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ALfA e.V. Magazin – LebensForum | 123 3/2017

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Nr. <strong>123</strong> | 3. Quartal <strong>2017</strong> | ISSN 0945-4586 | Einzelpreis 4,<strong>–</strong> E B 42890<br />

LEBENSFORUM<br />

Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (<strong>ALfA</strong>)<br />

Ausland<br />

Streit um Tötung<br />

auf Verlangen<br />

In memoriam<br />

Erzbischof, Kardinal<br />

und Lebensrechtler<br />

Medizin<br />

Von Risiken und<br />

Nebenwirkungen<br />

CRISPR/Cas9<br />

Lasst die Hände<br />

vom Genom!<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 1<br />

In Kooperation mit Ärzte für das Leben e.V. und Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen e.V. (TCLG)


I N H A LT<br />

LEBENSFORUM <strong>123</strong><br />

EDITORIAL<br />

Wir bleiben dran 3<br />

Alexandra Maria Linder<br />

TITEL<br />

Nach uns die Sintflut 4<br />

Stefan Rehder<br />

DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR<br />

BIOETHIK-SPLITTER 8<br />

AUSLAND<br />

Drei Gründe 10<br />

Sebastian Sander<br />

Brüder der Sterbehilfe 12<br />

Eckhardt Meister<br />

NACHRUF<br />

Gelegen oder ungelegen 14<br />

Joachim Kardinal Meisner<br />

Ein Nachruf in Zitaten 17<br />

Selbst dem Deutschen Ethikrat geht das zu weit: Mit CRISPR/Cas9 drohen Forscher Fakten<br />

beim Eingriff in die menschliche Keimbahn zu schaffen.<br />

12 - 13<br />

4 - 7<br />

DANIEL RENNEN<br />

POLITIK<br />

Hornberger Schießen 18<br />

Urs Rotthaus<br />

MARSCH FÜR DAS LEBEN<br />

Gänsehaut und Geschrei 20<br />

Stefan Rehder<br />

Katholische Posse: Der belgische Ordenszweig eines katholischen Männerordens will »Tötung<br />

auf Verlangen« in seinen Kliniken nicht länger ausschließen.<br />

Jeder hat das Recht auf Leben 22<br />

Bischof Dr. Rudolf Voderholzer<br />

MEDIZIN<br />

Von Risiken und Nebenwirkungen 24<br />

Prof. Dr. med. Christoph von Ritter<br />

DOKUMENTATION<br />

Prävention statt Unterstützung 28<br />

BÜCHERFORUM 30<br />

KURZ VOR SCHLUSS 32<br />

IMPRESSUM 35<br />

DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR<br />

24 - 27<br />

Das Embryonenschutzgesetz<br />

steht wieder unter Beschuss.<br />

Dabei hat es Frauen vor vielen<br />

Auswüchsen der modernen<br />

Reproduktionsmedizin<br />

zuverlässig bewahrt.<br />

2<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3


E D I T O R I A L<br />

14 - 17<br />

Statt eines Nachrufs: »<strong>LebensForum</strong>« gedenkt<br />

des Lebensrechtlers und Alterzbischofs von<br />

Köln Joachim Kardinal Meisner.<br />

20 - 23<br />

Auf der Reichstagswiese und durch das<br />

Brandenburger Tor: Impressionen vom<br />

diesjährigen »Marsch für das Leben«<br />

Wir<br />

bleiben dran<br />

Liebe Leserin, lieber Leser!<br />

Die Bundestagswahl ist vorbei, die Zusammensetzung<br />

des neuen Bundestags<br />

verspricht für die kommenden vier Jahre<br />

mehr Opposition und mehr Debatte.<br />

Welche Parteien sich in der politischen<br />

Wirklichkeit zu bioethischen Themen wie<br />

positionieren, werden wir bald erleben:<br />

Der »Marsch für das Leben« am 16. September,<br />

an dem 7.500 mutige, engagierte<br />

Menschen teilgenommen haben, darunter<br />

viele junge Leute und viele Familien,<br />

hat neun konkrete Forderungen an<br />

den neuen Bundestag gestellt. Sie können<br />

die Forderungen in diesem »Lebens-<br />

Forum« nachlesen, ebenso<br />

wie einen Bericht über diese<br />

größte Lebensrechtsdemonstration<br />

in Deutschland.<br />

Die Predigt des Regensburger<br />

Bischofs Prof. Dr. Rudolf<br />

Voderholzer beim abschließenden<br />

ökumenischen<br />

Gottesdienst drucken wir ebenfalls im<br />

Wortlaut ab.<br />

Ein anderer unermüdlicher Kämpfer<br />

für das Lebensrecht aus dem kirchlichen<br />

Bereich ist im Sommer verstorben: Joachim<br />

Kardinal Meisner hat Predigten und<br />

Zitate hinterlassen, die wir nicht vergessen<br />

sollten und in diesem Heft auszugsweise<br />

als Vermächtnis dokumentieren.<br />

Requiescat in pace.<br />

Im Wahlkampf <strong>2017</strong> waren weder Abtreibung<br />

noch PraenaTest, Genmanipulation<br />

oder die Lücken in der Regelung<br />

des assistierten Suizids ein Thema. Das<br />

braucht uns nicht zu entmutigen, denn<br />

viele andere wichtige, die Menschen betreffende<br />

und interessierende Themen<br />

kamen ebenso wenig vor. Man stritt sich<br />

lieber auf gesellschaftspolitisch weniger<br />

vermintem Gelände, zum Beispiel um<br />

Diesel oder Elektrofahrzeuge. Der neue<br />

Bundestag wird nichtsdestoweniger viel<br />

zu tun, zu diskutieren und zu entscheiden<br />

haben <strong>–</strong> auch in unserem Bereich.<br />

In der »Reproduktionsmedizin« geht es<br />

zum Beispiel um das Stichwort »Recht<br />

auf Kind« und folglich die eventuelle Zulassung<br />

von Eizellspende und Leihmut-<br />

Neun Forderungen<br />

an den Bundestag<br />

terschaft. Dringend<br />

debattiert und geregelt<br />

werden müssen<br />

die Möglichkeiten<br />

der genetischen<br />

Manipulation, die<br />

aktuell alte Heilsversprechen<br />

wieder<br />

aufleben lassen: Mediziner,<br />

Techniker<br />

und Forscher wollen<br />

es endlich schaffen,<br />

alle Krankheiten<br />

und Behinderungen<br />

zu beseitigen, indem sie das entsprechende<br />

kranke Gen reparieren oder<br />

ausschalten. Sie versprechen die Beseitigung<br />

des Leids <strong>–</strong> meistens aber, siehe<br />

Präimplantationsdiagnostik oder nichtinvasive<br />

Pränataldiagnostik, enden diese<br />

Versprechen eher in der Beseitigung<br />

der Leidenden.<br />

Zum wiederholten Mal ist die Abtreibungsgesetzgebung<br />

in Chile<br />

hier Thema, leider mit<br />

schlechten Nachrichten <strong>–</strong><br />

erneut hat ein Land entschieden,<br />

die Abtreibung<br />

in bestimmten Fällen zuzulassen.<br />

In Chile gibt es im<br />

Vergleich zu anderen Staaten<br />

besonders viele minderjährige Mädchen,<br />

die aufgrund sexuellen Missbrauchs<br />

schwanger werden. Statt aber das Übel,<br />

nämlich den massenhaften Kindesmissbrauch,<br />

an der Wurzel zu packen, bietet<br />

man den vergewaltigten Mädchen eine<br />

Abtreibung an. Diese frauenfeindliche<br />

Negierung des wahren Verbrechens wird<br />

die Lage der Mädchen nicht bessern, die<br />

Kinder opfern und die Täter schützen.<br />

Auch am Ende des Lebens bleiben die<br />

Themen aktuell: Belgien zum Beispiel hat<br />

im Bereich der Euthanasie eine verheerende<br />

Bilanz und auch katholische Einrichtungen<br />

bieten sie an.<br />

Es geht weiter im Humankulturkampf<br />

und wir sind mittendrin. Bleiben wir engagiert<br />

dran.<br />

Ihre<br />

Alexandra Maria Linder M. A.<br />

Bundesvorsitzende der <strong>ALfA</strong> e. V.<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 3


T I T E L<br />

DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR<br />

Nach uns<br />

die Sintflut<br />

Ende 2015 diskutierten Forscher noch über ein Moratorium für Eingriffe in die menschliche<br />

Keimbahn. Inzwischen erproben neben chinesischen auch US-amerikanische und europäische<br />

Forscher munter die CRISPR/Cas9-Technologie in menschlichen Embryonen.<br />

Das geht selbst dem prinzipiell forschungsfreundlich eingestellten Deutschen Ethikrat zu weit.<br />

Und das aus mehr als nur einem guten Grund.<br />

Von Stefan Rehder<br />

Die Einschläge kommen näher.<br />

Hatten bisher nur chinesische<br />

Forscher zweimal über Eingriffe<br />

in die menschliche Keimbahn mittels<br />

CRISPR/Cas9 berichtet, so publizierten<br />

in diesem Sommer erstmals auch Wissenschaftler<br />

aus den USA und Großbritannien<br />

die Ergebnisse von Experimenten,<br />

bei denen sie menschlichen Embryonen<br />

mit den neuartigen molekularen<br />

Genscheren auf den Leib gerückt waren.<br />

Auch in Schweden sollen Forscher<br />

längst mit den neuartigen Genscheren in<br />

4<br />

der Keimbahn von menschlichen Embryonen<br />

experimentieren. Die Publikation<br />

ihrer Forschungsergebnisse steht noch<br />

aus und wird nicht nur in der »scientific<br />

community« mit Spannung erwartet.<br />

Das Besondere bei all dem: Anders<br />

als bei Methoden der somatischen Gentherapie,<br />

mit der sich »lediglich« reife<br />

Körperzellen genetisch verändern lassen,<br />

führen genetische Manipulationen<br />

der Keimbahn im Erfolgsfalle dazu, dass<br />

sich die dabei veränderten Gene später<br />

nicht nur in jeder Zelle des Körpers wiederfinden,<br />

sondern auch auf sämtliche<br />

nachkommenden Generationen vererbt<br />

werden. Anders formuliert: Während bei<br />

der somatischen Gentherapie ein Individuum<br />

für die Dauer seiner Existenz genetisch<br />

verändert wird, sind Keimbahnmanipulationen<br />

dazu angetan, diese zu<br />

überdauern. Statt bloß zu einer genetischen<br />

Modifikation von Individuen führen<br />

sie darüber hinaus zu einer Veränderung<br />

des Genpools.<br />

»Correction of a pathogenic gene mutation<br />

in human embyros« (dt.: Korrek-<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3


tur einer pathogenen Genmutation in<br />

menschlichen Embryonen) lautet der für<br />

eine naturwissenschaftliche Publikation<br />

beinah schon triumphal anmutende Titel,<br />

die das Wissenschaftsmagazin »Nature«<br />

Anfang August (doi: 10.1038/nature23305)<br />

veröffentlichte. In ihr berichten<br />

Wissenschaftler der Oregon Health<br />

and Science University in Portland, es sei<br />

ihnen mit Hilfe der CRISPR/Cas9-Technologie<br />

erstmals gelungen, in 42 von 58<br />

menschlichen Embryonen ein mutiertes<br />

Gen erfolgreich zu korrigieren.<br />

Die Mutation, die auch als MYBPC3<br />

bezeichnet wird, kann eine hypertrophe<br />

Kardiomyopathie auslösen. Eine solche<br />

einseitige Verdickung des Herzmuskels<br />

kann dessen Pumpleistung verringern und<br />

<strong>–</strong> im schlimmsten Fall <strong>–</strong> zu einem plötzlichen<br />

Herzstillstand führen. Anders als<br />

die beiden Forscherteams aus China, deren<br />

Experimente noch als Fehlschläge betrachtet<br />

werden konnten, weil die Genscheren<br />

den DNA-Doppelstrang in den<br />

Embryonen auch an zahlreichen anderen<br />

Stellen durchtrennten als an den von den<br />

Forschern gewünschten (Off-Target-Effekt),<br />

brachten die Wissenschaftler der<br />

Arbeitsgruppe um den US-amerikanischen<br />

Klonforscher Shoukhrat Mitalipov<br />

die molekularen Genscheren statt<br />

in die Embryonen in noch unbefruchtete<br />

Eizellen gesunder Spenderinnen ein.<br />

Erst dann befruchteten sie diese mit den<br />

Samenzellen von Spendern, die das mutierte<br />

Gen vererben, das die Forscher zu<br />

korrigieren trachten.<br />

Mit anderen Worten: Das Team um<br />

Mitalipov erschuf also absichtlich menschliche<br />

Embryonen mit einem genetischen<br />

Defekt, um diesen anschließend zu beheben.<br />

Damit nicht genug: Am fünften Tag<br />

sezierten die Forscher die so manipulierten<br />

Embryonen. Dabei wollen sie festgestellt<br />

haben, dass die Genscheren den<br />

DNA-Strang exakt an der gewünschten<br />

»Am fünften Tag sezierten die<br />

Forscher die Embryonen.«<br />

NEWS.OHSU.EDU<br />

Stelle durchteilt hätten. Hatten die chinesischen<br />

Wissenschaftler noch feststellen<br />

müssen, dass die Genscheren in den<br />

Embryonen ein wahres Schlachtfest veranstalteten<br />

und die DNA auch an zahlreichen<br />

anderen Stellen zerteilten als an<br />

den beabsichtigten, so wollen die Forscher<br />

um Mitalipov keinen einzigen Off-<br />

Target-Effekt gefunden haben. Mehr<br />

noch: In rund drei Viertel der Embryonen<br />

(72,4 %) soll die vererbbare Mutation<br />

anschließend in keiner einzigen Zelle<br />

mehr nachweisbar gewesen sein. Um<br />

den »Fortschritt«, den die Forscher erzielten,<br />

einigermaßen korrekt einschätzen<br />

zu können, muss man wissen, dass die<br />

Wahrscheinlichkeit, dass ein Embryo das<br />

mutierte Gen erbt, bei diesem Humanexperiment<br />

ohnehin »nur« bei 50 Prozent<br />

lag. Statistisch gesehen hätte jeder zweite<br />

Embryo die Mutation auch ohne den<br />

Eingriff in die Keimbahn »vermieden«.<br />

Doch auch der womöglich tatsächlich<br />

erzielte »Fortschritt« des Teams um Mitalipov<br />

wird von anderen Wissenschaftlern<br />

inzwischen offen angezweifelt. Darunter<br />

Shoukhrat Mitalipov<br />

auch von solchen, die selbst mit CRIS-<br />

PR/Cas9 forschen, wie etwa der Genetiker<br />

George Church von der Harvard Medical<br />

School. Denn obwohl die Forscher<br />

um Mitalipov kurze DNA-Stränge als Vorlagen<br />

für die Reparatur der durchtrennten<br />

DNA in die Eizellen miteinbrachten,<br />

scheinen diese von den Zellen ignoriert<br />

worden zu sein. Jedenfalls fehlten bei allen<br />

Embryonen, wie die Forscher in ihrer<br />

Publikation berichten, diese spezifischen<br />

Sequenzen.<br />

Woraus das Team um Mitalipov schloss,<br />

dass sich die Zellen für die Reparatur der<br />

DNA jeweils an dem nicht mutierten<br />

Gen der Eizellen orientiert und dieses<br />

<strong>–</strong> durch homologe Rekombination <strong>–</strong> gewissermaßen<br />

rekonfiguriert hätten. Genau<br />

das jedoch ziehen Church und andere<br />

jetzt in Zweifel.<br />

In dem Wirbel um die Publikation des<br />

Teams um Mitalipov, der inzwischen angekündigt<br />

hat, »auf die Kritikpunkte Punkt<br />

für Punkt« antworten zu wollen, sind die<br />

weniger spektakulären CRISPR/Cas9-<br />

Experimente, mit welchen Forscher um<br />

Kathy Niakan vom Francis Crick Institute<br />

in London menschlichen Embryonen<br />

auf den Leib rückten, beinah untergegangen.<br />

Auch bei diesen in der zweiten<br />

Septemberhälfte ebenfalls in »Nature«<br />

publizierten Versuchen handelt es<br />

sich letztlich um ein Humanexperiment,<br />

selbst wenn die Wissenschaftler für dieses<br />

keine menschlichen Embryonen eigens<br />

erzeugten, sondern sich mit solchen<br />

»begnügten«, die ihnen Paare spendeten,<br />

die sich einer künstlichen Befruchtung<br />

unterzogen hatten.<br />

Das Team um Niakan nutzte die Genscheren,<br />

um in den befruchteten Eizellen<br />

ein Gen abzuschalten, welches für die<br />

Synthese des Proteins Oct4 verantwortlich<br />

gemacht wird (doi.10.1038/nature24033).<br />

Dabei fanden sie heraus, dass die Blockade<br />

der Proteinsynthese in den Embryonen<br />

die Aktivität einer Vielzahl anderer<br />

»Ethikrat sieht ›Interessen der<br />

gesamten Menschheit berührt‹.«<br />

Gene veränderte, die die Forscher für die<br />

Steuerung der Embryogenese verantwortlich<br />

machen. Bei 30 der 37 Embryonen<br />

(81 %) kam diese ganz zum Stillstand.<br />

Wie die Forscher schreiben, erreichten<br />

diese Embryonen nicht einmal das Blastozystenstadium.<br />

Und auch bei den übrigen<br />

Embryonen verlief die Embryogenese<br />

nicht mehr in den bekannten Bahnen.<br />

Selbst wenn es den Forschern um<br />

Niakan um nicht mehr als die Klärung<br />

der Bedeutung des Proteins Oct4 gegangen<br />

sein sollte, zeigt das Experiment vor<br />

allem zweierlei. Nämlich zunächst wie<br />

geradezu selbstverständlich inzwischen<br />

menschliche Embryonen für scheinbar<br />

»hochgradige« Forschungserkenntnisse<br />

verbraucht werden. Und sodann, welche<br />

gravierenden Wechselwirkungen die<br />

Veränderung der Funktion eines einzelnen<br />

Gens im menschlichen Organismus<br />

in Gang setzen kann.<br />

Letzteres erfüllt inzwischen auch den<br />

Deutschen Ethikrat mit Sorge. Ende September<br />

veröffentlichte das Gremium, das<br />

Bundesregierung und Parlament in bioethischen<br />

Fragen berät, eine sogenannte<br />

Ad-hoc-Empfehlung. Das sechsseitige<br />

und überraschenderweise sogar einstimmig<br />

verabschiedete Papier schlägt<br />

schon in der Überschrift Alarm: »Keimbahneingriffe<br />

am menschlichen Embryo:<br />

Deutscher Ethikrat fordert globalen politischen<br />

Diskurs und internationale Regulierung«.<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 5


T I T E L<br />

Nach Ansicht des Expertengremiums,<br />

das keineswegs im Ruf steht, eine<br />

Versammlung von Lebensrechtlern zu<br />

sein oder gar die katholische Lehre von<br />

der Heiligkeit menschlichen Lebens zu<br />

propagieren, schreitet die Forschung auf<br />

dem Gebiet des sogenannten Genome-<br />

»Tragweite der Gen-Manipulation<br />

kann derzeit nur erahnt werden.«<br />

Editings inzwischen »erheblich schneller«<br />

voran »als erwartet« und drohe »zumindest<br />

in einigen Staaten« Fakten zu schaffen.<br />

Und weil damit »nicht nur nationale,<br />

sondern auch Interessen der gesamten<br />

Menschheit berührt« würden, seien<br />

I N F O<br />

CRISPR/Cas9<br />

PERSONAL GENOME PROJECT<br />

und Irrtum« ablaufen können. Und mehr<br />

noch: »Erstmals in der Wissenschaftsgeschichte<br />

sollen medizinische Maßnahmen<br />

entwickelt und gegebenenfalls eingesetzt<br />

werden, die nicht allein einen einwilligungsfähigen<br />

erwachsenen Patienten oder<br />

<strong>–</strong> und schon dies ist ethisch umstritten <strong>–</strong><br />

nun sowohl eine »weitgespannte Diskussion«<br />

als auch eine »internationale Regulierung«<br />

notwendig.<br />

Dem Deutschen Bundestag und der<br />

Bundesregierung empfiehlt der Rat denn<br />

auch »eindringlich«, in der kürzlich begonnenen<br />

Legislaturperiode »alsbald die<br />

Initiative zu ergreifen« und »das Thema<br />

möglicher Keimbahninterventionen beim<br />

Menschen auch und vor allem auf der Ebene<br />

der Vereinten Nationen zu platzieren«.<br />

Nach Ansicht des Ethikrats werfen<br />

»die technischen Möglichkeiten« des<br />

6<br />

CRISPR/Cas9 ist ein neuartiges molekulargenetisches Werkzeug, das sich seine Erfinderinnen,<br />

die Französin Emmanuelle Charpentier und die US-Amerikanerin Jennifer Doudna, von<br />

Bakterien abgeschaut haben. Mit ihm verteidigen sich Bakterien gegen den Befall von Viren<br />

(genauer: Bakteriophagen), die mangels eines eigenen Stoffwechsels einen Wirt brauchen,<br />

um sich zu vermehren. Dazu »kapern« die Viren ein Bakterium, schleusen ihre DNA in die<br />

Wirtszelle ein und »zwingen« sie, statt der Bakterien- die Phagen-DNA zu replizieren. Doudna<br />

und Charpentier fanden nicht nur heraus, dass die Bakterien, die einen solchen Angriff<br />

überlebten, kurze Fragmente der Phagen-DNA in ihre eigenen einbauten, sondern auch, wo.<br />

Der Einbau erfolgt jeweils zwischen Sequenzen, die japanische Forscher bereits Ende der<br />

80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts entdeckten und die sie CRISPR tauften.<br />

CRISPR ist ein Akronym und steht für »Clustered Regulary Interspaced Short Palindromic Repeat«.<br />

Die Archivierung der dort abgelegten Phagen-DNA erlaubt es den Bakterien, einmal<br />

besiegte Angreifer im Falle eines neuen Angriffs wiederzuerkennen und ein Protein (Cas9)<br />

herzustellen, das die Phagen-DNA aus der eigenen herausschneidet.<br />

Die von Charpentier und Doudna nach diesem Vorbild entwickelten Genscheren nutzen eine<br />

von Forschern programmierbare Guide-RNA, die genau der DNA-Abfolge der Zielsequenz<br />

entspricht. Wenn die Genschere diese Stelle gefunden hat, trennt das Protein Cas9 den<br />

DNA-Doppelstrang an dieser Stelle auf. Anschließend flicken die zelleigenen Reparaturmechanismen<br />

die Enden wieder zusammen. Dabei können die Scheren nicht nur einzelne DNA-<br />

Bausteine ausschneiden, sondern auch austauschen oder neue einfügen. Weil mit CRISPR/<br />

Cas9 der genetische Code jedes Lebewesens wie in einem Textverarbeitungsprogramm korrigiert<br />

oder auch umgeschrieben werden kann und es zudem weitere Genscheren gibt, die<br />

nicht ganz so potent sind, spricht man hier auch gerne vom Genome-Editing.<br />

sogenannten Genome-Editings »komplexe<br />

und grundlegende ethische Fragen«<br />

auf. Dies gelte vor allem dort, »wo<br />

sie eingesetzt werden, um Veränderungen<br />

der menschlichen Keimbahn vorzunehmen«.<br />

Ziel solcher Keimbahninterventionen<br />

sei es, menschliche Embryonen<br />

zu therapeutischen Zwecken genetisch<br />

zu verändern und auf diese Weise<br />

die Ursachen für Erkrankungen in allen<br />

Zellen des Körpers zu beseitigen. Da<br />

diese Veränderungen auch an potenzielle<br />

Nachkommen weitergegeben würden,<br />

sei die Tragweite derartiger genetischer<br />

Manipulationen beim Menschen erheblich.<br />

Wörtlich heißt es dazu: »Sie kann<br />

im Moment nur erahnt werden und entzieht<br />

sich der Vorhersagekraft wissenschaftlicher<br />

Untersuchungen.«<br />

An anderer Stelle, wenn auch in derselben<br />

Stellungnahme, schreiben die Experten<br />

unter Bezugnahme auf die von<br />

verschiedener Seite initiierten, letztlich<br />

aber vergeblichen Bemühungen, ein Forschungsmoratorium<br />

zu vereinbaren:<br />

»Aber mit dem klinischen Einsatz war<br />

in absehbarer Zukunft auch nicht zu rechnen:<br />

Die Risiken erschienen als noch langfristig<br />

unbeherrschbar und die Erfolgschancen<br />

demgegenüber als zu gering.«<br />

Mit anderen Worten: Der Ethikrat<br />

warnt vor Experimenten in der menschlichen<br />

Keimbahn, die zumindest bislang gar<br />

nicht anders als nach dem Prinzip »Versuch<br />

George Church<br />

ein noch nicht einwilligungsfähiges geborenes<br />

oder ungeborenes Kind betreffen,<br />

sondern Generationen noch nicht gezeugter<br />

Nachkommen unbestimmter Zahl.«<br />

Im Gegensatz zum reproduktiven Klonen<br />

sei beim Genome-Editing »durch die<br />

rasanten Entwicklungen der letzten zwei<br />

Jahre eine anwendungsnahe Situation entstanden,<br />

die hinsichtlich ihrer potenziellen<br />

Konsequenzen deutlich dringlicher<br />

erscheint.« Angesichts »realer Umsetzungsmöglichkeiten«<br />

müsse mittlerweile<br />

»darüber diskutiert und befunden werden,<br />

ob systematische, generationenübergreifende<br />

Veränderungen des menschlichen<br />

Genoms verboten oder zugelassen<br />

und, sofern sie grundsätzlich zugelassen<br />

würden, in welchem Maße sie mit Auflagen<br />

und Einschränkungen begrenzt werden<br />

müssen«, so der Rat weiter. »Wissenschaftliche<br />

Forschung, deren Ergebnisse<br />

derart grundlegende Auswirkungen<br />

auf das menschliche Selbstverständnis haben<br />

könnten«, müssten »gesellschaftlich<br />

eingebettet sein«. Sie seien daher weder<br />

eine »interne Angelegenheit der wissenschaftlichen<br />

Gemeinschaft« noch die »eines<br />

einzelnen Landes«. Und das nicht<br />

nur, »weil Forschung international vernetzt<br />

ist, sondern auch, weil die Konsequenzen<br />

solcher Forschungsaktivitäten<br />

alle Menschen betreffen«.<br />

Deshalb müsse sich die »Wissenschaftsgemeinschaft<br />

ihrerseits um ergebnisoffe-<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3


