Berliner Zeitung 14.01.2020
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 11 · D ienstag, 14. Januar 2020 – S eite 19<br />
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Feuilleton<br />
„Das Beste gestrichen“:<br />
der Kabarettist<br />
Sebastian Krämer<br />
Seite 21<br />
„Es gibt nicht nur Elena Ferrante.“<br />
Jörg Aufenanger über Anna Maria Orteses Roman „Neapel liegt nicht am Meer“. Seite 20<br />
Berühmtheiten<br />
Du tust es<br />
für dich<br />
Harry Nutt<br />
hat schon wieder Dschungelcamp<br />
geschaut.<br />
Insta Famous“ stand auf dem<br />
Sweatshirt, in dem mir am Morgen<br />
eine junge,vielleicht 16-jährige Frau<br />
auf dem Wegzur S-Bahn begegnete.<br />
Sie trug ihre Jacke trotz der kühlen<br />
Witterung offen, nur deshalb war der<br />
zweifarbige Schriftzug lesbar,den sie<br />
in einer Mischung aus Lässigkeit und<br />
demonstrativem Stolz zum Entziffern<br />
anbot. Da ich nicht annahm –<br />
warum eigentlich? –, dass sie eine<br />
Berühmtheit ist, ging ich davon aus,<br />
dass ihre Botschaft ganz allgemein<br />
vonder Existenz des Instagram-Universums<br />
künden sollte.<br />
Tatsächlich haben die digitalen<br />
Plattformen neue Varianten der<br />
Selbstdarstellung und -wahrnehmung<br />
hervorgebracht, die gerade<br />
auch im Dschungelcamp, der RTL-<br />
Sendung„Ich bin ein Star –holt mich<br />
hier raus“, zu beobachten sind. War<br />
man bislang geneigt, die Sendung<br />
mit kulturkritischer Verve als<br />
Schwundstufe der Fernsehunterhaltung<br />
zu betrachten, in der die Teilnehmer<br />
frei flottierend als gesellschaftliche<br />
Verlierer unterwegs sind,<br />
so zeigen Danni, Elena, Anastasya,<br />
Toni und Co., dass es für sie längst<br />
um komplexe Strategien multimedialer<br />
Anschlussfähigkeit geht.<br />
Die Aussicht auf Fernsehpräsenz<br />
und die Honorarzahlungen des Senders<br />
sind nicht das Ziel ihresWirkens<br />
in den Außenbezirken des Showgeschäfts,<br />
sondern der Ausgangspunkt<br />
ihrer weiteren Aktivitäten in der medialen<br />
Verwertungskette. Sehr viel<br />
besser als die Männer, die wie der<br />
ehemalige Boxweltmeister Sven<br />
Ottke nur teddybärhaft sympathisch<br />
sein wollen, kooperieren und konkurrieren<br />
nicht wenige der Frauen<br />
am Rande des Nervenzusammenbruchs,<br />
umPunkte fürs Ranking –<br />
welcher Kategorie auch immer –zu<br />
sammeln. Nichts ist peinlich,<br />
Schmerzen vergehen, die Wahrnehmung<br />
der Chance des Augenblicks<br />
zählt. Das Dschungelcamp ist kein<br />
Überbleibsel einer abklingenden<br />
Trashkultur,sondernein Tutorial für<br />
den Aufbau neuer Aufmerksamkeitshierarchien.<br />
Heilendes Feuer<br />
Eine <strong>Berliner</strong> Ausstellung mit Aborigine-Kunst gewinnt durch die Buschbrände an Aktualität<br />
VonSusanne Lenz<br />
Es gibt auch gutes Feuer in<br />
Australien. Cool Burns<br />
nennen sie es. Das kühle<br />
Feuer glimmt im Unterholz,<br />
jahrtausendelang haben die<br />
Aborigines es absichtlich gelegt, um<br />
die Natur zu Erneuerung anzuregen,<br />
um größeren Feuern den Zündstoff<br />
zu nehmen. DasFeuer war ein Werkzeug,<br />
wie die Hacke oder der Spaten.<br />
Es verhalf dem Land zu Leben, statt<br />
es zu vernichten, es heilte statt zu<br />
zerstören. Mit Flusssand, Rindentinte,<br />
Acrylfarben hat die indigene<br />
australische Künstlerin Treahna<br />
Hamm Frauen vomStamm der Yorta<br />
Yorta gemalt, die nach einem solchen<br />
Feuer Buschnahrung und<br />
Buschmedizin sammeln. Aufrecht<br />
stehen sie am Ufer des Dhungalaflusses,den<br />
