hör mal Liebling, ich weiß ja, dass du dich verpflichtet<br />

fühlst, den Jansens bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen.<br />

Und ich finde es auch sehr traurig, dass diese Maike dort in<br />

einem Kellerverlies hausen muss, weil ihre Tante das ganze<br />

Geld durchgebracht hat …«<br />

»Maja! Sie heißt Maja, Mama! Sie ist die Zwillingsschwester<br />

von Britta Jansen, der Bäuerin, und lebt freiwillig in diesem Kellerverlies,<br />

weil sie so viel Angst hat, dass sie sich nicht mehr<br />

heraus traut. Maja hat Angst vor allem, sogar vor der Luft, die<br />

sie atmet. Und es war nicht ihre Tante, die das Geld durchgebracht<br />

hat, sondern ihre Mutter, die vor ihrem Tod die gesamte<br />

Barschaft der Jansens versteckt hat. Du hörst mir wirklich nie<br />

richtig zu!« Lars-Olaf schob die Unterlippe vor und machte ein<br />

beleidigtes Gesicht. Als nächstes würde seine Mutter sich jetzt<br />

für ihr Desinteresse entschuldigen.<br />

»Ach ja, richtig. Tut mir leid, mein kleiner Liebling. Ich habe<br />

einfach zu viel um die Ohren, um mir auch noch die Probleme<br />

fremder Leute zu merken. Und du solltest sie auch vergessen.<br />

Die Jansens werden ihre Erbschaft bald finden und diese<br />

Maja …«<br />

»Sie können die Erbschaft nicht finden, Mama! Das ist doch<br />

der Haken an der Sache. Die blauen Säckchen, die zur Erbschaft<br />

führen, kann man nur finden, wenn man seine Angst<br />

überwindet. Sie könnten einfach überall sein! Nur nicht im<br />

dreckigen Meerwasser Italiens.«<br />

11


»Als ob man ein Mittel gegen Angst einfach in ein blaues<br />

Säckchen stecken könnte.« Seine Mutter schüttelte den Kopf.<br />

»Die Rätsel sind im Säckchen, Mama! In dem kleinen Beutel<br />

war eine Mini-Fledermaus und die Scrabble-Steine A und C.«<br />

»Und das kann ja nun wirklich alles bedeuten. Das findest<br />

du doch nie heraus, Lars-Olaf«, behauptete seine Mutter. »Ich<br />

verstehe auch überhaupt nicht, wie man auf eine solche dumme<br />

Idee kommt, sein ganzes Geld zu verstecken.«<br />

»Die Rätsel sollten Maja helfen, aus dem Keller herauszukommen.<br />

Sie sollte die Erbschaft suchen und dabei gesund<br />

werden. Aber sie schafft das nicht. Wusstest du, dass sie ihr<br />

Essen durch eine Art Katzenklappe bekommt? Sie macht nicht<br />

einmal die Tür auf. Und sie lässt lieber den ganzen Jansenhof<br />

verfallen, ehe sie sich auch nur die Kellertreppe hochtraut.<br />

Und Britta und Sören haben überhaupt keine Angst. Deswegen<br />

können sie die Rätsel nicht lösen. Sie wissen genauso wenig<br />

wie du, wie man die Rätsel knackt.«<br />

»Britta und Sören sind deine neuen Freunde«, stellte seine<br />

Mutter fest und strahlte über das ganze Gesicht, weil sie<br />

glaubte, sich wenigstens etwas gemerkt zu haben.<br />

Lars-Olaf seufzte. »Nein, Mama. Meine neuen Freunde heißen<br />

Cordula und Katla. Wir drei können die Rätsel lösen, weil<br />

wir zu Angst und Panik neigen. Mama, mal ehrlich, weißt du<br />

eigentlich noch, wer ich bin oder hast du das auch schon vergessen?<br />

Lies doch mal weniger Modezeitschriften und hör mir<br />

ein wenig mehr zu!«<br />

»Da hört sich doch alles auf! Du redest doch kaum noch mit<br />

mir! Immerzu liegst du auf deinem Bett und starrst die Zimmerdecke<br />

an!«<br />

12


Das stimmte. Seit den Osterferien beschäftigte sich Lars-<br />

Olaf in Gedanken ständig mit dem zweiten Rätsel, dessen Lösung<br />

ihn einen Schritt näher zur versteckten Erbschaft bringen<br />

würde. In jeder freien Minute knobelte er daran herum, was<br />

sich auch positiv auf seine Ängste ausgewirkt hatte. Er beschäftigte<br />

sich einfach weniger mit ihnen. Inzwischen war er<br />

sich allerdings sicher, dass die Lösung von Lübeck aus überhaupt<br />

nicht zu finden war. Er musste zurück ins Emsland, er<br />

musste seine Mutter irgendwie überzeugen.<br />

Doch die setzte gerade die Sonnenbrille wieder auf, lehnte<br />

sich zurück und schaute hinauf in den wolkenlosen Himmel.<br />

Jetzt brauchte Lars-Olaf rasch eine neue Strategie, bevor<br />

sich seine Mutter in ihrer Illustrierten wieder der kommenden<br />

Herbstmode widmete. Er entschied sich fürs Betteln: »Mama,<br />

ich muss dort wieder hin, bitte, bitte, liebste Mama. Sonst erleide<br />

ich mit Sicherheit bald einen schrecklichen Rückfall und<br />

das wäre doch wirklich fürchterlich.« Im gleichen Moment, in<br />

dem er es aussprach, kam ihm ein genialer Gedanke.<br />

»Keine Widerrede. Wir fahren im Sommer nach Italien und<br />

du kommst mit. Du wirst im Meer baden und Sandburgen<br />