ne Gespräche mit allen relevanten Gruppen<br />

der gesellschaftlichen Öffentlichkeit«<br />

bemühen. »Parallel dazu« könnten und<br />

müssten »die politischen Institutionen<br />

Wege finden und Verfahren einleiten,<br />

um die zahlreichen noch offenen Fragen<br />

und möglichen Konsequenzen systematischer<br />

Genom-Manipulationen durch Genome-Editing<br />

intensiv, differenziert und<br />

vor allem weltweit zu erörtern und gebotene<br />

regulatorische Standards möglichst<br />

schnell und umfassend zu etablieren«.<br />

Nach Ansicht des Ethikrats sind hier<br />

»unterschiedliche Formate denkbar«:<br />

Sicherheitsstandards bis hin zu möglichen<br />

Resolutionen oder völkerrechtlichen<br />

Konventionen«. Dass ein solcher<br />

Prozess »mühsam und schwerfällig zu<br />

werden« verspreche, dürfe »angesichts<br />

der Wichtigkeit des Themas kein Vorwand<br />

sein, solche Initiativen gar nicht<br />

erst zu ergreifen«.<br />

Das klingt ein wenig hilflos und ist es<br />

wohl auch. Noch erschreckender als das<br />

Tempo, das die Forscher und ihre Finanziers<br />

bei der Erforschung von Eingriffen<br />

in die menschliche Keimbahn an den<br />

Tag legen, ist jedoch etwas ganz anderes.<br />

Denn selbst wenn die Forscher davon<br />

überzeugt wären, ihre Forschungen<br />

könnten der Menschheit einmal bei der<br />

Bekämpfung von Krankheiten zugutekommen,<br />

realistisch sind solche Szenarien<br />

nicht. Denn weil sich menschliche<br />

Embryonen mittels Präimplantationsdiagnostik<br />

(PID) längst auf genetische Defekte<br />

untersuchen und die genetisch auffälligen<br />

selektieren lassen, wird sich in der<br />

Praxis niemand die Mühe machen, sie zu<br />

THE FRANCIS CRICK INSTITUTE<br />

»Mitalipov hat das Off-Targeting<br />

nicht gelöst, sondern umgangen.«<br />

Kathy Niakan<br />

Sie reichen »von einer großen internationalen<br />

Konferenz, die deutlich machen<br />

könnte, dass Genome-Editing zum Zwecke<br />

der therapeutisch motivierten Keimbahnveränderung<br />

eine Frage von grundsätzlich<br />

weltgesellschaftlicher und nicht<br />

nur wissenschaftlicher Bedeutung ist, über<br />

die Festlegung von global verbindlichen<br />

»Betroffen: Generation noch nicht<br />

gezeugter Nachkommen.«<br />

»korrigieren«. Dies umso mehr, als die<br />

Überprüfung, ob die Genscheren die ihnen<br />

zugedachte Arbeit auch korrekt erledigt<br />

haben, ohnehin die Durchführung<br />

einer PID erfordern würde.<br />

Die Ökonomisierung der Medizin ist<br />

längst derart weit gediehen, dass heute<br />

niemand einen maximalen Einsatz an<br />

Zeit und Kraft aufwendet, wenn sich dasselbe<br />

Ergebnis <strong>–</strong> in diesem Fall, Eltern<br />

ein genetisch gesundes Kind zu versprechen<br />

<strong>–</strong> auch mit einem Minimum an beidem<br />

erreichen lässt.<br />

Ökonomisch gesehen macht der Einsatz<br />

von CRISPR/Cas9 beim Menschen,<br />

der das Ziel verfolgt, vererbbare Krankheiten<br />

durch die Korrektur des genetischen<br />

Codes zu eliminieren, allenfalls<br />

bei Geborenen Sinn. Nach dem derzeitigen<br />

Stand der Technik <strong>–</strong> und womöglich<br />

für alle Zeit <strong>–</strong> verhindert dies jedoch<br />

das sogenannte »Off-Targeting«. Und bei<br />

Licht betrachtet hat auch das Team um<br />

Mitalipov das Problem, dass die molekularen<br />

Scheren das Erbgut auch an anderen<br />

Stellen zertrennen als nur den gewünschten,<br />

keineswegs gelöst. Es hat es,<br />

indem es die Genscheren erstmals nicht<br />

den Embryonen, sondern bereits den Eizellen<br />

vor deren Befruchtung injizierte,<br />

lediglich umgangen.<br />

Wenn aber die Heilung von im Labor<br />

erzeugten Embryonen von genetischen<br />

Defekten unwirtschaftlich ist, eine relative<br />

Sicherheit der Technologie aber nur<br />

in einem Stadium gegeben ist, in dem der<br />

Embryo erst aus wenigen Zellen besteht,<br />

dann ist auch klar, worin der mögliche<br />

Nutzen von CRISPR/Cas9 beim Menschen<br />

allein bestehen könnte: Nämlich<br />

nicht in der Heilung von Menschen mit<br />

unerwünschten, sondern in der Laborzeugung<br />

von Menschen mit gewünschten<br />

Merkmalen.<br />

Die »schöne neue Welt« lässt grüßen.<br />

Mag es für einen Abgesang auf den Menschen,<br />

der bislang bloß sein »Dasein«<br />

und nicht auch noch sein »Sosein« dem<br />

planerischen Willen anderer Menschen<br />

verdankt, derzeit auch noch zu früh sein.<br />

In den Köpfen vieler Molekularbiologen<br />

und der CEOs der Kinderwunschindustrie<br />

finden sich derartige Szenarien längst<br />

implantiert. Und deshalb lautet die Frage<br />

inzwischen auch gar nicht, ob es einmal<br />

echte Designerbabys geben wird, sondern<br />

nur noch: wann und wo?<br />

I M P O R T R A I T<br />

Stefan Rehder, M.A.<br />

Der Autor, geboren 1967, ist »Chef vom<br />

Dienst« der überregionalen, katholischen<br />

Tageszeitung »Die Tagespost«, Redaktionsleiter<br />

von »<strong>LebensForum</strong>«<br />

und<br />

Leiter der Rehder<br />

Medienagentur. Er<br />

studierte Geschichte,<br />

Germanistik<br />

und Philosophie<br />

an den Universitäten Köln und<br />

München und hat mehrere bioethische<br />

Bücher verfasst, darunter »Grauzone<br />

Hirntod. Organspende verantworten«<br />

und »Die Todesengel. Euthanasie auf<br />

dem Vormarsch.« Sankt Ulrich Verlag,<br />

Augsburg 2010 bzw. 2009. Stefan Rehder<br />

ist verheiratet und Vater von drei<br />

Kindern.<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 7


B I O E T H I K - S P L I T T E R<br />

+++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bio<br />

Päpstliche Akademie für das Leben<br />

mit neuer Agenda<br />

Rom (<strong>ALfA</strong>). Der Präsident der Päpstlichen<br />

Akademie für das Leben, Erzbischof<br />

Vincenzo Paglia, hat im Interview<br />

mit dem englischsprachigen Online-<strong>Magazin</strong><br />

»Cruxnow.com«, das der katholischen<br />

Laienvereinigung der Kolumbusritter<br />

nahe steht, die neue Agenda der<br />

Erzbischof Vincenzo Paglia<br />

Päpstlichen Akademie erläutert. Demnach<br />

will Paglia, anders als von Kritikern<br />

unterstellt, nicht die Lehre der Kirche in<br />

Fragen des Lebensschutzes aufweichen,<br />

sondern künftig einen breiteren und umfassenderen<br />

Zugang zu Fragen verfolgen,<br />

die den Lebensschutz betreffen.<br />

Das bedeute nicht, dass man Kompromisse<br />

in Fragen der Abtreibung und der<br />

Euthanasie machen müsse, betonte Paglia.<br />

Vielmehr stünden ethische Fragen,<br />

die das Leben betreffen, in engem Zusammenhang<br />

miteinander. Der Schutz<br />

des Lebens umfasse auch den Einsatz<br />

gegen die Todesstrafe und für den Umweltschutz.<br />

»Ich kann nicht pro-life sein<br />

und die Atmosphäre vergiften. Ich kann<br />

nicht pro-life sein und die Alten wegwerfen.<br />

Ich kann nicht pro-life sein und<br />

mich für Genmanipulationen einsetzen,<br />

das ist gegen die Würde des Lebens. Ich<br />

kann nicht pro-life sein und eine Tochter<br />

im Reagenzglas erzeugen«, so Paglia.<br />

In dem Interview vertritt der Erzbischof<br />

die Ansicht, die Kirche dürfe nicht<br />

allein von den Gefahren für das Leben<br />

sprechen, sondern müsse auch die Schönheit<br />

des Lebendigen in seinen vielen Aspekten<br />

hervorheben. Dagegen hätten der<br />

FOTOS PRESIDENCIA EL SALVADOR<br />

enge Fokus und der endlose Streit zwischen<br />

Mitgliedern der Päpstlichen Akademie<br />

für das Leben dazu geführt, dass<br />

die Akademie seit Jahren eine »selbstreferentielle«<br />

Kirche verkörpere, die eine<br />

»Kultur der ideologischen Reinheit«<br />

und sogar »Fanatismus« erschaffen habe,<br />

was beides sowohl »unattraktiv« als auch<br />

»unwirksam« sei, um die Welt zu beeinflussen.<br />

Ohne Namen zu nennen, erklärte<br />

Paglia, es gebe »eine bestimmte Art, das<br />

Leben zu verteidigen, die es nicht verteidigt.«<br />

Es reiche nicht, sich »in eine Festung<br />

zurückzuziehen und dort die Flaggen<br />

einiger Prinzipien zu hissen«.<br />

US-Demokraten überdenken liberale<br />

Position zur Abtreibung<br />

Washington (<strong>ALfA</strong>). Die demokratische<br />

Partei in den USA will ihre liberale<br />

Haltung zu vorgeburtlichen Kindstötungen<br />

überprüfen. Das berichtet das Kölner<br />

Domradio unter Berufung auf ein Treffen<br />

des Parteivorsitzenden der Demokraten,<br />

Tom Perez, mit der zur US-Lebensrechtsbewegung<br />

gehörenden Parteigruppierung<br />

»Democrats for Life«. Bei<br />

dem Treffen soll die Parteiführung ihre<br />

Bereitschaft signalisiert haben, ihre bisherige<br />

Haltung zur Abtreibung kritisch<br />

zu hinterfragen. Demnach sind sich die<br />

Lebensschützer in den Reihen der Demokraten<br />

und das Democratic National<br />

Committee (DNC) einig, dass die Partei<br />

die vergangenen Wahlen auch wegen ihrer<br />

starren Haltung für eine liberale Abtreibungspraxis<br />

verloren hat. Vor allem im<br />

Mittleren Westen und Süden des Landes<br />

habe dies die Demokraten, die nur noch<br />

in vier Bundesstaaten die Gouverneure<br />

stellen, Stimmen gekostet.<br />

In der katholischen Online-Publikation<br />

»Crux« fordert das Vorstandsmitglied der<br />

»Democrats for Life«, Charles C. Camosy,<br />

zudem mehr Toleranz gegenüber Lebensrechtlern<br />

innerhalb der Partei. Camosy,<br />

Professor für Theologie und Sozialethik<br />

an der Fordham University in<br />

New York, schreibt in seinem Meinungsbeitrag,<br />

rund ein Drittel der Parteimitglieder<br />

seien »Pro-life«-Demokraten.<br />

Tatsächlich aber werde das Meinungsbild<br />

zur Abtreibungsfrage vom linken<br />

Flügel bestimmt, der die »Küstenstaaten«<br />

dominiere.<br />

Die Abtreibungsposition der Demokraten<br />

habe die Partei vor allem dort Stimmen<br />

gekostet, wo »Pro-life«-Demokraten<br />

Mandate hielten. Diese hätten sich<br />

damit angreifbar gemacht und ihre Ämter<br />

an republikanische Herausforderer<br />

verloren. Camosy empfiehlt den Demokraten<br />

insbesondere zu überdenken, ob<br />

sie weiterhin fundamentalistische Positionen<br />

im Stile der Abtreibungslobbygruppe<br />

NARAL (NARAL = National Abortion<br />

& Reproductive Rights Action League)<br />

vertreten wollten, die keinerlei Beschränkungen<br />

des Zugangs von Frauen zu Abtreibungen<br />

dulden will.<br />

England: Sieg für die Gewissensfreiheit<br />

von Apothekern<br />

London (<strong>ALfA</strong>). Nach Intervention<br />

christlicher Lebensrechtler hat das General<br />

Pharmaceutical Council (GPhC), eine<br />

Behörde, die Apotheker im Vereinigten<br />

Königreich beaufsichtigt, die vorgesehene<br />

Änderung seiner Richtlinien korrigiert.<br />

Das berichtet das britische Internetportal<br />

»Christian Concern«. Dem Bericht<br />

zufolge hätte die Änderung der Richtlinien<br />

Apotheker des Rechts auf Gewissensfreiheit<br />

beraubt.<br />

Dem Internetportal des christlichen<br />

Radiosenders »Premier« zufolge bestätigte<br />

das GPhC jetzt, dass christliche<br />

Apotheker nicht gezwungen würden,<br />

Abtreibungspräparate gegen ihren Willen<br />

abzugeben. Zuvor hatte ein Kampagnenteam<br />

des »Christian Institute« dem<br />

GPhC glaubhaft vermittelt, es sei bereit,<br />

die durch den ursprünglichen Entwurf<br />

der Richtlinie gefährdete Glaubens- und<br />

Gewissensfreiheit auf dem Rechtsweg zu<br />

verteidigen.<br />

Wie das GPhC erklärte, würden die<br />

neuen Richtlinien nun die Stellungnahmen<br />

berücksichtigen, die während des<br />

Konsultationsprozesses eingegangen seien.<br />

Wie der Leiter des Rechtsverteidigungsfonds<br />

des »Christian Institute« Sam<br />

Webster gegenüber dem Internetportal<br />

des Senders erklärte, danke das Institut<br />

dem GPhC dafür, dass es bereit gewesen<br />

sei, sich mit seinen Vertretern zu treffen<br />

und deren Forderungen zu diskutieren.<br />

Allerdings sei das Institut auch willens<br />

gewesen, die Angelegenheit erforderlichenfalls<br />

bis zur letzten Instanz zu klären,<br />

und hätte dies in der vorangegangenen<br />

Rechtskorrespondenz, die mit den<br />

Anwälten des GPhC ausgetauscht worden<br />

sei, auch deutlich gemacht.<br />

+++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bio<br />

8<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3


ethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik<br />

Olympiasiegerin berichtet über<br />

Abtreibungen im Spitzensport<br />

New York (<strong>ALfA</strong>). Die frühere US-<br />

Leichtathletin Sanya Richards-Ross,<br />

mehrfache Olympiasiegerin und Weltmeisterin,<br />

hat sich dazu bekannt, zwei<br />

Wochen vor den Olympischen Spielen<br />

in Peking 2008 ein ungeborenes Kind<br />

abgetrieben zu haben. Im Interview mit<br />

der Sendung »Now« erzählte Richards-<br />

Ross, die im vergangenen Jahr ihre sportliche<br />

Karriere beendet hatte, dem Sender<br />

»Sports Illustrated TV«, dass dergleichen<br />

im Spitzensport häufig vorkomme.<br />

»Ich kenne keine einzige Leichtathletin,<br />

die nicht abgetrieben hat«, sagte<br />

Richards-Ross. Sportlerinnen verzichteten<br />

oft auf die Pille, weil sie fürchteten,<br />

dadurch Wasser einzulagern und so<br />

an Gewicht zuzunehmen. Außerdem sei<br />

unter Sportlerinnen der Mythos verbreitet,<br />

Spitzensportlerinnen könnten nicht<br />

Leichtathletin Sanya Richards-Ross<br />

schwanger werden, weil ihr Zyklus wegen<br />

des harten Trainings kürzer sei oder<br />

teilweise ganz aussetze, so die 32-Jährige,<br />

die ihre damalige Entscheidung nach<br />

eigenen Worten heute bereut.<br />

Familienministerium meldet 335<br />

»vertrauliche Geburten«<br />

Berlin (<strong>ALfA</strong>). Seit Mai 2014 hat es in<br />

Deutschland 335 sogenannte »vertrauliche<br />

Geburten« gegeben. Das teilte das<br />

Bundesministerium für Familie, Senioren,<br />

Frauen und Jugend (BMFSFJ) Mitte<br />

Juli in Berlin mit. Der Bericht, den zuvor<br />

das Bundeskabinett beschlossen hatte,<br />

erfasst die Anzahl der vertraulichen Geburten<br />

bis September 2016. Das »Gesetz<br />

zum Ausbau der Hilfen und zur Regelung<br />

der vertraulichen Geburt« trat im Mai<br />

ERIK VAN LEEUWEN<br />

FRIDAY/FOTOLIA.COM<br />

Rettet Leben: »Vertrauliche Geburt«<br />

2014 in Kraft. Es sichert Schwangeren<br />

eine anonyme Beratung sowie eine anonyme,<br />

medizinisch betreute Entbindung<br />

zu. Zugleich wird ein Nachweis hinterlegt,<br />

der gewährleisten soll, dass das Kind<br />

ab dem 16. Lebensjahr den Namen seiner<br />

Mutter erfahren kann.<br />

Bei den zuvor lediglich geduldeten anonymen<br />

Geburten wurde das Recht des<br />

Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft<br />

nicht berücksichtigt. Bei der nun gesetzlich<br />

geregelten vertraulichen Geburt können<br />

Mütter ihre Anonymität nur noch in<br />

besonders begründeten Fällen wahren.<br />

Laut dem BMFSFJ haben sich 60 Prozent<br />

der Frauen, die zu einer Beratung<br />

kamen, »für eine Lösung im Sinne des<br />

Kindes entschieden«. Bei 20 Prozent der<br />

Beratungen sei der Ausgang noch offen<br />

gewesen, acht Prozent hätten sich für eine<br />

Abtreibung, vier Prozent für eine anonyme<br />

Kindsabgabe in einer Babyklappe<br />

entschieden. Acht Prozent hätten keine<br />

Angaben gemacht. Rund 80 Prozent der<br />

Frauen zwischen 15 und 45 Jahren kennen<br />

den Angaben zufolge die Angebote aus<br />

den Schwangerschaftsberatungsstellen.<br />

DSO: Erneut weniger Organspenden<br />

Frankfurt (<strong>ALfA</strong>). Die Zahl der Organspenden<br />

in Deutschland sinkt weiter.<br />

Das berichtet die katholische Nachrichtenagentur<br />

KNA unter Berufung auf<br />

die Deutsche Stiftung Organtransplantation<br />

(DSO). Danach spendeten im ersten<br />

Halbjahr 412 Menschen Organe. Das<br />

sei die geringste Zahl an Spendern in einem<br />

Halbjahr, die jemals gemessen wurde.<br />

Im Vergleichszeitraum des Vorjahres<br />

seien es 421 Spender gewesen, 2011 noch<br />

575. Auch die Zahl der gespendeten Organe<br />

sei deutlich weiter gesunken und<br />

von 1.397 im ersten Halbjahr 2016 auf<br />

DANIEL RENNEN<br />

jetzt 1.331 zurückgegangen. Die Zahl der<br />

transplantierten Organe sank im gleichen<br />

Zeitraum von 1.448 auf 1.410.<br />

Ist therapierbar: Lebensmüdigkeit<br />

Exit will Abgabe von Suizidpräparaten für<br />

Lebensmüde prüfen<br />

Zürich (<strong>ALfA</strong>). Die Schweizer Suizidbegleitungsorganisation<br />

Exit will auch lebensmüden<br />

Menschen den Zugang zu Suizidpräparaten<br />

ermöglichen. Das berichtet<br />

die »Neue Züricher Zeitung« (NZZ).<br />

Demnach beschloss Exit auf seiner diesjährigen<br />

Generalversammlung in Zürich,<br />

eine vereinsinterne Kommission einzurichten,<br />

die Gutachten bei Ethikern und<br />

Juristen einholen und den Mitgliedern der<br />

Organisation im kommenden Jahr einen<br />

Maßnahmenkatalog präsentieren soll.<br />

Bislang begleite Exit nur Menschen<br />

beim Suizid, die eine schwere Krankheit<br />

besäßen oder polymorbid seien, das heißt<br />

unter mehreren Altersgebrechen litten.<br />

Ob dies zutreffe, beurteile sowohl Exit<br />

als auch ein Arzt, der das Suizidpräparat<br />

verschreibe, so die Zeitung weiter. Begründet<br />

wurde die Errichtung der Kommission<br />

damit, es sei nicht länger hinzunehmen,<br />

dass ein Suizid nur mit ärztlicher<br />

Genehmigung möglich sei. Die<br />

heutigen Verhältnisse müssten im Sinne<br />

einer echten Selbstbestimmung liberalisiert<br />

werden. »Betagte und hochbetagte<br />

Menschen, die das Gesundheitssystem<br />

am Ende ihres Lebens nicht ausreizen<br />

oder 24 Stunden am Tag pflegebedürftig<br />

sein wollten«, benötigten »unbürokratische<br />

Hilfen«, gibt die NZZ den Tenor<br />

der Aussprache zu einem entsprechenden<br />

Antrag wieder.<br />

ethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 9


A U S L A N D<br />

SERP/FOTOLIA.COM<br />

Drei Gründe<br />

In Chile ist das totale Abtreibungsverbot Geschichte. Mitte Dezember tritt in dem Andenstaat<br />

eine Teillegalisierung vorgeburtlicher Kindstötungen in Kraft, die sich auf drei klar umgrenzte<br />

Szenarien beschränkt. Doch die Initiatoren der Gesetzesnovelle wollen viel mehr.<br />

Die sogenannten »Tres Causales« dienen ihnen dabei lediglich als »Türöffner«.<br />

Von Sebastian Sander<br />

10<br />

»Es geht darum, ein Frauenrecht<br />

auf Abtreibung zu etablieren.«<br />

28<br />

Jahre lang waren Abtreibungen<br />

in Chile ausnahmslos verboten.<br />

Nun ist damit bald<br />

Schluss. Denn Mitte Dezember tritt in<br />

dem Andenstaat ein heftig umstrittenes<br />

Gesetz in Kraft, das vorgeburtliche Kindstötungen<br />

in drei Fällen für legal erklärt:<br />

in solchen, in denen der Fortgang der<br />

Schwangerschaft das Leben der Mutter<br />

gefährdet, in solchen, bei denen das<br />

Kind im Zuge einer Vergewaltigung gezeugt<br />

wurde, und in solchen, in denen<br />

Ärzte bei dem Kind eine schwere Schädigung<br />

diagnostizieren, die sein Überleben<br />

außerhalb des Mutterleibes als unwahrscheinlich<br />

erscheinen lässt.<br />

In weltanschaulich neutralen Staaten<br />

ließe sich auch mit Lebensrechtlern über<br />

die ersten beiden dieser Ausnahmen diskutieren.<br />

Denn bei Licht betrachtet darf<br />

der Staat von seinen Bürgern nur die Einhaltung<br />

von Rechtspflichten verlangen.<br />

Religionsgemeinschaften hingegen dürfen<br />

von ihren Mitgliedern auch die Beachtung<br />

von Tugendpflichten fordern. Zumal<br />

man in eine Religionsgemeinschaft <strong>–</strong><br />

anders als in ein Gemeinwesen <strong>–</strong> in aller<br />

Regel auch nicht einfach hineingeboren<br />

wird und diese obendrein <strong>–</strong> ebenfalls in<br />

aller Regel <strong>–</strong> auch jederzeit wieder verlassen<br />

kann. Wie auch immer: Ein Kind<br />

auszutragen, an dessen Zeugung die Mutter<br />

nicht willentlich beteiligt war, oder<br />

den Verlust des eigenen Lebens hinzunehmen,<br />

um das des Kindes zu sichern,<br />

ist zweifellos tugendhaft und insofern aller<br />

Unterstützung <strong>–</strong> auch der des Staates<br />

<strong>–</strong> wert. Aber es ist eben auch nichts, worauf<br />

ein weltanschaulich neutraler Staat<br />

seine Bürger ohne Rückgriff auf das, was<br />

sich außerhalb seiner eigenen Sphäre befindet<br />

<strong>–</strong> wie den Gedanken der Gottesebenbildlichkeit<br />

des Menschen <strong>–</strong>, ohne<br />

Weiteres verpflichten könnte.<br />

Dass solche Debatten in der Praxis jedoch<br />

gar nicht zustande kommen, liegt<br />

nicht etwa daran, dass Lebensrechtler<br />

»Fundamentalisten« wären, sondern daran,<br />

dass Abtreibungsbefürworter Fäl-<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3


Auch wenn die Novelle des Abtreibungsgesetzes<br />

in dem zurückliegenden, sich<br />

über mehrere Jahre hinziehenden Gesetzgebungsverfahren<br />

anders beworben wurde,<br />

geben sich seine Befürworter eben gerade<br />

nicht damit zufrieden, Frauen von den als<br />

Unrecht betrachteten Bürden zu befreien,<br />

die ein totales Abtreibungsverbot ihnen<br />

in wenigen, »menschlich schwierigen«<br />

Fällen zweifellos auflud. Es ging und geht<br />

darum, ein sogenanntes »Frauenrecht auf<br />

Abtreibung« zu etablieren.<br />

»Seit 25 Jahren wird ein negatives<br />

Image der Abtreibung konstruiert.«<br />

le wie die oben genannten lediglich als<br />

»Türöffner« auf dem Weg zur totalen<br />

Freigabe vorgeburtlicher Kindstötungen<br />

begreifen.<br />

Auch Chiles sozialistische Präsidentin<br />

Michelle Bachelet, geboren 1951, macht<br />

da keine Ausnahme. Anfang 2015 brachte<br />

sie einen Gesetzentwurf ins Parlament<br />

ein, der nach einigem Hin und Her erst<br />

im August <strong>2017</strong> die erforderlichen Mehrheiten<br />

in beiden Kammern des Parlaments<br />

fand.<br />

Nachdem dann auch noch das chilenische<br />

Verfassungsgericht mit sechs gegen<br />

vier Richterstimmen zwei Anfechtungsklagen<br />

abgelehnt hatte, mit denen<br />

die konservative Opposition die umstrittene<br />

Gesetzesnovelle noch auf den letzten<br />

Metern zu Fall zu bringen suchte, war<br />

der Weg frei. Bei der feierlichen Unterzeichnung<br />

der umstrittenen Gesetzesnovelle<br />

erklärte die gelernte Medizinerin,<br />

die von 2006 bis 2010 als geschäftsführende<br />

Direktorin der Frauenorganisation<br />

der Vereinten Nationen »UN Women«<br />

arbeitete: »Heute unterschreiben<br />

wir endlich das Gesetz, das das Recht jeder<br />

Frau, über ihren Körper und über ihre<br />

Schwangerschaft zu entscheiden, in drei<br />

ausgesprochen präzisen und menschlich<br />

schwierigen Fällen verankert.«<br />

Ein Satz, den man ruhig zweimal lesen<br />

darf. Spätestens dann sieht man, dass das<br />

»Recht«, das Bachelet vorschwebt, sich<br />

keineswegs auf die genannten Fälle beschränkt,<br />

sondern dort bloß »verankert«<br />

wird, also prinzipiell weit darüber hinausreicht.<br />

Auch dass Bachelet zwischen dem<br />

»Körper« einer Frau und einer »Schwangerschaft«<br />

unterscheidet, lohnt einer genaueren<br />

Betrachtung. Denn gemeint ist<br />

damit keineswegs, dass Frauen über ihren<br />

Körper entscheiden können müssen,<br />

sondern dass sie über »ihren Körper<br />

und ihre Schwangerschaft« entscheiden<br />

können sollen. Der Begriff »Schwangerschaft«<br />

wird hier als Synonym für das<br />

noch »ungeborene Kind« gebraucht. Gemeint<br />

ist also, dass die (schwangere) Frau<br />

über dieses genauso wie über ihren Körper<br />

verfügen dürfe. Und zwar nicht bloß<br />

in den drei »ausgesprochen präzisen und<br />

menschlich schwierigen Fällen«, wo dieses<br />

Recht jetzt lediglich erstmalig verankert<br />

wird, sondern prinzipiell immer<br />

und überall.<br />

Präsidentin Michelle Bachelet unterzeichnet Chiles neue Abtreibungsgesetzgebung<br />