die Hände der Ahnen zu<br />
halten scheinen.<br />
Innige Beziehung<br />
Gemälde mit medizinischen Buschpflanzen von Rosie Ngwarraye Ross UNIVERSITY OF MELBOURNE<br />
DasBild ist Teil der Ausstellung „The<br />
Art of Healing – Australische indigene<br />
Buschmedizin“, die derzeit im<br />
Medizinhistorischen Museum der<br />
Charité zu sehen ist, eine Übernahme<br />
vonder Universität vonMelbourne.<br />
Durch die Buschfeuer in<br />
Australien hat sie unerwartete Aktualität<br />
gewonnen. Sie zeigt, was in<br />
Australien außer Menschen, unzähligen<br />
Tieren und auch Behausungen<br />
gerade noch verbrennt: Es ist die<br />
Kulturlandschaft der Aborigines, die<br />
sich als Teil dieser Landschaft und<br />
des Landes verstehen, nicht als seine<br />
Herren. Es ist eine Kultur, die nur<br />
noch in Rudimenten besteht. Bruce<br />
Chatwin hat die auf tragische Weise<br />
Entwurzelten in seinem Buch<br />
„Traumpfade“ beschrieben.<br />
Die Bilder der Ausstellung sind<br />
Kunstwerke und dienen zugleich der<br />
Bewahrung und Tradierung vonWissen.<br />
Vorallem repräsentieren sie die<br />
tiefe Kenntnis der Pflanzenwelt dieser<br />
First Nations People,wie sich die<br />
Aborigines selbst immer häufiger<br />
bezeichnen, ihre innige Beziehung<br />
zur Natur. Diese Beziehung umfasse<br />
Vorstellungen der Vereinigung von<br />
Mensch und Land, die schwer nachzuvollziehen<br />
seien, schreibt die australische<br />
Wissenschaftlerin Marcia<br />
Langton im Ausstellungskatalog.<br />
Aber die tiefe Kluft zwischen der<br />
westlichen und der indigenen Perspektive<br />
spürt man in der Ausstellung<br />
selbst.<br />
Die farbenfrohen Bilder aus Australien<br />
hängen mitten im Präparatesaal.<br />
Diekranken Organe,die hier zu<br />
sehen sind, offenbaren einen westlich-wissenschaftlichen<br />
Blick auf<br />
den Organismus,während die Bilder<br />
von Gräsern und Früchten auf eine<br />
Heilerkultur verweisen, die nicht nur<br />
viel älter ist, sondern auch ganz an-<br />
ders. Die Mediziner der Charité teilten<br />
den Menschen auf in seine Einzelteile,<br />
inLeber, Niere, Gehirn und<br />
Knochen, sie drangen in ihn ein. Für<br />
die First Nations People ist alles eins.<br />
Kaum ein Bild macht dies deutlicher<br />
als „Snake Vine Dreaming“ von Judy<br />
Napangardi Watson. DasSchlangenkraut,<br />
gemalt auf auf leuchtend gelbem<br />
Grund, ist ein heiliges und heilendes<br />
Gewächs. Eskommt in Zeremonien<br />
zum Einsatz, dient als Heilmittel<br />
bei Kopfschmerzen, und es ist<br />
die Pflanzeselbst, die einen Anteil an<br />
der Entstehung des Landstrichs hat.<br />
Voreinigen Tagen hat Lorena Allams<br />
im australischen Guardian einen<br />
eindrucksvollen Text über die<br />
Zerstörung der Kulturlandschaft der<br />
First Nations People geschrieben. Sie<br />
ist Redakteurin für die Angelegenheiten<br />
der Ureinwohner bei der <strong>Zeitung</strong><br />
und gehört zum Stamm der<br />
Gaamilaray und Yawaarlay,Stämme,<br />
die im Norden vonNew SouthWales<br />
leben, dort, wo die Buschfeuer am<br />
heftigsten wüten.<br />
Sie schreibt über einen Haufen<br />
vonAusternschalen, Stein- und Knochenwerkzeugen,<br />
Speerspitzen und<br />
Fischgräten. Es ist der größte derartige<br />
Hügel in der Murramang Aboriginal<br />
Aerea, einem auch bei Touristen<br />
beliebten Nationalpark, der zur<br />
Zeit wegen der Feuer nicht betreten<br />
werden darf. Der Hügel ist 12 000<br />
Jahrealt, ein Abfallhaufen, der in seinen<br />
Schichten Geschichte und Geschichten<br />