bauen und jeden Abend Spaghetti und Pizza essen. Und über<br />

den Jansenhof will ich kein Wort mehr hören.«<br />

Seine Mutter schlug die Zeitschrift auf und widmete sich der<br />

Klatschspalte. Ihr Gespräch war für sie beendet, und Lars-Olaf<br />

versuchte nicht, es wieder in Gang zu bringen. In Gedanken<br />

arbeitete er bereits an seinem neuen Schlachtplan, der einfach<br />

und doch genial war. Wenn er seine Karten richtig ausspielte,<br />

würde er in spätestens drei Wochen in einem Zug Richtung<br />

Emsland unterwegs sein.<br />

13


Wortlos trat er den Rückzug aus dem Garten an und verzog<br />

sich auf sein Zimmer. Es war weiß. Weiß waren die Wände,<br />

die Möbel, die Kissen, die Bettwäsche und sein Moskitonetz.<br />

Er hatte es so gewollt. Nur die gelben Fliegenfänger an der<br />

Zimmerdecke und ein paar herumliegende Kleidungsstücke<br />

brachten ein wenig Farbe in den Raum. Auch seine Schultasche<br />

in hellem Blau fiel aus dem Rahmen. Lars-Olafs Klassenkameraden<br />

fanden ihn und seine Angst vor Krabbeltieren und<br />

Krankheiten schon seltsam genug, also verzichtete er außerhalb<br />

seines Zimmers und im Schulalltag, wenn auch ungern,<br />

auf das praktische Weiß. Eine weiße Schultasche hätte sich<br />

vermutlich sowieso nicht auftreiben lassen. Aber auf weißem<br />

Grund sah man selbst die kleinste Ameise sofort. Weiß gab<br />

ihm eine gewisse Sicherheit. Keine Fliege konnte sich hier in<br />

seinem Zimmer unbemerkt an ihn heranpirschen.<br />

Lars-Olaf kramte sein neues Handy aus der Schultasche hervor,<br />

das er erst wenige Wochen zuvor zu seinem dreizehnten<br />

Geburtstag bekommen hatte. Er wischte mit einem Desinfektionstuch<br />

über den Bildschirm und wählte eine längst vertraute<br />

Nummer.<br />

»Und?«, quäkte es durch den Lautsprecher.<br />

»Nix und. Sie sagt, es bleibt bei Italien.«<br />

»Schöner Mist«, antwortete ihm Cordula. »Und was machst<br />

du jetzt?«<br />

»Jetzt werde ich zu Plan B greifen müssen. Keine Sorge. Ich<br />

brauche nur ein paar Tage und meine Mutter wird ihre Entscheidung<br />

noch einmal überdenken.«<br />

»Lars-Olaf, was hast du Teuflisches im Sinn?«, fragte seine<br />

Freundin neugierig.<br />

14


»Das erzähle ich dir im Zug nach Lathen. Jetzt muss ich<br />

die Besenkammer nach Gummihandschuhen durchsuchen.<br />

Drück’ mir die Daumen, dass unsere Putzfrau welche dagelassen<br />

hat.«<br />

»Gummihandschuhe? Wozu das denn? Willst du dich bei<br />

deiner Mutter einschmeicheln, indem du den Hausputz übernimmst?<br />

Wenn ihr sowieso eine Putzfrau habt, wird sie das<br />

wenig beeindrucken.«<br />

»Vertrau’ mir.« Lars-Olaf kicherte boshaft. »Ich weiß genau,<br />

was ich tue. Wir sehen uns bald im Zug nach Lathen.«<br />

»Sie kommen!«, rief Britta und kam durch die Stallgasse gestürmt.<br />

In der linken Hand schwenkte die junge Bäuerin zwei<br />

Briefumschläge. Ihr Mann Sören war zwar groß wie ein Bär,<br />

aber nur selten brummig und hatte ein Gesicht so freundlich<br />

wie das des Weihnachtsmannes. Er ließ die Heugabel sinken<br />

und wandte sich seiner Frau zu. Brittas schwarze und blonde<br />

Flechtzöpfe standen wie immer kreuz und quer von ihrem Kopf<br />

ab. Sie trug eine viel zu große Latzhose und Gummistiefel mit<br />

abgeschnittenen Schäften. Dreckspritzer auf ihrer Kleidung<br />

konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie eine hübsche<br />

Frau war.<br />

»Cordulas Eltern haben uns gerade die Anmeldung geschickt.<br />

Sie bleibt die ganzen Sommerferien, ist das nicht toll?<br />

Und auch Katlas Mutter möchte ihre Tochter für volle sechs<br />

Wochen bei uns auf dem Mutmachhof unterbringen, weil es<br />

ihr hier so gut gefallen hat.«<br />

15


»Wunderbar«, rief Sören. »Cordula und Katla sind tolle Mädchen,<br />

die packen sicher wieder kräftig mit an. Wir können jede<br />

Hilfe brauchen, die uns nicht zusätzliche Kosten verursacht.«<br />

»Na, und außerdem sollen sie auch noch tolle Ferien hier<br />

haben. Und die Rätsel müssen wir lösen. Deswegen kommen<br />

sie doch her«, antwortete Britta.<br />

Hinter Sören erklang ärgerliches Wiehern. Talisman, das<br />

schwarz-weiße Islandpony, reckte den schwarzen Kopf über<br />

die Boxentür und schnaubte vorwurfsvoll.<br />

»Entschuldige, Talisman. Sie kommen natürlich deinetwegen.<br />

Und das Flicken deines Stalldachs hat Vorrang vor allen<br />

anderen Reparaturen«, lenkte Sören ein und klopfte dem Tier<br />

den Hals. »Was ist denn mit Lars-Olaf? Der kommt doch auch,<br />

oder etwa nicht?«<br />

16


Britta schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe noch immer<br />

