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Inge Becher | Lautlose Stufen

Deutschland, 1939. Hella Arnold ist 10 Jahre alt, als sie eine rätselhafte Krankheit bekommt. Immer wieder muss sie für lange Zeit ins Krankenhaus, sie fehlt in der Schule und kann auch nicht, wie ihre Freundinnen, den Jungmädeln beitreten. Hella wird zur Außenseiterin, immer stärker wird ihre Lebenswelt eingeschränkt. Dabei möchte sie doch nur eines: dazugehören wie alle anderen. Mit 14 erfährt Hella von speziellen Kliniken, in denen schwerkranken Kindern wie ihr geholfen werden kann. Sie bittet den Chef­arzt des Krankenhauses um eine Überweisung dorthin. Als ihr Hausarzt und ihre Eltern davon hören, sind sie entsetzt: Denn aus diesen Kinderfachkliniken kam noch kein Kind lebendig zurück …

Deutschland, 1939. Hella Arnold ist 10 Jahre alt, als sie eine rätselhafte Krankheit bekommt. Immer wieder muss sie für lange Zeit ins Krankenhaus, sie fehlt in der Schule und kann auch nicht, wie ihre Freundinnen, den Jungmädeln beitreten. Hella wird zur Außenseiterin, immer stärker wird ihre Lebenswelt eingeschränkt. Dabei möchte sie doch nur eines: dazugehören wie alle anderen.
Mit 14 erfährt Hella von speziellen Kliniken, in denen schwerkranken Kindern wie ihr geholfen werden kann. Sie bittet den Chef­arzt des Krankenhauses um eine Überweisung dorthin. Als ihr Hausarzt und ihre Eltern davon hören, sind sie entsetzt: Denn aus diesen Kinderfachkliniken kam noch kein Kind lebendig zurück …

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Laut<br />

lose<br />

<strong>Stufen</strong><br />

INGE<br />

BECHER


Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation<br />

in der Deutschen Nationalbibliografie;<br />

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<br />

http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

ISBN 978-3-940078-39-1<br />

auch als eBook erhältlich<br />

© 2016 Verlag Monika Fuchs | Hildesheim | www.verlag-monikafuchs.de<br />

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign | Wien | traumstoff.at.vu<br />

Covermotive: © littleny und Meganeura – shutterstock.com<br />

Layout und Satz: Die Bücherfüxin | Hildesheim | www.buecherfuexin.de<br />

Alle Teile dieses Buches sind urheberrechtlich geschützt. Vervielfätigungen,<br />