Dafür spricht auch die Genese des Gesetzes.<br />

An dessen Entwurf beteiligt war<br />

die Organisation MILES, die wiederum<br />

von »Catholics for a choice« unterstützt<br />

wird, einer Vereinigung, die sich in den<br />

Vereinigten Staaten von Amerika für ein<br />

»Recht auf Abtreibung« starkmacht und<br />

»Keine humanitäre Antwort auf<br />

die Dramen, die Frauen erleben.«<br />

die dort geltende, ungleich liberale Abtreibungsgesetzgebung<br />

gegen Kritik von<br />

Bischöfen und Lebensrechtlern verteidigt.<br />

MILES steht für »Tausende« und<br />

soll die Zahl der Unterstützer verdeutlichen,<br />

die hinter der kleinen, schlagkräftigen<br />

Lobbyorganisation stünden. Und<br />

in der Tat: In dem katholisch geprägten<br />

Staat unterstützten Umfragen zufolge<br />

70 Prozent der Befragten das Gesetz der<br />

»Tres Causales« <strong>–</strong> der »drei Gründe«.<br />

Nur, dass deren Initiatoren eben viel<br />

weiterreichende Pläne haben: »Es handelt<br />

sich um einen historischen Prozess,<br />

der während der Militärdiktatur aufgehalten<br />

wurde. Aber heute haben wir eine<br />

Stimme, um zu kämpfen, und die Möglichkeit<br />

des Wandels, damit das Parlament<br />

endlich für uns spricht«, erklärt MILES-<br />

Mitarbeiterin Constanza Fernandez. MI-<br />

LES-Leiterin Claudia Dides wird sogar<br />

noch deutlicher: »Seit 25 Jahren wird ein<br />

negatives Image der Abtreibung konstruiert<br />

und die Regierung hat nichts dagegen<br />

getan. In dieser Zeit haben konservative<br />

Gruppen dieses Image nicht nur in Chile,<br />

sondern weltweit verbreitet. Das ist ein<br />

sehr starker Gegenangriff.«<br />

Teile der Regierung wollen sogar noch<br />

weiter gehen. Wie die katholische Zeitung<br />

»Die Tagespost« im Sommer dieses<br />

Jahres berichtete, wollte der progressive<br />

Flügel der Regierung Bachelet das Recht<br />

von Ärzten einschränken, die Mitwirkung<br />

an einer Abtreibung unter Berufung auf<br />

das Gewissen zu verweigern. Selbst das<br />

Universitätsklinikum der Päpstlichen Universität,<br />

eines der größten Krankenhäuser<br />

des Landes, sollte verpflichtet werden,<br />

Abtreibungen vorzunehmen, wenn<br />

Patientinnen diese begehrten.<br />

Vor diesem Hintergrund muss auch die<br />

Haltung der Katholischen Kirche in der<br />

Causa gesehen werden. Wie »Radio Vatikan«<br />

berichtet, traf das Gesetz bei der<br />

chilenischen Bischofskonferenz auf heftige<br />

Kritik. So bezeichneten die katholischen<br />

Bischöfe Chiles das Vorhaben als<br />

eine »ungerechte Diskriminierung wehrloser<br />

menschlicher Wesen, deren Leben<br />

der Staat garantieren und schützen sollte«.<br />

Auch sei die Teillegalisierung der Abtreibung<br />

keine »humanitäre Antwort auf<br />

die großen Dramen, die Frauen in Extremsituationen<br />

erleben«.<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 11


A U S L A N D<br />

DANIEL RENNEN<br />

Brüder der Sterbehilfe<br />

Man kann nicht aus Nächstenliebe töten. Was spontan so gut wie niemand bestreiten wird,<br />

trifft <strong>–</strong> wenn es um konkrete Interessen geht <strong>–</strong> nicht mehr überall auf Zustimmung. Dass aber<br />

ausgerechnet einige katholische Ordensleute nach Schleichpfaden suchen und die<br />

»Tötung auf Verlangen« an den ordenseigenen Kliniken nicht mehr ausschließen wollen, ist vor<br />

allem eines <strong>–</strong> nämlich dreist. Über ein katholisches Possenspiel.<br />

Von Eckhardt Meister<br />

12<br />

Sie nennen sich »Broeders van Liefde«<br />

(dt.: »Brüder der Nächstenliebe«).<br />

Gegründet 1807 von dem<br />

»Diener Gottes« Peter Joseph Triest im<br />

belgischen Gent, ist der Orden der Brüder<br />

der Nächstenliebe heute in 31 Ländern<br />

der Welt vertreten. Sein Wahlspruch<br />

»Deus caritas est« (dt.: »Gott ist die Liebe«)<br />

flößt Vertrauen ein. Und das ist auch<br />

gut so. Denn zum spezifischen Charisma<br />

des katholischen Männerordens gehört<br />

die Pflege psychisch kranker Menschen.<br />

Nun aber hat der Orden ein Problem.<br />

Und zwar ein eklatantes. Der Grund: Der<br />

belgische Mutterzweig hat angekündigt,<br />

die in Belgien legale Tötung auf Verlangen<br />

in den von ihm betreuten Kliniken<br />

nicht länger auszuschließen. Genauer:<br />

Der dem belgischen Ordenszweig angeschlossene<br />

Trägerverein »VZW Provincialaat<br />

der Broeders van Liefde«, der für<br />

die Brüder der Nächstenliebe in Belgien<br />

15 Kliniken mit rund 5.500 Betten verwaltet,<br />

will das nicht mehr.<br />

In Belgien wurde die Tötung auf Verlangen<br />

im Jahr 2002 legalisiert und in den<br />

vergangenen 15 Jahren mehrfach liberalisiert.<br />

Galt die 2002 beschlossene Regelung<br />

ursprünglich praktisch »nur« für Krankenhausärzte,<br />

so dürfen seit 2005 auch Hausärzte<br />

mit einem sogenannten »Euthanasie-Kit«<br />

Patienten auf deren Verlangen töten.<br />

Um dieses zu ermöglichen, wurden<br />

Apotheken in Belgien gesetzlich verpflichtet,<br />

Päckchen mit Barbituraten vorzuhalten.<br />

Ein nachträglich eingefügter »Artikel<br />

3bis« des belgischen Euthanasiegesetzes sichert<br />

deshalb auch Apothekern Straflosigkeit<br />

zu. Er sieht vor, dass »ein Apotheker,<br />

der eine todbringende Substanz abgibt«,<br />

keine Straftat begeht, »wenn er dies auf<br />

der Grundlage einer Verschreibung tut, in<br />

der der Arzt ausdrücklich vermerkt, dass<br />

er in Übereinstimmung mit dem vorliegenden<br />

Gesetz handelt«. Auch Jugendliche<br />

und Demenz-Patienten können inzwischen<br />

in Belgien ihre Tötung verlangen.<br />

Ärzte, die sich weigern, die tödliche<br />

Spitze zu setzen, sind gesetzlich verpflichtet,<br />

Patienten, die sie darum ersuchen, an<br />

Kollegen zu überweisen, die ein elastischeres<br />

Gewissen besitzen.<br />

Die Folgen sind bekannt: Von Jahr zu<br />

Jahr steigt die Zahl der Menschen, die sich<br />

von Ärzten aus der Welt spritzen lassen.<br />

Allein 2015 starben in Belgien 2022 Menschen<br />

durch die Tötung auf Verlangen.<br />

Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen<br />

und noch mindestens einmal so hoch<br />

sein. Sogar die belgische Kontrollkommission<br />

geht davon aus, dass ihr nur etwa<br />

jede zweite Tötung auf Verlangen auch<br />

gemeldet wird. Nach offiziellen Angaben<br />

wurden zwischen 2002 und 2015 offiziell<br />

insgesamt 12.726 Menschen auf Verlangen<br />

getötet. Selbstverständlich stirbt<br />

auch heute noch die Mehrheit der Belgier<br />

eines natürlichen Todes. Und doch<br />

wird genau das immer schwieriger und<br />

zunehmend begründungspflichtig.<br />

Dass die Tötung auf Verlangen heute<br />

als etwas Normales betrachtet wird, erhöht<br />

auch den Druck auf Krankenhäuser<br />

und Kliniken in katholischer Trägerschaft.<br />

Nicht nur, dass immer mehr Patienten danach<br />

fragen. Auch Mitarbeiter fürchten<br />

um ihren Arbeitsplatz, wenn solchen Patienten<br />

die Tür gewiesen wird. Laut einer<br />

Studie aus dem Jahr 2006 lehnt in Flandern<br />

nur noch ein Fünftel der Einrichtungen<br />

in katholischer Trägerschaft die<br />

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KOREA.NET / KOREAN CULTURE AND INFORMATION SERVICE<br />

gezielt herbeigeführte Beendigung des<br />

Lebens von Patienten kategorisch ab. In<br />

rund vier Fünftel der katholischen Einrichtungen<br />

Flanderns erklärten hausinterne<br />

ethische Richtlinien die Euthanasie<br />

<strong>–</strong> wenn auch überwiegend in eng begrenzten<br />

Ausnahmefällen <strong>–</strong> inzwischen<br />

für prinzipiell möglich.<br />

Vor zwei Jahren schließlich sollen sich<br />

Patienten und Mitarbeiter an den »VZW<br />

Provincialaat der Broeders van Liefde«<br />

gewandt und eine Neuausrichtung der<br />

von dem Orden betreuten Kliniken gefordert<br />

haben. So jedenfalls begründet<br />

Raf de Rycke, Vorstandsvorsitzender des<br />

Trägervereins, die Ausarbeitung eines<br />

Positionspapiers, in dem die Tötung auf<br />

Verlangen für psychisch kranke Patienten<br />

nicht mehr ausgeschlossen wird. Er<br />

sei kein Fan oder Förderer der Tötung<br />

auf Verlangen. In Belgien habe es jedoch<br />

eine Entwicklung in dieser ethischen Frage<br />

gegeben und darauf müsse seine Organisation<br />

eine Antwort geben, lässt de<br />

Rycke sich zitieren.<br />

Im April schließlich kündigte der belgische<br />

Ordenszweig dann auf seiner Homepage<br />

an, die von ihm getragenen Kliniken<br />

schlössen die Tötung auf Verlangen<br />

nicht mehr kategorisch aus. Trotzdem<br />

wolle man das Leben schützen und die<br />

Tötung auf Verlangen nur dann durchführen,<br />

wenn es keine anderen Behandlungsperspektiven<br />

mehr gebe, so die Ordensbrüder<br />

weiter.<br />

Der Generalsuperior des Ordens, Rene<br />

Stockmann, kritisierte kurz darauf die<br />

Entscheidung des belgischen Zweigs. Es<br />

sei nicht akzeptabel, in Einrichtungen des<br />

Ordens Euthanasie durchzuführen, erklärte<br />

der Ordensobere in Rom und kündigte<br />

an, nun mit der Führung des Ordens<br />

im Vatikan und den belgischen Bischöfen<br />

über mögliche Konsequenzen zu beraten.<br />

Sowohl die vatikanische Glaubenskongregation<br />

als auch Stockmann forderten<br />

von dem belgischen Ordenszweig<br />

und dem ihm angeschlossenen Verein die<br />

Rückkehr zur Lehre der Katholischen<br />

Kirche. Sollte sich der Verein stattdessen<br />

entschließen, die Tötung auf Verlangen<br />

in den von ihm getragenen Kliniken<br />

zu dulden, müsse sich der Orden<br />

von dem Verein trennen. »Das wäre sehr<br />

schlimm, weil 15 unserer psychiatrischen<br />

Krankenhäuser ihre katholische Identität<br />

verlieren würden«, sagte Stockmann<br />

der in Paris editierten katholischen Zeitung<br />

»La Croix«.<br />

Im August meldete sich dann auch<br />

Papst Franziskus zu Wort und forderte<br />

die »Brüder der Nächstenliebe« auf, keine<br />

Tötung auf Verlangen in den von dem<br />

Orden getragenen Kliniken mehr anzubieten.<br />

Der Vatikan setzte den Ordensbrüdern<br />

eine Frist bis Ende August, bis<br />

zu der sie eine entsprechende Erklärung<br />

abzugeben hätten.<br />

Um den Forderungen des Papstes zu<br />

genügen, müsste jedes Ordensmitglied<br />

im Vorstand des Vereins, der die Kliniken<br />

betreibt, einen gemeinsamen Brief<br />

an den Ordensoberen unterzeichnen. In<br />

dem Schreiben sollten die Ordensbrüder<br />

erklären, dass sie vollständig hinter<br />

der Lehre der Katholischen Kirche stünden,<br />

die »zu jeder Zeit bekräftigt hat,<br />

Papst Franziskus<br />

dass menschliches Leben unbedingt respektiert<br />

werden muss, von dem Moment<br />

der Empfängnis an bis zu seinem natürlichen<br />

Ende«.<br />

Ordensbrüder, die die Unterzeichnung<br />

verweigerten, drohte der Vatikan<br />

mit kirchenrechtlichen Sanktionen. Sogar<br />

eine Aberkennung des Ordensstatus<br />

könne dann nicht mehr ausgeschlossen<br />

werden. »Die Zeiten von ›Roma locuta,<br />

causa finita‹ (dt.: ›Rom hat gesprochen,<br />

die Sache ist erledigt‹) sind lange vorbei«,<br />

twitterte daraufhin der frühere EU-Ratspräsident<br />

und ehemalige belgische Ministerpräsident<br />

Herman van Rumpoy. Der<br />

Katholik sitzt ebenfalls im Vorstand des<br />

Vereins, der die Kliniken des belgischen<br />

Ordenszweigs verwaltet. Dem Vorstand<br />

des Vereins gehören elf Laien und drei<br />

Brüder des belgischen Ordenszweigs an.<br />

Die Fronten sind verhärtet und ein<br />

Einlenken des belgischen Ordenszweigs<br />

und des die Kliniken tragenden Vereins<br />

nicht in Sicht. Im Gegenteil. Nachdem<br />

der Vatikan die von ihm gesetzte Frist<br />

bis zur nächsten Sitzung des Vereinsvorstands<br />

verlängerte, erklärte dieser, bei<br />

seiner Entscheidung bleiben zu wollen.<br />

ANDRIES VAN DEN ABEELE CC-BY-SA/GFDL<br />

Mehr noch: Der Verein vertrat gar die<br />

Position, sich im Einklang mit der Lehre<br />

der Katholischen Kirche zu befinden.<br />

Die Begründung für diese steile These<br />

lautet in etwa so: Es sei guter katholischer<br />

Brauch, die kirchliche Lehre an<br />

die kulturellen Gegebenheiten anzupassen.<br />

Und da die Tötung auf Verlangen<br />

als Teil der belgischen Kultur angesehen<br />

werden könne, sei das, was dem belgischen<br />

Zweig an seinen Kliniken vorschwebe,<br />

gelebte Inkulturation der katholischen<br />

Lehre.<br />

René Stockmann<br />

Selbst für Nichtkatholiken ist das starker<br />

Tobak. Die Antwort des Generalsuperiors<br />

ließ denn auch nicht lange auf sich<br />

warten. Er »schäme« sich für Position seiner<br />

belgischen Mitbrüder, ließ Stockmann<br />

wissen und zeigte sich »überrascht«, dass<br />

die Brüder glaubten, ihre Entscheidung<br />

lasse sich mit der katholischen Lehre vereinbaren.<br />

Der absolute Respekt gegenüber<br />

menschlichem Leben sei ein »universaler<br />

Wert«, der nicht »kulturspezifisch«<br />

abgetan werden könne. Der Vatikan<br />

und die Generalverwaltung nähmen<br />

das Thema sehr ernst. Sie hätten sicherzustellen,<br />

dass die Bezeichnung »katholisch«<br />

nicht erodiere oder missbräuchlich<br />

verwendet werde. Die Kongregation<br />

habe dafür zu sorgen, dass das »Charisma<br />

der Nächstenliebe auch weiterhin<br />

auf wirklicher Barmherzigkeit begründet<br />

ist und sich nicht in eine Karikatur verwandelt«,<br />

so Stockmann.<br />

Mit anderen Worten: Weder der Vatikan<br />

noch die Ordenszentrale der »Brüder<br />

der Nächstenliebe« in Rom ist gewillt,<br />

sich von dem belgischen Zweig und dem<br />

ihm angeschlossenen Verein auf der Nase<br />

herumtanzen zu lassen.<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 13


N A C H R U F<br />

© RAIMOND SPEKKING / CC BY-SA 4.0 (VIA WIKIMEDIA COMMONS)<br />

14<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3


Gelegen oder ungelegen<br />

Der am 5. Juli <strong>2017</strong> verstorbene Joachim Kardinal Meisner war nicht nur ein großer Mann Gottes und<br />

der Kirche, sondern auch ein leidenschaftlicher Streiter für den Schutz menschlichen Lebens <strong>–</strong> von<br />

dessen Anfang bis zu dessen natürlichem Tod. In Dankbarkeit für das immerwährende Interesse des<br />

Kardinals an Lebensrechtsthemen und seines großen Einsatzes für eben diese, dokumentiert<br />

»<strong>LebensForum</strong>« eine Predigt Meisners, die dieser am Fest der Unschuldigen Kinder im<br />

Hohen Dom zu Köln am 28. Dezember 2010 gehalten hat und die exemplarisch den Stellenwert<br />

verdeutlicht, den der frühere Erzbischof von Köln dem Lebensschutz stets beimaß.<br />

Von Joachim Kardinal Meisner<br />

Liebe Schwestern, liebe Brüder!<br />

1. Kurz nach dem letzten Weltkrieg<br />

schmerzten die Folgen des Krieges die<br />

Menschen noch zutiefst, und vielen war<br />

dabei überdeutlich geworden, wohin der<br />

Wahn von Ideologen und die Feigheit<br />

der Guten führen kann, jene Feigheit,<br />

von der der hl. Johannes Don Bosco sagt,<br />

dass sie die häufigste Ursache der bösen<br />

Taten ist. In dieser Zeit, 1949, verfasste<br />

der berühmte Theologe Romano Guardini<br />

eine kleine Schrift über das Recht<br />

des ungeborenen Menschenlebens. Es<br />

lohnt sich, diese Schrift <strong>–</strong> leider <strong>–</strong> angesichts<br />

