ALfA e.V. Magazin – LebensForum | 123 3/2017
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Nr. <strong>123</strong> | 3. Quartal <strong>2017</strong> | ISSN 0945-4586 | Einzelpreis 4,<strong>–</strong> E B 42890<br />
LEBENSFORUM<br />
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (<strong>ALfA</strong>)<br />
Ausland<br />
Streit um Tötung<br />
auf Verlangen<br />
In memoriam<br />
Erzbischof, Kardinal<br />
und Lebensrechtler<br />
Medizin<br />
Von Risiken und<br />
Nebenwirkungen<br />
CRISPR/Cas9<br />
Lasst die Hände<br />
vom Genom!<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3 1<br />
In Kooperation mit Ärzte für das Leben e.V. und Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen e.V. (TCLG)
I N H A LT<br />
LEBENSFORUM <strong>123</strong><br />
EDITORIAL<br />
Wir bleiben dran 3<br />
Alexandra Maria Linder<br />
TITEL<br />
Nach uns die Sintflut 4<br />
Stefan Rehder<br />
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR<br />
BIOETHIK-SPLITTER 8<br />
AUSLAND<br />
Drei Gründe 10<br />
Sebastian Sander<br />
Brüder der Sterbehilfe 12<br />
Eckhardt Meister<br />
NACHRUF<br />
Gelegen oder ungelegen 14<br />
Joachim Kardinal Meisner<br />
Ein Nachruf in Zitaten 17<br />
Selbst dem Deutschen Ethikrat geht das zu weit: Mit CRISPR/Cas9 drohen Forscher Fakten<br />
beim Eingriff in die menschliche Keimbahn zu schaffen.<br />
12 - 13<br />
4 - 7<br />
DANIEL RENNEN<br />
POLITIK<br />
Hornberger Schießen 18<br />
Urs Rotthaus<br />
MARSCH FÜR DAS LEBEN<br />
Gänsehaut und Geschrei 20<br />
Stefan Rehder<br />
Katholische Posse: Der belgische Ordenszweig eines katholischen Männerordens will »Tötung<br />
auf Verlangen« in seinen Kliniken nicht länger ausschließen.<br />
Jeder hat das Recht auf Leben 22<br />
Bischof Dr. Rudolf Voderholzer<br />
MEDIZIN<br />
Von Risiken und Nebenwirkungen 24<br />
Prof. Dr. med. Christoph von Ritter<br />
DOKUMENTATION<br />
Prävention statt Unterstützung 28<br />
BÜCHERFORUM 30<br />
KURZ VOR SCHLUSS 32<br />
IMPRESSUM 35<br />
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR<br />
24 - 27<br />
Das Embryonenschutzgesetz<br />
steht wieder unter Beschuss.<br />
Dabei hat es Frauen vor vielen<br />
Auswüchsen der modernen<br />
Reproduktionsmedizin<br />
zuverlässig bewahrt.<br />
2<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
E D I T O R I A L<br />
14 - 17<br />
Statt eines Nachrufs: »<strong>LebensForum</strong>« gedenkt<br />
des Lebensrechtlers und Alterzbischofs von<br />
Köln Joachim Kardinal Meisner.<br />
20 - 23<br />
Auf der Reichstagswiese und durch das<br />
Brandenburger Tor: Impressionen vom<br />
diesjährigen »Marsch für das Leben«<br />
Wir<br />
bleiben dran<br />
Liebe Leserin, lieber Leser!<br />
Die Bundestagswahl ist vorbei, die Zusammensetzung<br />
des neuen Bundestags<br />
verspricht für die kommenden vier Jahre<br />
mehr Opposition und mehr Debatte.<br />
Welche Parteien sich in der politischen<br />
Wirklichkeit zu bioethischen Themen wie<br />
positionieren, werden wir bald erleben:<br />
Der »Marsch für das Leben« am 16. September,<br />
an dem 7.500 mutige, engagierte<br />
Menschen teilgenommen haben, darunter<br />
viele junge Leute und viele Familien,<br />
hat neun konkrete Forderungen an<br />
den neuen Bundestag gestellt. Sie können<br />
die Forderungen in diesem »Lebens-<br />
Forum« nachlesen, ebenso<br />
wie einen Bericht über diese<br />
größte Lebensrechtsdemonstration<br />
in Deutschland.<br />
Die Predigt des Regensburger<br />
Bischofs Prof. Dr. Rudolf<br />
Voderholzer beim abschließenden<br />
ökumenischen<br />
Gottesdienst drucken wir ebenfalls im<br />
Wortlaut ab.<br />
Ein anderer unermüdlicher Kämpfer<br />
für das Lebensrecht aus dem kirchlichen<br />
Bereich ist im Sommer verstorben: Joachim<br />
Kardinal Meisner hat Predigten und<br />
Zitate hinterlassen, die wir nicht vergessen<br />
sollten und in diesem Heft auszugsweise<br />
als Vermächtnis dokumentieren.<br />
Requiescat in pace.<br />
Im Wahlkampf <strong>2017</strong> waren weder Abtreibung<br />
noch PraenaTest, Genmanipulation<br />
oder die Lücken in der Regelung<br />
des assistierten Suizids ein Thema. Das<br />
braucht uns nicht zu entmutigen, denn<br />
viele andere wichtige, die Menschen betreffende<br />
und interessierende Themen<br />
kamen ebenso wenig vor. Man stritt sich<br />
lieber auf gesellschaftspolitisch weniger<br />
vermintem Gelände, zum Beispiel um<br />
Diesel oder Elektrofahrzeuge. Der neue<br />
Bundestag wird nichtsdestoweniger viel<br />
zu tun, zu diskutieren und zu entscheiden<br />
haben <strong>–</strong> auch in unserem Bereich.<br />
In der »Reproduktionsmedizin« geht es<br />
zum Beispiel um das Stichwort »Recht<br />