Abdrucke, Bearbeitungen, Verfilmungen etc. sind nur mit Erlaubnis der<br />

Rechteinhaber gestattet. Anfragen richten Sie bitte an den Verlag.<br />

Printed in EU 2016


Inhalt<br />

7 Kapitel1<br />

13 Kapitel2<br />

17 kapitel3<br />

20 Kapitel4<br />

25 Kapitel5<br />

28 Kapitel6<br />

35 kapitel7<br />

42 Kapitel8<br />

47 Kapitel9<br />

52 Kapitel10<br />

56 Kapitel11<br />

62 Kapitel12<br />

66 Kapitel13<br />

69 Kapitel14<br />

73 Kapitel15


80 Kapitel16<br />

88 Kapitel17<br />

92 Kapitel18<br />

96 Kapitel19<br />

104 Schluss<br />

107 Zum Buch


Kapitel1<br />

1939, ein halbes Jahr vor Ausbruch des Zweiten<br />

Weltkriegs: Adolf Hitler war bereits über<br />

sechs Jahre an der Macht. Er war ein Rassist<br />

und wollte die jüdische Bevölkerung vernichten.<br />

Per Gesetz war es den Juden verboten, Geschäfte<br />

zu betreiben oder einen Beruf auszuüben.<br />

Viele verkauften ihr Hab und Gut und<br />

versuchten, ins Ausland zu fliehen.<br />

Auf dem Land waren die Auswirkungen der<br />

natio nal sozia listischen Schreckensherrschaft<br />

nicht so drastisch wie in der Stadt, doch auch<br />

hier wurde der Druck auf Menschen, die nicht<br />

für Adolf Hitler waren, immer deutlicher.<br />

Seit Hitler an der Macht war, versuchte er,<br />

mit der Partei der Nationalsozialisten junge<br />

Menschen für seine Ideologie zu gewinnen.<br />

In die Kinderorganisationen »Jungmädel« und<br />

»Jungvolk« wurden die Kinder im Alter von 10<br />

bis 14 Jahren mit einem inter essanten Programm<br />

gelockt. Das Angebot war zunächst freiwillig.<br />

Später wurde die Teilnahme an den Veranstaltungen<br />

Pflicht. Wer nicht teilnahm, war gegen<br />

Hitler, und das konnte schlimme Folgen haben.<br />

Bei den regelmäßigen Treffen der Jugendorganisationen<br />

wurden die Kinder, oft ohne<br />

dass sie es merkten, mit den menschenverach­<br />

7


tenden Zielen der Nationalsozialisten vertraut<br />

gemacht.<br />

Die Nazis wollten Krieg und hassten Juden, Ausländer,<br />

Kranke und alle, die nicht für Adolf<br />

Hitler waren.<br />

Hella schlägt die Augen auf. Es ist noch sehr früh an<br />

diesem Sonntag. Doch heute will sie nicht länger im<br />

Bett bleiben. Sie hat Geburtstag.<br />

Das Mädchen steht leise auf und öffnet die Tür seines<br />

Zimmers. Alles still. Mit seinen Eltern, Herrn und Frau<br />

Arnold, und seinen Brüdern Hans und Karl wohnt es in<br />

einem alten Haus mit einer Treppe von sechzehn <strong>Stufen</strong>.<br />

Die meisten <strong>Stufen</strong> knarren, wenn man sie betritt, aber<br />

fünf <strong>Stufen</strong> sind lautlos. Hella kennt sie genau. Von unten<br />

sind es die zweite, fünfte, achte, zwölfte und fünfzehnte<br />

Stufe. Über diese <strong>Stufen</strong> schleicht sie sich vorsichtig und<br />