der Debatte um die Präimplantationsdiagnostik/PID<br />

heute wieder erneut<br />

zur Kenntnis zu nehmen. Im Abschnitt<br />

mit dem Titel »Der entscheidende Gesichtspunkt«<br />

schreibt Romano Guardini:<br />

»Die endgültige Antwort liegt im Hinweis<br />

auf die Tatsache, dass das heranreifende<br />

Leben ein Mensch ist. Den Menschen<br />

aber darf man nicht töten, es sei<br />

denn in der Notwehr (...) und der Grund<br />

dafür liegt in der Würde seiner Person.«<br />

Mit anderen Worten: Der Mensch entwickelt<br />

sich nicht zum Menschen, sondern<br />

als Mensch, weil er Person ist. Denn, so<br />

Guardini weiter: »Nicht deshalb ist der<br />

Mensch unantastbar, weil er lebt und daher<br />

ein Recht auf Leben hat. Ein solches<br />

Recht hätte auch das Tier, denn das lebt<br />

ebenfalls (...) Sondern das Leben des Menschen<br />

darf nicht angetastet werden, weil<br />

er Person ist.« Dann definiert Guardini<br />

diesen Begriff der Person und fügt hinzu:<br />

»Sie ist nicht psychologischer, sondern<br />

existentieller Natur. Grundsätzlich<br />

hängt sie weder am Alter, noch am körperlich-seelischen<br />

Zustand, noch an der<br />

Begabung, sondern an der geistigen Seele,<br />

die in jedem Menschen ist. Die Personalität<br />

kann unbewusst sein wie beim Schlafenden;<br />

trotzdem ist sie da und muss geachtet<br />

werden. Sie kann unentfaltet sein<br />

wie beim Kinde; trotzdem beansprucht sie<br />

bereits den sittlichen Schutz. Es ist sogar<br />

möglich, dass sie überhaupt nicht in den<br />

Akt tritt, weil die physisch-psychischen<br />

Voraussetzungen dafür fehlen wie beim<br />

Geisteskranken ... Dadurch aber unterscheidet<br />

sich der gesittete Mensch vom<br />

Barbaren, dass er sie auch in dieser Verhüllung<br />

achtet. So kann sie auch verborgen<br />

sein wie beim Embryo, ist aber in ihm<br />

»Liebe akzeptiert den Menschen,<br />

seine Person, so wie sie ist.«<br />

bereits angelegt und hat ihr Recht. Diese<br />

Personalität gibt dem Menschen seine<br />

Würde (...). Die Achtung vor dem Menschen<br />

als Person gehört zu den Forderungen,<br />

die nicht diskutiert werden dürfen.<br />

Wird sie, die Würde, in Frage gestellt,<br />

gleitet alles in die Barbarei.« (Romano<br />

Guardini, Das Recht des werdenden<br />

Menschenlebens. Zur Diskussion um<br />

den § 218 des Strafgesetzbuches, aus der<br />

vom Presseamt des Erzbistums Köln herausgegebenen<br />

Reihe »Zeitfragen« Heft<br />

9, Seite 11f., Köln 1981).<br />

2. Liebe Schwestern, liebe Brüder, daran<br />

hat sich bis heute nichts geändert, auch<br />

nicht im Zeitalter des medizinischen und<br />

biotechnischen Fortschritts. Im Gegenteil,<br />

diese Errungenschaften können auch vom<br />

Heil ins Unheil, in die Barbarei kippen.<br />

Es gibt keine Würde zum Verramschen,<br />

zum Menschenschlussverkauf. Denn diese<br />

Würde wurzelt in dem Faktum, dass<br />

der Mensch von Gott erschaffen ist nach<br />

seinem Ebenbild. Im Ebenbild <strong>–</strong> vergessen<br />

wir das nicht! <strong>–</strong> ist Gott als Urbild gegenwärtig.<br />

Deshalb, so heißt es im Buch<br />

der Weisheit, betrachtet der Kreator sein<br />

Geschöpf auch »mit großer Ehrfurcht«,<br />

denn er erkennt sich selbst im Menschen.<br />

Wer Hand an den Menschen legt, in welcher<br />

Phase seiner biologischen Entwicklung<br />

auch immer, trifft Gott. Das ahnen<br />

gottlob auch viele Zeitgenossen, wie die<br />

letzten Diskussionen über die PID zeigen.<br />

Auch die Bundeskanzlerin hat sich ja für<br />

ein striktes Verbot der Präimplantationsdiagnostik<br />

ausgesprochen. Hier gibt es<br />

keinen Mittelweg, keinen Kompromiss.<br />

Der Mensch in seiner Würde ist von dem<br />

Moment an da, wo die Eizelle befruchtet<br />

ist. Ab diesem Moment ist nicht nur neues<br />

Leben vorhanden, das sich als Mensch<br />

entwickelt. Ab diesem Moment stehen wir<br />

vor einer neuen genetischen Identität, d. h.<br />

einem einzigartigen neuen Ebenbild Gottes.<br />

Und niemand hat das Recht, hier eine<br />

Auswahl zu treffen, weil ihm die Verhüllung<br />

dieser Identität nicht passt. PID<br />

zieht immer Selektion und Tötung nach<br />

sich. Wer PID zulässt, sagt Nein zum Leben<br />

und damit Nein zum Schöpfer und<br />

damit Nein zu Gott selbst. Dieses Nein<br />

aber bedingt gleichsam lawinenartig eine<br />

weitere Lockerung des Lebensschutzes:<br />

Der Präsident der Bundesärztekammer,<br />

Hoppe, geht jetzt davon aus, dass auch<br />

der Bundestag 2011 für eine bedingte Zulassung<br />

von PID stimmen wird. Gleichzeitig<br />

erklärte Hoppe, auch das ärztliche<br />

Berufsrecht sollte in dem Sinne geändert<br />

werden, dass eine assistierte Selbsttötung<br />

durch Ärzte nicht mehr strafrechtlich verfolgt<br />

wird.<br />

Warum treffen sich denn viele verantwortungsbewusste<br />

und bedrückte Chris-<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 15


N A C H R U F<br />

Joachim Kardinal Meisner (25.12.1933-5.7.<strong>2017</strong>)<br />

ten gerade am Fest der Unschuldigen Kinder,<br />

um ihre Stimme besonders für das<br />

Leben und die ungeborenen Kinder zu<br />

erheben? Sie sehen mit Recht, dass auch<br />

Herodes damals eine Selektion vorgenommen<br />

hat: »Er ließ in Bethlehem und<br />

der ganzen Umgebung alle Knaben bis<br />

zum Alter von zwei Jahren töten, genau<br />

der Zeit entsprechend, die er von den<br />

Sterndeutern erfahren hatte« (Mt 2,16).<br />

So haben wir es soeben im Evangelium<br />

bei Matthäus 2,16 gehört. Die Kriterien<br />

des Herodes waren: Ort, Alter, Geschlecht,<br />

Stand der Forschung. Die Befürworter<br />

der PID haben auch ihre Kriterien,<br />

und sie machen sich auch den<br />

Stand der Forschung zunutze. Gewiss, es<br />

ist politisch unkorrekt, diesen Vergleich<br />

zu ziehen, weil die Befürworter von PID<br />

um ihre Entscheidung gerungen haben.<br />

Aber bei allem Ringen: Diese Entscheidung<br />

ist falsch! Sie tötet genetische Identitäten,<br />

sie tötet die Einzigartigkeit dieser<br />

Identitäten, sie tötet Personen, Menschen,<br />

sie tötet Abbilder Gottes, sie vergreift<br />

sich an Gott selbst.<br />

3. Die Befürworter der PID verweisen<br />

oftmals auf die absurde Situation,<br />

dass ein künstlich gezeugtes Kind später<br />

doch noch abgetrieben werden kann,<br />

wenn während der Schwangerschaft gesundheitliche<br />

Schäden festgestellt werden<br />

können. Was in der Petrischale verboten<br />

sein soll, ist aber im Mutterleib möglich,<br />

so wird argumentiert. Das ist in der Tat<br />

absurd. Hier liegt die Absurdität der ganzen<br />

gesetzlichen Abtreibungsproblematik.<br />

Das kann aber niemals ein Argument<br />

für die PID sein, denn hier wird der eine<br />

Tötungszeitpunkt gegen den anderen<br />

ins Feld geführt. Wahr ist einzig und allein:<br />

Der Mensch darf ab dem Zeitpunkt<br />

seiner Zeugung niemals getötet werden.<br />

16<br />

Hier kommen die Befürworter der PID<br />

und sagen: Bei der PID sterbe ein etwa 150<br />

Mikrometer großer Embryo vor der Einnistung.<br />

Den könne man mit bloßem Auge<br />

gar nicht sehen. Kann man denn die Seele<br />

des Menschen sehen? Kann man seine<br />

Würde sehen? Kann man seine Personalität<br />

sehen? Dann kommen sie und sagen:<br />

Euer beinhartes PID-Verbot ist herzlos,<br />

ihr versteht die Gefühle der Betroffenen<br />

nicht, ihr seid intolerant. Geht es hier um<br />

Gefühle oder Leben? Geht es um Gefühle<br />

oder Wahrheit? Sicher ist: Es geht bei<br />

diesem Thema nicht vorrangig um Gefühle.<br />

Es geht zuerst um den Logos, um<br />

DPA<br />

die Vernunft. »Der christliche<br />

Glaube ist die Option für<br />

die Priorität der Vernunft«,<br />

schrieb der heutige Papst Benedikt<br />

XVI. vor zehn Jahren<br />

in einem Buch über »Glaube,<br />

Wahrheit, Toleranz«. Es<br />

ist keine Toleranz, eine Person<br />

aus Angst töten zu lassen.<br />

Das fleischgewordene<br />

Wort, das ist der Mensch,<br />

ist mehr wert als Gefühle.<br />

Wer seine Vernunft gebraucht<br />

und glaubt, der kann<br />

auch Ängste überwinden,<br />

der kann auch Hoffnung leben.<br />

Das schmerzliche Thema<br />

PID zeigt einmal wieder:<br />

Es gibt bei Gott keine<br />

halben Sachen. Das gilt<br />

auch für sein Abbild. Gott wird Mensch,<br />

damit der Mensch wie Gott werde. Das<br />

ist das Thema zu Weihnachten. Es kann<br />

nicht göttlich sein, zu töten. Es kann nicht<br />

göttlich sein, zu selektieren. Es kann nicht<br />

göttlich sein, Angst triumphieren zu lassen.<br />

Es kann nicht göttlich sein, die Größe<br />

des Menschen auf ein Design zu reduzieren,<br />

auf ein Modell nach Maß unserer<br />

begrenzten Vorstellungen, nach dem Maß<br />

des Misstrauens gegenüber dem Leben.<br />

Und es kann nicht göttlich sein, das Leben<br />

nach dem Markt auszurichten, nach<br />

Angebot und Nachfrage.<br />

4. Das gilt auch für größere Lebensfragen.<br />

Man entschließt sich nicht, ein Kind<br />

zu bekommen, sondern »schafft« es sich<br />

an. Und das möglichst spät. Natürlich ist<br />

der Mensch frei, diese Entscheidung nach<br />

seinen persönlichen Umständen zu treffen.<br />

Aber die Selbstverständlichkeit, mit<br />

der eine Liebesbeziehung auch diese Gedanken<br />

verfolgte, ist mit der Schwächung<br />

der christlichen Substanz in der Gesellschaft<br />

verloren gegangen. Sicher stellte<br />

man sich früher auch die Frage, was ein<br />

Kind kostet. Aber die Frage lautete eher:<br />

»Wie schaffen wir es?« Und in dieser Frage<br />

ist das Beziehungsdreieck Mutter-Vater-Kind<br />

schon enthalten. Heute lautet<br />

die Frage eher: »Was bringt es? Was kostet<br />

es? Sollen wir überhaupt eins haben?«<br />

Und darin schwingt die Abwägung Kind-<br />

Konsum-Optionsverlust mit. Wer kleine<br />

Kinder hat, kann nicht mehr so ohne weiteres<br />

auf Partys, in die Oper, ins Theater,<br />

auf den Markt der Freizeitgesellschaft ziehen.<br />

Dass die Beziehung zu einem Menschen<br />

auch Leid mit sich bringen kann,<br />

spielt in der generativen Überlegung insofern<br />

noch eine Rolle, dass man dieses<br />

Leid ausklammern will, selbst um den Preis<br />

des Lebens. Das Preis-Leistungs-Verhältnis<br />

und das Kosten-Nutzen-Denken haben<br />

den Faktor Kind objektiviert. Besonders<br />

deutlich wird das bei der PID-Debatte<br />

und <strong>–</strong> nebenbei bemerkt <strong>–</strong> auch bei<br />

der Scheidung, wenn die Besuchs-, Sorge-<br />

oder Umgangsrechte mit dem Kind<br />

wie Claimrechte abgesteckt, eingeschränkt<br />

oder gar verboten werden.<br />

5. Liebe Schwestern, liebe Brüder,<br />

merken wir, wie sehr dieses Marktdenken<br />

von heute bei uns in Fleisch und Blut<br />

übergegangen ist? Zuerst wird die Angebotslage<br />

gesichtet, bevor man sich festlegt.<br />

Früher war die Beziehung zu Personen<br />

ausschlaggebend, heute ist es der<br />

»Konsum- und Freizeitwert«, manchmal<br />

auch nur der persönliche Nutzen<br />

für die Karriere. Hier offenbart sich ein<br />

Verlust an Menschlichkeit. Unmerklich<br />

hat sich dieses optionale Denken auch<br />

in die Unfähigkeit eingeschlichen, klare<br />

Aussagen zu treffen, zum Beispiel »Ja«<br />

zu sagen zum Leben, so wie es kommt,<br />

so wie Gott es schickt. Das Schicksal ist<br />

kein Schlag, den der Christ nicht ertragen<br />

könnte. Natürlich, eine Gesellschaft, die<br />

permanent nach Konsens und Kompromissen<br />

sucht, ist das nicht mehr gewohnt.<br />

Gesundheit ist gewiss ein hohes Gut,<br />

das höchste Gut des Menschen ist sie nicht.<br />

Das höchste Gut ist die Beziehung zu Gott,<br />

die Liebesfähigkeit. Sie bringt schließlich<br />

das wirkliche Glück, die Erfüllung. Das<br />

kann man bei vielen Familien sehen, die<br />

ein behindertes Kind in ihrer Mitte haben.<br />

Liebe ist stärker als Leid, Liebe selektiert<br />

nicht, Liebe akzeptiert den ganzen Menschen,<br />

seine Person, so wie sie ist. Einen<br />

Menschen annehmen und lieben, schrieb<br />

Dostojewskij, heißt, ihn so zu sehen, wie<br />

Gott ihn gemeint hat. Nicht wie wir ihn<br />

wollen, nicht wie der Mensch ihn sich zurechtbasteln<br />

will. Deshalb ist das Nein zur<br />

PID nicht nur ein Nein zur Anmaßung des<br />

Menschen, das Ebenbild Gottes nach seinem<br />

Bild zu schaffen. Es ist ganz besonders<br />

ein Ja zur Schöpfung, ein Ja zur Liebe.<br />

Dazu sind wir da und berufen. Amen.<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3


N A C H R U F<br />

Ein Nachruf in Zitaten<br />

Statt eines klassischen Nachrufes dokumentiert »<strong>LebensForum</strong>« einen solchen in Zitaten, die dem<br />

vergriffenen Buch »Mit dem Herzen sehen <strong>–</strong> Chance und Auftrag der Kirche zu Beginn des dritten<br />

Jahrtausends« (MM-Verlag, Aachen 1999) entnommen sind. In dem Interviewbuch antwortete<br />

Joachim Kardinal Meisner auf Fragen, die ihm der Journalist und Publizist Stefan Rehder stellte.<br />

»Wenn eine Frau eine Abtreibung erwägt,<br />

dann besteht eine Not zweier Menschen:<br />

eine Not der Frau und eine Not des<br />

in ihr wachsenden Kindes. Die Kirche wird<br />

niemals dafür plädieren, die Not eines dieser<br />

beiden Menschen zu vermehren, aber<br />

sie muss darauf hinweisen, dass die Nöte<br />

sich qualitativ in einem ganz entscheidenden<br />

Punkt unterscheiden: Das Kind ist<br />

in jedem Fall in Lebensgefahr. Nicht aus<br />

Missachtung für Frauen in Not, sondern<br />

aus dem allgemeinen menschlichen Prinzip,<br />

da zu helfen, wo die Not am größten<br />

ist, richtet daher die Kirche zunächst den<br />

Blick auf dieses in Lebensgefahr befindliche<br />

unschuldige Kind. Und wenn überhaupt<br />

über ›schonende Abtreibungsmethoden‹<br />

geredet werden kann, dann muss die Kirche<br />

also zunächst nach der Wirkung auf<br />

das Kind fragen. Dabei ist zuzugestehen,<br />

dass es bei der Tötung von Menschen Methoden<br />

unterschiedlichen Grausamkeitsgrades<br />

gibt, aber es ist klar, dass der Ausdruck<br />

›schonend‹ in jedem Fall zynisch ist.<br />

Es gibt nämlich für das Kind keine wirklich<br />

schonende Methode, denn der Effekt<br />

jeder beliebigen Abtreibungsmethode ist<br />

die Vernichtung des Kindes.«<br />

»Man hat in der Abtreibungsdiskussion<br />

der siebziger Jahre stets bestritten,<br />

dass die Aufgabe des prinzipiellen Lebensschutzes<br />

am Anfang des Lebens konsequenterweise<br />

auch Folgen für den Lebensschutz<br />

am Ende des Lebens haben<br />

wird. Der Kirche, die schon damals auf<br />

diese Gefahren hingewiesen hat, wurde die<br />

Beschwörung von Horrorszenarien vorgeworfen.<br />

Heute sind unsere schlimmsten<br />

Befürchtungen bereits übertroffen. In<br />

den Niederlanden, die schon bei der Freigabe<br />

von Abtreibungen die zunehmende<br />

Einschränkung der Menschenrechte<br />

für Niederländer demagogisch als ›Fortschrittlichkeit‹<br />

deklariert haben, werden<br />

inzwischen mehrere tausend Menschen<br />

jedes Jahr ohne eigene Zustimmung nach<br />

dem Beschluss von ›Kommissionen‹ gegebenenfalls<br />

unter Zuziehung von Angehörigen<br />

totgespritzt. Die in anderen Ländern<br />

viel weiter fortgeschrittene moderne<br />

Schmerzmedizin führt hier ein Schattendasein,<br />

da man Schmerzen am sichersten<br />

durch Tötung ›vermeiden‹ kann. Dieser<br />

Zynismus ist kaum mehr zu überbieten.«<br />

Joachim Kardinal Meisner =<br />

»Ich habe den Weg, den die deutschen<br />

Bischöfe nach der Neufassung der Abtreibungsgesetze<br />

1993 bzw. 1995 mehrheitlich<br />

beschritten haben, von Anfang an als<br />

problematisch angesehen. Im Hinblick auf<br />

die Einheit der Kirche in Deutschland und<br />

die Chance, schwangeren Frauen in Notund<br />

Konfliktsituationen wirksam beistehen<br />

zu können, war ich jedoch bereit, eine<br />

Mitwirkung in der gesetzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung<br />

zu erproben.<br />

Unsere Richtlinien, die hierzu 1995 von<br />

der Bischofskonferenz erlassen wurden,<br />

waren bewusst nur als ›vorläufige Richtlinien‹<br />

gekennzeichnet. Denn wir waren<br />

uns von Anfang an klar darüber, dass die<br />

Grundfrage, ob die Kirche überhaupt im<br />

System der staatlichen Beratung bleiben<br />

könnte, noch zu klären bliebe <strong>–</strong> und dass<br />

dies nicht ohne die Hilfe des Papstes ging.<br />

Weil das in den Medien oft nicht klar herausgestellt<br />

wird, will ich hier noch einmal<br />

darauf hinweisen: Es waren also die<br />

deutschen Bischöfe, die im Gespräch mit<br />

dem Heiligen Stuhl nach einer endgültigen<br />

Lösung gesucht haben.«<br />

»Es ist doch skandalös, wenn in unserer<br />

Gesellschaft immer mehr Menschen<br />

von einem ›Recht auf Abtreibung‹ sprechen,<br />

nur weil die ,rechtswidrige Abtreibung’<br />

nach dem Willen des Gesetzgebers<br />

unter bestimmten Bedingungen ›straffrei‹<br />

bleiben soll. Hier muss die Kirche doch ein<br />

sichtbares Zeichen für die gesamte Gesellschaft<br />

setzen. Und genau das tut sie jetzt.<br />

Unsere Beratung soll nicht länger innerhalb<br />

eines gesetzlichen Systems bleiben,<br />

in dem sie als Bedingung für die straffreie<br />

Tötung ungeborener Kinder wirkt.«<br />

»Man kann aber auch hoffen, dass der<br />

himmelschreiende Kontrast zwischen der<br />

Sensibilität für die Umwelt und der Gleichgültigkeit<br />

gegenüber dem Lebensrecht von<br />

unerwünschten Menschen irgendwann<br />

so schrill wird, dass die Menschen wieder<br />

nachdenklich werden. Das geschieht<br />

manchmal schon heute. So hat die Partei<br />

Bündnis 90/Die Grünen in der Diskussion<br />

über den sogenannten Hirntod und<br />

auch über die sogenannte Bioethik-Konvention<br />

respektable Positionen bezogen.<br />

Der Embryonenschutz wird sehr ernst genommen.<br />

Manche Politiker dieser Partei<br />

bemerken bereits den Widerspruch zwischen<br />

der strikten Ablehnung jeder Manipulation<br />

des Embryos und der widerspruchslosen<br />

Akzeptanz der größtmöglichen<br />

Manipulation des Embryos, nämlich<br />

seiner Tötung. Wir Christen müssen<br />

das Tabu, über Abtreibung zu reden, so<br />

lange brechen, bis solche Widersprüche<br />

nicht mehr übersehen werden können.«<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 17


P O L I T I K<br />

Hornberger Schießen<br />

Lange ist es her. Um die Jahrtausendwende galten die aus menschlichen Embryonen gewonnenen<br />

embryonalen Stammzellen als der »heilige Gral« der regenerativen Medizin. Ein aus dem Boden gestampftes<br />

Stammzellgesetz sollte sicherstellen, dass deutsche Forscher von den vermeintlichen<br />

Segnungen profitieren können, ohne selbst Embryonen töten zu müssen. In diesem Jahr hat die<br />

Bundesregierung ihren siebten Erfahrungsbericht über die Durchführung dieses Gesetzes vorgelegt.<br />

Von Urs Rotthaus<br />

Die Bundesregierung hat ihren<br />

»Siebten Erfahrungsbericht über<br />

die Durchführung des Stammzellgesetzes«<br />

(Bundestagsdrucksache<br />

18/12761) vorgelegt. Der 40-seitige Bericht<br />

umfasst den Zeitraum vom 1. Januar<br />

2014 bis zum 31. Dezember 2015.<br />

Demnach hat die beim Robert-Koch-Institut<br />

angesiedelte Zentrale Ethik-Kommission<br />

für Stammzellforschung (ZES) in<br />

den Jahren 2014/2015 ganze 17 neue Anträge<br />

auf den Import humaner embryonaler<br />

Stammzellen (hES-Zellen) genehmigt.<br />

Damit steigt die Zahl der deutschen<br />

Forschern genehmigten Importe embryonaler<br />

Stammzelllinien seit dem Inkrafttreten<br />

des umstrittenen Gesetzes im Jahr<br />

2002 auf 105. In 19 weiteren Fällen hätten<br />

Forscher, so der Bericht weiter, eine<br />

Ausweitung bereits erteilter Genehmigungen<br />

beantragt.<br />

Laut dem 2002 verabschiedeten<br />

Stammzellgesetz ist die Forschung mit<br />

embryonalen Stammzellen in Deutschland<br />

grundsätzlich verboten. In als Ausnahmen<br />

deklarierten Fällen können Forscher in<br />

Deutschland jedoch den Import im Ausland<br />

gewonnener embryonaler Stammzellen<br />

beantragen. Über die Bewilligung<br />

der Anträge entscheidet jeweils die ZES.<br />

Seit 2002 gibt es allerdings keinen einzigen<br />

dokumentierten Fall, in dem Forschern<br />

der Import embryonaler Stammzellen<br />

verweigert wurde.<br />

hES-Zellen werden aus menschlichen<br />

Embryonen gewonnen, die ursprünglich<br />

für künstliche Befruchtungen erzeugt wurden,<br />

dann aber für eine solche aus unterschiedlichen<br />

Gründen nicht mehr benötigt<br />

wurden.<br />

Seit der Ermöglichung der Präimplantationsdiagnostik<br />

(PID) steigt die Zahl<br />

solcher »verwaisten« Embryonen auch<br />

in Deutschland an. Der Grund: Für die<br />

erfolgreiche Durchführung einer PID,<br />

bei der ein im Labor erzeugter Embryo<br />

18<br />

noch vor dem Transfer in die Gebärmutter<br />

auf genetische Auffälligkeiten untersucht<br />

wird, wird international die Erzeugung<br />

von sieben bis zwölf Embryonen für<br />

erforderlich erachtet.<br />

Ursprünglich wurde in Deutschland<br />

nach der sogenannten »Dreierregel« verfahren.<br />

Nach dieser durften bei künstlichen<br />

Befruchtungen maximal drei Embryonen<br />

erzeugt werden. Damit sollte<br />

verhindert werden, dass durch künstliche<br />

Befruchtungen eine Vielzahl »überzähliger<br />

Embryonen« entsteht.<br />

Die Forschung mit humanen embryonalen<br />

Stammzellen ist ethisch hoch umstritten.<br />

Der Grund hier: Bei der Entnahme<br />

der embryonalen Stammzellen<br />

»17 neue Anträge auf den Import<br />

embryonaler Stammzellen.«<br />

JANE GITSCHIER<br />

wird der Embryo zerstört. Weil das in<br />

Deutschland seit 1991 geltende Embryonenschutzgesetz<br />

(ESchG) jede Verwendung<br />

von Embryonen verbietet, die nicht<br />

ihrem Erhalt dienen, sollte das Stammzellgesetz<br />

Wissenschaftlern die Forschung<br />

mit embryonalen Stammzellen ermöglichen,<br />

ohne dass dafür in Deutschland<br />

Embryonen getötet werden.<br />

Wie in »<strong>LebensForum</strong>« berichtet, wollen<br />

Wissenschaftler um den Rechtsmediziner<br />

Jochen Taupitz das jedoch ändern.<br />

Sie fordern, dass verwaiste Embryonen,<br />

die ursprünglich zu reproduktiven Zwecken<br />

erzeugt wurden, künftig der Forschung<br />

zur Verfügung gestellt werden<br />

können. Dafür müsste das ESchG geändert<br />

werden. Das schreibt nämlich in Paragraf<br />

2, Absatz 1 unter der Überschrift<br />

»Missbräuchliche Verwendung menschlicher<br />

Embryonen« vor: »Wer einen extrakorporal<br />

erzeugten oder einer Frau vor<br />

Abschluss seiner Einnistung in der Gebärmutter<br />

entnommenen menschlichen<br />

Embryo veräußert oder zu einem nicht<br />

seiner Erhaltung dienenden Zweck abgibt,<br />

erwirbt oder verwendet, wird mit<br />

James A. Thomson<br />

Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder<br />

mit Geldstrafe bestraft.«<br />

Laut dem Stammzellgesetz müssen die<br />

mit dem Import embryonaler Stammzellen<br />

verfolgten Forschungsziele »hochrangig«<br />

sein. Auch darf sich der angestrebte<br />

Erkenntnisgewinn nicht anders als durch<br />

die Forschung mit embryonalen Stammzellen<br />

erzielen lassen. Ferner müssen die<br />

zu klärenden Fragestellungen zuvor im<br />

Tierversuch vorgeklärt worden sein.<br />

Laut dem Bericht der Bundesregierung<br />

arbeiten in Deutschland derzeit 75<br />

Arbeitsgruppen in 53 Forschungseinrich-<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3


tungen mit aus dem Ausland importierten<br />

hES-Zellen. Weltweit sollen nach Angaben<br />

des Human Pluripotent Stem Cell<br />

Registry derzeit mehr als 3.000 Zelllinien<br />

aus humanen embryonalen Stammzellen<br />

verfügbar sein.<br />

Interessanterweise hält der aktuelle<br />

Erfahrungsbericht der Bundesregierung<br />

über die Durchführung des Stammzellgesetzes<br />

hierzu jedoch fest: »Etwas im<br />

Gegensatz zu diesem Anstieg an verfügbaren<br />

neuen hES-Zellen lässt sich allerdings<br />

weiterhin eine Fokussierung der internationalen<br />

Forschung auf eine überschaubare<br />

Anzahl von Standard- bzw.<br />

Referenz-hES-Zelllinien beobachten«<br />

(S.17). Ursache hierfür könnte sein, dass<br />

DPA<br />

sich noch »keine substantiell neuen Bedingungen<br />

zur Ableitung und zur weiteren<br />

Kultivierung von hES-Zellen durchgesetzt<br />

haben und daher die Verwendung<br />

von gut charakterisierten Linien naheliegend<br />

erscheint«. Dieser Trend zeige sich<br />

»auch bei der Forschung an hES-Zellen<br />

in Deutschland. So wurden in allen 17<br />

während des aktuellen Berichtszeitraumes<br />

(2014/2015) genehmigten Anträgen<br />

nach dem Stammzellgesetz auch jeweils<br />

die Einfuhr und Verwendung einiger<br />

der ersten von James Thomson etablierten<br />

hES-Zellen genehmigt.« Dem<br />

US-Stammzellforscher gelang es 1998<br />

als Erstem, embryonale Stammzellen<br />

des Menschen dauerhaft im Labor zu<br />

kultivieren.<br />

Zur Erinnerung: In der Debatte im<br />

Vorfeld der Änderung des ohnehin umstrittenen<br />

Stammzellgesetzes im Frühjahr<br />

2008 war die vom Deutschen Bundestag<br />

mehrheitlich beschlossene Verlegung<br />

des Stichtags vom 1. Januar 2002<br />

auf den 1. Mai 2007 unter anderem mit<br />

der mangelnden Qualität der bis dahin<br />

etablierten embryonalen Stammzelllinien<br />

begründet worden.<br />

Aber mit der Wahrheit nahm man es<br />

in der Stammzelldebatte ohnehin nicht<br />

sonderlich genau. Von den damals noch<br />

als »Alleskönnern« gehandelten Zelltypen<br />

erwartete zum Beispiel Thomson eine<br />

»unbegrenzte Versorgung mit spezifischen<br />

Zelltypen zu Transplantationszwecken<br />

für eine ganze Reihe von Erkrankungen,<br />

vom Herzinfarkt über Morbus<br />

Parkinson bis zur Leukämie«. Und der<br />

Bonner Stammzellforscher Oliver Brüstle,<br />

der als Erster in Deutschland mit diesen<br />

Zellen zu arbeiten begann (weshalb<br />

das Stammzellgesetz von manchen auch<br />

»Lex Brüstle« genannt wird), versprach<br />

damals »Nervenzellen für Parkinson-<br />

Patienten, Herzmuskulatur für Infarktopfer,<br />

insulinbildende Zellen für Diabetiker<br />

und blutbildende Zellen für Leukämiekranke«.<br />

len heute Pharmafirmen dabei, die Kosten<br />

für die vergleichsweise teuren Tierversuche<br />

zu drücken.<br />

Verschwiegen wurden dagegen, dass<br />

humane embryonale Stammzellen ein bis<br />

zu 100-prozentiges Risiko besitzen, zu Tumoren<br />

zu entarten. »Alle embryonalen<br />

Stammzellen bilden Tumore aus, wenn sie<br />

im undifferenzierten Zustand in ein anderes<br />

Umfeld als das der frühen Embryonalentwicklung<br />

verpflanzt werden. Daher ist<br />

an eine aus diesen Zellen hergestellte Kultur<br />

die Bedingung absoluter Reinheit zu<br />

stellen, die bislang noch in keinem Ansatz<br />

(...) sicher« erreicht wurde, schrieb Gisela<br />

Badura-Lotter bereits 2005.<br />

Ein Problem, das, wie auch der aktuelle<br />

Erfahrungsbericht der Bundesregierung<br />

zeigt, auch zehn Jahre später noch nicht<br />

zufriedenstellend gelöst werden konnte.<br />

Was die Autoren des Berichts jedoch<br />

»Deutsche Forscher importierten<br />

die ältesten Stammzelllinien.«<br />

So wandlungsfähig wie eine Stammzelle: Oliver Brüstle<br />

»Auch nach 15 Jahren gibt es keine<br />

einzige Therapie mit hES-Zellen«<br />

Bis heute gibt es keine einzige Therapie<br />

mit embryonalen Stammzellen. Das<br />

Einzige, wozu die aus menschlichen Embryonen<br />

gewonnenen Zellen bisher tatsächlich<br />

taugen, ist ein Substitut: Als<br />

Testsysteme für Wirkstoffe von Medikamenten<br />

helfen embryonale Stammzel-<br />

nicht daran hindert, bereits die nächste<br />

bioethische Sau durchs Dorf zu treiben:<br />

»Angesichts der im Berichtszeitraum entstandenen<br />

Verfügbarkeit sehr effektiver<br />

Werkzeuge zur genetischen Manipulation<br />

von Zellen in vitro (insbesondere<br />

CRISPR/Cas) ist die genetische Veränderung<br />

von hES-Zellen mit deutlich geringerem<br />

Aufwand verbunden, als dies in<br />

der Vergangenheit der Fall war. Aus diesen<br />

Arbeiten werden neue Erkenntnisse<br />

über Veränderungen erwartet, die bei der<br />

jeweiligen Erkrankung auf molekularer<br />

und zellulärer Ebene auftreten, was zu<br />

einem besseren Verständnis der Pathogeneseprozesse<br />

und ggf. zu neuen Therapieansätzen«<br />

für Erkrankungen führen<br />

könne, die »derzeit nur inadäquat« behandelbar<br />

seien.<br />

Die derzeit nur inadäquate Behandlung<br />

von beispielsweise degenerativen<br />

Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson<br />

und dergleichen mehr führte um die Jahrtausendwende<br />

zu einer fiebrigen Goldgräberstimmung.<br />

Nicht nur, aber auch in<br />

Deutschland. Gelernt scheint man daraus<br />

noch nicht zu haben.<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 19


M A R S C H F Ü R D A S L E B E N<br />

Gänsehaut und Geschrei<br />

Auf der Wiese vor dem Reichstag und durch das Brandenburger Tor <strong>–</strong> Impressionen vom<br />

diesjährigen »Marsch für das Leben« in Berlin<br />

Von Stefan Rehder<br />

Gänsehaut« habe er gehabt, erzählt<br />

Sebastian, als die Teilnehmer des<br />

diesjährigen »Marsches für das<br />

Leben« das Gelände vor dem Berliner<br />

Reichstag wieder verlassen. Der 38-Jährige<br />

ist zum fünften Mal beim Marsch dabei.<br />

Auf der Bühne vor dem Reichstagsgebäude<br />

hat die Band »Gnadensohn« gerade<br />

ihren Song »Silber und Gold« intoniert.<br />

Der eingezäunte Bereich, den die Polizei<br />

den Marschteilnehmern zu ihrem Schutz<br />

auf der Wiese vor dem Reichstag zugewiesen<br />

hat, ist bereits zu gut Dreiviertel<br />

gefüllt. Ein Stück Niemandsland trennt<br />

den eingezäunten Bereich von der offenen<br />

Wiese. Dort skandieren einige Gegendemonstranten<br />

lautstark: »My body,<br />

my choice. Raise your voice!« (»Mein<br />

Körper, meine Wahl. Erhebt Eure Stimme!«)<br />

oder »Wir sind die Perversen! Wir<br />

sind Euch auf den Fersen!« Die Band<br />

»Gnadensohn« singt derweil: »Ich bin<br />

Licht auf Deinem Weg/ Die Schulter,<br />

20<br />

an der Du lehnst/ Bei mir darfst Du einfach<br />

sein/ So ohne Plan, nur Du allein/<br />

Wenn Du fällst, bin ich da/ Bist Du fern,<br />

bin ich nah/ Ich teile Deinen Schmerz/<br />

denn ich seh Dein Herz.«<br />

Die Gegendemonstranten erhöhen ihre<br />

Lautstärke. Dann verstummen sie völlig<br />

unvermittelt. Die Band singt: »Lass<br />

mich Deinen Herzschlag spüren/ und<br />

Deine Worte hören/ Du bist Liebe und<br />

Licht/ Du bist alles für mich/ Zeig mir<br />

Deine Welt/ denn ich hab Dich gewählt/<br />

Berlin <strong>2017</strong>: Erneut nahmen 7.500 Menschen am »Marsch für das Leben« teil<br />