bewahrt. Er liegt in einer<br />
Senke fast direkt am Meer.Geschützt<br />
vom Wind kann man von hier aus<br />
den Himmel sehen, die Brandung<br />
hören. Ihr Vater habe davon geträumt,<br />
dort eines Nngwaachts zu<br />
sitzen, ein Feuer anzuzünden und zu<br />
warten, wer aus den Schatten treten<br />
würde, umihm Gesellschaft zu leisten,<br />
schreibt Lorena Allan. DasFeuer<br />
wirddiesen Haufen zerstörthaben.<br />
Einbesonderer Schmerz<br />
Sie schreibt: „Es ist ein besonderer<br />
Schmerz, für immer etwas zu verlieren,<br />
das einen mit einem Ort inder<br />
Landschaft verbindet. Unsere Vorfahren<br />
haben diesen Schmerz gefühlt,<br />
unsere Ältesten, und wir fühlen<br />
ihn wieder und wieder, während<br />
wir zusehen, wie die Misshandlung<br />
und Vernachlässigung unseres<br />
Landes und unseres Wassers über<br />
Generationen hinweg und die störrische<br />
Dummheit der kohlebesessenen<br />
Leugner des Klimawandels alles<br />
und alle in Asche verwandeln.“<br />
Was man ihren Worten entnehmen<br />
kann: Die Kulturlandschaft der<br />
First Nations People ist Teil ihrer<br />
Identität. Indem sie verbrennt, verbrennt<br />
das,was sie ausmacht.<br />
TheArt of Healing Medizinhistorisches Museum<br />
der Charité,bis 2. Februar<br />
NACHRICHTEN<br />
Unesco-Antrag für jüdisches<br />
Erbe in Rheinland-Pfalz<br />
Dierheinland-pfälzische Ministerpräsidentin<br />
Malu Dreyer (SPD) hat<br />
am Montag denWelterbe-Antrag für<br />
das jüdische mittelalterliche Erbe in<br />
Speyer,Worms und Mainz unterzeichnet.„Das<br />
ist ein wichtiger Meilenstein<br />
auf demWegzur Anerkennung<br />
alsWelterbestätte“, sagte<br />
Dreyer in der Neuen Synagoge von<br />
Mainz.„Und ich hoffe,dass wir dieses<br />
Ziel im Sommer 2021 erreichen werden.“<br />
DerAntrag soll am 23. Januar in<br />
Parisder Unesco übergeben werden.<br />
Diehistorischen Stätten umfassen<br />
die jüdischen Friedhöfe inWorms<br />
und Mainz und die Synagogenbezirke<br />
in Speyer undWorms. (dpa)<br />
Bayerngibt Raubkunst der<br />
Nazis zurück<br />
Bayern hat vonden Nationalsozialisten<br />
geraubte Kunstobjekte an die<br />
Nachfahren Münchner Juden zurückgegeben.<br />
Sechs Silberobjekte –<br />
einen Pokal, ein Gewürzgefäß, drei<br />
Leuchter und einen Kelch –überreichteWissenschaftsminister<br />
Bernd<br />
Sibler (CSU) im Bayerischen Nationalmuseum<br />
am Montag den Nachkommen<br />
vonzweiFamilien. Ab 1939<br />
hatten die Nationalsozialisten Juden<br />
gezwungen, Gold, Silber und Edelsteine<br />
bei kommunalen Leihhäusern<br />
abzugeben. DerGroßteil der Gegenstände<br />
wurde eingeschmolzen,<br />
künstlerisch wertvolle Stücke wurden<br />
Museen angeboten oder gelangten in<br />
den Kunsthandel. (dpa)<br />
Der italienische Tenor<br />
Giorgio Merighi ist tot<br />
Deritalienische Tenor Giorgio Merighi<br />
ist im Alter von80Jahren gestorben.<br />
DerSänger war in führenden<br />
HäusernEuropas aufgetreten,<br />
darunter an der Mailänder Scala und<br />
der Deutschen Oper Berlin. ZumRepertoiredes<br />
Sängers gehörten große<br />
Tenorrollen unter anderem in Opern<br />
vonVerdi und Puccini. DasTheater<br />
Pergolesi in der Stadt Jesi,woMerighi<br />
in den 90er-Jahren künstlerischer<br />
Direktor war und zuletzt lebte,<br />
würdigte besonders seine ehrliche<br />
Zuwendung zum Publikum. (dpa)<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Schnitte<br />
Ein Heim<br />
im Tresor<br />
VonRalf Schenk<br />
ImFrühsommer 1978 inszeniert Roland<br />
Gräf den Spielfilm „P.S.“. Es ist die Geschichte<br />