leise ins Erdgeschoss.<br />

In der Küche steht schon der Geburtstagskuchen mit<br />

zehn Kerzen darauf. Im Wohnzimmer hat die Mutter eine<br />

Girlande aufgehängt, und auf dem Wohnzimmertisch<br />

liegen Päckchen. Nicht viele. Hella befühlt eines. Es ist<br />

weich. Vielleicht ihre Jungmädeluniform. Nach Ostern,<br />

im neuen Schuljahr, soll sie an Hitlers Geburtstag mit<br />

den anderen Mädchen aus ihrer vierten Klasse bei den<br />

Jungmädeln aufgenommen werden. Die treffen sich am<br />

Nachmittag zum Basteln, Singen und Spielen. Die älteren<br />

Mädchen haben davon erzählt, sie haben schicke weiße<br />

8


Blusen, die sie auch unter der Woche anziehen dürfen.<br />

Hella freut sich auf den Jungmädeldienst. Sie nimmt sich<br />

einen von den Keksen, die die Mutter für den Besuch am<br />

Nachmittag gebacken hat. Zu ihrem Geburtstag kommen<br />

Tante Frieda und Onkel Peter aus Kapsberg herüber.<br />

Auf den lautlosen <strong>Stufen</strong> schleicht sie nach oben.<br />

»Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen …»<br />

Hella ist noch einmal eingeschlafen, doch als unten gesungen<br />

wird, ist sie hellwach. Die Eltern und die Brüder<br />

singen ihr ein Ständchen. Hella läuft die Treppe hinunter.<br />

»Zehn, endlich zehn!«, jubelt sie und will gleich die<br />

Päckchen im Wohnzimmer auspacken.<br />

»Erst wird gefrühstückt.«<br />

Darauf besteht Hellas Mutter. Wenn jemand in der<br />

Familie Geburtstag hat, dann gibt es am Morgen schon<br />

Kuchen.<br />

Dann darf sie endlich die Geschenke auspacken. Sie<br />

greift nach dem weichen Päckchen, in dem sie ihre Uniform<br />

für die Jungmädel vermutet. Eigentlich war sie nur<br />

deshalb nach unten geschlichen, um zu sehen, ob es dabei<br />

ist. Sie reißt das dünne Papier ab. Aber es ist keine<br />

Uniform, es ist ein warmer Pullover. Hella ist enttäuscht.<br />

»Es ist ja noch kalt im März«, sagt Hellas Vater, der ihr<br />

die Enttäuschung ansieht.<br />

Hans schenkt ihr sein altes Taschenmesser. Er ist schon<br />

17, bald 18; er will das Abitur machen und geht in Osnabrück<br />

aufs Gymnasium. Weil er bei der Hitler-Jugend ist,<br />

hat er jetzt ein langes Fahrtenmesser. Unpraktisch zum<br />

Brotschneiden am Lagerfeuer, aber sehr beeindruckend.<br />

Jetzt darf Hella sein altes Messer haben. Von Karl be-<br />

9


kommt sie eine Flöte, die er selbst aus einem Stück Holz<br />

geschnitzt hat. Karl ist noch Pimpf, aber nächstes Jahr<br />

wird er 14, dann darf er wie Hans zur »Hitler-Jugend«. Er<br />

liebt Musik, im Spielmannszug des Jungvolks spielt er<br />

Trompete.<br />

»Schau mal, was in diesem Päckchen ist.« Hellas Vater<br />

deutet auf eine rosa verpackte Schachtel. Hella macht<br />

sie auf. Eine Halskette mit rötlich schimmernden Perlen.<br />

»Oh, danke, Papa.«<br />

Der Vater weiß genau, was Hella sich wünscht.<br />

Am Nachmittag kommen Tante Frieda und Onkel Peter.<br />

Tante Frieda bringt Hella jedes Jahr ein selbstgenähtes<br />

Kleid mit. Hella darf sich schon Wochen vorher den Stoff<br />

aussuchen, denn Tante Frieda hat in Kapsberg ein Stoffgeschäft.<br />

Bis unter die Decke türmen sich die Stoffballen.<br />

In allen Farben und Sorten. Hella kann sich oft nicht entscheiden,<br />

aus welchem Stoff ihr neues Kleid sein soll. Sie<br />

macht die Augen zu und stippt mit dem Finger auf einen<br />

Ballen. Wenn er weder grau noch braun ist, dann sagt sie:<br />

»Der ist es, aus diesem Stoff möchte ich ein Kleid haben.«<br />

Tante Frieda lacht dann und sagt: »Eine gute Wahl, junge<br />

Dame. Eine sehr gute Wahl.«<br />

Hella packt ihr neues Kleid aus. In diesem Jahr ist es<br />

aus gelbem Stoff mit Puffärmeln und vielen kleinen<br />

Kräuseln. Es ist weit geschnitten und fliegt, wenn Hella<br />

sich vor dem Spiegel dreht.<br />

»Das wird eine Weile passen«, sagt Hellas Mutter.<br />

»Ja, man kann den Saum rauslassen, dann kann sie es<br />

lange tragen«, sagt Tante Frieda und betrachtet zufrieden<br />

ihr Werk, das Hella ausgezeichnet steht.<br />

10


Es sind besondere Kleider, die Kleider von Tante Frieda.<br />

Niemand in der Schule hat solche schicken Kleider, nicht<br />

mal Bertha, die Tochter von Dr. Spöhr.<br />

Später gibt es Kartoffelsalat und Würstchen für alle, wie<br />

immer, wenn die Kapsberger zu Besuch sind. Wenn Hellas<br />

Vater in den Keller geht und Bier holt, dann heißt es<br />

für Hella: ins Bett. Auch wenn sie noch gar nicht müde<br />

ist. Karl und Hans dürfen noch aufbleiben, und einmal<br />

hat Hella gesehen, wie Karl einen Schluck Bier aus Vaters<br />

Glas getrunken hat. Nicht heimlich, der Vater hat zugesehen.<br />

Aber an diesem Abend sind die Brüder nicht da.<br />

Hans hat »Dienst« bei der HJ, und Karl übt mit dem Spielmannszug.<br />

Die Eltern sitzen mit Onkel Peter und Tante<br />

Frieda im Wohnzimmer und unterhalten sich. Hella ist<br />

noch nicht müde. Wie am Morgen hangelt sie sich über<br />

die lautlosen <strong>Stufen</strong> der Treppe hinunter. Barfuß steht sie<br />