Du bist Silber und Gold/ Du bist absolut<br />

gewollt.« »Ich weiß nicht«, sagt Sebastian,<br />

»ob die verstanden haben, dass<br />

sie mitgemeint waren. Aber für mich war<br />

das ein Gänsehaut-Moment.«<br />

»Wir sind eine Provokation. Aber wir<br />

lassen uns nicht provozieren«, lautet die<br />

Devise, die Hartmut Steeb, Generalsekretär<br />

der Evangelischen Allianz und Stellvertretender<br />

Vorsitzender des Bundesverbands<br />

Lebensrecht (BVL), ausgibt, bevor<br />

BISTUM REGENSBURG/TOBIAS LIMINSKI<br />

sich der Marsch, der in diesem Jahr unter<br />

dem Motto: »Die Schwächsten schützen.<br />

Ja, zu jedem Kind« steht, am Ende der<br />

Kundgebung in Bewegung setzt und auf<br />

die Scheidemannstraße Richtung Dorotheenstraße<br />

einbiegt.<br />

Die Route, die die Lebensrechtler<br />

nehmen, ist nicht einmal dem Veranstalter<br />

bekannt. Sie wurde, heißt es, diesmal<br />

geheim gehalten, um auch den Gegendemonstranten,<br />

die in diesem Jahr deutlich<br />

stärker vertreten sind als noch in vergangenen,<br />

die Störung des Marsches nicht<br />

zu einfach zu machen. 850 Beamte, einige<br />

davon in zivil, wurden nach Angaben<br />

der Polizei aufgeboten, um den<br />

Marsch zu schützen. Trotzdem gelingt<br />

es einer Handvoll Gegendemonstranten,<br />

die sich mit bürgerlicher Kleidung<br />

getarnt und unter die Marschteilnehmer<br />

gemischt haben, in der Dorotheenstraße,<br />

kurz vor der Kreuzung Wilhelmstraße,<br />

einer Teilnehmerin ein weißes Holzkreuz<br />

zu entreißen. Sofort ist ein Trupp<br />

Polizisten zur Stelle, kreist die chancenlosen<br />

Gegendemonstranten ein, drängt<br />

sie auf den Bürgersteig und stellt sie an<br />

der Gebäudewand. Die ganze Unternehmung<br />

dauert nur wenige Sekunden und<br />

läuft so geordnet und so sachlich ab, dass<br />

an Eskalation nicht einmal zu denken ist.<br />

Nach Angaben des BVL nahmen an<br />

diesem Marsch, wie im vergangenen Jahr,<br />

erneut 7.500 Menschen teil. »So viele<br />

junge Menschen«, meint ein aus dem<br />

Rheinland angereister Familienvater, der<br />

»zum ersten Mal« dabei ist und strahlt.<br />

»Und so viele junge Priester«, ergänzt<br />

seine Frau. Und in der Tat: Der Anteil<br />

beider Personengruppen ist ebenso auffällig<br />

gestiegen wie eine neue Personengruppe<br />

hinzugekommen ist: Menschen<br />

mit offensichtlichem Migrationshintergrund.<br />

An der Kreuzung Friedrichstraße<br />

biegt der Marsch, angeführt von der<br />

BVL-Vorsitzenden Alexandra Linder,<br />

rechts ab auf die Prachtallee Unter den<br />

Linden und nimmt Kurs auf das Brandenburger<br />

Tor. Der scheidende Bundestagspräsident<br />

Norbert Lammert (CDU) hat<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3


den Lebensrechtlern ein Grußwort geschickt.<br />

Gleiches gilt für Bundestagsvizepräsident<br />

Johannes Singhammer (CSU),<br />

Bundeslandwirtschaftsminister Christian<br />

Schmidt (CSU), Unionsfraktionschef<br />

Volker Kauder sowie die CDU-Bundestagsabgeordneten<br />

Wolfgang Bosbach, Marie-Luise<br />

Dött, Franz Josef Jung, Hubert<br />

Hüppe, Volkmar Klein, Philipp Lengsfeld,<br />

Patrick Sensburg und Marian Wendt.<br />

Viele Lebensrechtler registrieren sehr<br />

aufmerksam, wer in Politik und Kirche<br />

den »Marsch für das Leben« unterstützt.<br />

Dass neben Papst Franziskus<br />

auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz<br />

Reinhard Kardinal Marx<br />

und ZDK-Präsident Thomas Sternberg<br />

sich mit den Anliegen der Lebensrechtler<br />

öffentlich solidarisieren, tut vielen<br />

sichtbar gut. Mit viel Applaus wird das<br />

Grußwort von Berlins Erzbischof Heiner<br />

Koch bedacht, das von Weihbischof<br />

Matthias Heinrich verlesen wird und in<br />

dem Koch den Lebensrechtlern bescheinigt,<br />

»völlig zu Unrecht« in »die rechte<br />

Ecke« gestellt zu werden.<br />

Mit Spannung verfolgen viele Jahr für<br />

Jahr, welche Bischöfe an dem »Marsch<br />

für das Leben« teilnehmen. Dass der Regensburger<br />

Bischof Rudolf Voderholzer,<br />

der beim Ökumenischen Abschlussgottesdienst<br />

auf der Wiese vor dem Reichstag<br />

die Predigt hielt, schon zum dritten Mal in<br />

Folge zum Marsch nach Berlin gekommen<br />

ist, wird mit Hochachtung kommentiert.<br />

Auch die Anwesenheit der Weihbischöfe<br />

I N F O<br />

9 Forderungen an den neuen Bundestag<br />

BISTUM REGENSBURG/TOBIAS LIMINSKI<br />

Hubert Berenbrinker (Paderborn), Matthias<br />

Heinrich (Berlin) und Florian Wörner<br />

(Augsburg) sind Gesprächsthemen.<br />

Auch dass der Berliner Diözesanrat<br />

nicht zur Teilnahme an dem Marsch aufrufen<br />

wollte, ist Thema und hat viele verärgert.<br />

»Ich fühle mich von denen nicht<br />

vertreten«, sagt ein Berliner Arzt und Katholik.<br />

An der Liebfrauenschule, einem<br />

Berliner Gymnasium in katholischer Trägerschaft,<br />

sei sogar vor der Teilnahme am<br />

Bei der diesjährigen Kundgebung verabschiedeten die Teilnehmer des »Marsches<br />

für das Leben« die folgenden Forderungen an den neu gewählten Deutschen Bundestag:<br />

1. Seien Sie familienfreundlich: Unterstützen Sie Eltern, die ein Kind erwarten, statt Abtreibung<br />

aus Steuergeldern zu finanzieren!<br />

2. Seien Sie gerecht: Das Recht jedes Menschen auf Leben ist grundlegend <strong>–</strong> ein »Recht auf<br />

Abtreibung« gibt es nicht!<br />

3. Starten Sie eine Bildungsoffensive: Alle sollen wissen, dass der Mensch von der Zeugung<br />

an einmalig ist und Menschenwürde hat!<br />

4. Fördern Sie das Recht von Schwangeren auf Information: Kostenlose Ultraschallbilder<br />

schon bei Feststellung der Schwangerschaft!<br />

5. Seien Sie ehrlich: Analysieren Sie die hohen Abtreibungszahlen und ziehen Sie die Konsequenzen,<br />

um Kinder und Mütter zu schützen!<br />

6. Handeln Sie inklusiv: Gentests an Embryonen (NIPD) sind nur zulässig, wenn sie dem Leben<br />

und der Gesundheit von Mutter und Kind dienen!<br />

7. Bewahren Sie das Embryonenschutzgesetz: Verbieten Sie Genmanipulationen und »reproduktive«<br />

Verfahren wie PID, Eizellspende und Leihmutterschaft!<br />

8. Respektieren Sie das Gewissen: Keine Ausgrenzung von Menschen, die in medizinischen<br />

Berufen tätig sind und sich nicht an Abtreibung und assistiertem Suizid beteiligen!<br />

9. Achten Sie Alte und Kranke: Weiten Sie die palliative Versorgung für Menschen am Lebensende<br />

aus, statt den assistierten Suizid straffrei zuzulassen!<br />

Bei vielen erregte der laute und obszöne Protest der Gegendemonstranten Mitleid<br />

»Marsch für das Leben« gewarnt worden,<br />

berichten Teilnehmer. Wegen »rechter<br />

Elemente« solle man daran besser nicht<br />

teilnehmen, habe es geheißen.<br />

Applaus brandet auf, als Voderholzer<br />

in seiner Predigt »aus ganzem Herzen<br />

allen Polizisten und Polizistinnen«<br />

dankt. »Sie haben uns beschützt und somit<br />

das staatsbürgerliche Recht auf freie<br />

Meinungsäußerung verteidigt«, so Voderholzer<br />

weiter. »Das lautstarke Geschrei<br />

und die Obszönität des Protestes,<br />

der uns entgegenschlägt«, sei »ein untrüglicher<br />

Beweis dafür, dass wir etwas<br />

Wichtiges zu sagen, etwas Notwendiges<br />

zu vertreten, etwas Heiliges zu schützen<br />

haben«. Dabei könnten sich Christen<br />

nicht nur auf die »Position ihres Glaubens«<br />

stützen, sondern auch auf das Naturrecht<br />

und die Philosophie, betonte Voderholzer.<br />

Der Regensburger Oberhirte<br />

lobte, dass Menschen mit Behinderungen<br />

»noch nie so viel Fürsorge« erhielten<br />

wie heute. Bei ungeborenen Kindern<br />

gebe es jedoch eine »unbarmherzige und<br />

gnadenlose Selektion«. So würden heute<br />

neun von zehn Embryonen mit Down-<br />

Syndrom abgetrieben. Zugleich mahnte<br />

er, beim Schutz des Lebens auch für die<br />

Menschen einzutreten, »die sich nach einer<br />

lebenswerten Heimat sehnen«.<br />

Der Vorsitzende der Deutschen Evangelischen<br />

Allianz, Ekkehart Vetter, der<br />

dem Gottesdienst vorstand, betonte ebenfalls<br />

unter dem Applaus, dass das Engagement<br />

für das Leben unteilbar sei und<br />

auch verfolgte und geflüchtete Menschen<br />

umfassen müsse. Von »rechten Elementen«<br />

auch hier keine Spur.<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 21


M A R S C H F Ü R D A S L E B E N<br />

Jeder hat das Recht auf Leben<br />

Nachfolgend veröffentlichen wir die Predigt, die der Regensburger Bischof, Prof. Dr. Rudolf<br />

Voderholzer, am 16. September beim diesjährigen »Marsch für das Leben« in Berlin während des<br />

ökumenischen Abschlussgottesdienstes gehalten hat. Bei dem Text handelt sich um eine sprachlich<br />

leicht überarbeitete und im biblischen Teil erweiterte Fassung, die die Pressestelle der<br />

Diözese Regensburg »<strong>LebensForum</strong>« zur Verfügung gestellt hat.<br />

Von Bischof Dr. Rudolf Voderholzer<br />

22<br />

Wir sind am Ende unseres Marsches<br />

durch die Berliner Innenstadt<br />

angekommen und<br />

zwar beim Höhepunkt, nämlich der gemeinsamen<br />

Gottesdienstfeier. Wir hören<br />

gemeinsam auf Gottes Wort und mit<br />

Psalmen, Hymnen und Liedern loben<br />

und preisen wir den Schöpfer und Erlöser.<br />

Lassen Sie mich zunächst Ihnen allen<br />

ein herzliches bayerisches »Grüß Gott«<br />

sagen und ein herzliches »Vergelt’s Gott«,<br />

dass Sie in so großer Zahl nach Berlin gekommen<br />

sind, um dem Lebensrecht auch<br />

der Schwächsten eine Stimme zu verleihen.<br />

Danke aus ganzem Herzen auch an<br />

alle Polizistinnen und Polizisten, die uns<br />

beschützt und somit das staatsbürgerliche<br />

Recht auf freie Meinungsäußerung<br />

verteidigt haben. Danke auch dafür, dass<br />

wir durch das Brandenburger Tor ziehen<br />

durften. Das Anliegen, das uns verbindet,<br />

entspricht diesem Symbol der Freiheit<br />

und der Einheit des deutschen Volkes.<br />

Das lautstarke Geschrei und die Obszönität<br />

des Protestes, der uns entgegenschlägt,<br />

ist ein untrüglicher Beweis dafür,<br />

dass wir etwas Wichtiges zu sagen, etwas<br />

Notwendiges zu vertreten, etwas Heiliges<br />

zu schützen haben.<br />

Für mich ist dieser ökumenisch getragene<br />

Marsch für das Leben ein großes<br />

ökumenisches Hoffnungszeichen,<br />

ein Stück schon verwirklichter, sichtbarer<br />

Einheit der Kirche, besonders in diesem<br />

Jahr des 500-jährigen Reformationsgedenkens.<br />

Danke für dieses ökumenisch<br />

ermutigende Zeichen.<br />

Gerne greifen wir die Bitte unserer<br />

Schweizer Freunde auf, mit Ihnen zu<br />

beten für das Leben. Ja, wir sind gekommen,<br />

um zu beten für Frauen in schwierigen<br />

Entscheidungssituationen, dass sie<br />

die richtigen Ratgeber bekommen, um zu<br />

beten für Familien, die sich materiell und<br />

ideell schwertun zu überleben, um zu beten<br />

für die Beraterinnen, um zu beten für<br />

die Frauen, die unter einem Post-Abortion-Syndrom<br />

leiden, wovon nur wenig gesprochen<br />

wird, um zu beten für alle, die<br />

heimatlos sind, kein Dach über dem Kopf<br />

haben und sich sehnen nach einer lebenswerten<br />

Heimat und um zu beten für alle,<br />

die Dienst in den Hospizen und auf den<br />

Palliativstationen tun, um Menschen einen<br />

lebenswürdigen Lebensabend zu schenken,<br />

damit sie nicht durch die Hand anderer,<br />

sondern gehalten von der Hand anderer<br />

den letzten Weg antreten können.<br />

Wenn wir zusammen gekommen sind,<br />

um zu beten und Gottes Wort zu hören,<br />

dann dürfen wir uns ruhig zuerst bewusst<br />

machen, dass uns nicht erst Gottes Wort<br />

und unser christlicher Glaube verpflichten,<br />

die Stimme zu erheben für das Leben,<br />

insbesondere für die Schwächsten in<br />

unserer Gesellschaft, sondern erst schon<br />

einmal die Vernunft und das natürliche<br />

Sittengesetz, das uns als Handlungsregel<br />

Bischof Dr. Rudolf Voderholzer bei einer Messe im Regensburger Dom<br />

nahelegt, mit anderen so umzugehen, wie<br />

wir selbst es für uns wünschten: die Goldene<br />

Regel. Darüber hinaus hat das Grundgesetz<br />

unseres Landes <strong>–</strong> unter dem Eindruck<br />

der Folgen einer menschenverachtenden<br />

Ideologie <strong>–</strong> im ersten Artikel festgehalten:<br />

»Die Würde des Menschen ist<br />

unantastbar. Sie zu achten und zu schützen<br />

ist Verpflichtung der staatlichen Gewalt.«<br />

In Artikel 2 heißt es: »Jeder hat das<br />

Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.<br />

Die Freiheit der Person ist unverletzlich.«<br />

(Grundgesetz der Bundesrepublik<br />

Deutschland)<br />

Diese Rechte gelten für das Leben jeder<br />

menschlichen Person vom ersten Augenblick<br />

der Empfängnis bis zu ihrem<br />

letzten Atemzug, unabhängig davon, ob<br />

die betreffende Person den ästhetischen,<br />

ökonomischen oder sonstigen Erwartungen<br />

und Vorstellungen anderer oder der<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3


Gesellschaft entspricht. Jede menschliche<br />

Person ist ein Zweck an sich selbst,<br />

darf dementsprechend auch nicht anderen<br />

Interessen geopfert werden. Diese elementaren<br />

Einsichten, erarbeitet vor allem<br />

von der großen deutschen Philosophie,<br />

sind der menschlichen Vernunft evident.<br />

Und sie gehören zum Fundament unserer<br />

freiheitlichen Gesellschaft. Wir sollten<br />

sie und ihren philosophisch einsichtigen<br />

Geltungsanspruch nicht leichtfertig<br />

preisgeben und uns nicht zu früh auf die<br />

Position des Glaubens stützen. Das Thema<br />

Lebensrecht ist nicht erst ein christliches<br />

Thema, es ist ein Menschheitsthema.<br />

Es geht um das Recht, um die Anerkenntnis<br />

des Rechtes anderer, die meinem<br />

Handeln Grenzen setzen. Und es<br />

geht letzten Endes um das Funktionieren<br />

des Rechtsstaates.<br />

Wir stehen in diesem Zusammenhang<br />

vor dem Paradox, dass postnatal große<br />

und größte Anstrengungen unternommen<br />

werden für die Inklusion, für die<br />

Integration von behinderten Menschen<br />

in unsere Gesellschaft, sie teilhaben zu<br />

lassen an unserem Leben. Und ich kann<br />

hier nur allen Einrichtungen in unserem<br />

Land, den kirchlichen und den staatlichen<br />

mit ihren Tausenden von Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeitern, von Herzen<br />

danken, dass sie mithelfen, dass unsere<br />

Gesellschaft ein so menschliches Antlitz<br />

zeigt. Ja, noch nie wurde Menschen mit<br />

Behinderung so viel Fürsorge zuteil wie<br />

in unseren Tagen und in unserem Land <strong>–</strong><br />

postnatal. Pränatal haben wir gleichzeitig<br />

eine unbarmherzige und gnadenlose Exklusion<br />

und Selektion. Ich stelle die Frage:<br />

Kann man wirklich gleichzeitig Tränen<br />

der Rührung vergießen beim Verlesen<br />

eines Briefes aus dem Jahr 1943 durch<br />

einen Schauspieler mit Down-Syndrom <strong>–</strong><br />

so geschehen hier neben uns in diesem hohen<br />

Hause am 27. Januar <strong>2017</strong>, dem Tag<br />

des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus,<br />

und gleichzeitig schweigen<br />

über die pränatale Selektion unserer<br />

Tage? Mindestens neun von zehn Trisomie<br />

21 diagnostizierte Embryos dürfen<br />

das Licht der Welt nicht mehr erblicken<br />

in unserem Land. Von einem Augenblick<br />

zum anderen scheint sich die<br />

Rechtsposition einer menschlichen Person<br />

um einhundertachtzig Grad zu verändern.<br />

Ist das nicht irrationale Willkür?<br />

Ich kann in diesem Zusammenhang nur<br />

unterstreichen, was der Vorsitzende der<br />

Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard<br />

Kardinal Marx im Grußwort zum diesjährigen<br />

Marsch für das Leben geschrieben<br />

hat: »Die modernen vorgeburtlichen Diagnosemethoden<br />

entwickeln sich rasant.<br />

So wird es in unserer Gesellschaft zunehmend<br />

›normal‹, Kinder während der<br />

Schwangerschaft auf ihre Gesundheit zu<br />

testen. Den vorgeburtlichen diagnostischen<br />

Möglichkeiten entsprechen jedoch<br />

nicht immer auch therapeutische Handlungsoptionen,<br />

so dass nicht selten eine<br />

Abtreibung an die Stelle fehlender Therapiemöglichkeiten<br />

gestellt wird. Dem<br />

gilt es klar zu widersprechen.«<br />

Wir sind gekommen, denen eine Stimme<br />

zu geben, die ihr Selbstbestimmungsrecht<br />

über ihre Leiblichkeit und über ihre<br />

Sexualität noch nicht selbst zum Ausdruck<br />

bringen können. Sie brauchen uns.<br />

Die biblische Botschaft, auf die sich<br />

unser christlicher Glaube stützt, hat wesentlich<br />

zur Erkenntnis und zur vertieften<br />

Begründung der unveräußerlichen Rechte<br />

der menschlichen Person beigetragen.<br />

Wenn jeder Mensch ein Bild Gottes ist,<br />

berufen zum Dialog und zur Gemeinschaft<br />

mit ihm, hat er auch teil an seiner<br />

göttlichen Würde. Wenn Gott in seiner<br />

»Das Leben ist Schönheit,<br />

bewundere es!«<br />

Menschwerdung unser aller Menschenbruder<br />

geworden ist, unsere menschliche<br />

Natur angenommen hat, hat er damit<br />

den Menschen erhöht und geadelt.<br />

Jeden Menschen. Die Schrifttexte unserer<br />

ökumenischen Andacht jetzt hier und<br />

heute haben uns zwei herrliche Details der<br />

göttlichen Wertschätzung des Menschseins<br />

vor Augen gestellt. Psalm 139 beschreibt<br />

das Heranwachsen des Kindes<br />

im Mutterleib als göttliches Kunstschaffen:<br />

»Du hast mein Inneres geschaffen,<br />

/ mich gewoben im Schoß meiner Mutter.<br />

/ Ich danke Dir, dass du mich so wunderbar<br />

gestaltet hast.« Und weiter geht es<br />

mit der Vorstellung, dass jedes menschliche<br />

Wesen vom ersten Augenblick seines<br />

Daseins bei Gott Ansehen hat, weil<br />

Er auf ihn schaut: »Als ich geformt wurde<br />

im Dunkeln / kunstvoll gewirkt in den<br />

Tiefen der Erde, / waren meine Glieder<br />

dir nicht verborgen. / Deine Augen sahen,<br />

wie ich entstand, …«<br />

Unser Ja zum Leben ist der Mitvollzug<br />

des göttlichen Ja zum Leben, ist Antwort<br />

auf sein Schöpfungshandeln. In diesem<br />

Glauben wird in der ganzen jüdischchristlichen<br />

Tradition das Kind als ein Segen<br />

betrachtet, und jede Geburt als Beweis,<br />

dass Gott ein Freund des Lebens ist.<br />

Mit Papst Franziskus rufe ich Ihnen zu:<br />

»Jedes Leben ist unantastbar! Bringen wir<br />

die Kultur des Lebens als Antwort auf die<br />

Logik des Wegwerfens und auf den demographischen<br />

Rückgang voran; stehen<br />

wir zusammen und beten wir gemeinsam<br />

für die Kinder, deren Leben durch einen<br />

Schwangerschaftsabbruch bedroht ist, wie<br />

auch für die Menschen, die am Ende des<br />

Lebens angelangt sind <strong>–</strong> jedes Leben ist<br />

unantastbar! <strong>–</strong>, dass niemand alleine gelassen<br />

werde und die Liebe den Sinn des<br />

Lebens verteidige. Rufen wir die Worte<br />

Mutter Teresas in Erinnerung: ›Das Leben<br />

ist Schönheit, bewundere es; das Leben<br />

ist Leben, verteidige es!‹ sei es beim<br />

Kind, das kurz vor der Geburt steht, sei<br />

es bei dem Menschen, der dem Tod nahe<br />

ist: jedes Leben ist unantastbar!«<br />

Unser Herr Jesus, der selbst als hilfsbedürftiges<br />

und wehrloses Kind in der<br />

Krippe geboren wurde, hat noch einmal<br />

in besonderer Weise das Kindsein ins Zentrum<br />

unserer Aufmerksamkeit gerückt.<br />

In einer Zeit, in der das »Kind-sein« als<br />

»noch-nicht-erwachsen-sein« galt, hat er<br />

die Haltung der Kindlichkeit den Erwachsenen<br />

zum Vorbild gemacht. »Wenn ihr<br />

nicht werdet wie die Kinder.« Ohne das<br />

Kindsein naiv idealisieren zu wollen, gilt<br />

doch: Kindlich sein im guten Sinne, das<br />

bedeutet: Staunen können, große Augen<br />

machen können über die kleinen und großen<br />

Wunder dieser Welt, sich gerne beschenken<br />

lassen und nicht gleich auf Revanche<br />

(Rache!) sinnen (wie die Erwachsenen),<br />

die Abhängigkeit vom Größeren<br />

(von Papa und Mama, Oma und Opa)<br />

anerkennen, sich gerne tragen lassen im<br />

Wissen, dadurch nicht klein, sondern im<br />

Aufblick selbst wahrhaft groß zu werden.<br />

Der Geist schenke uns allen immer wieder<br />

diese Haltung echter Kindlichkeit, die<br />

wir <strong>–</strong> meiner Erfahrung nach <strong>–</strong> oft gerade<br />

noch einmal auch bei Menschen mit einer<br />

Behinderung in besonders herzlicher<br />

Weise erleben können. Der Herr sagt uns,<br />

wir haben es im Evangelium vorhin gehört,<br />

der Größte im Himmelreich muss<br />

sein wie ein Kind, das dankbar die Gnade<br />

der Erlösung annimmt. Und schließlich<br />

fügt er noch hinzu: »Wer ein solches<br />

Kind um meinetwillen aufnimmt, der<br />

nimmt mich auf.« (Mt 18,5) Hier klingt<br />

schon die Verheißung des großen Gerichtsgleichnisses<br />

von Mt 25 auf: »Was<br />

ihr dem geringsten meiner Schwestern<br />

und Brüder getan habt, das habt ihr mir<br />

getan« <strong>–</strong> die Identifizierung des Herrn<br />

mit den Schwachen und Hilfsbedürftigen<br />

gilt in besonderer Weise im Blick<br />

auf die Kinder. Dem wissen wir uns verpflichtet,<br />

und bei all diesem unseren Tun<br />

wissen wir uns dem Herrn in besonderer<br />

Weise nahe. »Wer ein solches Kind um<br />

meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich<br />

auf.« (Mt 18,5) Amen.<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 23


M E D I Z I N<br />

Von Risiken und<br />

Nebenwirkungen<br />

Überall in der Medizin werden Patienten sorgfältig über Risiken und Nebenwirkungen aufgeklärt, nur<br />

nicht in der Reproduktionsmedizin. Warum das so ist und welche Bedeutung dem<br />

deutschen Embryonenschutzgesetz auch deshalb zukommt, behandelt der nachfolgende Beitrag.<br />