auf Kind« und folglich die eventuelle Zulassung<br />
von Eizellspende und Leihmut-<br />
Neun Forderungen<br />
an den Bundestag<br />
terschaft. Dringend<br />
debattiert und geregelt<br />
werden müssen<br />
die Möglichkeiten<br />
der genetischen<br />
Manipulation, die<br />
aktuell alte Heilsversprechen<br />
wieder<br />
aufleben lassen: Mediziner,<br />
Techniker<br />
und Forscher wollen<br />
es endlich schaffen,<br />
alle Krankheiten<br />
und Behinderungen<br />
zu beseitigen, indem sie das entsprechende<br />
kranke Gen reparieren oder<br />
ausschalten. Sie versprechen die Beseitigung<br />
des Leids <strong>–</strong> meistens aber, siehe<br />
Präimplantationsdiagnostik oder nichtinvasive<br />
Pränataldiagnostik, enden diese<br />
Versprechen eher in der Beseitigung<br />
der Leidenden.<br />
Zum wiederholten Mal ist die Abtreibungsgesetzgebung<br />
in Chile<br />
hier Thema, leider mit<br />
schlechten Nachrichten <strong>–</strong><br />
erneut hat ein Land entschieden,<br />
die Abtreibung<br />
in bestimmten Fällen zuzulassen.<br />
In Chile gibt es im<br />
Vergleich zu anderen Staaten<br />
besonders viele minderjährige Mädchen,<br />
die aufgrund sexuellen Missbrauchs<br />
schwanger werden. Statt aber das Übel,<br />
nämlich den massenhaften Kindesmissbrauch,<br />
an der Wurzel zu packen, bietet<br />
man den vergewaltigten Mädchen eine<br />
Abtreibung an. Diese frauenfeindliche<br />
Negierung des wahren Verbrechens wird<br />
die Lage der Mädchen nicht bessern, die<br />
Kinder opfern und die Täter schützen.<br />
Auch am Ende des Lebens bleiben die<br />
Themen aktuell: Belgien zum Beispiel hat<br />
im Bereich der Euthanasie eine verheerende<br />
Bilanz und auch katholische Einrichtungen<br />
bieten sie an.<br />
Es geht weiter im Humankulturkampf<br />
und wir sind mittendrin. Bleiben wir engagiert<br />
dran.<br />
Ihre<br />
Alexandra Maria Linder M. A.<br />
Bundesvorsitzende der <strong>ALfA</strong> e. V.<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3 3
T I T E L<br />
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR<br />
Nach uns<br />
die Sintflut<br />
Ende 2015 diskutierten Forscher noch über ein Moratorium für Eingriffe in die menschliche<br />
Keimbahn. Inzwischen erproben neben chinesischen auch US-amerikanische und europäische<br />
Forscher munter die CRISPR/Cas9-Technologie in menschlichen Embryonen.<br />
Das geht selbst dem prinzipiell forschungsfreundlich eingestellten Deutschen Ethikrat zu weit.<br />
Und das aus mehr als nur einem guten Grund.<br />
Von Stefan Rehder<br />
Die Einschläge kommen näher.<br />
Hatten bisher nur chinesische<br />
Forscher zweimal über Eingriffe<br />
in die menschliche Keimbahn mittels<br />
CRISPR/Cas9 berichtet, so publizierten<br />
in diesem Sommer erstmals auch Wissenschaftler<br />
aus den USA und Großbritannien<br />
die Ergebnisse von Experimenten,<br />
bei denen sie menschlichen Embryonen<br />
mit den neuartigen molekularen<br />
Genscheren auf den Leib gerückt waren.<br />
Auch in Schweden sollen Forscher<br />
längst mit den neuartigen Genscheren in<br />
4<br />
der Keimbahn von menschlichen Embryonen<br />
experimentieren. Die Publikation<br />
ihrer Forschungsergebnisse steht noch<br />
aus und wird nicht nur in der »scientific<br />
community« mit Spannung erwartet.<br />
Das Besondere bei all dem: Anders<br />
als bei Methoden der somatischen Gentherapie,<br />
mit der sich »lediglich« reife<br />
Körperzellen genetisch verändern lassen,<br />
führen genetische Manipulationen<br />
der Keimbahn im Erfolgsfalle dazu, dass<br />
sich die dabei veränderten Gene später<br />
nicht nur in jeder Zelle des Körpers wiederfinden,<br />
sondern auch auf sämtliche<br />
nachkommenden Generationen vererbt<br />
werden. Anders formuliert: Während bei<br />
der somatischen Gentherapie ein Individuum<br />
für die Dauer seiner Existenz genetisch<br />
verändert wird, sind Keimbahnmanipulationen<br />
dazu angetan, diese zu<br />
überdauern. Statt bloß zu einer genetischen<br />
Modifikation von Individuen führen<br />
sie darüber hinaus zu einer Veränderung<br />
des Genpools.<br />
»Correction of a pathogenic gene mutation<br />
in human embyros« (dt.: Korrek-<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
tur einer pathogenen Genmutation in<br />
menschlichen Embryonen) lautet der für<br />
eine naturwissenschaftliche Publikation<br />
beinah schon triumphal anmutende Titel,<br />
die das Wissenschaftsmagazin »Nature«<br />
Anfang August (doi: 10.1038/nature23305)<br />
veröffentlichte. In ihr berichten<br />
Wissenschaftler der Oregon Health<br />
and Science University in Portland, es sei<br />
ihnen mit Hilfe der CRISPR/Cas9-Technologie<br />
erstmals gelungen, in 42 von 58<br />