auf den kalten Fliesen im Flur. Die Wohnzimmertür steht<br />

einen Spalt breit offen.<br />

»Der Stoffhändler Goldmann verkauft seine Stoffe zu<br />

Billigpreisen. Er muss sein Geschäft schließen«, sagt Tante<br />

Frieda.<br />

»Der größte Stoffhändler in Osnabrück. Es ist eine<br />

Schande«, sagt Hellas Mutter.<br />

»Im letzten Jahr haben sie bei allen jüdischen Geschäften<br />

die Scheiben eingeworfen. Auch bei Goldmann.<br />

Dann haben sie ein Schild vor seinem Laden aufgestellt.<br />

›Deutsche, kauft nicht bei Juden‹«, hört Hella Onkel Peter<br />

sagen. »Und wer trotzdem bei ihnen kauft, der wird aufgeschrieben<br />

und kommt auf eine Liste, die im Kasten am<br />

Braunen Haus ausgehängt wird.«<br />

11


»Wir haben davon gehört. Auch dass die Synagoge gebrannt<br />

hat und niemand löschen wollte. Lehrer Saller hat<br />

es in der Wirtschaft erzählt. Er war noch stolz darauf, dass<br />

man die Juden verprügelt hat, die versucht haben, den<br />

Brand zu löschen. Du hast doch hoffentlich nichts von<br />

Goldmanns Stoffen gekauft?«, will Hellas Vater wissen.<br />

»Nein!« Tante Frieda nimmt einen Schluck aus ihrem<br />

Glas, um sich für den nächsten Satz Mut anzutrinken.<br />

»Doch, Goldmann hat sie mir gebracht. Aber ich habe<br />

ihm den regulären Preis bezahlt. Er will nach Amerika<br />

auswandern, da braucht er Geld. Und anders wird er seine<br />

Stoffe nicht los.«<br />

»Die jüdischen Geschäftsleute sind wirklich in Not.<br />

Scharenweise müssen sie alles verkaufen, was sie besitzen,<br />

und wandern nach Amerika aus«, bemerkt Onkel<br />

Peter.<br />

»Das ist ja unglaublich. Das habe ich noch gar nicht<br />

mitbekommen. In Waldheim gibt es ja keine Juden. Und<br />

wir sind alle evangelisch. Da kann uns nichts passieren.«<br />

Hellas Mutter reicht einen Teller mit Gebäck herum.<br />

»Bist du da so sicher? Wer weiß, was den Nazis noch<br />

alles so einfällt. Heute die Juden, morgen die Brillenträger.«<br />

Hella hört, wie Onkel Peter krachend in einen Keks<br />

beißt.<br />

Auf den Fliesen bekommt Hella kalte Füße. Auf Zehenspitzen<br />

zieht sie sich am Geländer von der zweiten auf die<br />

fünfte, über die achte und zwölfte und schließlich über<br />

die fünfzehnte Stufe nach oben.<br />

12


Kapitel2<br />

Alle Lehrer mussten Mitglied in der Nationalsozialistischen<br />

Deutschen Arbeiter Partei (abgekürzt<br />

NSDAP) sein, sonst wurden sie gar nicht<br />

erst eingestellt. Sie trugen die üblen Ideen<br />

der Nazis in den Unterricht. Die Nazis hassten<br />

nicht nur die Juden, sondern auch Christen,<br />

die regelmäßig zur Kirche gingen. Kinder, die<br />

mit ihren Eltern trotzdem den Gottesdienst besuchten,<br />

wurden vor den anderen Schülerinnen<br />

und Schülern bloßgestellt.<br />

Am nächsten Tag zieht Hella ihr neues Kleid an. Das<br />

Gelb leuchtet wie die Sonne, die draußen scheint.<br />