Von Professor Dr. med. Christoph von Ritter<br />

24<br />

Der Kinderwunsch ist ein elementares<br />

menschliches Bedürfnis.<br />

Die Sorge, dass der Kinderwunsch<br />

unerfüllt bleibt, beschäftigt<br />

die Menschen seit eh und je. Im europäischen<br />

Raum nimmt der unerfüllte Kinderwunsch<br />

zu. Schätzungen gehen von<br />

zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung aus.<br />

Rund 400 Kinderwunschkliniken bemühen<br />

sich allein in Deutschland um kinderlose<br />

Paare. Diese Kliniken können unter<br />

anderem mit der medikamentösen Behandlung<br />

eines Prolaktinoms, der hormonellen<br />

Behandlung des polyzystischen<br />

Ovars oder auch der chirurgischen Behandlung<br />

der Endometriose helfen. Bei<br />

Letzterer kommt es zu einer Versprengung<br />

von Schleimhaut der Gebärmutter<br />

in den Bauchraum. Auch den Männern<br />

kann und muss bei Infertilität häufig mit<br />

unterschiedlichen Methoden geholfen<br />

werden. Vielfältige psychosoziale Beratungsmöglichkeiten<br />

bestehen. Ganz generell<br />

gilt, dass ein wichtiger Grund für<br />

die Zunahme des unerfüllten Kinderwunsches<br />

die gesellschaftlich bedingte Verlagerung<br />

der ersten Schwangerschaft ins<br />

höhere Lebensalter ist. Derzeit bekommen<br />

in Deutschland Frauen im Mittel<br />

erst mit rund 29 Jahren ihr erstes Kind.<br />

Ungeachtet der vielen Möglichkeiten,<br />

auf einen unerfüllten Kinderwunsch einzuwirken,<br />

wird heutzutage mit der Behandlung<br />

der Kinderlosigkeit fast ausschließlich<br />

die sogenannte Reproduktionsmedizin<br />

assoziiert. Alleine der Name<br />

Re-»Produktions«-Medizin verrät<br />

viel. Statt als Geschenk, wird das ersehnte<br />

Kind als Produkt einer medizinischen<br />

Leistung definiert. Aus einem Kinderwunsch<br />

wird schnell die Bestellung eines<br />

Wunschkindes. Die Reproduktionsmedizin<br />

weckt Erwartungen, dass ein solches<br />

Wunschkind mit beliebigen Eigenschaften<br />

ausgestattet werden kann, ganz<br />

in der Art eines Designerbabys. Vor diesem<br />

Hintergrund behandelte auch die<br />

diesjährige ökumenische »Woche für das<br />

Leben« mit dem Motto »Kinderwunsch-<br />

Wunschkind-Designerbaby« die grundlegenden<br />

medizinischen, gesellschaftlichen<br />

und ethischen Probleme der modernen<br />

Fortpflanzungstechniken.<br />

Im Jahr 1990 wurde in Deutschland<br />

das Embryonenschutzgesetz (ESchG)<br />

verabschiedet. Es handelt sich um ein<br />

»Statt als Geschenk, wird das<br />

Kind als Produkt definiert.«<br />

in mehrerer Hinsicht bemerkenswertes<br />

Gesetzeswerk. In erstaunlich weiser Voraussicht<br />

wurden die vielfältigen Möglichkeiten,<br />

aber auch Risiken der modernen<br />

Fortpflanzungstechniken beschrieben und<br />

beurteilt. International wird das ESchG<br />

häufig zitiert und diskutiert und respektvoll<br />

als Reaktion der Deutschen auf ihre<br />

leidvollen Erfahrungen mit der eugenischen<br />

Ideologie der Nazizeit angesehen.<br />

In Deutschland wird das Gesetz dagegen<br />

häufig als veraltet und verbesserungswürdig<br />

heftig kritisiert oder von den Reproduktionsmedizinern<br />

einfach ignoriert.<br />

Das ESchG beschert Deutschland eine<br />

erfreulich klare Festlegung zum Beginn<br />

des Lebens eines Menschen mit der<br />

Verschmelzung von Samen- und Eizelle<br />

(§ 8 Nr.1 EschG): »Als Embryo im Sinne<br />

dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete,<br />

entwicklungsfähige menschliche<br />

Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung<br />

an (...).« In gleicher Weise<br />

legte sich die Große Kammer des Europäischen<br />

Gerichtshofs (EuGH) im Fall<br />

C-34/10 »Brüstle vs. Greenpeace« fest<br />

und entschied, dass die Menschenwürde<br />

des Embryos zu schützen und der Embryo<br />

keiner Patentierung zugänglich sei.<br />

Die bisher erfolgreichste europäische<br />

Bürgerinitiative »One of us« hat auf der<br />

Basis der Rechtsprechung des EuGH mit<br />

über 1,7 Millionen Unterschriften einen<br />

durchgehenden Schutz des menschlichen<br />

Lebens vom Zeitpunkt der Gametenfusion<br />

an in allen Mitgliedsländern<br />

der EU gefordert. Unabhängig von der<br />

Gesetzeslage gibt es naturwissenschaftlich<br />

nur eine belastbare Definition für<br />

den Beginn des menschlichen Lebens.<br />

Alle sogenannten »SKIP-Kriterien« für<br />

den Beginn unseres Lebens sind mit der<br />

Verschmelzung der Samen- und Eizelle<br />

erfüllt: die eindeutige Zugehörigkeit<br />

zur Spezies Mensch, die ungebrochene<br />

Kontinuität bis hin zum erwachsenen<br />

Menschen, die Entstehung einer neuen,<br />

einmaligen Identität und die Potentialität<br />

des Embryos, sich zum erwachsenen<br />

Menschen zu entwickeln. Trotz aller juristischen<br />

und naturwissenschaftlichen<br />

Festlegungen des genauen Zeitpunkts,<br />

zu dem ein menschliches Leben beginnt,<br />

wird in der öffentlichen Diskussion dieser<br />

Zeitpunkt häufig als vollständig ungeklärt<br />

bezeichnet. Nicht selten sekundär moti-<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3


gibt, erwirbt oder verwendet, wird mit<br />

Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder<br />

mit Geldstrafe bestraft (...). (3) Der Versuch<br />

ist strafbar.«<br />

Das Verbot einer genetischen Untersuchung<br />

des Embryos vor dem Transfer<br />

(§ 3 EschG) besteht zwar weiterhin, wurde<br />

aber vom Gesetzgeber im Jahr 2011<br />

mit der Erlaubnis zur sogenannten »Präimplantationsdiagnostik«<br />

in Einzelfällen<br />

relativiert. Solche Entscheidungen haben<br />

DANIEL RENNEN<br />

fertile Eizellen vorhält, sind nur mit gespendeten<br />

Eizellen Erfolgsraten in einem<br />

einigermaßen akzeptablen Bereich<br />

von rund 30 Prozent zu erzielen.<br />

Im ESchG ist ein Verbot der Eizellspende<br />

in Deutschland festgelegt (§ 1<br />

Nr. 1, II ESchG). Argumente gegen dieses<br />

Verbot beinhalten den Vorwurf einer<br />

Geschlechterungerechtigkeit, weil<br />

ja die Samenspende erlaubt sei und eine<br />

Benachteiligung von deutschen Ehepaaren<br />

im internationalen Vergleich den<br />

belastenden »Fertilitätstourismus« notwendig<br />

mache. Die Kuriosität, die Umgehung<br />

deutscher Gesetze als Benachteiligung<br />

der Gesetzesbrecher zu beklagen,<br />

wurde schon oben erwähnt. Für die<br />

Diskussion von größerer Bedeutung ist,<br />

»›Eizellvermarktung‹ wäre wohl<br />

die zutreffendere Bezeichnung.«<br />

Das ESchG behindert die Reproduktionsmedizin im internationalen Wettbewerb<br />

viert, wird eine große Zahl anderer willkürlicher<br />

Festlegungen vorgeschlagen:<br />

14 Tage, Nidation, 28 Tage, drei Monate<br />

oder ganz generell erst, wenn Selbstbestimmung<br />

zu erkennen ist, wie es etwa<br />

der Utilitarist Peter Singer postuliert und<br />

damit sogar das Lebensrecht des Neugeborenen<br />

relativiert. Mit der Festlegung<br />

im ESchG bleibt Deutschland der leidvolle<br />

Kampf um einen Konsensus in Sachen<br />

»Personhood«, der in unterschiedlichen<br />

Staaten der USA derzeit ausgefochten<br />

wird, erspart.<br />

Eindeutig verboten ist im ESchG die<br />

Erzeugung von mehr Embryonen, als<br />

auf die Frau übertragen werden sollen,<br />

und damit jede Art von Vorratshaltung<br />

(§1 Nr. 5 ESchG). Damit eng verbunden<br />

ist das Verbot zur Befruchtung zu anderen<br />

Zwecken als der Herbeiführung einer<br />

Schwangerschaft (§ 1 Nr. 2, II, § 2<br />

ESchG). Einigermaßen kurios beklagen<br />

sich trotz dieser klaren Verbote die Reproduktionsmediziner<br />

häufig in der deutschen<br />

Öffentlichkeit über das ungelöste<br />

Problem »überzähliger Embryonen«, die<br />

man gerne für Forschungszwecke »verbrauchen«<br />

würde. Hellsichtig haben die<br />

Gesetzgeber dieses Begehren vorausgeahnt<br />

und im § 2 ESchG schon beim Versuch<br />

der missbräuchlichen Verwendung<br />

von Embryonen mit einer Freiheitsstrafe<br />

von bis zu drei Jahren gedroht: »ESchG §<br />

2: Missbräuchliche Verwendung menschlicher<br />

Embryonen (1) Wer einen extrakorporal<br />

erzeugten oder einer Frau vor<br />

Abschluss seiner Einnistung in der Gebärmutter<br />

entnommenen menschlichen<br />

Embryo veräußert oder zu einem nicht<br />

seiner Erhaltung dienenden Zweck ab-<br />

natürlich die Bemühungen interessierter<br />

Kreise unterstützt, das Gesetz nach Belieben<br />

auszulegen. Man geht so weit, den<br />

vom Gesetzgeber beabsichtigten privilegierten<br />

Schutz des ungeborenen Menschen<br />

mit dem Argument zu kritisieren,<br />

dass das Gesetz einen »Fertilitätstourismus«<br />

ins Ausland notwendig mache. Die<br />

Möglichkeit, vernünftige Gesetze einfach<br />

strikt zu befolgen, wird in der munteren<br />

Diskussion um den »Fertilitätstourismus«<br />

nur ganz zuletzt in Erwägung gezogen.<br />

Warum wird das ESchG mit solcher<br />

Energie attackiert? Nun, ganz eindeutig<br />

behindert das Gesetz die Reproduktionsmedizin<br />

in Deutschland im internationalen<br />

Wettbewerb. Zwei Maßnahmen,<br />

die für die Fertilitätsindustrie besonders<br />

wichtig und lukrativ, in Deutschland<br />

aber verboten sind, sind in diesem<br />

Zusammenhang von besonderer Bedeutung:<br />

die Eizellspende und die Leihmutterschaft.<br />

Für die Reproduktionsmediziner ist<br />

die Verfügbarkeit von Eizellen von jungen<br />

Spenderinnen von zentraler Bedeutung.<br />

Wegen der schwindenden Fertilitätsreserve,<br />

die bei Frauen ab dem Alter<br />

von 35 Jahren immer weniger gesunde,<br />

dass die Eizellspende in Ländern, in denen<br />

sie erlaubt ist, einer zunehmenden<br />

Kritik gerade von Frauen ausgesetzt ist.<br />

Die Kritik zielt auf die Risiken und Nebenwirkungen<br />

der Eizellspende und den<br />

rechtsfreien Raum, in dem sich die jungen<br />

Eizellspenderinnen bewegen. Ganz<br />

konkret wird die mangelnde Aufklärung<br />

zu den Nebenwirkungen der extrem starken<br />

Hormongabe kritisiert, die zur Follikelstimulation<br />

notwendig ist. Die Medikamente<br />

sind für die Eizellspende nicht<br />

zugelassen. Die standardmäßig für jedes<br />

Medikament geforderten Langzeitstudien<br />

fehlen. Haftungsfragen und Kostenübernahme<br />

bei Komplikationen sind weitgehend<br />

ungeklärt. Weiterhin besteht Unklarheit,<br />

inwieweit der Spenderin eine<br />

dauerhafte Anonymität garantiert werden<br />

kann und ob eine solche überhaupt<br />

angesichts des Rechts eines jeden, seine<br />

genetischen Vorfahren zu kennen,<br />

gewährt werden darf. Dieses Recht auf<br />

Kenntnis der eigenen Abstammung ergibt<br />

sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht<br />

und ist durch die UN-Kinderrechtskonvention<br />

geschützt. Belastend für<br />

eine Spenderin ist weiterhin die Pflicht,<br />

ihr persönliches Profil mit vielen privaten<br />

Details öffentlich zu machen. Nur so<br />

kann die gespendete Eizelle auf dem Anbietermarkt<br />

die volle Attraktivität entfalten<br />

und für den Reproduktionsmediziner<br />

die höchste Rendite erzielen. Schließlich<br />

wird es als trügerisch empfunden, die Eizellspende<br />

mit der karitativen Idee zu bewerben,<br />

die Spende werde ausschließlich<br />

zur Erfüllung eines Kinderwunsches ver-<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 25


M E D I Z I N<br />

Schutz im Zusammenhang mit der Eizellspende.<br />

Trotz derart starker und gut<br />

begründeter Kritik an der Praxis der Eizellspende<br />

im Ausland wird hierzulande<br />

eine Erlaubnis der Eizellspende speziell<br />

von Frauen lautstark gefordert. Man muss<br />

hoffen, dass die wenig altruistischen, rein<br />

ökonomischen Interessen der Reproduktionsmedizin<br />

in diesem Zusammenhang<br />

nicht übersehen werden.<br />

DANIEL RENNEN<br />

ESchG. Leihmutterschaft ist konsequenterweise<br />

in Deutschland nach ESchG §<br />

1 Abs. 1 Nr. 7 verboten. Auch die Vermittlung<br />

einer Leihmutter ist strafbar.<br />

Der Gesetzgeber fand es wichtig, dass für<br />

ein Kind Klarheit bezüglich seiner Mutter<br />

besteht und eine Frau ihren Körper<br />

nicht zum Austragen eines Kindes gegen<br />

Bezahlung verleiht.<br />

Die Rechtslage ist aber in Europa derzeit<br />

sehr unterschiedlich und selbst in<br />

Deutschland verwirrend und komplex.<br />

So hat der BGH in einer richtungsweisenden<br />

Entscheidung (BGH, Beschl. v.<br />

»Es ist leicht, den verzweifelten<br />

Kinderwunsch auszubeuten.«<br />

Mit der Leihmutterschaft gerät ein eherner gesellschaftlicher Konsens in Gefahr<br />

wendet, während tatsächlich viele der Eizellen<br />

nach der Befruchtung lukrativ für<br />

Forschungszwecke »verbraucht« werden.<br />

»Eizellvermarktung« statt »Eizellspende«<br />

wäre wohl vor diesem Hintergrund<br />

die zutreffendere Bezeichnung.<br />

Die Situation einer Eizellspenderin<br />

kann tragisch enden und sie selbst in die<br />

Not eines unerfüllten Kinderwunsches<br />

geraten: wenn sie nämlich nach einer Eizellspende<br />

zur Finanzierung ihres Studiums<br />

und der anschließend meist erfolgreichen<br />

und längeren beruflichen Tätigkeit<br />

ihren eigenen Kinderwunsch erfüllen<br />

will, ist ihre Fertilitätsreserve möglicherweise<br />

schon aufgebraucht. In dieser Situation<br />

ist sie gezwungen, für sich selbst<br />

eine Eizellspenderin zu finden und teuer<br />

zu finanzieren. Sie muss dann hoffen,<br />

dass sie trotz der in ihrem Alter niedrigen<br />

Erfolgsrate von der Reproduktionsmedizin<br />

ihren Kinderwunsch erfüllt bekommt.<br />

Die Ähnlichkeit der Kollektive<br />

ist tatsächlich eindrucksvoll: Die große<br />

Mehrzahl der Kunden der Reproduktionsmedizin<br />

in den USA sind weiße Akademikerinnen,<br />

genauso wie die große Mehrheit<br />

der Eizellspenderinnen. Die autologe<br />

Eizellspende, das »Social Freezing«, das<br />

von großen US-Unternehmen wie Apple<br />

und Facebook bei dem gleichen Kollektiv<br />

erfolgreicher weißer Akademikerinnen<br />

beworben wird, kann natürlich<br />

ebenfalls in die oben beschriebene tragische<br />

Situation führen.<br />

Angesichts der offenen Fragen bei der<br />

Eizellspende wundert es überhaupt nicht,<br />

dass sich in den USA besonders bei den<br />

Frauen heftiger ziviler Widerstand regt.<br />

Blogs wie »Hands of my Ovaries« und<br />

der preisgekrönte Film »Eggsploitation«<br />

fordern deutlich mehr Aufklärung und<br />

Wichtiger und besonders lukrativer<br />

Teil der modernen Fertilitätsindustrie ist<br />

die Bereitstellung von Leihmüttern, den<br />

sogenannten Surrogat- bzw. Ersatzmüttern.<br />

Mit der Leihmutterschaft gerät ein<br />

eherner gesellschaftlicher Konsens in Gefahr:<br />

»Mater semper certa est«: die ungeteilte<br />

Mutterschaft. Schutz der »ungeteilten<br />

Mutterschaft« war eine wichtige<br />

Triebfeder für die Verabschiedung des<br />

I N F O<br />

10.12.2014, XII ZB 463/13) einem homosexuellen<br />

Paar die Elternschaft zugesprochen,<br />

nachdem sie das in Kalifornien<br />

»bestellte« Kind mit schriftlichem Einverständnis<br />

der Leihmutter nach Deutschland<br />

gebracht hatten. Für das Gericht war es<br />

entscheidend, dass sich die Mutter als ledig<br />

bezeichnete. Es postulierte, dass zwischen<br />

dem »Besteller« und der von ihm<br />

bezahlten Leihmutter ein eheähnliches<br />

Verhältnis bestanden habe und der »freiwillige«<br />

Verzicht der Leihmutter auf ihr<br />

Kind nicht nur das Sorgerecht, sondern<br />

auch die alleinige Elternschaft des »Bestellers«<br />

und genetischen Vaters zweifelsfrei<br />

begründe. Im Rahmen der »Stiefkindadoption«<br />

war es im Weiteren möglich,<br />

eine komplette Elternschaft der beiden<br />

Väter zu etablieren. Ein ordentliches<br />

Maß an Naivität der richterlichen Ent-<br />

SKIP-Argumente<br />

In der Debatte um den moralischen Status von Embryonen werden vier klassische Argumente<br />

immer wieder herangeführt und diskutiert. Sie werden auch als SKIP-Argumente bezeichnet:<br />

S <strong>–</strong> Das Speziesargument: Da Embryonen als Mitglieder der Spezies Homo sapiens sapiens<br />

Menschen sind, besitzen sie Würde.<br />

K <strong>–</strong> Das Kontinuitätsargument: Embryonen entwickeln sich kontinuierlich, d. h. ohne moralrelevante<br />

Einschnitte, zu erwachsenen Menschen, die Würde besitzen.<br />

I <strong>–</strong> Das Identitätsargument: Embryonen sind in moralrelevanter Hinsicht identisch mit erwachsenen<br />

Menschen, die Würde besitzen.<br />

P <strong>–</strong> Das Potentialitätsargument: Embryonen haben das Potential, Menschen zu werden, und<br />

dieses Potential ist uneingeschränkt schützenswert.<br />

Quelle: Gregor Damschen / Dieter Schönecker (Hrsg.): Der moralische Status menschlicher<br />

Embryonen. Verlag Walter De Gruyter, Berlin 2002. 332 Seiten.<br />

26<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3


DANIEL RENNEN<br />

scheidung lässt sich unter anderem auch<br />

daran ablesen, dass vollständig unkritisch<br />

und ungeprüft von einem »Spontanabort«<br />

des ungeborenen Zwillings des Kindes in<br />

der 30. Schwangerschaftswoche (SSW)<br />

ausgegangen wird. Es ist kein vertieftes<br />

Spezialwissen notwendig, um zu wissen,<br />

dass Spontanaborte von Zwillingen nach<br />

der zwölften SSW eine extreme Rarität,<br />

die tragische selektive Tötung eines Zwillingskindes<br />

von Leihmüttern aber häufig<br />

verlangt wird, um den vertraglich fixierten<br />

Anspruch des »Bestellers« auf nur ein<br />

Kind zu befriedigen.<br />

Ganz anders als der BGH entschied<br />

am 24. Januar <strong>2017</strong> die Große Kammer<br />

des EuGH in Sachen »Paradiso<br />

und Campanelli vs. Italien« (Beschwerde<br />

Nr. 25358/12). Es bestätigte die Entscheidung<br />

der italienischen Richter, einem<br />

»Besteller«-Ehepaar das in Russland<br />

von einer Leihmutter erworbene<br />

Kind zu entziehen. Begründung: Mit der<br />

Beauftragung der Leihmutter sei nationales<br />

Recht gebrochen worden. Um das<br />

Kindeswohl nicht zu gefährden, wurde<br />

das Kind in einem gesetzeskonformen<br />

Adoptionsverfahren neuen Pflegeeltern<br />

zugesprochen.<br />

Die Reproduktionsmedizin leidet an<br />

einer massiven sozialen Asymmetrie mit<br />

gravierender Benachteiligung der sozial<br />

Schwachen zugunsten einer privilegierten<br />

Oberschicht. Nicht selten wird<br />

die finanzielle Not von Frauen im Rahmen<br />

der Leihmutterschaft rücksichtslos<br />

ausgenutzt. Die Verträge, die mit Leihmüttern<br />

abgeschlossen werden, entmündigen<br />

die Frau in einer inakzeptablen Art<br />

und Weise. So muss sich die Leihmutter<br />

nicht nur zu einem bestimmten Lebensstil<br />

inklusive sexueller Enthaltsamkeit<br />

verpflichten, sondern auch ihr Einverständnis<br />

zur Tötung des ungeborenen<br />

Kindes im Rahmen einer Abtreibung im<br />

Falle einer vermuteten Erkrankung geben.<br />

Mehr noch muss die Leihmutter<br />

einer sogenannten »selektiven Reduktion«<br />

eines ihrer gesunden Kinder bis<br />

kurz vor der Geburt zustimmen. Mehrlingsschwangerschaften<br />

kommen in der<br />

Reproduktionsmedizin in bis zu 30 Prozent<br />

wegen der üblichen Implantation<br />

von mehreren Embryonen vor. Etwa 20<br />

Prozent davon sind Zwillingsschwangerschaften.<br />

Eine aktuelle Studie berichtet,<br />

dass Zwillingsschwangerschaften 30 Prozent<br />

der Tötungen im Rahmen der »selektiven<br />

Reduktion« ausmachen (Evans,<br />

Fetal Diagn Ther 2014;35:69-82). Ohne<br />

jede medizinische Notwendigkeit,<br />

wie etwa einer Gefährdung von Mutter<br />

oder Kindern, wird hier also eine gezielte<br />

Selektion von einem der zwei gesunden,<br />

ungeborenen Kinder mittels einer<br />

Kaliumchlorid-Injektion ins Herz vorgenommen.<br />

Diese Tötung findet ausschließlich<br />

zum Zweck der Erfüllung des<br />

unsittlichen »Baby-Take-Home«-Vertrages<br />

zwischen »Besteller« und Reproduktionsmediziner<br />

statt.<br />

»Es ist leicht, den verzweifelten Kinderwunsch<br />

von Menschen auszubeuten,<br />

und wir haben die Technologie dafür«,<br />

darf man den berühmten Reproduktionsmediziner<br />

Sir Robert Winston, Professor<br />

am Imperial College, London, zitieren<br />

(Daily Mail, 01.05.2007). In der Tat<br />

locken in der Reproduktionsmedizin hohe<br />

Profite. Es kann getrost von einer Fertilitätsindustrie<br />

gesprochen werden. Ein<br />

Geschäftsvolumen von 24 Milliarden US-<br />

Dollar wird diesem Wirtschaftszweig für<br />

das Jahr 2022 prognostiziert. Eine mächtige<br />

Lobby sorgt in Politik und Gesellschaft<br />

dafür, Hindernisse beim unbegrenzten<br />

Einsatz der Fortpflanzungstechniken<br />

möglichst gering zu halten. Es hat sich<br />

bewährt, Bedenken gegen einen Missbrauch<br />

der Techniken als frauenfeindlich<br />

und herzlos angesichts eines unerfüllten<br />

Kinderwunsches zu stigmatisieren.<br />

Tatsächlich finden die Sorgen der<br />

Frauen und Kinder in der Reproduktionsmedizin<br />

aber wenig Beachtung. Nebenwirkungen,<br />

niedrige Erfolgsrate, Ausbeutung<br />

im Rahmen von Leihmutterschaft<br />

und der Eizellspende, finanzielle<br />

und psychische Belastung werden unzureichend<br />

berücksichtigt und nur selten<br />

thematisiert. Vollständig unberücksichtigt<br />

scheint das Anliegen des ungeborenen<br />

Kindes zu bleiben. Weder wird der<br />

Verletzung der ungeteilten Mutterschaft<br />

Die Verträge entmündigen die Frau in einer inakzeptablen Art und Weise<br />

noch dem Recht auf Kenntnis der genetischen<br />

Eltern ausreichend Rechnung getragen.<br />

Mehr noch: Um vertragsgemäß<br />

nur ein gesundes Baby dem finanzstarken<br />

»Besteller« liefern zu können, ist man sogar<br />

zur Tötung von ungeborenen Babys<br />

bis kurz vor der Geburt bereit. Absurd!<br />

Behauptet man doch, dabei zu helfen, einen<br />

Kinderwunsch zu erfüllen.<br />

Zusammenfassend muss eine zunehmende<br />

Maßlosigkeit im Bereich der Reproduktionsmedizin<br />

festgestellt werden.<br />

Schwerwiegende Nebenwirkungen für<br />

alle Beteiligten werden in Kauf genommen,<br />

nicht selten bleiben vernünftige medizinische,<br />

gesellschaftliche und ethische<br />

Bedenken unberücksichtigt. Das ESchG<br />

hat in kluger Vorsicht schon 1990 einen<br />

Schutz vor einem »Missbrauch der<br />

Fortpflanzungstechniken« ins Gesetzbuch<br />

geschrieben. Diesen Schutz für die<br />

Schwächsten in unserer Gesellschaft gilt<br />

es zu verteidigen!<br />

I M P O R T R A I T<br />

Prof. Dr. Christoph von Ritter<br />

Professor Dr. med. Christoph von Ritter,<br />

PhD ist Chefarzt für Innere Medizin an<br />

der RoMed Klinik<br />

Prien am Chiemsee<br />

und Dozent an<br />

der Ludwig-Maximilians-Universität<br />

München. Er ist in<br />

nationalen und internationalen<br />

Organisationen zu Fragen<br />

der Bioethik tätig.<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 27


D O K U M E N T AT I O N<br />

Prävention statt Unterstützung<br />

Anlässlich der umstrittenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. LF Nr. 122, 2/<strong>2017</strong>,<br />

S. 36) erinnert der Deutsche Ethikrat an seine Ad-hoc-Empfehlung »Zur Regelung der<br />

Suizidbeihilfe in einer offenen Gesellschaft« vom 18. Dezember 2014.<br />

»<strong>LebensForum</strong>« dokumentiert nachfolgend ungekürzt die neuerliche Stellungnahme des Gremiums,<br />

das Bundesregierung und Parlament in bioethischen Fragen berät.<br />

28<br />

Berlin, 1. Juni <strong>2017</strong><br />

Der Umgang mit der Beihilfe zum Suizid<br />

gehört zu den meistdiskutierten ethischen<br />

Problemen der jüngsten Vergangenheit<br />

und ist auch vom Deutschen Ethikrat<br />

bereits thematisiert worden. In seiner Adhoc-Empfehlung<br />

vom 18. Dezember 2014<br />

(»Zur Regelung der Suizidbeihilfe in einer<br />

offenen Gesellschaft«) hat er sich für eine<br />

gesetzliche Stärkung der Suizidprävention<br />

ausgesprochen und gleichzeitig unterstrichen,<br />

dass im freiheitlichen Verfassungsstaat<br />

keine Rechtspflicht zum Leben besteht<br />

und deshalb auch Suizid nicht abstrakt-generell<br />

als Unrecht zu qualifizieren<br />

ist. Eine spezielle, etwa professionsbezogene<br />

gesetzliche Regulierung der Suizidbeihilfe<br />

lehnte die Mehrheit des Deutschen<br />

Ethikrates mit der Begründung ab, auf<br />

diese Weise würden gleichsam »erlaubte<br />

Normalfälle« einer Suizidbeihilfe definiert.<br />

Betont wurde darüber hinaus, dass<br />

eine Suizidbeihilfe, die nicht individuelle<br />

Hilfe in tragischen Ausnahmesituationen,<br />

sondern wählbares Regelangebot von<br />

Spaltet auch den Ethikrat: das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts<br />