menschlichen Embryonen ein mutiertes<br />
Gen erfolgreich zu korrigieren.<br />
Die Mutation, die auch als MYBPC3<br />
bezeichnet wird, kann eine hypertrophe<br />
Kardiomyopathie auslösen. Eine solche<br />
einseitige Verdickung des Herzmuskels<br />
kann dessen Pumpleistung verringern und<br />
<strong>–</strong> im schlimmsten Fall <strong>–</strong> zu einem plötzlichen<br />
Herzstillstand führen. Anders als<br />
die beiden Forscherteams aus China, deren<br />
Experimente noch als Fehlschläge betrachtet<br />
werden konnten, weil die Genscheren<br />
den DNA-Doppelstrang in den<br />
Embryonen auch an zahlreichen anderen<br />
Stellen durchtrennten als an den von den<br />
Forschern gewünschten (Off-Target-Effekt),<br />
brachten die Wissenschaftler der<br />
Arbeitsgruppe um den US-amerikanischen<br />
Klonforscher Shoukhrat Mitalipov<br />
die molekularen Genscheren statt<br />
in die Embryonen in noch unbefruchtete<br />
Eizellen gesunder Spenderinnen ein.<br />
Erst dann befruchteten sie diese mit den<br />
Samenzellen von Spendern, die das mutierte<br />
Gen vererben, das die Forscher zu<br />
korrigieren trachten.<br />
Mit anderen Worten: Das Team um<br />
Mitalipov erschuf also absichtlich menschliche<br />
Embryonen mit einem genetischen<br />
Defekt, um diesen anschließend zu beheben.<br />
Damit nicht genug: Am fünften Tag<br />
sezierten die Forscher die so manipulierten<br />
Embryonen. Dabei wollen sie festgestellt<br />
haben, dass die Genscheren den<br />
DNA-Strang exakt an der gewünschten<br />
»Am fünften Tag sezierten die<br />
Forscher die Embryonen.«<br />
NEWS.OHSU.EDU<br />
Stelle durchteilt hätten. Hatten die chinesischen<br />
Wissenschaftler noch feststellen<br />
müssen, dass die Genscheren in den<br />
Embryonen ein wahres Schlachtfest veranstalteten<br />
und die DNA auch an zahlreichen<br />
anderen Stellen zerteilten als an<br />
den beabsichtigten, so wollen die Forscher<br />
um Mitalipov keinen einzigen Off-<br />
Target-Effekt gefunden haben. Mehr<br />
noch: In rund drei Viertel der Embryonen<br />
(72,4 %) soll die vererbbare Mutation<br />
anschließend in keiner einzigen Zelle<br />
mehr nachweisbar gewesen sein. Um<br />
den »Fortschritt«, den die Forscher erzielten,<br />
einigermaßen korrekt einschätzen<br />
zu können, muss man wissen, dass die<br />
Wahrscheinlichkeit, dass ein Embryo das<br />
mutierte Gen erbt, bei diesem Humanexperiment<br />
ohnehin »nur« bei 50 Prozent<br />
lag. Statistisch gesehen hätte jeder zweite<br />
Embryo die Mutation auch ohne den<br />
Eingriff in die Keimbahn »vermieden«.<br />
Doch auch der womöglich tatsächlich<br />
erzielte »Fortschritt« des Teams um Mitalipov<br />
wird von anderen Wissenschaftlern<br />
inzwischen offen angezweifelt. Darunter<br />
Shoukhrat Mitalipov<br />
auch von solchen, die selbst mit CRIS-<br />
PR/Cas9 forschen, wie etwa der Genetiker<br />
George Church von der Harvard Medical<br />
School. Denn obwohl die Forscher<br />
um Mitalipov kurze DNA-Stränge als Vorlagen<br />
für die Reparatur der durchtrennten<br />
DNA in die Eizellen miteinbrachten,<br />
scheinen diese von den Zellen ignoriert<br />
worden zu sein. Jedenfalls fehlten bei allen<br />
Embryonen, wie die Forscher in ihrer<br />
Publikation berichten, diese spezifischen<br />
Sequenzen.<br />
Woraus das Team um Mitalipov schloss,<br />
dass sich die Zellen für die Reparatur der<br />
DNA jeweils an dem nicht mutierten<br />
Gen der Eizellen orientiert und dieses<br />
<strong>–</strong> durch homologe Rekombination <strong>–</strong> gewissermaßen<br />
rekonfiguriert hätten. Genau<br />
das jedoch ziehen Church und andere<br />
jetzt in Zweifel.<br />
In dem Wirbel um die Publikation des<br />
Teams um Mitalipov, der inzwischen angekündigt<br />
hat, »auf die Kritikpunkte Punkt<br />
für Punkt« antworten zu wollen, sind die<br />
weniger spektakulären CRISPR/Cas9-<br />
Experimente, mit welchen Forscher um<br />
Kathy Niakan vom Francis Crick Institute<br />
in London menschlichen Embryonen<br />
auf den Leib rückten, beinah untergegangen.<br />
Auch bei diesen in der zweiten<br />
Septemberhälfte ebenfalls in »Nature«<br />
publizierten Versuchen handelt es<br />
sich letztlich um ein Humanexperiment,<br />
selbst wenn die Wissenschaftler für dieses<br />
keine menschlichen Embryonen eigens<br />
erzeugten, sondern sich mit solchen<br />
»begnügten«, die ihnen Paare spendeten,<br />
die sich einer künstlichen Befruchtung<br />
unterzogen hatten.<br />
Das Team um Niakan nutzte die Genscheren,<br />
um in den befruchteten Eizellen<br />
ein Gen abzuschalten, welches für die<br />
Synthese des Proteins Oct4 verantwortlich<br />
gemacht wird (doi.10.1038/nature24033).<br />