Hella hat ihr eigenes Zimmer, Karl und Hans müssen<br />

sich eins teilen. Hellas Raum hat zwar eine Dachschräge,<br />

aber es ist Platz genug für ein Bett, einen Kleiderschrank,<br />

einen Tisch und einen Stuhl. Das Tischchen hat ihr Vater<br />

gezimmert und weiß angestrichen. Hellas Vater ist<br />

Tischler, aber er arbeitet nicht in seinem Beruf. Er arbeitet<br />

auf dem Werk, schippt Kohlen für den Hochofen, da verdient<br />

er mehr als in einer Tischlerei. Aber hin und wieder<br />

schreinert er noch einzelne Möbelstücke.<br />

Hella macht das Fenster auf und blickt auf die Straße.<br />

In der Ferne sieht sie Anneliese Schott und Gerda Hart-<br />

13


mann. Die drei sind Freundinnen. Alle wohnen in der<br />

Schlossstraße.<br />

Hella stürzt die Treppe hinunter, völlig egal, welche<br />

Stufe sie erwischt. Unpünktlich in der Schule zu sein, wird<br />

streng mit Extraaufgaben bestraft. Hella hat keine Lust,<br />

am Nachmittag mit Lehrer Saller Kleider für die Altkleidersammlung<br />

zu sortieren. Im Flur greift sie sich ihren<br />

Tornister.<br />

»Dein Schulbrot«, ruft die Mutter ihr hinterher, aber<br />

Hella ist schon aus der Tür.<br />

Hella rennt an den Vorgärten entlang bis zum Treffpunkt,<br />

die Daumen unter den Schulterriemen ihres Tornisters<br />

geklemmt. Anneliese und Gerda warten schon.<br />

»Hallo«, wird sie begrüßt.<br />

»Wie war dein Geburtstag?«, fragt Anneliese.<br />

»Schön, seht nur, mein neues Kleid. Das hat meine Tante<br />

Frieda mir genäht.«<br />

Gerda nickt anerkennend, Anneliese schaut skeptisch.<br />

»Gelb, gelb, das tragen doch nur die Juden.«<br />

Sie greift in die Falten des Kleides. Anneliese weiß Bescheid.<br />

Ihr Vater arbeitet auf dem Gemeindebüro, er ist<br />

der Gemeindevorsteher. Hella hat ihn dort einmal gesehen,<br />

als sie den Schlüssel für die Turnhalle abholen<br />

musste. Er saß an einem großen Schreibtisch, vor ihm ein<br />

Schild, auf dem stand »Herr Schott«. In der Hand hielt er<br />

einen Hörer, in den sagte er von Zeit zu Zeit: »Jawohl, Herr<br />

Kreisleiter, jawohl, wird gemacht.« Hellas Vater sagt, dass<br />

Herr Schott alles über die Menschen in Waldheim weiß.<br />

Mehr als der Pastor.<br />

»Na und? Meine Mutter sagt, hier gibt es keine Juden«,<br />

entgegnet Hella und streicht ihr Kleid wieder glatt, so wie<br />

14


sie es bei ihrer Mutter gesehen hat, wenn sie ihr Sonntagskleid<br />

trägt.<br />

»Die wohnen alle in Osnabrück.« Gerda weiß, wann<br />

eine Freundin ihre Unterstützung braucht.<br />

»Wer zuerst am Schultor ist!«, ruft sie und rennt los.<br />

In der Schule sitzt Hella neben Gerda. Während der Rechenstunde<br />

helfen sie sich gegenseitig. Lehrer Saller<br />

schreibt eine Aufgabe an die Tafel, und die Klasse hat<br />

zehn Minuten Zeit, um sie zu lösen. Währenddessen<br />

steht Lehrer Saller mit einem Blatt am Fenster und liest<br />

es halblaut vor. Er übt seine Rede, die er im Braunen Haus<br />