eines jungen Mannes, der seine<br />
Eltern verloren hat und in einem Heim<br />
aufwächst. Gedreht wird unter anderem<br />
im Gutshaus Mentin bei Parchim, das seit<br />
Kriegsende zur Fürsorge für „familiengelöste<br />
Kinder“ dient.<br />
Als Regieassistenten sind zwei Absolventen<br />
der Babelsberger Filmhochschule mit<br />
am Drehort: Hannes Schönemann und Angelika<br />
Andrees. Volontärin ist die 20-jährige<br />
Petra Tschörtner, die kurz vor ihrem Studium<br />
steht. Sie weiß, dass in der Volontärsabteilung<br />
des Spielfilmstudios ein wenig<br />
Geld für kleine, fünfminütige Übungsfilme<br />
vorhanden ist: gedacht zur Finanzierung<br />
erster Talentproben. So wird die Idee geboren,<br />
nach Drehschluss von „P.S.“ noch einmal<br />
nach Mentin zu fahren, um im Kinderheim<br />
eine dokumentarische Etüde aufzunehmen.<br />
EinExposé wirdverfasst, die Lehrkräfte<br />
sind einverstanden, ohne lange<br />
Diskussion. Sie machen sogar ein unerwartetes<br />
Angebot: Weil keiner der anderen Volontäre<br />
Vorschläge eingereicht hat, gibt es<br />
nun ein Budget für zwanzig Minuten.<br />
Gedreht wird mit einer 16-mm-Kamera.<br />
Der Produktionsleiter von „P.S.“, Manfred<br />
Renger,der den jungen Leuten sehr wohlgesonnen<br />
ist, stellt dazu ein Tonaufnahmegerät,<br />
Lichttechnik und ein Transportauto mit<br />
70<br />
BLZ/GALANTY<br />
Fahrer bereit. Kameramann Thomas Plenert<br />
wird angesprochen und ist begeistert. Weil<br />
sich die letzten beiden Drehtage mit seinem<br />
nächsten Filmprojekt überschneiden, übernimmt<br />
am Ende noch die Kamerafrau Julia<br />
Kunert. Eine enthusiastische Gruppe,mit einem<br />
für Defa-Verhältnisse erstaunlich unabhängigen<br />
Vorhaben.<br />
Der Film erhält den Arbeitstitel „Heim“.<br />
Darin kommen vor allem die Mentiner Zöglinge<br />
zu Wort. Sie erzählen aus ihrem Leben,<br />
vonElternhäusern, in denen Alkohol und Gewalt<br />
dominieren. VonVerhaltensmustern, die<br />
auf die nächste Generation abfärben. Vonder<br />
Sehnsucht nach Geborgenheit, Gemeinschaft,<br />
Liebe. Von Ausbruchsversuchen. Von<br />
Hobbys und Idealen. Zu den Gesprächen und<br />
Beobachtungen ist Rock- und Schlagermusik<br />
zu hören, fast ausschließlich aus demWesten.<br />
Anfang Juli 1978 sind die Dreharbeiten<br />
beendet, gleich anschließend wird der Film<br />
geschnitten. Interessierte Defa-Kollegen blicken<br />
spontan vorbei und finden das alles<br />
frisch und mutig. Im Studio kommt die Idee<br />
auf, „Heim“ auch offiziell ins Kino zu bringen,<br />
als Vorfilm vor„P.S.“. Dasdokumentarische<br />
Zubrot zur fiktiven Story.<br />
Die Grafikabteilung versieht die Schnittkopie<br />
mit Vor- und Abspann, in Schreibmaschinenschrift<br />
auf grobem Zeichenkarton,<br />
dem herben Tonfall des Stoffes angemessen.<br />
Dann schaut sich Defa-Direktor Hans Dieter<br />
Mäde denFilman. Er beruft einen Kreis von<br />
Dramaturgen ein, dazu Angelika Andrees<br />
und Petra Tschörtner. Doch was die beiden<br />
jungen Frauen als formalen Akt angesehen<br />
hatten, wandelt sich zum Autodafé.Ein Dramaturg<br />
erklärt, das Gesehene entspräche<br />
keinesfalls dem, was sozialistische Kunst zu<br />
leisten habe. Befürworter gibt es jetzt plötzlich<br />
keine mehr.<br />
Mäde erteilt den Filmemacherinnen das<br />
letzteWort.Petra Tschörtner hält sich zurück,<br />
sie will ihr Regiestudium nicht gefährden.<br />
Angelika Andrees verteidigt „Heim“ vehement.<br />
Doch das Urteil ist gefallen. „Heim“<br />
verschwindet im Defa-Archiv. Und wird erst<br />
1990 aus dem Tresor befreit.