keine Nachricht von ihm oder seinen Eltern. Wenn wir nicht<br />

bald etwas von ihm hören, müssen wir seinen Platz an jemand<br />

anderen vergeben. Wir können es uns nicht leisten, auch nur<br />

ein einziges Gästebett unbelegt zu lassen.«<br />

»Gib ihm einfach noch ein paar Tage Zeit. Lars-Olaf schafft<br />

das schon. Der Junge ist ziemlich clever.« Sören klopfte Talisman<br />

noch einmal kräftig den Hals, dann fuhr er mit seiner Arbeit<br />

fort. Unschlüssig stand Britta in der Stallgasse und sah auf<br />

die zwei Buchungen in ihrer Hand. Es stimmte, Lars-Olaf war<br />

schlau. Würden Katla und Cordula auch ohne Lars-Olaf in der<br />

Lage sein, das zweite Rätsel der blauen Säckchen zu lösen?<br />

Talisman konnte es kaum erwarten, dass die Kinder und der<br />

Sommer kamen. Die letzten Monate waren regenreich gewesen,<br />

was für das Emsland an sich nichts Besonderes war. Der<br />

Regen fiel hier oft und lang und reichlich. Er hielt die Wälder<br />

und Wiesen grün und die Pfade matschig. Doch er hielt auch<br />

die Streu und die Wände in Talismans Box häufig klamm, denn<br />

an Regentagen tropfte es stetig durch das Gebälk. Platz für genug<br />

Eimer rund um seine Hufe gab es schon längst nicht mehr,<br />

und das Regencape, das Britta ihm gelegentlich übergezogen<br />

hatte, war von ihm zu einem nutzlosen Fetzen zerkaut worden.<br />

Es hatte gejuckt und gekratzt, er hatte aus reiner Notwehr gehandelt.<br />

An so manchen Tagen war es im Stall nicht trockener<br />

gewesen als auf der Koppel und Talisman war das Wetter<br />

und die Langeweile leid. Es wurde Zeit, dass die Kinder auf<br />

17


den Hof zurückkehrten und ihr gemeinsames Abenteuer weiterging,<br />

an dessen Ende hoffentlich genug Geld für ein neues<br />

Stalldach heraussprang. Doch bis dahin musste noch viel ausgestanden<br />

werden, denn ihr Gegner in diesem Abenteuer war<br />

die Angst. Sie musste besiegt werden. Und Cordula, Katla und<br />

Lars-Olaf hatten jede Menge davon. Durch sie hatte Talisman<br />

viel über Angst gelernt. Natürlich hat jeder Mensch in seinem<br />

Leben schon einmal Angst gehabt. Angst ist ein ganz normales<br />

Gefühl, das vor Gefahren warnt. So gesehen ist Angst eine<br />

sehr nützliche Sache. Manche Leute jedoch haben ohne jeden<br />

Grund Angst vor den seltsamsten Dingen. Und sie haben öfter<br />

und viel stärker Angst als andere Menschen. Wenn dieser Fall<br />

eintritt, ist die Angst zu einer Krankheit geworden. Zu einer<br />

lästigen Krankheit, die man nur schwer wieder loswird. Es gibt<br />

Ärzte, Therapeuten und Ratgeber, die einem helfen können,<br />

die starken Ängste wieder kleinzukriegen. Doch sogar alle zusammen<br />

können nicht helfen, wenn man nicht den Mut aufbringt,<br />

sich seiner Angst zu stellen. Deshalb gab es die Mutmachferien<br />

auf dem Jansenhof mit ihren Nachtwanderungen,<br />

wilden Kletterpartien, jeder Menge Dreck, Tieren und eben<br />

den blauen Rätseln.<br />

Hätte Talisman reden können, wären die Kinder mit ihrer<br />

Suche nach den Rätseln schon viel weiter. Denn er war es gewesen,<br />

der die alte Frau Jansen auf seinem Rücken kreuz und<br />

quer durch das Emsland getragen hatte, um die Rätsel überhaupt<br />

zu verstecken. Aber Talisman konnte nun einmal nicht<br />

sprechen und auch niemandem mitteilen, was er gesehen hatte.<br />

Talisman lauschte Sörens fröhlichem Pfeifen und sah, wie<br />

Britta den Stall verließ, um sich anderswo nützlich zu machen.<br />

18


Er spielte glücklich mit seinen Ohren und dachte an die nahen<br />

Sommerferien. Cordula würde wiederkommen. Und Katla.<br />

Und vielleicht auch Lars-Olaf. Er gab ein leises Wiehern<br />

von sich und scharrte ungeduldig mit den Hufen. Er konnte es<br />

kaum erwarten, mit ihnen zusammen wieder auf die Suche zu<br />

gehen, das versprach Spannung und Spaß. Und eine trockene<br />

Pferdebox.<br />

19


Plattes Land und<br />

platte Wörter<br />