Dabei fanden sie heraus, dass die Blockade<br />
der Proteinsynthese in den Embryonen<br />
die Aktivität einer Vielzahl anderer<br />
»Ethikrat sieht ›Interessen der<br />
gesamten Menschheit berührt‹.«<br />
Gene veränderte, die die Forscher für die<br />
Steuerung der Embryogenese verantwortlich<br />
machen. Bei 30 der 37 Embryonen<br />
(81 %) kam diese ganz zum Stillstand.<br />
Wie die Forscher schreiben, erreichten<br />
diese Embryonen nicht einmal das Blastozystenstadium.<br />
Und auch bei den übrigen<br />
Embryonen verlief die Embryogenese<br />
nicht mehr in den bekannten Bahnen.<br />
Selbst wenn es den Forschern um<br />
Niakan um nicht mehr als die Klärung<br />
der Bedeutung des Proteins Oct4 gegangen<br />
sein sollte, zeigt das Experiment vor<br />
allem zweierlei. Nämlich zunächst wie<br />
geradezu selbstverständlich inzwischen<br />
menschliche Embryonen für scheinbar<br />
»hochgradige« Forschungserkenntnisse<br />
verbraucht werden. Und sodann, welche<br />
gravierenden Wechselwirkungen die<br />
Veränderung der Funktion eines einzelnen<br />
Gens im menschlichen Organismus<br />
in Gang setzen kann.<br />
Letzteres erfüllt inzwischen auch den<br />
Deutschen Ethikrat mit Sorge. Ende September<br />
veröffentlichte das Gremium, das<br />
Bundesregierung und Parlament in bioethischen<br />
Fragen berät, eine sogenannte<br />
Ad-hoc-Empfehlung. Das sechsseitige<br />
und überraschenderweise sogar einstimmig<br />
verabschiedete Papier schlägt<br />
schon in der Überschrift Alarm: »Keimbahneingriffe<br />
am menschlichen Embryo:<br />
Deutscher Ethikrat fordert globalen politischen<br />
Diskurs und internationale Regulierung«.<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3 5
T I T E L<br />
Nach Ansicht des Expertengremiums,<br />
das keineswegs im Ruf steht, eine<br />
Versammlung von Lebensrechtlern zu<br />
sein oder gar die katholische Lehre von<br />
der Heiligkeit menschlichen Lebens zu<br />
propagieren, schreitet die Forschung auf<br />
dem Gebiet des sogenannten Genome-<br />
»Tragweite der Gen-Manipulation<br />
kann derzeit nur erahnt werden.«<br />
Editings inzwischen »erheblich schneller«<br />
voran »als erwartet« und drohe »zumindest<br />
in einigen Staaten« Fakten zu schaffen.<br />
Und weil damit »nicht nur nationale,<br />
sondern auch Interessen der gesamten<br />
Menschheit berührt« würden, seien<br />
I N F O<br />
CRISPR/Cas9<br />
PERSONAL GENOME PROJECT<br />
und Irrtum« ablaufen können. Und mehr<br />
noch: »Erstmals in der Wissenschaftsgeschichte<br />
sollen medizinische Maßnahmen<br />
entwickelt und gegebenenfalls eingesetzt<br />
werden, die nicht allein einen einwilligungsfähigen<br />
erwachsenen Patienten oder<br />
<strong>–</strong> und schon dies ist ethisch umstritten <strong>–</strong><br />
nun sowohl eine »weitgespannte Diskussion«<br />
als auch eine »internationale Regulierung«<br />
notwendig.<br />
Dem Deutschen Bundestag und der<br />
Bundesregierung empfiehlt der Rat denn<br />
auch »eindringlich«, in der kürzlich begonnenen<br />
Legislaturperiode »alsbald die<br />
Initiative zu ergreifen« und »das Thema<br />
möglicher Keimbahninterventionen beim<br />
Menschen auch und vor allem auf der Ebene<br />
der Vereinten Nationen zu platzieren«.<br />
Nach Ansicht des Ethikrats werfen<br />
»die technischen Möglichkeiten« des<br />
6<br />
CRISPR/Cas9 ist ein neuartiges molekulargenetisches Werkzeug, das sich seine Erfinderinnen,<br />
die Französin Emmanuelle Charpentier und die US-Amerikanerin Jennifer Doudna, von<br />
Bakterien abgeschaut haben. Mit ihm verteidigen sich Bakterien gegen den Befall von Viren<br />
(genauer: Bakteriophagen), die mangels eines eigenen Stoffwechsels einen Wirt brauchen,<br />
um sich zu vermehren. Dazu »kapern« die Viren ein Bakterium, schleusen ihre DNA in die<br />
Wirtszelle ein und »zwingen« sie, statt der Bakterien- die Phagen-DNA zu replizieren. Doudna<br />
und Charpentier fanden nicht nur heraus, dass die Bakterien, die einen solchen Angriff<br />
überlebten, kurze Fragmente der Phagen-DNA in ihre eigenen einbauten, sondern auch, wo.<br />
Der Einbau erfolgt jeweils zwischen Sequenzen, die japanische Forscher bereits Ende der<br />
80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts entdeckten und die sie CRISPR tauften.<br />
CRISPR ist ein Akronym und steht für »Clustered Regulary Interspaced Short Palindromic Repeat«.<br />
Die Archivierung der dort abgelegten Phagen-DNA erlaubt es den Bakterien, einmal<br />
besiegte Angreifer im Falle eines neuen Angriffs wiederzuerkennen und ein Protein (Cas9)<br />
herzustellen, das die Phagen-DNA aus der eigenen herausschneidet.<br />
Die von Charpentier und Doudna nach diesem Vorbild entwickelten Genscheren nutzen eine<br />