vor Parteigenossen halten will. In den oberen Klassen<br />

hält er schon mal eine Rede zur Probe in voller Lautstärke.<br />

Die Schüler müssen ihm dann sagen, wie er war.<br />

»Bravo, bravo!«, rufen sie dann immer, weil ihm das am<br />

meisten gefällt.<br />

Aber heute hat Lehrer Saller hinten Augen im Kopf. Er<br />

bemerkt, wie Gerda Hella ihr Heft rüberschiebt, damit sie<br />

abschreiben kann.<br />

»Arnold, Hartmann, auseinander«, donnert er. Hella<br />

beugt sich über die Rechenaufgabe:<br />

Ein Krüppel kostet den Staat 5,50 Reichsmark<br />

pro Tag, ein Lehrer bekommt 4 Reichsmark<br />

pro Tag. Rechne aus, wie viele Lehrer<br />

der Staat einstellen könnte, wenn es<br />

keine Krüppel gäbe.<br />

Hella kritzelt irgendwelche Zahlen aufs Papier und hofft,<br />

dass sie nicht an der Tafel vorrechnen muss. Rechnen<br />

15


mag sie überhaupt nicht. Lehrer Saller hat heute Gerda<br />

auf dem Kieker.<br />

»Hartmann, an die Tafel.«<br />

Gerda geht nach vorn und nimmt die Kreide. Dann setzt<br />

sie an und fährt mit einem entsetzlichen Quietschen die<br />

Tafel entlang. Alle halten sich die Ohren zu.<br />

»Hartmann, setz dich. Arnold. Nach vorn.«<br />

Jetzt hat Hella weiche Knie. Lehrer Saller mustert sie.<br />

Er weiß bestimmt, was Judengelb ist, denkt Hella. Sie<br />

macht sich an die Aufgabe. Beim ersten Fehler lacht Lehrer<br />

Saller.<br />

»Arnold, du weiß nicht, wie man das rechnet? Das<br />

musst du doch wissen, du bist doch katholisch. Los, noch<br />

einmal von vorn.«<br />

Hella ist evangelisch, aber sie traut sich nicht, Lehrer<br />

Saller zu berichtigen.<br />

16


kapitel3<br />

Auf dem Land gab es nur wenige Busverbindungen.<br />

Entweder man ging zu Fuß, fuhr mit<br />

dem Fahrrad oder ließ sich im Auto mitnehmen.<br />

Überall in Deutschland wurden Jugendheime<br />

gebaut, in denen sich die 10- bis 14-jährigen<br />

»Jungmädel« und die »Jungvolkjungen«, auch<br />

»Pimpfe« genannt, und die 14- bis 18-Jährigen<br />

im »Bund deutscher Mädel« (abgekürzt BdM)<br />

und die »Hitlerjugend« (abgekürzt HJ) treffen<br />

konnten.<br />

In fast jedem Ort gab es auch ein Braunes<br />

Haus. Dort trafen sich die erwachsenen Parteimitglieder<br />

der NSDAP.<br />

Nicht lange nach Hellas Geburtstag wollen die Eltern<br />

bei Tante Frieda und Onkel Peter einen Gegenbesuch<br />

machen. Nach dem Gottesdienst machen sie<br />

sich auf den Weg. Sie müssen zwei Stunden hin und am<br />

Abend zwei Stunden wieder zurück. Zu Fuß. Die Brüder<br />

wollen nicht mit, sondern lieber im HJ-Heim Modellflugzeuge<br />

bauen. Der Vater stimmt brummend zu.<br />

»Benehmt euch«, sagt er zum Abschied, dann biegt Hella<br />

mit ihren Eltern auf den Weg nach Kapsberg ab, und<br />

Karl und Hans laufen die Straße hinauf zum HJ-Heim.<br />

17


An diesem Tag ist es ungewöhnlich warm. Hella und<br />

ihre Eltern haben die Jacken in den Rucksack gestopft.<br />