Drei Wochen später zog die Landschaft am Fenster ihres<br />

Groß raumabteils vorbei und ließ erahnen, dass sie ihrem<br />

Ziel immer näher kamen. Viel Landschaft anstelle großer<br />

Städte, kleine Bahnhöfe und keine Berge weit und breit. Das<br />

Emsland war so platt wie ein Pfannkuchen. Seit dem letzten<br />

Umsteigen in Rheine saßen sie alle im gleichen Zug. Cordula,<br />

Katla und Lars-Olaf. Diese Bummelbahn würde sie nach<br />

Lathen bringen. Von dort würde sie ein Kleinbus abholen und<br />

direkt zum Jansenhof in dem kleinen Ort Werpeloh fahren.<br />

Endlich. Die Sommerferien hatten begonnen.<br />

Cordula war mit ihren zwölf Jahren die jüngste, aber auch<br />

die Größte des Trios. Ihre überragende Größe hatte ihr in der<br />

Schule den Spitznamen Leuchtturm eingebracht und war das<br />

Auffälligste an ihr. Cordula hatte glatte blonde Haare, die sie<br />

meist zu einem Pferdeschwanz zusammenband, und ein hübsches<br />

Gesicht. Aber sie war nicht so eine bemerkenswerte<br />

Erscheinung wie die kleine Katla. Obwohl sie genau wie Lars-<br />

Olaf schon dreizehn Jahre alt war, war sie kaum größer als eine<br />

Grundschülerin. Ihr langes rotes Haar hatte die Farbe von Kupferdraht,<br />

ihre Haut war weiß wie Schlagsahne. Sie stammte,<br />

genau wie Talisman, aus Island, einer Insel weit oben im Nor-<br />

20


den Europas, wo die Winter kalt und die Sommer kurz waren.<br />

Seit der Trennung ihrer Eltern lebte sie mit ihrer Mutter in<br />

Deutschland und vermisste ihre einmalig schöne Heimat sehr.<br />

So sehr, dass sie kaum eine Nacht ruhig schlafen konnte. Daran<br />

hatte auch ihre Zeit auf dem Jansenhof noch nichts ändern<br />

können.<br />

Die beiden Mädchen saßen im Abteil Lars-Olaf gegenüber<br />

und beäugten misstrauisch die gelben Gummihandschuhe, die<br />

Lars-Olaf über Hände und Unterarme gezogen hatte.<br />

»Die passen gut zu deinen blonden Haaren«, witzelte Cordula<br />

und deutete auf die hässlichen Gummihandschuhe. »Aber<br />

wozu sollen die gut sein?«<br />

21


»Die haben mich hierher gebracht«, antwortete Lars-Olaf<br />

und sah triumphierend von einer zur anderen. Als er die Ratlosigkeit<br />

in ihren Gesichtern sah, klärte er sie auf. »Nachdem<br />

meine Mutter mich nicht hierher lassen wollte, weil es mir angeblich<br />

schon zu gut ginge, habe ich vor drei Wochen einen<br />

schweren Rückfall erlitten. Ich konnte nichts mehr anfassen.<br />

Wirklich gar nichts! Ich meine, wenn man sich mal überlegt,<br />

wie viele Bakterien schon auf einem Lichtschalter oder einem<br />

Hosenknopf sitzen, dann ist es doch leicht zu verstehen, oder?«<br />

Er hob die Hände und sah glücklich auf seine gelben Gummihandschuhe.<br />

»Ich bin mit diesen wundervollen Dingern überall<br />

hingegangen: in die Schule, zum Schwimmen, sogar zum<br />

Klavierunterricht. Kann ich wissen, was der Klavierschüler, der<br />

vor mir in die Tasten gehauen hat, alles an den Fingern kleben<br />

hatte?« Er klimperte unschuldig mit den Augenlidern. »Zu<br />

guter Letzt habe ich sie nicht einmal mehr zum Schlafengehen<br />

oder Duschen ausgezogen. Da hat meine Mutter kapituliert<br />

und eingesehen, dass ich auf dem Jansenhof wohl doch besser<br />

aufgehoben bin als am Mittelmeerstrand. Und hier bin ich.<br />

»Tolle Leistung.« Katla nickte anerkennend. »Und was hält<br />

dich davon ab, die Dinger jetzt wieder auszuziehen?«<br />

Lars-Olafs selbstgefälliges Grinsen verzerrte sich zu einer<br />

schiefen Grimasse. »Nun ja, also, um es frei nach Goethe zu<br />

sagen: Die Geister, die ich rief, die werd’ ich nicht mehr los.<br />

Ehrlich gesagt, fühle ich mich sicherer mit meinen Gummihandschuhen.<br />

Überlegt mal, wer hier alles schon auf diesen<br />

Kunstlederbezügen gesessen hat!«<br />

»Oh, Lars-Olaf!«, stöhnte Cordula und konnte gleichzeitig<br />

ein Kichern nicht unterdrücken. »Du wolltest deiner Mutter<br />

22