von Forschern programmierbare Guide-RNA, die genau der DNA-Abfolge der Zielsequenz<br />
entspricht. Wenn die Genschere diese Stelle gefunden hat, trennt das Protein Cas9 den<br />
DNA-Doppelstrang an dieser Stelle auf. Anschließend flicken die zelleigenen Reparaturmechanismen<br />
die Enden wieder zusammen. Dabei können die Scheren nicht nur einzelne DNA-<br />
Bausteine ausschneiden, sondern auch austauschen oder neue einfügen. Weil mit CRISPR/<br />
Cas9 der genetische Code jedes Lebewesens wie in einem Textverarbeitungsprogramm korrigiert<br />
oder auch umgeschrieben werden kann und es zudem weitere Genscheren gibt, die<br />
nicht ganz so potent sind, spricht man hier auch gerne vom Genome-Editing.<br />
sogenannten Genome-Editings »komplexe<br />
und grundlegende ethische Fragen«<br />
auf. Dies gelte vor allem dort, »wo<br />
sie eingesetzt werden, um Veränderungen<br />
der menschlichen Keimbahn vorzunehmen«.<br />
Ziel solcher Keimbahninterventionen<br />
sei es, menschliche Embryonen<br />
zu therapeutischen Zwecken genetisch<br />
zu verändern und auf diese Weise<br />
die Ursachen für Erkrankungen in allen<br />
Zellen des Körpers zu beseitigen. Da<br />
diese Veränderungen auch an potenzielle<br />
Nachkommen weitergegeben würden,<br />
sei die Tragweite derartiger genetischer<br />
Manipulationen beim Menschen erheblich.<br />
Wörtlich heißt es dazu: »Sie kann<br />
im Moment nur erahnt werden und entzieht<br />
sich der Vorhersagekraft wissenschaftlicher<br />
Untersuchungen.«<br />
An anderer Stelle, wenn auch in derselben<br />
Stellungnahme, schreiben die Experten<br />
unter Bezugnahme auf die von<br />
verschiedener Seite initiierten, letztlich<br />
aber vergeblichen Bemühungen, ein Forschungsmoratorium<br />
zu vereinbaren:<br />
»Aber mit dem klinischen Einsatz war<br />
in absehbarer Zukunft auch nicht zu rechnen:<br />
Die Risiken erschienen als noch langfristig<br />
unbeherrschbar und die Erfolgschancen<br />
demgegenüber als zu gering.«<br />
Mit anderen Worten: Der Ethikrat<br />
warnt vor Experimenten in der menschlichen<br />
Keimbahn, die zumindest bislang gar<br />
nicht anders als nach dem Prinzip »Versuch<br />
George Church<br />
ein noch nicht einwilligungsfähiges geborenes<br />
oder ungeborenes Kind betreffen,<br />
sondern Generationen noch nicht gezeugter<br />
Nachkommen unbestimmter Zahl.«<br />
Im Gegensatz zum reproduktiven Klonen<br />
sei beim Genome-Editing »durch die<br />
rasanten Entwicklungen der letzten zwei<br />
Jahre eine anwendungsnahe Situation entstanden,<br />
die hinsichtlich ihrer potenziellen<br />
Konsequenzen deutlich dringlicher<br />
erscheint.« Angesichts »realer Umsetzungsmöglichkeiten«<br />
müsse mittlerweile<br />
»darüber diskutiert und befunden werden,<br />
ob systematische, generationenübergreifende<br />
Veränderungen des menschlichen<br />
Genoms verboten oder zugelassen<br />
und, sofern sie grundsätzlich zugelassen<br />
würden, in welchem Maße sie mit Auflagen<br />
und Einschränkungen begrenzt werden<br />
müssen«, so der Rat weiter. »Wissenschaftliche<br />
Forschung, deren Ergebnisse<br />
derart grundlegende Auswirkungen<br />
auf das menschliche Selbstverständnis haben<br />
könnten«, müssten »gesellschaftlich<br />
eingebettet sein«. Sie seien daher weder<br />
eine »interne Angelegenheit der wissenschaftlichen<br />
Gemeinschaft« noch die »eines<br />
einzelnen Landes«. Und das nicht<br />
nur, »weil Forschung international vernetzt<br />
ist, sondern auch, weil die Konsequenzen<br />
solcher Forschungsaktivitäten<br />
alle Menschen betreffen«.<br />
Deshalb müsse sich die »Wissenschaftsgemeinschaft<br />
ihrerseits um ergebnisoffe-<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
ne Gespräche mit allen relevanten Gruppen<br />
der gesellschaftlichen Öffentlichkeit«<br />
bemühen. »Parallel dazu« könnten und<br />
müssten »die politischen Institutionen<br />
Wege finden und Verfahren einleiten,<br />
um die zahlreichen noch offenen Fragen<br />
und möglichen Konsequenzen systematischer<br />
Genom-Manipulationen durch Genome-Editing<br />
intensiv, differenziert und<br />
vor allem weltweit zu erörtern und gebotene<br />
regulatorische Standards möglichst<br />
schnell und umfassend zu etablieren«.<br />
Nach Ansicht des Ethikrats sind hier<br />
»unterschiedliche Formate denkbar«:<br />
Sicherheitsstandards bis hin zu möglichen<br />
Resolutionen oder völkerrechtlichen<br />
Konventionen«. Dass ein solcher<br />
Prozess »mühsam und schwerfällig zu<br />
werden« verspreche, dürfe »angesichts<br />
der Wichtigkeit des Themas kein Vorwand<br />
sein, solche Initiativen gar nicht<br />
erst zu ergreifen«.<br />
Das klingt ein wenig hilflos und ist es<br />
wohl auch. Noch erschreckender als das<br />