Es sieht nicht so aus, als ob sie sie heute noch brauchen,<br />

aber sicher ist sicher. Hellas Mutter rechnet immer damit,<br />

dass es anfängt zu regnen.<br />

»Frau Hartmann sieht schlecht aus, findest du nicht?«<br />

Die Eltern unterhalten sich.<br />

»Ist ja auch kein Wunder, es war eine schwierige Geburt.«<br />

»Dr. Vollmut sagt, das Kind ist schwer krank.«<br />

»Ja, es hat Krämpfe. Vielleicht wird es besser im Laufe<br />

der Zeit.«<br />

»Vielleicht bleibt das Kind so. Das wäre schlimm.«<br />

»Ja, sehr schlimm.«<br />

Gerda hat neulich eine kleine Schwester bekommen.<br />

Das ist nichts Ungewöhnliches. Gerda bekommt jedes<br />

Jahr eine neue Schwester oder einen neuen Bruder. Sie<br />

verliert nicht viele Worte darüber. Über das neue Baby<br />

sagte sie nur: »Es schreit den ganzen Tag und will dauernd<br />

getragen werden und zwar nur von der Mama. Für<br />

mich hat sie gar keine Zeit mehr.« Gerdas Mutter hatte<br />

auch vor dem kranken Baby keine Zeit für Gerda, weshalb<br />

Gerda oft bei Arnolds zum Mittagessen und Hausaufgaben-Machen<br />

war.<br />

Hella interessiert sich nicht für das neue Baby von Hartmanns,<br />

sie läuft ein Stück den Waldweg vor, setzt sich auf<br />

einen Baumstamm. Wenn die Eltern heran sind, läuft sie<br />

wieder vor. Sie kann sehr schnell rennen, und bald sieht<br />

sie die Eltern nicht mehr. Neben dem Waldweg sprudelt<br />

ein kleiner Bach. Hella läuft die Böschung hinunter,<br />

Zweige knacken, altes Laub rutscht unter ihren Füßen<br />

18


ins Wasser. Zwischen den Bäumen fällt Sonnenlicht auf<br />

das Nass, es glitzert. Hella zieht ihre Schuhe aus und hält<br />

einen Zeh ins Wasser. Es ist kalt. Dann steht sie mit beiden<br />

Beinen bis zum Knie im Bach. Mit den nassen Händen<br />

benetzt sie ihre Arme und das Gesicht. Die Kühle tut<br />

gut. Mit den Händen formt sie eine Schale und schöpft<br />

Wasser. Das meiste rinnt durch ihre Finger, aber ein Rest<br />

zum Trinken bleibt. Gierig nimmt sie einen Schluck. Seit<br />

dem Morgen hat sie nichts mehr getrunken. Sie schöpft<br />

erneut, immer wieder. Bis sie sich erfrischt fühlt. Als sie<br />

die Böschung zum Waldweg hinaufsteigt, sind die Eltern<br />

schon ein gutes Stück vor ihr.<br />

19


Kapitel4<br />

Bevor Hitler an die Macht kam, gab es von 1914<br />

bis 1918 schon einmal einen großen Krieg, den<br />

Deutschland verloren hatte. Wer dabei war,<br />

hoffte, dass er nicht noch einmal in den Krieg<br />

zie hen musste. In diesem Krieg gab es 17 Millionen<br />

Tote. Die Überlebenden hatten Schreckliches<br />

gesehen.<br />

Tante Frieda und Onkel Peter erwarten sie schon. Sie<br />

haben den Küchentisch in die gute Stube geschoben<br />

und die Stühle drum herum gestellt. Hella darf auf<br />

dem Sofa sitzen mit fünf Kissen unter ihrem Hintern. Tante<br />

Frieda tischt auf: Kartoffeln, Rollbraten mit viel Sauce<br />