einreden, dass du die Handschuhe brauchst, weil du so große<br />

Angst vor Bakterien hast und hast es dir dabei selbst eingeredet?<br />

Du bist wirklich ein schräger Vogel.«<br />

»Kaum schräger als ihr beide«, verteidigte sich Lars-Olaf.<br />

»Und damit sind wir unermesslich wertvoll für den Jansenhof.<br />

Wie sieht’s denn aus? Habt ihr das zweite Rätsel schon geknackt?«<br />

Die beiden Mädchen schüttelten den Kopf.<br />

»Nein«, sagte Katla.<br />

»Fehlanzeige«, ergänzte Cordula. »Ich habe unendlich viele<br />

Kombinationen des Rätsels im Internet durch die Suchmaschinen<br />

gejagt. A&C und C&A, Fledermäuse, die mit C anfangen …<br />

alles Mögliche. Herausgekommen ist dabei nichts. Außer, dass<br />

es C&A-Filialen auch im Emsland gibt. Aber ich glaube einfach<br />

nicht, dass wir das nächste blaue Säckchen in einem Kaufhaus<br />

suchen sollen. Obwohl der Besuch bei C&A für Maja sicher<br />

eine Herausforderung wäre. Ich meine, sie kommt ja nicht einmal<br />

durch ihre eigene Tür, ohne vor lauter Angst den Rückwärtsgang<br />

einzulegen und wieder in ihr Versteck zu kriechen.«<br />

Lars-Olaf zuckte mit den Schultern. »Ich habe auch nichts<br />

erreicht. Ich habe krampfhaft überlegt, wofür das A und das C<br />

stehen könnte. Ich dachte mir, dass es sich um etwas aus der<br />

Gegend handeln könnte. Aber irgendwie machte nichts wirklich<br />

Sinn. Schon gar nicht in Verbindung mit Fledermäusen.«<br />

»Wir können also nur hoffen, dass Britta und Sören schlauer<br />

waren als wir«, fasste Katla zusammen und sah zum Fenster<br />

hinaus. Cordula folgte ihrem Blick und bemerkte eine riesige<br />

weiße Wolke am Himmel, die aus einem nicht minder riesigen<br />

Schornstein aufstieg.<br />

23


»Was ist das denn?«, fragte sie und deutete auf die Wolke.<br />

Lars-Olaf antwortete: »Das ist der Kühlturm eines Kernkraftwerkes.<br />

Wir sind in Lingen.«<br />

Cordula blickte wieder zur aufsteigenden weißen Wolke und<br />

verspürte plötzlich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.<br />

Sie wusste nicht viel über Kernkraftwerke, aber das Wenige,<br />

was sie in den Nachrichten aufgeschnappt hatte, machte ihr<br />

Angst.<br />

»Wie das wohl ist, in der Nähe eines solchen Turms zu leben?«,<br />

fragte sie. Lars-Olaf zuckte mit den Schultern.<br />

»Keine Ahnung. Ich denke, man gewöhnt sich irgendwann<br />

dran.«<br />

»Hey!«, rief Katla plötzlich und klatschte in die Hände. »Vielleicht<br />

führt uns die Rätselkette ja sogar bis in dieses Atom-<br />

24


kraftwerk! Es ist nicht mehr weit bis zu unserem Ziel und ein<br />

Atomkraftwerk hat definitiv etwas Beängstigendes. Ich würde<br />

den Turm gerne mal aus der Nähe sehen. In Island gibt es keine<br />

Atomkraftwerke. Wir machen alles mit umweltfreundlichen<br />

Energien.« Der Stolz in Katlas Stimme war nicht zu überhören.<br />

»Was ja wohl daran liegt, dass Island nicht einmal 400.000<br />

Einwohner zu versorgen hat. Außerdem rührt eure Erdwärme<br />

von der nicht unbeträchtlichen Anzahl Vulkane unter euren<br />

Hintern her. Vielen Dank, aber ich möchte nicht mit den Isländern<br />

tauschen«, sagte Lars-Olaf.<br />

Cordula schluckte nervös und antwortete: »Ich finde es beneidenswert.<br />

Ich glaube, ich wandere nach Island aus. Ich will<br />

diesen Turm nämlich nicht aus der Nähe sehen. Er kommt mir<br />

gefährlicher vor als ein Vulkan.«<br />

»Das wiederholst du nicht, wenn du mal einen hast ausbrechen<br />

sehen«, sagte Katla und grinste.<br />

Lars-Olaf horchte auf und sah ebenfalls wieder aus dem<br />

Fenster. Noch immer beherrschte der gewaltige Kühlturm das<br />

Bild der Landschaft. »Ja, das ist wirklich etwas, wovor man sich<br />

fürchten kann. Aber was sollen C und A mit einem Kraftwerk<br />

zu tun haben? Oder mit Lingen? Gibt es hier vielleicht viele<br />

Fledermäuse?«<br />

Sofort begannen er und Katla eine Reihe wilder Theorien<br />

aufzustellen, was das Rätsel mit dem Atomkraftwerk verbinden<br />