Ärzten oder speziellen Vereinen ist, Gefahr<br />

läuft, den gesellschaftlichen Respekt<br />

vor dem Leben zu schwächen, fremdbestimmte<br />

Einflussnahmen in Situationen<br />

prekärer Selbstbestimmung zu begünstigen<br />

sowie Anstrengungen der Suizidprävention<br />

zu konterkarieren. Der Deutsche<br />

Ethikrat sprach sich dementsprechend<br />

mehrheitlich für ein »Verbot der Suizidbeihilfe<br />

sowie ausdrücklicher Angebote dafür,<br />

wenn sie auf Wiederholung angelegt<br />

sind und öffentlich erfolgen«, aus. Unter<br />

anderem mit Verweis auf diese Stellungnahme<br />

hat der Deutsche Bundestag Ende<br />

2015 das Strafgesetzbuch um eine Regelung<br />

zur Strafbarkeit der »geschäftsmäßigen<br />

Förderung der Selbsttötung« ergänzt<br />

(§ 217 StGB n. F.).<br />

In seinem Urteil vom 2. März <strong>2017</strong> (Az.:<br />

BVerwG 3 c 19.15) hat nun das Bundesverwaltungsgericht<br />

die Auffassung vertreten,<br />

das allgemeine Persönlichkeitsrecht<br />

aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG<br />

umfasse »auch das Recht eines schwer und<br />

unheilbar Kranken Menschen, zu entscheiden,<br />

wie und zu welchem Zeitpunkt sein<br />

DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR<br />

Leben enden soll, vorausgesetzt, er kann<br />

seinen Willen frei bilden und entsprechend<br />

handeln« (Rn. 24). Für den Fall<br />

einer »extremen Notlage« folge hieraus<br />

ein Anspruch auf Erteilung einer Erlaubnis<br />

zum Erwerb von Natrium-Pentobarbital<br />

zum Zweck der Selbsttötung (Rn. 32).<br />

Diese Entscheidung ist nach Auffassung<br />

der Mehrheit des Deutschen Ethikrates<br />

nicht zu vereinbaren mit den Grundwertungen<br />

des parlamentarischen Gesetzgebers,<br />

auf denen die Neuregelung des §<br />

217 StGB beruht:<br />

• In ethischer Hinsicht problematisch ist<br />

zunächst, dass das Bundesverwaltungsgericht<br />

das einleuchtende Gebot, die<br />

staatliche Gemeinschaft dürfe »den hilflosen<br />

Menschen nicht einfach sich selbst<br />

überlassen« (Rn. 27) verknüpft mit dem<br />

staatlich garantierten Zugang zu Betäubungsmitteln.<br />

Indem die Entscheidung<br />

das Bundesinstitut für Arzneimittel und<br />

Medizinprodukte zum Verpflichtungsadressaten<br />

der Selbsttötungsassistenz<br />

macht, macht sie diese von einer staatlichen<br />

»Erlaubnis« abhängig und erweckt<br />

so den Anschein, Suizidwünsche müssten<br />

staatlicherseits bewertet bzw. könnten<br />

staatlicherseits legitimiert werden.<br />

Das aber würde bedeuten, die höchstpersönliche<br />

Natur solcher Wünsche infrage<br />

zu stellen. Ferner könnte es diejenigen<br />

sozialen Normen und Überzeugungen<br />

schwächen, in denen sich der<br />

besondere Respekt vor jedem menschlichen<br />

Leben ausdrückt.<br />

• Zudem bestehen grundsätzliche Bedenken<br />

dagegen, unter Berufung auf besondere<br />

Ausnahmesituationen die durch das<br />

hierfür zuständige und demokratisch legitimierte<br />

Parlament festgelegten allgemeinverbindlichen<br />

Verhaltensregeln infrage<br />

zu stellen. Der Gesetzgeber hat sich<br />

in Übereinstimmung mit der Mehrheit<br />

des Deutschen Ethikrates bewusst dagegen<br />

entschieden, die Legitimität der<br />

Suizidassistenz an die Erfüllung materieller<br />

Kriterien <strong>–</strong> wie schweres und<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3


unerträgliches Leiden <strong>–</strong> zurückzubinden.<br />

Diese zentrale, ethisch fundierte<br />

Grundentscheidung wird durch das Urteil<br />

des Bundesverwaltungsgerichts unterlaufen.<br />

Es zwingt eine staatliche Instanz,<br />

die § 217 StGB wie dem gesamten<br />

System des (straf-)rechtlichen Lebensschutzes<br />

zugrunde liegende ethische<br />

Leitidee der staatlichen Neutralität gegenüber<br />

Lebenswertvorstellungen aufzugeben.<br />

Zugleich wird ihr zugemutet,<br />

ohne konkretisierende Vorgaben <strong>–</strong> die<br />

das Bundesverwaltungsgericht für entbehrlich<br />

hält (Rn. 40) <strong>–</strong> eigene Erwägungen<br />

anzustellen über das Kriterium<br />

eines »unerträglichen Leidensdruck[s]«<br />

(Rn. 31) und die Frage einer anderen<br />

zumutbaren Möglichkeit zur Verwirklichung<br />

des Sterbewunschs.<br />

• Die Entscheidung steht damit schließlich<br />

auch in einem Spannungsverhältnis<br />

zu der Forderung einer Stärkung suizidpräventiver<br />

Maßnahmen und Strukturen.<br />

Die Entscheidung, das eigene Leben<br />

beenden zu wollen, verweist auf eine<br />

individuelle Ausnahmesituation, in<br />

der lebensorientierte Antworten nicht<br />

(mehr) gesehen werden. Auch im Kontext<br />

schwerster und unheilbarer Erkrankung<br />

ist es dabei durchaus möglich,<br />

dass sich Suizidgedanken aktuell aufdrängen<br />

und oft nicht auf reflektierten<br />

oder bilanzierenden Erwägungen beruhen.<br />

Damit soll nicht in Abrede gestellt<br />

werden, dass manche Leidenszustände<br />

auch durch eine optimale palliativmedizinische<br />

Versorgung und Unterstützung<br />

nicht behoben werden und so Suizidwünsche<br />

begründen können. Doch<br />

in vielen Fällen steht der Wunsch, eine<br />

subjektiv unerträgliche und durch anderweitige<br />

Maßnahmen nicht mehr zu<br />

lindernde, irreversible Leidenssituation<br />

durch Suizid zu beenden, in engem<br />

Zusammenhang mit der im individuellen<br />

Fall verfügbaren Versorgung und<br />

Unterstützung. Denn diese ist in vielen<br />

Bereichen, besonders im Hinblick auf<br />

Schmerztherapie, rehabilitative Pflege<br />

und Psychotherapie, immer noch defizitär.<br />

Eine Minderheit des Deutschen Ethikrates<br />

hält das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts<br />

dagegen für ethisch wohl<br />

Eine Minderheit des Rates hält das Urteil für »ethisch wohl erwogen«<br />

DEUTSCHER ETHIKRAT<br />

erwogen und begrüßenswert. Ihr zufolge<br />

steht es im Einklang mit der dem Notstandsprinzip<br />

zugrunde liegenden Moralpflicht,<br />

vor allem in existenziellen Grenzfällen<br />

ein generell begründbares Verbot<br />

nicht zum Gebot der Unmenschlichkeit<br />

werden zu lassen. In diesem Sinne eröffnet<br />

die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts<br />

die Möglichkeit, in »extremen«<br />

Notsituationen der zwangsrechtlichen<br />

Ausnahmslosigkeit der Strafregelung<br />

des § 217 StGB zu begegnen. Eine »staatliche<br />

Verpflichtung« zur Unterstützung<br />

von Suiziden liegt darin nicht. Der Staat<br />

wird lediglich verpflichtet, in Fällen extremer<br />

Not seine grundsätzliche Blockade<br />

dieses Medikaments ausnahmsweise<br />

aufzuheben und damit anderen eine Hilfe<br />

nicht (mehr) zu verwehren, zu der sie<br />

sich nach den Maximen ihres Gewissens<br />

aus verständlichen Gründen verpflichtet<br />

fühlen. Auch in Fällen, in denen nach der<br />

Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts<br />

das Medikament gegebenenfalls direkt<br />

an den Sterbewilligen herauszugeben<br />

wäre, wird der Staat nicht zum Gehilfen<br />

eines Suizids.<br />

Es wird ihm lediglich nicht (mehr) gestattet,<br />

die Verfügbarkeit eines Medikaments<br />

aktiv zu blockieren, das schließlich<br />

nicht er bereitstellt, sondern dem Zugriff<br />

Dritter lediglich entzieht. In Notstandsfällen<br />

das Handeln eines anderen nicht mehr<br />

aktiv verhindern zu dürfen, heißt aber keineswegs,<br />

nun als dessen Unterstützer verpflichtet<br />

zu sein. Die dem Urteil zugrunde<br />

liegende Notstandserwägung, die auch<br />

einer moralischen Pflicht entspricht, sollte<br />

daher nach Auffassung der Minderheit<br />

im Sinne einer klarstellenden und präzisierenden<br />

Regelung in das Betäubungsmittelgesetz<br />

aufgenommen werden.<br />

Ungeachtet dieses Dissenses bekräftigt<br />

der Deutsche Ethikrat in seiner Gesamtheit<br />

die Forderung nach einer Stärkung<br />

suizidpräventiver Maßnahmen sowie<br />

nach einem Ausbau nicht nur der Hospizund<br />

Palliativversorgung im ambulanten<br />

und stationären Bereich, sondern allgemein<br />

der Versorgung von Menschen in<br />

der letzten Lebensphase. Zugleich unterstreicht<br />

er seine Position, dass eine freiheitliche<br />

Verfassungsordnung freiverantwortliche<br />

Suizidhandlungen zu respektieren<br />

hat. Ein Anspruch auf entsprechende<br />

staatliche Unterstützung besteht hingegen<br />

nicht. Der Deutsche Ethikrat hält es deshalb<br />

für erforderlich, die Spannung zwischen<br />

den in § 217 StGB zum Ausdruck<br />

gebrachten Regelungsintentionen und der<br />

jetzt vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommenen<br />

Interpretation des Betäubungsmittelgesetzes<br />

durch eine klarstellende<br />

Regelung abzubauen. Die Mehrheit<br />

des Ethikrates empfiehlt, entgegen<br />

der vom Bundesverwaltungsgericht vorgeschlagenen<br />

problematischen Neuausrichtung<br />

des normativen Ordnungsrahmens an<br />

dem zuletzt noch einmal legislativ bekräftigten<br />

ethischen Grundgefüge festzuhalten<br />

und nicht der gebotenen Achtung individueller<br />

Entscheidungen über das eigene<br />

Lebensende eine staatliche Unterstützungsverpflichtung<br />

zur Seite zu stellen.<br />

Der Mehrheitsposition haben sich die<br />

folgenden Ratsmitglieder zugeordnet:<br />

Steffen Augsberg, Franz-Josef Bormann,<br />

Alena M. Buyx, Peter Dabrock, Christiane<br />

Fischer, Sigrid Graumann, Martin Hein,<br />

Wolfram Henn, Wolfram Höfling, Ilhan Ilkilic,<br />

Andreas Kruse, Adelheid Kuhlmey, Volker<br />

Lipp, Andreas Lob-Hüdepohl, Elisabeth<br />

Steinhagen-Thiessen, Claudia Wiesemann<br />

Der Minderheitsposition haben sich die<br />

folgenden Ratsmitglieder zugeordnet:<br />

Constanze Angerer, Dagmar Coester-Waltjen,<br />

Carl Friedrich Gethmann, Ursula Klingmüller,<br />

Stephan Kruip, Leo Latasch, Reinhard<br />

Merkel, Gabriele Meyer, Petra Thorn<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 29


B Ü C H E R F O R U M<br />

Mit »Das Leben nehmen <strong>–</strong> Suizid<br />

in der Moderne« ist Thomas<br />

Macho, Direktor des<br />

Internationalen Forschungszentrums<br />

Kulturwissenschaften<br />

in Wien, zweifellos ein<br />

großer Wurf gelungen.<br />

Das gilt auch dann, wenn<br />

man die wichtigste Konsequenz,<br />

die Macho aus<br />

seiner Beschäftigung mit<br />

dem Thema zieht, ablehnt. Aber der Reihe<br />

nach.<br />

Völlig zu Recht erblickt der österreichische<br />

Kulturwissenschaftler und Philosoph,<br />

der auch Kulturgeschichte an der<br />

Humboldt-Universität zu Berlin lehrt, in<br />

der »radikalen Umwertung des Suizids«<br />

einen »der größten und folgenreichsten<br />

Umbrüche des 20. und 21. Jahrhunderts«.<br />

Viele Jahrhunderte lang sei der Suizid als<br />

»schwere Sünde, sogar<br />

als ›Doppelmord‹<br />

<strong>–</strong> nämlich an Seele und<br />

Körper <strong>–</strong>, als Verbrechen,<br />

das streng bestraft<br />

wurde, nicht allein<br />

durch Verstümmelung<br />

und Verscharrung<br />

der Leichen, sondern<br />

beispielsweise<br />

auch durch Beschlagnahmung<br />

des Familienvermögens,<br />

zumindest<br />

aber als Effekt<br />

des Wahnsinns und<br />

als Krankheit bewertet«<br />

worden. In der<br />

Moderne jedoch sei<br />

die Frage nach dem<br />

Suizid, welcher Walter<br />

Benjamin gar als<br />

deren »Quintessenz«<br />

erschien, zu einem zentralen Leitmotiv<br />

der Epoche geworden. Macho: »Seit<br />

dem Fin de Siècle, spätestens aber nach<br />

dem Ende des Zweiten Weltkriegs, hat<br />

sich die radikale Umwertung des Suizids<br />

<strong>–</strong> einerseits als Prozess der Enttabuisierung,<br />

andererseits als Verbreitung einer<br />

emanzipatorischen ›Selbsttechnik‹ <strong>–</strong> auf<br />

mehreren kulturellen Feldern vollzogen:<br />

als Protest in der Politik, als Strategie<br />

des Anschlags und des Attentats in neueren<br />

Erscheinungsformen des bewaffneten<br />

Konflikts, als Grundthema der Philosophie<br />

und der Künste, in Literatur,<br />

Malerei und Film.« Auf dem Gebiet des<br />

Rechts schließlich seien Suizid und Suizidversuch<br />

entkriminalisiert und verschiedene<br />

Formen der Selbsttötung sowie<br />

des (ärztlich) assistierten Suizids legalisiert<br />

worden.<br />

30<br />

Das Leben<br />

nehmen<br />

Auf allen diesen Feldern spürt Macho<br />

der Umwertung des Suizids nach<br />

und erzählt so eine lesenswerte (Kultur-)Geschichte<br />

des Suizids in der Moderne.<br />

Wie Journalisten,<br />

die sich die Empfehlungen<br />

von Suizidpräventionsforschern<br />

zu Herzen<br />

nehmen, spricht Macho<br />

überdies in seinem<br />

Buch weder vom »Selbstmord«<br />

noch vom »Freitod« und vermeidet<br />

so präskriptive Wertungen ganz. Auch<br />

seinem Vorschlag »zwischen suizidfaszinierten<br />

Kulturen und Epochen, die dem<br />

Suizid ein hohes Maß an Aufmerksamkeit<br />

schenken, und suizidkritischen Zeiten und<br />

Lebensformen, die den Suizid tendenziell<br />

tabuisieren und abwerten«, zu unterscheiden,<br />

lässt sich folgen, jedenfalls solange<br />

es dabei um eine Beschreibung geht,<br />

die das Verstehen und<br />

das Einordnen dessen<br />

fördert, was der Autor<br />

hier zusammenträgt.<br />

Widersprechen<br />

aber muss man dem<br />

Autor, wenn er aus<br />

der Behauptung, dass<br />

»nicht alle«, die sich<br />

das Leben nähmen,<br />

»krank oder verrückt«<br />

seien, folgert, der Suizid<br />

müsse weiter entpathologisiert<br />

werden.<br />

Denn die Evidenz von<br />

Studien, die zeigen,<br />

dass sich mehr als vier<br />

Fünftel der Suizide auf<br />

psychische Erkrankungen<br />

zurückführen<br />

lassen, ist schlicht<br />

überwältigend.<br />

Wenn aber der Suizid, wie auch Macho<br />

feststellt, inzwischen weltweit als eine<br />

der Haupttodesursachen gilt und diese<br />

andererseits in aller Regel auf psychische<br />

Erkrankungen zurückgeführt werden<br />

können, ist es gewissermaßen normal<br />

geworden, psychisch zu erkranken.<br />

Ihnen ist nicht damit geholfen, den Suizid<br />

<strong>–</strong> wie Macho anregt <strong>–</strong> künftig als einen<br />

Weg neben anderen zu betrachten,<br />

um aus dem Leben zu scheiden. Im Gegenteil.<br />

Sie blieben mehr als jemals zuvor<br />

auf sich selbst verwiesen. Ein schauriger<br />

Gedanke.<br />

Stefan Rehder<br />

Thomas Macho: Das Leben nehmen <strong>–</strong> Suizid in<br />

der Moderne. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.<br />

Gebunden. 532 Seiten. 28,00 EUR.<br />

Im Schaufenster<br />

Mensch sein<br />

Auch naturwissenschaftliche<br />

Ergebnisse<br />

müssen sauber interpretiert<br />

und zuverlässig<br />

eingeordnet<br />

werden. Geschieht<br />

dies nicht, landen<br />

die Wissenschaftler<br />

selbst <strong>–</strong> und noch<br />

häufiger das ihnen vertrauende Publikum <strong>–</strong><br />

beim Reduktionismus und erblicken dann<br />

zum Beispiel in einem menschlichen Embryo<br />

nur noch einen bloßen Zellhaufen. Insofern<br />

kommt dieses Buch also wie gerufen. Denn<br />

in »Mensch sein« entfaltet Günter Rager die<br />

»Grundzüge einer interdisziplinären Anthropologie«.<br />

So gerufen wie das Buch daherkommt,<br />

so berufen auch ist sein Verfasser,<br />

ein solches Unterfangen erfolgreich und für<br />

den Leser gewinnbringend zu meistern. Denn<br />

der Mediziner und Philosoph war viele Jahre<br />

lang Ordinarius und Direktor des Instituts für<br />

Anatomie und spezielle Embryologie an der<br />

Universität Fribourg. Von 1999 bis 2006 war<br />

er Direktor des Instituts für interdisziplinäre<br />

Forschung der Görres-Gesellschaft. Unvergessen<br />

ist das von ihm herausgegebene und<br />

inzwischen in mehrfacher Überarbeitung erschienene<br />

großartige Werk »Beginn, Personalität<br />

und Würde des Menschen«. Wer also<br />

wissen will, was die Wissenschaften heute<br />

alles über Bewusstsein, Ich, Person, Evolution,<br />

Sterben und Tod wissen, der kommt<br />

auch an seinem neuen Werk nicht vorbei. Eine<br />

ausführliche Besprechung folgt. reh<br />

Fazit: Ein Must-have für Lebensrechtler.<br />

Günter Rager: Mensch sein: Grundzüge einer<br />

interdisziplinären Anthropologie. Verlag Karl<br />

Alber, Freiburg im Breisgau <strong>2017</strong>. Gebunden. 208<br />

Seiten. 24,00 EUR.<br />

Das regulierte Gen<br />

Der Autor, Sebastian<br />

Schuol, studierte<br />

Philosophie und Molekulargenetik<br />

in Erlangen<br />

und Tübingen<br />

und war Stipendiat<br />

am DFG-Graduiertenkolleg<br />

Bioethik<br />

am Internationalen<br />

Zentrum für Ethik in den Wissenschaften<br />

(IZEW) in Tübingen. Sein lesenswertes Buch<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3