Tempo, das die Forscher und ihre Finanziers<br />
bei der Erforschung von Eingriffen<br />
in die menschliche Keimbahn an den<br />
Tag legen, ist jedoch etwas ganz anderes.<br />
Denn selbst wenn die Forscher davon<br />
überzeugt wären, ihre Forschungen<br />
könnten der Menschheit einmal bei der<br />
Bekämpfung von Krankheiten zugutekommen,<br />
realistisch sind solche Szenarien<br />
nicht. Denn weil sich menschliche<br />
Embryonen mittels Präimplantationsdiagnostik<br />
(PID) längst auf genetische Defekte<br />
untersuchen und die genetisch auffälligen<br />
selektieren lassen, wird sich in der<br />
Praxis niemand die Mühe machen, sie zu<br />
THE FRANCIS CRICK INSTITUTE<br />
»Mitalipov hat das Off-Targeting<br />
nicht gelöst, sondern umgangen.«<br />
Kathy Niakan<br />
Sie reichen »von einer großen internationalen<br />
Konferenz, die deutlich machen<br />
könnte, dass Genome-Editing zum Zwecke<br />
der therapeutisch motivierten Keimbahnveränderung<br />
eine Frage von grundsätzlich<br />
weltgesellschaftlicher und nicht<br />
nur wissenschaftlicher Bedeutung ist, über<br />
die Festlegung von global verbindlichen<br />
»Betroffen: Generation noch nicht<br />
gezeugter Nachkommen.«<br />
»korrigieren«. Dies umso mehr, als die<br />
Überprüfung, ob die Genscheren die ihnen<br />
zugedachte Arbeit auch korrekt erledigt<br />
haben, ohnehin die Durchführung<br />
einer PID erfordern würde.<br />
Die Ökonomisierung der Medizin ist<br />
längst derart weit gediehen, dass heute<br />
niemand einen maximalen Einsatz an<br />
Zeit und Kraft aufwendet, wenn sich dasselbe<br />
Ergebnis <strong>–</strong> in diesem Fall, Eltern<br />
ein genetisch gesundes Kind zu versprechen<br />
<strong>–</strong> auch mit einem Minimum an beidem<br />
erreichen lässt.<br />
Ökonomisch gesehen macht der Einsatz<br />
von CRISPR/Cas9 beim Menschen,<br />
der das Ziel verfolgt, vererbbare Krankheiten<br />
durch die Korrektur des genetischen<br />
Codes zu eliminieren, allenfalls<br />
bei Geborenen Sinn. Nach dem derzeitigen<br />
Stand der Technik <strong>–</strong> und womöglich<br />
für alle Zeit <strong>–</strong> verhindert dies jedoch<br />
das sogenannte »Off-Targeting«. Und bei<br />
Licht betrachtet hat auch das Team um<br />
Mitalipov das Problem, dass die molekularen<br />
Scheren das Erbgut auch an anderen<br />
Stellen zertrennen als nur den gewünschten,<br />
keineswegs gelöst. Es hat es,<br />
indem es die Genscheren erstmals nicht<br />
den Embryonen, sondern bereits den Eizellen<br />
vor deren Befruchtung injizierte,<br />
lediglich umgangen.<br />
Wenn aber die Heilung von im Labor<br />
erzeugten Embryonen von genetischen<br />
Defekten unwirtschaftlich ist, eine relative<br />
Sicherheit der Technologie aber nur<br />
in einem Stadium gegeben ist, in dem der<br />
Embryo erst aus wenigen Zellen besteht,<br />
dann ist auch klar, worin der mögliche<br />
Nutzen von CRISPR/Cas9 beim Menschen<br />
allein bestehen könnte: Nämlich<br />
nicht in der Heilung von Menschen mit<br />
unerwünschten, sondern in der Laborzeugung<br />
von Menschen mit gewünschten<br />
Merkmalen.<br />
Die »schöne neue Welt« lässt grüßen.<br />
Mag es für einen Abgesang auf den Menschen,<br />
der bislang bloß sein »Dasein«<br />
und nicht auch noch sein »Sosein« dem<br />
planerischen Willen anderer Menschen<br />
verdankt, derzeit auch noch zu früh sein.<br />
In den Köpfen vieler Molekularbiologen<br />
und der CEOs der Kinderwunschindustrie<br />
finden sich derartige Szenarien längst<br />
implantiert. Und deshalb lautet die Frage<br />
inzwischen auch gar nicht, ob es einmal<br />
echte Designerbabys geben wird, sondern<br />
nur noch: wann und wo?<br />
I M P O R T R A I T<br />
Stefan Rehder, M.A.<br />
Der Autor, geboren 1967, ist »Chef vom<br />
Dienst« der überregionalen, katholischen<br />
Tageszeitung »Die Tagespost«, Redaktionsleiter<br />
von »<strong>LebensForum</strong>«<br />
und<br />
Leiter der Rehder<br />
Medienagentur. Er<br />
studierte Geschichte,<br />
Germanistik<br />
und Philosophie<br />
an den Universitäten Köln und<br />
München und hat mehrere bioethische<br />
Bücher verfasst, darunter »Grauzone<br />
Hirntod. Organspende verantworten«<br />
und »Die Todesengel. Euthanasie auf<br />
dem Vormarsch.« Sankt Ulrich Verlag,<br />
Augsburg 2010 bzw. 2009. Stefan Rehder<br />
ist verheiratet und Vater von drei<br />
Kindern.<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3 7
B I O E T H I K - S P L I T T E R<br />
+++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bio<br />
Päpstliche Akademie für das Leben<br />
mit neuer Agenda<br />
Rom (<strong>ALfA</strong>). Der Präsident der Päpstlichen<br />
Akademie für das Leben, Erzbischof<br />