könnte. Cordula schwieg und sah zu, wie der Turm nur sehr<br />

langsam aus ihrem Blickfeld verschwand. Das Unbehagen, das<br />

sie bei seinem Anblick überfallen hatte, blieb jedoch. Eigentlich<br />

schade, dachte sie, dass jedes dieser Rätsel uns immer<br />

wieder durch unsere Angst führen wird. Das macht diese Feri-<br />

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en nicht nur spannend, sondern auch unheimlich. Selbst wenn<br />

unser Weg uns nicht zu diesem abscheulichen Turm führt, zu<br />

irgendetwas Fiesem wird uns das Rätsel schon schicken.<br />

Die Zeit verflog wie die Landschaft vor ihrem Fenster und<br />

bald rief Katla: »Wir sind gleich da!«<br />

»Tatsächlich«, stimmte Cordula ihr zu und blickte auf ihre<br />

Armbanduhr. In wenigen Minuten würden sie Lathen erreichen.<br />

Und an dem winzigen Bahnhof würde Kai, der Stallbursche<br />

der Jansens, schon mit dem Kleinbus auf sie warten. Kai,<br />

mit seinen blauen Augen und der windschiefen Nase. Kai, der<br />

selbst aus Cordulas Perspektive so hoch wie ein Leuchtturm<br />

war. Cordula mochte Kai sehr gern und freute sich auf das<br />

Wiedersehen mit ihm. Am meisten aber freute sie sich auf Talisman.<br />

Mit ihm verband Cordula seit den Osterferien eine tiefe<br />

Freundschaft. Niemandem vertraute sie mehr als Talisman.<br />

Er war mit ihr in der Nacht im Wacholderhain gewesen. Er war<br />

bei ihr gewesen, als sie sich vor Angst fast nicht mehr rühren<br />

konnte. Er hatte sie aufgefangen. Auf Talisman war Verlass.<br />

»Wir werden das zweite Rätsel lösen«, flüsterte Cordula ihrem<br />

Spiegelbild in der Fensterscheibe zu. »Ganz egal, was uns<br />

erwartet, wir haben immer noch Talisman an unserer Seite.«<br />

»Aber klar«, rief Katla laut und klopfte ihr auf die Schulter.<br />

»Doch wenn wir jetzt nicht aussteigen, fährt der Zug mit uns<br />

bis rauf an die Nordsee. Und dort wartet kein Talisman auf<br />

uns.«<br />

Als sie aus dem Zug stiegen, bemerkte Cordula zwei weitere<br />

Kinder auf dem Bahnsteig. Ein dicklicher Junge und ein Mädchen<br />

mit schulterlangen Haaren, beide ungefähr 10 Jahre alt.<br />

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»Zwei neue Gäste für den Jansenhof, vermute ich mal«, sagte<br />

Katla und stieß Cordula in die Seite. »Hoffentlich keine Nervensägen.«<br />

»Das werden wir sicher bald herausfinden«, antwortete Cordula,<br />

lächelte den beiden freundlich zu und wagte den ersten<br />

Schritt.<br />

»Hallo. Wollt ihr auch zum Jansenhof? Fahrt ihr zum ersten<br />

Mal dorthin?«<br />

Sie erntete ein doppeltes Kopfnicken. Cordula erinnerte sich<br />

noch gut daran, wie sie selbst vor wenigen Monaten zum ersten<br />

Mal auf diesem Bahnsteig gestanden und keine Ahnung<br />

gehabt hatte, was sie erwartete. Damals war sie sehr unsicher<br />

gewesen. Genau wie diese Neuen jetzt auch.<br />

»Wir drei sind schon zum zweiten Mal hier«, sagte Cordula<br />

und stellte sich und ihre Freunde vor. »Und wie heißt ihr?«<br />

»Ich bin Lukas, und das ist David«, antwortete der dickliche<br />

Junge. Cordula zog überrascht die Augenbrauen hoch. Das<br />

Mädchen war in Wirklichkeit ein Junge? Wie eigenartig. Er<br />

trug rote Jeans und ein gelbes T-Shirt mit Blümchenstickerei<br />

am Kragen. Nichts an ihm sah nach Junge aus, aber Cordula<br />

konnte sich nicht vorstellen, dass irgendein Mädchen auf der<br />

Welt David heißen könnte. Cordula überlegte noch, was sie als<br />

Nächstes sagen sollte, als Worte in einer fremden Sprache laut<br />

über den Bahnsteig schallten.<br />

»Bünt i de lüttgen Däre, de ick ofholen schöll? 1 «<br />

Cordula wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme<br />

gekommen war. Dort stand ein kahlköpfiges Männchen in<br />

1 Seid ihr das Kleinvieh, das ich abholen soll?<br />

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einem grauen Arbeitsanzug, mit krummem Rücken und grinste<br />