zeigt, wie schwierig die Definition des Begriffs<br />

»Gen« ist und wie sehr sich diese im<br />

Zuge der Erkenntnisse, die in letzter Zeit vor<br />

allem auf dem Gebiet der Epigenetik gewonnen<br />

wurden, gewandelt hat. Wurde das Gen<br />

(allein oder im Verbund mit anderen) bis vor<br />

Kurzem noch als monokausale Ursache für<br />

die Initiierung und Steuerung biologischer<br />

Prozesse und Aktivitäten innerhalb von Organismen<br />

betrachtet, so weiß man inzwischen,<br />

wie kurzsichtig und unzureichend derartige<br />

Erklärungsversuche sind. Mit den Worten<br />

Schuols: Das Verständnis von Genen als einer<br />

statischen Ding-Einheit ändert sich hin zu<br />

dem einer »dynamischen Prozess-Einheit«. In<br />

seinem Buch greift Schuol diese Entwicklung<br />

auf und diskutiert ihre theoretischen und<br />

praktischen Implikationen.<br />

Fazit: Für Fachleute.<br />

reh<br />

Sebastian Schuol: Das regulierte Gen: Implikationen<br />

der Epigenetik für Biophilosophie und Bioethik.<br />

Reihe: Lebenswissenschaften im Dialog, Band<br />

24. Verlag Karl Alber, Freiburg im Breisgau <strong>2017</strong>. Gebunden.<br />

424 Seiten. 49,00 EUR.<br />

Menschenwürde<br />

In der Philosophie<br />

meint Kontingenz<br />

das Nichtnotwendige.<br />

Wenn wie jetzt<br />

ein Buch erschienen<br />

ist, das die Dimensionen<br />

der Kontingenz<br />

ausgerechnet<br />

bei einem Wert<br />

wie der Menschenwürde<br />

diskutiert, heißt es: aufmerken! Denn<br />

bereits die bloße Existenz eines Sammelbandes<br />

wie des Vorliegenden zeigt: Die Würde<br />

des Menschen, die das Grundgesetz noch<br />

als »unantastbar« und damit als unhintergehbar<br />

und unverlierbar ausweist, steht <strong>–</strong> jedenfalls<br />

für manche <strong>–</strong> eben doch zur Disposition.<br />

Statt darin nun reflexartig einen Angriff<br />

zu vermuten und zur Attacke zu blasen, empfiehlt<br />

es sich, zur Kenntnis zu nehmen, dass<br />

die Begründung der Idee der Menschenwürde,<br />

ebenso wie der ihr eigene Absolutheitsanspruch,<br />

manchen brüchig geworden, in<br />

Teilen in Vergessenheit geraten sind oder<br />

eben schlicht nicht jedem einleuchten. Wem<br />

daher an der Menschenwürde etwas liegt,<br />

tut gut daran, diesen Sammelband zu studieren<br />

und nach Antworten auf die dort ausgebreitete<br />

Kritik zu suchen. reh<br />

Fazit: Für Denker.<br />

Eva Weber-Guska / Mario Brandhorst (Hrsg.): Menschenwürde.<br />

Eine philosophische Debatte über<br />

Dimensionen ihrer Kontingenz. Suhrkamp Verlag,<br />

Frankfurt am Main <strong>2017</strong>. 363 Seiten. 18,00 EUR.<br />

Der Wissenschaftshistoriker Ernst<br />

Peter Fischer hat wieder zugeschlagen.<br />

In seinem neuesten<br />

Werk »Treffen sich zwei Gene <strong>–</strong> Vom Wandel<br />

unseres Erbguts und<br />

der Natur des Lebens«<br />

liefert Fischer nicht weniger<br />

als einen historischen<br />

Abriss der Geschichte der<br />

Genetik von ihren Anfängen<br />

bis heute. So erfährt<br />

der Leser unter anderem, wie der Augustinermönch<br />

Gregor Mendel (1822<strong>–</strong>1884)<br />

bei der Kreuzung von Erbsen im Garten<br />

seines Klosters auf die Vererbungsregeln<br />

stieß oder wie der US-amerikanische Zoologe<br />

Thomas Morgan (1866<strong>–</strong>1945) jahrzehntelang<br />

Taufliegen kreuzte und dabei<br />

die Chromosomen entdeckte. Die Entdeckung<br />

des kanadischen Mediziners Oswald<br />

Averys (1877<strong>–</strong>1955), der<br />

herausfand, dass sich die<br />

Erbinformation in der<br />

DNA und nicht etwa in<br />

den Proteinen befindet,<br />

wird ebenso beschrieben<br />

wie die Forschungen des<br />

deutschen Biophysikers<br />

Max Delbrück (1906<strong>–</strong><br />

1981) mit Bakteriophagen,<br />

die die Grundlagen<br />

für die moderne Molekularbiologie<br />

legten.<br />

Fischer wurde übrigens<br />

bei Delbrück promoviert<br />

und schrieb später<br />

dessen Biografie. Selbstverständlich<br />

fehlen auch<br />

James D. Watson (geboren<br />

1928) und Francis<br />

Crick (1916<strong>–</strong>2004)<br />

nicht, die die Struktur<br />

des Erbguts entdeckten und das DNA-<br />

Modell der Doppelhelix entwarfen, und<br />

nicht einmal das Genome-Editing mittels<br />

der CRISPR/Cas9-Genscheren, die<br />

erst 2012 von der Französin Emmanuelle<br />

Charpentier und der US-Amerikanerin<br />

Jennifer Doudna entwickelt wurden, werden<br />

ausgespart.<br />

Wer meint, dass Wissenschaftsliteratur<br />

entweder sterbenslangweilig oder aber<br />

notwendig unseriös sein und ungedeckte<br />

Schecks ausstellen müsse, den belehrt Fischer<br />

eines Besseren. Wie bei einer Expedition<br />

führt der Autor die Leser durch den<br />

Dschungel der Genetik, verweilt mal hier<br />

und mal dort, um den Blick seiner Leser<br />

für das große Ganze zu schärfen, drückt<br />

zwischendurch aufs Tempo, um andernorts<br />

ausführlicher zu werden.<br />

Nicht immer erschließt sich die vom<br />

Autor vorgenommene Gewichtung dem<br />

Treffen sich<br />

zwei Gene<br />

Leser sofort. So fragt man sich etwa, warum<br />

Fischer so lange auf umgangssprachlichen<br />

Nonsens-Formulierungen wie dem<br />

»Unternehmer-«, »Stürmer«- oder »Bayern-Gen«<br />

herumreitet.<br />

Doch schon bald wird<br />

klar: Solche Formulierungen<br />

illustrieren für<br />

den Autor, wie tief verankert<br />

das völlig falsche<br />

Verständnis von Genen<br />

in der Gesellschaft ist.<br />

Verantwortlich dafür sind nicht bloß<br />

Vermittler wie die Wissenschaftsjournalisten,<br />

sondern mehr noch die Wissenschaftler<br />

selbst. Es sind ihre Modelle und<br />

vollmundigen Ankündigungen und Versprechungen,<br />

denen Glauben geschenkt<br />

wird. Fischer geht darauf an mehreren<br />

Stellen ein, so etwa, wenn er auf das Humangenomprojekt<br />

zu<br />

sprechen kommt, oder<br />

auch, wenn er sich im<br />

Nachwort zu diesem<br />

Buch kritisch mit Richard<br />

Dawkins »Das<br />

egoistische Gen« auseinandersetzt,<br />

dessen<br />

Reduktionismus ganze<br />

Generationen in die<br />

Irre geführt und verbildet<br />

hat. Allerdings<br />

fällt Fischers diesbezügliche<br />

Kritik überaus<br />

verhalten aus. Das<br />

ist insofern schade, als<br />

zu guter Wissenschaft<br />

stets auch gehört, ein<br />

zureichendes Bild von<br />

den jeweiligen Grenzen<br />

des eigenes Faches<br />

und der Reichweiten<br />

der Methoden zu besitzen, derer man<br />

sich bedient. Und wer <strong>–</strong> wenn nicht der<br />

Wissenschaftshistoriker <strong>–</strong> wäre berufener<br />

zu beurteilen, ob und in welchem Umfang<br />

dem jeweils Genüge getan wurde?<br />

Wie auch immer. Fischer zeigt, dass<br />

der Mensch keine Biomaschine ist. Und<br />

dass die Vorstellung, ein Gen sei etwas,<br />

auf dem sich der Bauplan oder die Betriebsanweisung<br />

finden ließe, eine irrige<br />

ist. Oder, um es mit den Worten des<br />

Autors zu sagen: »Gene sind nicht. Gene<br />

werden. Sie ändern sich, und das Denken<br />

über sie wandelt sich mit ihnen.«<br />

Sebastian Sander<br />

Ernst Peter Fischer: Treffen sich zwei Gene. Vom<br />

Wandel unseres Erbguts und der Natur des<br />

Lebens. Verlag Siedler, München <strong>2017</strong>. 336 Seiten.<br />

24,99 EUR.<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 31


K U R Z V O R S C H L U S S<br />

Expressis verbis<br />

»Wir können nicht akzeptieren, dass aktive<br />

Sterbehilfe in den Mauern unserer Institution<br />

durchgeführt wird.«<br />

Rene Stockmann, Generaloberer des Ordens<br />

»Broeders van Liefde« (dt.: Brüder der Nächstenliebe),<br />

gegenüber dem US-Nachrichtendienst<br />

CNS<br />

»<br />

Die Zeiten von ›Roma locuta, causa finita‹<br />

sind lange vorbei.«<br />

Der frühere EU-Ratspräsident Herman van<br />

Rompuy auf Twitter zur Meldung, der zufolge<br />

der Vatikan den Orden aufgerufen hat, »unter<br />

keinen Umständen« Euthanasie länger »als Lösung<br />

für menschliches Leid« in Betracht zu ziehen<br />

»<br />

Die aktive Sterbehilfe, wie sie in Belgien,<br />

den Niederlanden und Luxemburg praktiziert<br />

wird, ist und bleibt mit der katholischen<br />

Lehre nicht vereinbar. Van Rompuys<br />

Statement irritiert in seiner Missachtung<br />

des christlichen Menschenbildes und in<br />

seiner mangelnden Begriffspräszisierung.«<br />

ZdK-Präsident Thomas Sternberg<br />

»<br />

Kardinal Meisner war ein furchtloser Streiter,<br />

der keine Diskussionen und Konflikte<br />

scheute und immer ein klares Bekenntnis<br />

abgab, als Bischof wie als Mensch. Gerade<br />

auch im Bereich des Lebensrechts war<br />

er eine große, verlässliche Stimme, die<br />

vielen Mitgliedern der Lebensrechtsverbände<br />

zusätzlich Mut und Halt gab.«<br />

Der niederländische Psychiater<br />

und Psychotherapeut<br />

Boudewijn Chabot, der als<br />

Vorkämpfer und Befürworter<br />

des 2002 in Kraft getretenen niederländischen<br />

Euthanasiegesetzes gilt, hat<br />

sich schockiert über<br />

die Praxis der Euthanasie<br />

in den Niederlanden<br />

gezeigt. Wie<br />

das »NRC Handelsblad«,<br />

das zu führenden<br />

Zeitungen<br />

des Landes zählt,<br />

berichtet, sei Chabot<br />

von der raschen<br />

Zunahme der Zahl<br />

Tops & Flops<br />

Boudewijn Chabot<br />

von Menschen, die durch Euthanasie den<br />

Tod finden und an einer psychiatrischen<br />

Krankheit oder Demenz litten, entsetzt.<br />

»Das System in den Niederlanden ist entgleist«<br />

und »Ich weiß nicht, wie wir den<br />

Geist wieder in die Flasche zurückbekommen«,<br />

wird Chabot zitiert. reh<br />

Irlands Ministerpräsident<br />

Leo Varadkar will das Volk<br />

über eine Verfassungsänderung<br />

abstimmen lassen, die<br />

auf eine nahezu vollständige Freigabe vorgeburtlicher<br />

Kindstötungen hinausliefe.<br />

Bislang hält die irische<br />

Verfassung in<br />

ihrem 8. Zusatzartikel<br />

fest, dass ungeborene<br />

Kinder die gleichen<br />

Rechte genießen<br />

wie ihre Mütter.<br />

Vorgeburtliche<br />

Leo Varadkar<br />

Kindstötungen sind<br />

daher nur erlaubt,<br />

wenn die Fortsetzung<br />

der Schwangerschaft das Leben der<br />

Mutter bedroht. Wie der britische Guardian<br />

berichtet, soll das Referendum entweder<br />

im Mai oder im Juni stattfinden, in<br />

jedem Fall aber bevor Papst Franziskus im<br />

August zum Weltfamilientreffen in Dublin<br />

erwartet wird.<br />

reh<br />

wie sollen wir es machen? erst das<br />

natrium-pentobarbital und dann die<br />

sterbesakramente oder lieber umgekehrt?<br />

Die <strong>ALfA</strong>-Bundesvorsitzende Alexandra Maria<br />

Linder zum Tod des Alt-Erzbischofs von Köln,<br />

Joachim Kardinal Meisner<br />

»<br />

Kompromisslos in wichtigen Glaubens- und<br />

Lebensfragen stellte er deutlich heraus,<br />

dass die Würde des Kindes, der Frau und<br />

der Wert der Familie nicht einem einseitig<br />

interpretierten ›Selbstbestimmungsrecht‹<br />

oder gar einem Recht auf Abtreibung und<br />

Suizidbeihilfe geopfert werden dürfe.«<br />

Mechthild Löhr, Bundesvorsitzende der Christdemokraten<br />

für das Leben (CDL), zum selben<br />

Anlass<br />

32<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3


Aus der Bibliothek<br />

Manfred Spieker: Biopolitik (2009)<br />

»Ausländer retten deutsche Sozialversicherung!«<br />

Das könnte in der Welt<br />

von morgen Deutschlands auflagenstärkste<br />

Boulevardzeitung titeln. Denn<br />

wie das »Handelsblatt« kürzlich unter<br />

Berufung auf Daten der Deutschen<br />

Rentenversicherung berichtete, hat eine<br />

wachsende Zahl an Zuwanderern, die<br />

vor allem aus EU-Ländern stammen,<br />

die Finanzlage der deutschen Sozialversicherungen<br />

in den letzten Jahren deutlich<br />

verbessert. Und zwar so deutlich,<br />

dass die Renten- und Krankenkassenbeiträge<br />

trotz kostspieliger Reformen<br />

auf absehbare Zeit stabil bleiben. Den<br />

Berechnungen zufolge stieg die Zahl der<br />

Beitragszahler mit ausländischem Pass<br />

zwischen 2008 und 2015 um 1,7 Millionen,<br />

was einer Zunahme um 53 Prozent<br />

entspricht. Aber war da nicht mal<br />

was? Richtig: »Wer betrügt, der fliegt«,<br />

schallte es vor der Europawahl 2014<br />

aus dem Süden durch das Deutschland<br />

»Die Welt. Die von morgen« (35)<br />

»Probleme des Lebensschutzes waren<br />

lang Zeit kein Gegenstand der Sozialethik.<br />

Dies gilt für die klassischen Probleme Abtreibung<br />

und Euthanasie, die es gibt, seit<br />

es Menschen gibt. Es gilt aber auch für die<br />

modernen Probleme der Kryokonservierung<br />

von Embryonen, der Präimplantationsdiagnostik,<br />

des Klonens und der embryonalen<br />

Stammzellforschung. Dies war<br />

verständlich, solange die Rechts- und Verfassungsordnungen<br />

der zivilisierten Staaten<br />

Abtreibung und Euthanasie als Verstöße<br />

gegen das Menschenrecht auf Leben<br />

verboten haben. Anfang der 70er Jahre<br />

des vergangenen Jahrhunderts aber hat<br />

sich dies grundlegend geändert. Zahlreiche<br />

Staaten haben das Abtreibungsverbot und<br />

manche, wie Belgien und die Niederlande,<br />

auch das Euthanasieverbot gelockert<br />

oder ganz aufgehoben. Nachdem sich die<br />

künstliche Befruchtung in den 80er Jahren<br />

nahezu weltweit ausbreitete und zu<br />

zahllosen kryokonservierten, so genannten<br />

›überzähligen‹ Embryonen führte, die<br />

keine Chance mehr auf einen Transfer in<br />

eine Gebärmutter haben, und nachdem es<br />

1998 erstmals gelang, embryonale Stammzellen<br />

zu isolieren, legalisierten viele Staaten<br />

auch die Forschung mit embryonalen<br />

Stammzellen, das (therapeutische) Klonen<br />

und die Präimplantationsdiagnostik.<br />

Forschung mit embryonalen Stammzellen<br />

aber bedeutet die Tötung des Embryos.<br />

Die Gesetzgeber degradierten damit den<br />

›überzähligen‹ Embryo zu einem biomedizinischen<br />

Rohstoff und beraubten das<br />

Verbot privater Gewaltanwendung und<br />

der Tötung unschuldiger Menschen seiner<br />

Verbindlichkeit. (...) Die gesellschaftlichen<br />

und rechtlichen Entwicklungen erlauben<br />

es der Christlichen Gesellschaftslehre<br />

aber nicht länger, die Probleme des<br />

Lebensschutzes nur als Randproblem zu<br />

behandeln. Sie hat gegenüber der Lockerung<br />

bzw. Aufhebung des Abtreibungs- und<br />

Euthanasieverbots und der Legalisierung<br />

der embryonalen Stammzellforschung die<br />

zentrale Legitimitätsbedingung eines demokratischen<br />

Rechtsstaates zur Geltung<br />

zu bringen: Das Verbot privater Gewaltanwendung<br />

und der Tötung unschuldiger<br />

Menschen. (...)«<br />

Manfred Spieker (Hrsg.): Biopolitik <strong>–</strong> Probleme des Lebensschutzes<br />

in der Demokratie. Verlag Ferdinand Schöningh,<br />

Paderborn 2009. 290 Seiten. 22,90 EUR.<br />

von gestern, nachdem Meldungen vom<br />

massenhaften Missbrauch von Sozialleistungen<br />

durch Zuwanderer aus Osteuropa<br />

die Runde machten. Woraufhin<br />

es »Deutschland den Deutschen« aus<br />

dem Osten zurückschallte. Dass schon<br />

damals die überwiegende Mehrheit der<br />

hier lebenden Bulgaren und Rumänen<br />

in die sozialen Sicherungssysteme einzahlte,<br />

statt sich daraus zu bedienen,<br />

wollte kaum jemand zur Notiz nehmen.<br />

Nicht, dass man sich keine Sorgen<br />

um den Verlust deutscher Identität<br />

machen dürfe. Das schon, auch wenn<br />

keine Einigkeit darüber besteht, was das<br />

ist: deutsche Identität. Goethe, Schiller,<br />

Kleist oder doch nur Götze, Schuhbeck,<br />

Klum? Nur, nach Lage der Dinge<br />

bedeutet »Deutschland den Deutschen«<br />

bislang, dass die Rentner in der<br />

Welt von morgen genau eine Alternative<br />

haben: Nämlich jene zwischen Euthanasie<br />

und Pflegeroboter. Stefan Rehder<br />

K U R Z & B Ü N D I G<br />

Abstammungsrecht steht vor Reform<br />

Berlin (<strong>ALfA</strong>). Angesichts der Entwicklungen<br />

in der Reproduktionsmedizin und der damit<br />

einhergehenden möglich gewordenen neuen<br />

Familienkonstellationen hat der »Arbeitskreis<br />

Abstammungsrecht« grundlegende Reformen<br />

des deutschen Abstammungsrechts empfohlen.<br />

Das berichtet die katholische Nachrichtenagentur<br />

KNA. Statt von »Abstammungsrecht«<br />

solle künftig von der »rechtlichen<br />

Eltern-Kind-Zuordnung« gesprochen werden,<br />

da die genetische Abstammung nur noch eines<br />

unter mehreren Prinzipien der Zuordnung<br />

sei, heißt es in dem Abschlussbericht, den<br />

der Arbeitskreis Bundesjustizminister Heiko<br />

Maas (SPD) übergab. Der 2015 eingesetzten<br />

Kommission unter dem Vorsitz der ehemaligen<br />

Familienrichterin am Bundesgerichtshof,<br />

Meo-Micaela Hahne, gehören weitere acht<br />

Fachjuristen sowie die Kölner Medizinethikerin<br />

Christiane Woopen und der Münchner<br />

Psychologe Heinz Kindler an. Sie legen 91<br />

Thesen als »Orientierungs- und Entscheidungshilfe«<br />

für den Gesetzgeber vor. Anlass<br />

für die Prüfung waren nach Angaben des<br />

Ministeriums die zunehmende Vielfalt der<br />

heutigen Familienkonstellationen und die<br />

Entwicklungen der Reproduktionsmedizin.<br />

Das Recht müsse mit diesem Veränderungsprozess<br />

Schritt halten.<br />

reh<br />

Samenspenderregister gebilligt<br />

Berlin (<strong>ALfA</strong>). Menschen, die mittels einer<br />

Samenspende entstanden sind, können<br />

künftig Informationen über ihre biologische<br />

Herkunft verlangen. Nach dem Bundestag<br />

billigte auch<br />

der Bundesrat<br />

ein Gesetz, das<br />

den Aufbau<br />

JUAN GÄRTNER/FOTOLIA.COM<br />

eines bundesweiten<br />

Spenderregisters<br />

vorsieht. Das<br />

berichtet das<br />

Online-Portal<br />

des Deutschen<br />

Ärzteblatts. In Künstliche Befruchtung<br />

dem Register<br />

werden die Daten von Samenspendern und<br />

-empfängerinnen für die Dauer von 110<br />

Jahren gespeichert. Gleichzeitig erhalten die<br />

Kinder, die durch eine künstliche Befruchtung<br />

mit gespendeten Samen gezeugt wurden,<br />

einen gesetzlichen Auskunftsanspruch zu<br />

Einzelheiten ihrer Abstammung. Bundesgesundheitsminister<br />

Hermann Gröhe (CDU)<br />

hatte das Gesetzgebungsverfahren damit<br />

begründet, dass jeder Mensch erfahren<br />

können solle, von wem er abstamme.<br />

reh<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3 33


G E S E L L S C H A F T<br />

Fulminant<br />

Herzlichen Dank für das neue »<strong>LebensForum</strong>«<br />

mit der fulminanten Titelgeschichte<br />

von gleich drei ausgewiesenen<br />

Experten. Sie verstehen sicher, dass ich <strong>–</strong><br />

wie Sie vermutlich auch <strong>–</strong> trotzdem hoffe,<br />

dass die Autoren Unrecht behalten und<br />

sich Politik und Gesellschaft noch für einen<br />

anderen Kurs erwärmen lassen.<br />

Dr. med. Matthias Klein, Düsseldorf<br />

Lektion nicht gelernt<br />

Wenigstens die Deutschen, so sollte man<br />

meinen dürfen, müssten ihre Lektion beim<br />

Thema Eugenik doch gelernt haben. Der<br />

Beitrag Dr. Kiworrs und der Herren Professoren<br />

Bauer und Cullen zeigt in erschreckender<br />

Weise, dass dies offenbar keineswegs<br />

der Fall ist. Vielen Dank, dass <strong>ALfA</strong><br />

das problematisiert und öffentlich macht.<br />

Jesko Jochemsen, Cuxhaven<br />

Ethische Alternative<br />

Haben Sie Dank für den eindrucksvollen<br />

Bericht von Gerhard Steier über die Tagung<br />

des Bundesverbands Lebensrecht zum Auftakt<br />

der diesjährigen ökumenischen »Woche<br />

für das Leben«. Besonders interessant<br />

fand ich die Wiedergabe der Äußerungen<br />

der Gynäkologin Susanne Van der Velden<br />

aus Kleve, die zeigen, dass es auch bei unerfülltem<br />

Kinderwunsch lebensfreundliche<br />

Alternativen zu der ethisch unverantwortbaren<br />

künstlichen Befruchtung gibt. Das<br />

34<br />

Wenn es »<strong>LebensForum</strong>«<br />

noch nicht gäbe, müsste<br />

es erfunden werden.<br />

Mein Kompliment zu<br />

dieser (wieder mal) sehr<br />

gelungen Ausgabe.<br />

Hans Richter, Bad Vilbel<br />

müsste noch sehr viel stärker bekannt gemacht<br />

werden und hätte daher wohl auch<br />

im »<strong>LebensForum</strong>« mehr Platz verdient.<br />

Ich rege hiermit an, das Thema bei anderer<br />

Gelegenheit noch einmal aufzugreifen<br />

und dann ausführlicher zu behandeln.<br />

Elvira Mendes, Hamburg<br />

Empörend und verstörend<br />

Teilnehmer beim »Marsch für das Leben«<br />

Dass der Berliner Diözesanrat nicht zur<br />

Unterstützung des »Marschs für das Leben«<br />

(vgl. LF 122, 2/<strong>2017</strong>, S.32) aufrufen<br />

will, empfinde ich als empörend und geradezu<br />

verstörend. Denn damit stellt sich<br />

der Berliner Diözesanrat <strong>–</strong> bewusst oder<br />

unbewusst <strong>–</strong> sowohl gegen Papst Franziskus,<br />

der Katholiken verschiedentlich zur<br />

Teilnahme an den Märschen für das Leben<br />

aufgerufen hat, als auch gegen den eigenen<br />

Ortsbischof. Ich selbst war Zeuge, wie<br />

Erzbischof Heiner Koch auf der Kundgebung<br />

zum Beginn des Marsches im vergangenen<br />

Jahr ein Grußwort gesprochen hat.<br />

Auch ich empfinde gelegentlich Äußerungen<br />

von einigen wenigen Teilnehmern des<br />

Marsches als problematisch und zu wenig<br />

differenziert. Aber als jemand, der seit acht<br />

Jahren immer wieder an dem Marsch teilgenommen<br />

hat, erlaube mich mir jedoch,<br />

zu behaupten, dass solche Krawall-Lebensrechtler<br />

eine verschwindende Minderheit<br />

darstellen. Mein Eindruck ist, dass die ganze<br />

große Mehrheit der Teilnehmer zwar<br />

die Abtreibung als Tötung eines wehrlosen<br />

Menschen verurteilt, keineswegs jedoch<br />

Frauen, die sich genötigt sehen, einen<br />

Arzt aufzusuchen, der sie von dem Kind<br />

»befreit«. Ich habe jedenfalls in den zurückliegenden<br />

Jahren immer wieder Teilnehmer<br />

kennengelernt, die sich um Frauen<br />

kümmern, die sich in ihrer Verzweiflung<br />

für eine Abtreibung entschieden haben<br />

und nun darunter leiden.<br />

Winfried Horstmann, Münster<br />

A N Z E I G E<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3


I M P R E S S U M<br />

IMPRESSUM<br />

LEBENSFORUM<br />

Ausgabe Nr. <strong>123</strong>, 3. Quartal <strong>2017</strong><br />

ISSN 0945-4586<br />

Verlag<br />

Aktion Lebensrecht für Alle (<strong>ALfA</strong>) e.V.<br />

Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg<br />

Tel.: 08 21 / 51 20 31, Fax: 08 21 / 15 64 07<br />

www.alfa-ev.de, E-Mail: info@alfa-ev.de<br />

Herausgeber<br />

Aktion Lebensrecht für Alle e.V.<br />

Bundesvorsitzende Alexandra Maria Linder M. A. (V. i. S. d. P.)<br />

Kooperation<br />

Ärzte für das Leben e.V. <strong>–</strong> Geschäftsstelle<br />

z.H. Dr. med. Karl Renner<br />

Sudetenstraße 15, 87616 Marktoberdorf<br />

Tel.: 0 83 42 / 74 22, E-Mail: k.renner@aerzte-fuer-das-leben.de<br />

www.aerzte-fuer-das-leben.de<br />

Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen e. V.<br />

Fehrbelliner Straße 99, 10119 Berlin<br />

Tel.: 030 / 521 399 39, Fax 030 / 440 588 67 Fax<br />

Internet: www.tclrg.de · E-Mail: info@tclrg.de<br />

Redaktionsleitung<br />

Stefan Rehder, M.A.<br />

Redaktion<br />

Alexandra Maria Linder M. A., Dr. med. Maria Overdick-Gulden,<br />

Prof. Dr. med. Paul Cullen (Ärzte für das Leben e.V.)<br />

E-Mail: lebensforum@alfa-ev.de<br />

Anzeigenverwaltung<br />

Aktion Lebensrecht für Alle (<strong>ALfA</strong>) e.V.<br />

Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg<br />

Tel.: 08 21 / 51 20 31, Fax: 08 21 / 15 64 07<br />

www.alfa-ev.de, E-Mail: info@alfa-ev.de<br />

Satz / Layout<br />

Rehder Medienagentur, Würzburg<br />

www.rehder-agentur.de<br />

Auflage<br />

6.500 Exemplare<br />

Anzeigen<br />

Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 8 vom 1.02.<strong>2017</strong>.<br />

Erscheinungsweise<br />

»<strong>LebensForum</strong>« 124 erscheint am 6.12.<strong>2017</strong><br />

Redaktionsschluss ist der 31.10.<strong>2017</strong><br />

Jahresbezugspreis<br />

16,<strong>–</strong> EUR (für ordentliche Mitglieder der <strong>ALfA</strong> und der Ärzte für<br />

das Leben im Beitrag enthalten)<br />

Bankverbindung<br />

Augusta-Bank eG<br />

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Wiesenstraße 11, 57537 Wissen<br />

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Titelbild<br />

Dipl.-Des. Daniel Rennen / Rehder Medienagentur<br />

www.rehder-agentur.de<br />

Das <strong>LebensForum</strong> ist auf umweltfreundlichem chlorfrei gebleichtem<br />

Papier gedruckt.<br />

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die Meinung der Redaktion oder der <strong>ALfA</strong> wieder und stehen<br />

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Fotomechanische Wiedergabe und Nachdruck <strong>–</strong> auch auszugsweise<br />

<strong>–</strong> nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangt<br />

eingesandte Beiträge können wir keine Haftung übernehmen.<br />

Unverlangt eingesandte Rezensionsexemplare werden<br />

nicht zurückgesandt. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe<br />

zu kürzen.<br />

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Herzlich laden wir Sie ein, unsere <strong>ALfA</strong>-Arbeit durch Ihre Mitgliedschaft zu unterstützen.<br />

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Bezug des <strong>LebensForum</strong>s ist im Beitrag schon enthalten. Die Höhe des Beitrages, die ich leisten möchte, habe ich angekreuzt:<br />

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L e b e n s F o r u m 1 2 3 35


L E T Z T E S E I T E<br />

Feministinnen<br />

aufgepasst!<br />

Selektive Abtreibungen<br />

sind keine rein asiatisches<br />

Phänomen mehr<br />

Von Sebastian Sander<br />

Postvertriebsstück B 42890 Entgelt bezahlt<br />

Deutsche Post AG (DPAG)<br />

Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (<strong>ALfA</strong>)<br />

Ottmarsgässchen 8, 86152 Ausgburg<br />

Die selektive Abtreibung nach<br />

Geschlecht, die bislang vor allem<br />

in Asien beklagt wird, ist<br />

auch in westlichen Industrienationen<br />

auf dem Vormarsch. Nach Ansicht des<br />

Wiener Instituts für medizinische Anthropologie<br />

und Bioethik (IMABE) verschärfen<br />

vor allem die von verschiedenen<br />

Herstellern angebotenen, nicht-invasiven<br />

Gentests diese Problematik. Mit<br />

diesen einfachen Bluttests lässt sich das<br />

Geschlecht des ungeborenen Kindes bereits<br />

in der neunten Schwangerschaftswoche<br />

feststellen. Und damit nicht nur<br />

deutlich früher als bei einer Ultraschalluntersuchung,<br />

sondern auch innerhalb<br />

der gesetzlichen Frist von zehn bis zwölf<br />

Wochen, während derer vorgeburtliche<br />

Kindstötungen in vielen Ländern als legal<br />

betrachtet werden.<br />

In der Oktober-Ausgabe seines monatlichen<br />

Newsletters zitiert das Institut<br />

jetzt Daniel Surbek, Chefarzt am Inselspital<br />

Bern. Ihm zufolge kommt es allein<br />

in der Schweiz jährlich zu rund 100 Abtreibungen<br />

aufgrund des »falschen Geschlechts«.<br />

Grund genug für den Schweizer<br />

Bundesrat, einen Gesetzentwurf zu<br />

erarbeiten, der die Mitteilung des Geschlechts<br />

ungeborener Kinder vor Ablauf<br />

der zwölften Schwangerschaftswoche<br />

untersagt.<br />

Auch in Schweden und Großbritannien<br />

werden laut IMABE Abtreibungen wegen<br />

eines von den Eltern nicht gewünschten<br />

Geschlechts vorgenommen. Und in den<br />

USA offerieren Kinderwunschkliniken<br />

Paaren, die sich einer künstlichen Befruchtung<br />

unterziehen, die Selektion im<br />

Labor erzeugter Embryonen nach Geschlecht.<br />

Möglich ist das, weil sich das<br />

Y-Chromosom, das nur Jungen besitzen,<br />

unter Neonlicht zweifelsfrei ausmachen<br />

lässt. Die Angebote verbergen sich hinter<br />

Begriffen wie »social sexing« und »family<br />

balancing« und gehören nach Aussagen<br />

von Reproduktionsmedizinern längst<br />

zum »Lifestyle«.<br />

36<br />

DANIEL RENNEN<br />

In Deutschland verbietet das am 1.<br />

Februar 2010 in Kraft getretene Gendiagnostik-Gesetz<br />

die Mitteilung des Geschlechts<br />

ungeborener Kinder vor Ende<br />

der Zwölf-Wochen-Frist, innerhalb derer<br />

Abtreibungen zwar grundsätzlich verboten<br />

sind, aber nicht bestraft werden,<br />

wenn sich die Schwangere zuvor hat beraten<br />

lassen und dies nachweisen kann.<br />

In Indien und China, wo Mädchen seit<br />

Langem massenhaft abgetrieben werden,<br />

haben die selektiven Abtreibungen überwiegend<br />

soziale Gründe. So messen Eltern<br />

in China, wo jedes Jahr rund eine Million<br />

Mädchen gezielt vor der Geburt getötet<br />

werden, den männlichen Nachkommen<br />

traditionell eine höhere Bedeutung zu.<br />

Männer tragen dort nicht nur den Familiennamen<br />

weiter, sondern versorgen<br />

ihre Eltern auch im Alter.<br />

In Indien, wo jedes Jahr noch mehr<br />

Mädchen vor der Geburt getötet werden<br />

als in China, ist häufig die obligatorische<br />

Mitgift ausschlaggebend, die Eltern bei<br />

der Heirat einer Tochter zahlen müssen.<br />

Zeitweise bewarben indische Kliniken die<br />

zur Geschlechtsbestimmung erforderlichen<br />

Tests ganz offen mit Slogans wie:<br />

»Geben Sie jetzt 800 Rupien aus, damit<br />

Sie später 50.000 Rupien sparen.«<br />

Expertenschätzungen zufolge fehlen für<br />

eine gesunde demografische Entwicklung<br />

weltweit inzwischen 90 bis 150 Millionen<br />

Durch gezielte Abtreibung von Mädchen gibt es dramatisch weniger Frauen als Männer<br />

Frauen, überwiegend in Asien. In China<br />

etwa beträgt der Männerüberschuss mittlerweile<br />

rund 100 Millionen. Eine solche<br />

Vermännlichung der Gesellschaft müsste<br />

gerade Feministinnen ein Dorn im Auge<br />

sein. Erstaunlicherweise gibt es jedoch aus<br />

diesem Lager kaum wahrnehmbare Kritik<br />

an selektiven Abtreibungen.<br />

»Wer Abtreibungen wegen des Geschlechts<br />

toleriert, forciert eine diskriminierende<br />

Sicht auf Mädchen und Frauen.<br />

Geschlechterselektion ist keine Lappalie,<br />

sondern eine Menschenrechtsverletzung,<br />

die unter allen Umständen unterbunden<br />

werden muss«, erklärt die Bioethikerin<br />

und IMABE-Geschäftsführerin Susanne<br />

Kummer.<br />

L e b e n s F o r u m 1 2 3

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