Vincenzo Paglia, hat im Interview<br />
mit dem englischsprachigen Online-<strong>Magazin</strong><br />
»Cruxnow.com«, das der katholischen<br />
Laienvereinigung der Kolumbusritter<br />
nahe steht, die neue Agenda der<br />
Erzbischof Vincenzo Paglia<br />
Päpstlichen Akademie erläutert. Demnach<br />
will Paglia, anders als von Kritikern<br />
unterstellt, nicht die Lehre der Kirche in<br />
Fragen des Lebensschutzes aufweichen,<br />
sondern künftig einen breiteren und umfassenderen<br />
Zugang zu Fragen verfolgen,<br />
die den Lebensschutz betreffen.<br />
Das bedeute nicht, dass man Kompromisse<br />
in Fragen der Abtreibung und der<br />
Euthanasie machen müsse, betonte Paglia.<br />
Vielmehr stünden ethische Fragen,<br />
die das Leben betreffen, in engem Zusammenhang<br />
miteinander. Der Schutz<br />
des Lebens umfasse auch den Einsatz<br />
gegen die Todesstrafe und für den Umweltschutz.<br />
»Ich kann nicht pro-life sein<br />
und die Atmosphäre vergiften. Ich kann<br />
nicht pro-life sein und die Alten wegwerfen.<br />
Ich kann nicht pro-life sein und<br />
mich für Genmanipulationen einsetzen,<br />
das ist gegen die Würde des Lebens. Ich<br />
kann nicht pro-life sein und eine Tochter<br />
im Reagenzglas erzeugen«, so Paglia.<br />
In dem Interview vertritt der Erzbischof<br />
die Ansicht, die Kirche dürfe nicht<br />
allein von den Gefahren für das Leben<br />
sprechen, sondern müsse auch die Schönheit<br />
des Lebendigen in seinen vielen Aspekten<br />
hervorheben. Dagegen hätten der<br />
FOTOS PRESIDENCIA EL SALVADOR<br />
enge Fokus und der endlose Streit zwischen<br />
Mitgliedern der Päpstlichen Akademie<br />
für das Leben dazu geführt, dass<br />
die Akademie seit Jahren eine »selbstreferentielle«<br />
Kirche verkörpere, die eine<br />
»Kultur der ideologischen Reinheit«<br />
und sogar »Fanatismus« erschaffen habe,<br />
was beides sowohl »unattraktiv« als auch<br />
»unwirksam« sei, um die Welt zu beeinflussen.<br />
Ohne Namen zu nennen, erklärte<br />
Paglia, es gebe »eine bestimmte Art, das<br />
Leben zu verteidigen, die es nicht verteidigt.«<br />
Es reiche nicht, sich »in eine Festung<br />
zurückzuziehen und dort die Flaggen<br />
einiger Prinzipien zu hissen«.<br />
US-Demokraten überdenken liberale<br />
Position zur Abtreibung<br />
Washington (<strong>ALfA</strong>). Die demokratische<br />
Partei in den USA will ihre liberale<br />
Haltung zu vorgeburtlichen Kindstötungen<br />
überprüfen. Das berichtet das Kölner<br />
Domradio unter Berufung auf ein Treffen<br />
des Parteivorsitzenden der Demokraten,<br />
Tom Perez, mit der zur US-Lebensrechtsbewegung<br />
gehörenden Parteigruppierung<br />
»Democrats for Life«. Bei<br />
dem Treffen soll die Parteiführung ihre<br />
Bereitschaft signalisiert haben, ihre bisherige<br />
Haltung zur Abtreibung kritisch<br />
zu hinterfragen. Demnach sind sich die<br />
Lebensschützer in den Reihen der Demokraten<br />
und das Democratic National<br />
Committee (DNC) einig, dass die Partei<br />
die vergangenen Wahlen auch wegen ihrer<br />
starren Haltung für eine liberale Abtreibungspraxis<br />
verloren hat. Vor allem im<br />
Mittleren Westen und Süden des Landes<br />
habe dies die Demokraten, die nur noch<br />
in vier Bundesstaaten die Gouverneure<br />
stellen, Stimmen gekostet.<br />
In der katholischen Online-Publikation<br />
»Crux« fordert das Vorstandsmitglied der<br />
»Democrats for Life«, Charles C. Camosy,<br />
zudem mehr Toleranz gegenüber Lebensrechtlern<br />
innerhalb der Partei. Camosy,<br />
Professor für Theologie und Sozialethik<br />
an der Fordham University in<br />
New York, schreibt in seinem Meinungsbeitrag,<br />
rund ein Drittel der Parteimitglieder<br />
seien »Pro-life«-Demokraten.<br />
Tatsächlich aber werde das Meinungsbild<br />
zur Abtreibungsfrage vom linken<br />
Flügel bestimmt, der die »Küstenstaaten«<br />
dominiere.<br />
Die Abtreibungsposition der Demokraten<br />
habe die Partei vor allem dort Stimmen<br />
gekostet, wo »Pro-life«-Demokraten<br />
Mandate hielten. Diese hätten sich<br />
damit angreifbar gemacht und ihre Ämter<br />
an republikanische Herausforderer<br />
verloren. Camosy empfiehlt den Demokraten<br />
insbesondere zu überdenken, ob<br />
sie weiterhin fundamentalistische Positionen<br />
im Stile der Abtreibungslobbygruppe<br />
NARAL (NARAL = National Abortion<br />
& Reproductive Rights Action League)<br />
vertreten wollten, die keinerlei Beschränkungen<br />
des Zugangs von Frauen zu Abtreibungen<br />
dulden will.<br />
England: Sieg für die Gewissensfreiheit<br />
von Apothekern<br />
London (<strong>ALfA</strong>). Nach Intervention<br />
christlicher Lebensrechtler hat das General<br />