zahnlos in die Runde. Cordula schielte zu Lars-Olaf und Katla<br />

hinüber. Hatten sie auch so wenig verstanden wie sie selbst?<br />

»Na, wat is nu? Bünt i dat junge Gemüse?« 2<br />

Gemüse? Das hatte Cordula herausgehört. Doch wovon redete<br />

der Alte da bloß? Auf dem Bahnsteig gab es doch weit<br />

und breit kein Gemüse!<br />

Lars-Olaf beugte sich zu ihr herüber und flüsterte in ihr Ohr:<br />

»Ich glaube, der meint uns mit dem jungen Gemüse.«<br />

Cordula und Katla sahen sich ratlos an, Lars-Olaf aber ging<br />

auf den Fremden zu, räusperte sich und sprach sehr langsam<br />

und deutlich, als er fragte: »Können Sie mich verstehen?«<br />

Der Alte lachte meckernd. »Seker verstah ick di, mien Jung.<br />

Nu mal ale eben anpacken, dat wi de Koffer in Hänger krieget.« 3<br />

Hänger? Das Wort Koffer ergab Sinn für Cordula, aber was<br />

konnte denn mit dem Wort Hänger gemeint sein? Der Alte deutete<br />

mit den Fingern zu den Glastüren des Bahnhofsgebäudes.<br />

Durch die Scheiben konnte Cordula einen Trecker erkennen,<br />

auf dessen Anhänger sich mehrere Heuballen stapelten. Jetzt<br />

wusste sie, dass mit Hänger tatsächlich ein Anhänger gemeint<br />

war. Mühsam verbarg sie ihre Überraschung und fragte den alten<br />

Mann: »Ist Kai denn nicht gekommen, um uns abzuholen?«<br />

»Kai mot sine Oma hen Kusendoktor bringen. Dat is wichtig,<br />

sei hav man noch vaier Tannen.« 4<br />

2 Was ist nun? Seid ihr das junge Gemüse?<br />

3 Sicher verstehe ich dich, mein Junge. Nun packt mal alle mit an, damit wir<br />

die Koffer in den Anhänger kriegen.<br />

4 Kai muss seine Oma zum Zahnarzt bringen. Das ist wichtig, die hat nur noch<br />

vier Zähne.<br />

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Cordula sah den Mann an und erwiderte nichts. Dann wandte<br />

sie sich an Lars-Olaf.<br />

»Okay. Wovon redet der? Was ist denn einen Kusendoktor?<br />

Und um welche Tannen geht es?«<br />

»Also ich habe immerhin Oma verstanden«, sagte Lars-Olaf<br />

und sah hilflos zu Katla hinüber. Die hob abwehrend die Hände.<br />

»Frag nicht mich. Das klingt nicht wie irgendeine Sprache,<br />

die ich schon mal gehört habe.«<br />

»So, wat is nu? Will i mit or hier uppn Bahnhoff staan blieben?<br />

Dat Hai mot unert Dach.« 5<br />

Cordula hatte wirklich ausschließlich Bahnhof verstanden,<br />

aber sie vermutete, dass es irgendetwas mit dem Wetter zu tun<br />

hatte, denn der Alte deutet auf die dunklen Wolken, die sich<br />

über ihnen bedrohlich auftürmten.<br />

5 Also, was ist nun? Wollt ihr mit oder hier auf dem Bahnhof stehenbleiben?<br />

Das Heu muss unters Dach.<br />

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»Nu man tau!« 6<br />

Den letzten Satz und seine Bedeutung konnten sie sich alle<br />

zusammenreimen, denn der Alte wedelte energisch mit den<br />

Armen. Und so setzten sie sich gehorsam in Bewegung, auch<br />

die beiden neuen Jungen, die dem Wortwechsel nur mit offenen<br />

Mündern gelauscht hatten, und folgten dem Alten zu seinem<br />

Gefährt. Als sie ihre Koffer und Taschen ins Heu geworfen<br />

hatten, tippte Lars-Olaf dem Mann zaghaft auf die Schulter.<br />

Cordula war sich sicher, dass er sich das ohne seine Gummihandschuhe<br />

nicht getraut hätte, denn der Arbeitsanzug des<br />

Alten sah nicht besonders sauber aus.<br />

»Entschuldigung, können Sie uns verraten, in was für einer<br />

Sprache Sie da eigentlich sprechen?«<br />

Der Alte lachte wieder meckernd. »Ick prot Platt, mien Jung.<br />

Wi prot net so platt as dat Land iss.« 7<br />

»Aha«, antwortete Lars-Olaf und klang ein wenig ratlos.<br />

»Nu man int Hai und dann gait los.« 8<br />

»Wie bitte?«, fragten sie alle gleichzeitig.<br />

»In Hai schollt i, nu man tau.« 9<br />

Seine Gesten verrieten mehr als seine Worte und so machte<br />

Lars-Olaf mit seinen gummigeschützten Händen für Cordula<br />

gehorsam eine Räuberleiter, damit sie auf den Hänger klettern<br />

konnte. Oben angekommen, half sie Katla, Lukas und David<br />

hinauf. Lars-Olaf zog sich selbst auf die Ladefläche, während<br />

der Alte die restlichen Koffer zu ihnen hinauf warf.<br />

6 Nun aber los!<br />

7 Ich spreche Platt, mein Junge. Wir sprechen so platt wie das Land ist.<br />

8 Nun mal ins Heu und dann geht’s los.<br />

9 Ins Heu sollt ihr, nun mal los..<br />

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Dann kletterte der Mann in das Führerhaus seines Traktors<br />