und Kohlrabigemüse mit zerlassener Butter. Die Erwachsenen<br />

bekommen ein Glas Wein eingeschenkt, Hella<br />

frisches Wasser. Sie hält das Glas genau wie ihre Mutter<br />

am Stiel, den kleinen Finger ein wenig abgespreizt. Die<br />

Erwachsenen prosten sich zu und Onkel Peter sagt: »Hoffentlich<br />

gibt es keinen Krieg. Prost.«<br />

Onkel Peter weiß, was Krieg ist. Er war schon einmal<br />

Soldat, das ist schon über zwanzig Jahre her, aber seitdem<br />

kann er nicht mehr im Dunkeln schlafen. Tante<br />

Frieda hat erzählt, dass sie jede Nacht das Licht brennen<br />

lassen muss. Er hat Angst. Hella kennt das, sie hat es auch<br />

20


Zum Buch<br />

Hellas Geschichte hätte in jeder Kleinstadt spielen<br />

können. Ich habe sie zusammengesetzt aus den Berichten<br />

von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die mir<br />

Erfahrungen aus ihrer Kindheit und Jugend geschildert<br />

haben. Allen sei herzlich gedankt, vor allem Hildegard<br />

Spreckelmeyer, deren Erlebnisse die Grundidee zu diesem<br />

Buch lieferten. Sie hat erst nach dem Krieg von ihren<br />

Eltern erfahren, dass sie wegen der hohen Krankenhauskosten,<br />

die sie verursacht hat, auf einer »Liste des unwerten<br />

Lebens« stand und in eine Kinderfachklinik überwiesen<br />

werden sollte. Ihr Hausarzt hat das verhindert.<br />

Die Figur der Hella Arnold habe ich erfunden, wie auch<br />

das Leben aller anderen im Buch vorkommenden Personen.<br />

Jedoch beruht ihr Handeln auf den Berichten der<br />

Menschen, die damals das Dritte Reich miterlebt haben.<br />

So hat es während der Nazizeit mutige Menschen, die<br />

kranke Kinder vor den berüchtigten Kinderfachkliniken<br />

bewahrt haben, ebenso gegeben wie Lehrer, die Schülerinnen<br />

und Schüler in der Schule schikanierten, weil sie<br />

mit ihren Eltern in die Kirche gingen.<br />

Eine Margarete hat es wirklich gegeben. Sie ist eines<br />

der unzähligen behinderten Kinder, die während der Nazizeit<br />

ermordet wurden. Sie starb in der Kinderfachklinik<br />

107


in Lüneburg im Alter von nur dreieinhalb Jahren, angeblich<br />

an einer Lungenentzündung. Tatsächlich sprechen<br />

die Angaben in ihrer Krankenakte dafür, dass sie ermordet<br />

wurde.<br />

Abschließend möchte ich Dank den Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeitern des Anne Frank Zentrums aussprechen,<br />

die mit dem in Georgsmarienhütte durchgeführten Projekt<br />

»70 Jahre danach – Generationen im Dialog« einen<br />

wichtigen Impuls gaben, die vielen kleinen Episoden aus<br />

den Zeitzeugengesprächen nicht in Vergessenheit geraten<br />

zu lassen und ein Jugendbuch daraus zu machen. Der<br />

Stadt Georgsmarienhütte als Trägerin dieses Projektes<br />

gilt meine ganze Anerkennung.<br />

Georgsmarienhütte, im März 2016<br />

<strong>Inge</strong> <strong>Becher</strong><br />

108

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