und schaltete den knatternden Motor an. Ruckelnd setzte sich<br />

ihr Gefährt in Bewegung. Die Kinder nahmen auf den Heuballen<br />

Platz.<br />

»Ich habe Asthma, ich glaube nicht, dass das hier eine gute<br />

Idee ist. Das Heu staubt schon, wenn man sich nur draufsetzt«,<br />

murmelte Lukas, schob sich eine Sprühflasche in den Mund<br />

und atmete tief ein. David beschwerte sich, dass das Heu kitzelte<br />

und piekte und Lars-Olaf inspizierte mit unglücklichem<br />

Gesichtsausdruck den Ballen, auf dem er saß.<br />

Katla jedoch sah glücklich in die Landschaft und Cordula tat<br />

es ihr nach. Eigentlich war so eine Fahrt mit dem Heuwagen<br />

doch eine großartige Sache. Das Heu duftete nach Sommersonne,<br />

der Fahrtwind zauste an ihrem Haar und die Sonne, die<br />

sich durch die Wolken kämpfte, wärmte sie von oben. Cordula<br />

spürte, wie ihre Laune immer weiter stieg. Ohne es zu bemerken,<br />

begann sie, eine Melodie zu summen.<br />

»Mit Hoch auf dem gelben Wagen ist aber kein Heuwagen<br />

gemeint. Da ging es um eine Postkutsche«, erklärte ihr Lars-<br />

Olaf plötzlich ungefragt.<br />

»Ist doch egal«, rief Cordula und sang jetzt laut drauflos. Da<br />

sie den Text des Liedes selbst nicht so genau kannte, ersetzte<br />

sie viele Stellen einfach durch Lalala. Lukas und David machten<br />

gleich begeistert mit. Katla, der die Melodie fremd war,<br />

hörte verträumt lächelnd zu. Nur Lars-Olaf begann verstohlen<br />

damit, Heu von seinem Koffer zu zupfen.<br />

»Ihr drei seid also nicht zum ersten Mal auf dem Jansenhof?<br />

Wird es auch nicht langweilig dort?«, fragte Lukas plötzlich<br />

und drückte erneut auf seine Sprühflasche. Cordula wunderte<br />

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sich, sie hatte ihn noch gar nicht husten oder keuchen hören.<br />

Auch Atemnot schien er keine zu haben. Und wieder drückte<br />

er auf das Sprühfläschchen.<br />

»Langweilig?« Cordula schüttelte den Kopf. »Langweilig<br />

wird es dort ganz bestimmt nicht.« Und dann winkte sie den<br />

Autos zu, die eines nach dem anderen den Heuwagen überholten.<br />

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Pony mit Sahne<br />

»O<br />

pa Willem, ich bin dir ja so dankbar, dass du die Bande<br />

vom Bahnhof abgeholt hast. Dafür schulde ich dir<br />

was!«, rief Britta, während sie die Kinder, die nacheinander<br />

vom Wagen sprangen, überschwänglich in die Arme schloss.<br />

Lukas und David fühlten sich der Gruppe nach dieser Fahrt<br />

bereits voll zugehörig und Cordula war sich sicher, dass sie mit<br />

den beiden Neuen eine Menge Spaß haben würden.<br />

Als Lars-Olaf vom Wagen sprang, fragte er Britta sofort:<br />

»Und was für eine Sprache spricht Opa Willem, bitte? Wir hatten<br />

nämlich leichte Verständigungsschwierigkeiten.«<br />

Britta warf dem Alten, der zahnlos vom Trecker heruntergrins<br />

te, einen strengen Blick zu. »Ich hab’ dir doch gesagt, dass<br />

du mit den Kindern nicht Platt sprechen kannst. Die verstehen<br />

das nicht.«<br />

Der Alte lachte hämisch, antwortete etwas völlig Unverständliches<br />

und warf den Motor des Treckers wieder an. Schnell<br />

sprang Cordula, die die letzten Koffer vom Hänger in die Arme<br />

ihrer Besitzer gereicht hatte, vom Wagen und hätte fast Lars-<br />

Olaf umgeworfen, der gerade lautstark protestierte: »Das war<br />

kein Plattdeutsch. Ich habe Plattdeutsch schon oft oben bei<br />

uns in Schleswig-Holstein gehört und manchmal sogar ein<br />

bisschen verstanden. Bei dem, was dieser Opa Willem gebrabbelt<br />

hat, ergab nichts einen Sinn!«<br />

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