Pharmaceutical Council (GPhC), eine<br />
Behörde, die Apotheker im Vereinigten<br />
Königreich beaufsichtigt, die vorgesehene<br />
Änderung seiner Richtlinien korrigiert.<br />
Das berichtet das britische Internetportal<br />
»Christian Concern«. Dem Bericht<br />
zufolge hätte die Änderung der Richtlinien<br />
Apotheker des Rechts auf Gewissensfreiheit<br />
beraubt.<br />
Dem Internetportal des christlichen<br />
Radiosenders »Premier« zufolge bestätigte<br />
das GPhC jetzt, dass christliche<br />
Apotheker nicht gezwungen würden,<br />
Abtreibungspräparate gegen ihren Willen<br />
abzugeben. Zuvor hatte ein Kampagnenteam<br />
des »Christian Institute« dem<br />
GPhC glaubhaft vermittelt, es sei bereit,<br />
die durch den ursprünglichen Entwurf<br />
der Richtlinie gefährdete Glaubens- und<br />
Gewissensfreiheit auf dem Rechtsweg zu<br />
verteidigen.<br />
Wie das GPhC erklärte, würden die<br />
neuen Richtlinien nun die Stellungnahmen<br />
berücksichtigen, die während des<br />
Konsultationsprozesses eingegangen seien.<br />
Wie der Leiter des Rechtsverteidigungsfonds<br />
des »Christian Institute« Sam<br />
Webster gegenüber dem Internetportal<br />
des Senders erklärte, danke das Institut<br />
dem GPhC dafür, dass es bereit gewesen<br />
sei, sich mit seinen Vertretern zu treffen<br />
und deren Forderungen zu diskutieren.<br />
Allerdings sei das Institut auch willens<br />
gewesen, die Angelegenheit erforderlichenfalls<br />
bis zur letzten Instanz zu klären,<br />
und hätte dies in der vorangegangenen<br />
Rechtskorrespondenz, die mit den<br />
Anwälten des GPhC ausgetauscht worden<br />
sei, auch deutlich gemacht.<br />
+++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bio<br />
8<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
ethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik<br />
Olympiasiegerin berichtet über<br />
Abtreibungen im Spitzensport<br />
New York (<strong>ALfA</strong>). Die frühere US-<br />
Leichtathletin Sanya Richards-Ross,<br />
mehrfache Olympiasiegerin und Weltmeisterin,<br />
hat sich dazu bekannt, zwei<br />
Wochen vor den Olympischen Spielen<br />
in Peking 2008 ein ungeborenes Kind<br />
abgetrieben zu haben. Im Interview mit<br />
der Sendung »Now« erzählte Richards-<br />
Ross, die im vergangenen Jahr ihre sportliche<br />
Karriere beendet hatte, dem Sender<br />
»Sports Illustrated TV«, dass dergleichen<br />
im Spitzensport häufig vorkomme.<br />
»Ich kenne keine einzige Leichtathletin,<br />
die nicht abgetrieben hat«, sagte<br />
Richards-Ross. Sportlerinnen verzichteten<br />
oft auf die Pille, weil sie fürchteten,<br />
dadurch Wasser einzulagern und so<br />
an Gewicht zuzunehmen. Außerdem sei<br />
unter Sportlerinnen der Mythos verbreitet,<br />
Spitzensportlerinnen könnten nicht<br />
Leichtathletin Sanya Richards-Ross<br />
schwanger werden, weil ihr Zyklus wegen<br />
des harten Trainings kürzer sei oder<br />
teilweise ganz aussetze, so die 32-Jährige,<br />
die ihre damalige Entscheidung nach<br />
eigenen Worten heute bereut.<br />
Familienministerium meldet 335<br />
»vertrauliche Geburten«<br />
Berlin (<strong>ALfA</strong>). Seit Mai 2014 hat es in<br />
Deutschland 335 sogenannte »vertrauliche<br />
Geburten« gegeben. Das teilte das<br />
Bundesministerium für Familie, Senioren,<br />
Frauen und Jugend (BMFSFJ) Mitte<br />
Juli in Berlin mit. Der Bericht, den zuvor<br />
das Bundeskabinett beschlossen hatte,<br />
erfasst die Anzahl der vertraulichen Geburten<br />
bis September 2016. Das »Gesetz<br />
zum Ausbau der Hilfen und zur Regelung<br />
der vertraulichen Geburt« trat im Mai<br />
ERIK VAN LEEUWEN<br />
FRIDAY/FOTOLIA.COM<br />
Rettet Leben: »Vertrauliche Geburt«<br />
2014 in Kraft. Es sichert Schwangeren<br />
eine anonyme Beratung sowie eine anonyme,<br />
medizinisch betreute Entbindung<br />
zu. Zugleich wird ein Nachweis hinterlegt,<br />
der gewährleisten soll, dass das Kind<br />
ab dem 16. Lebensjahr den Namen seiner<br />
Mutter erfahren kann.<br />
Bei den zuvor lediglich geduldeten anonymen<br />
Geburten wurde das Recht des<br />
Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft<br />
nicht berücksichtigt. Bei der nun gesetzlich<br />
geregelten vertraulichen Geburt können<br />
Mütter ihre Anonymität nur noch in<br />
besonders begründeten Fällen wahren.<br />
Laut dem BMFSFJ haben sich 60 Prozent<br />
der Frauen, die zu einer Beratung<br />
kamen, »für eine Lösung im Sinne des<br />
Kindes entschieden«. Bei 20 Prozent der<br />
Beratungen sei der Ausgang noch offen<br />
gewesen, acht Prozent hätten sich für eine<br />
Abtreibung, vier Prozent für eine anonyme<br />
Kindsabgabe in einer Babyklappe<br />
entschieden. Acht Prozent hätten keine<br />
Angaben gemacht. Rund 80 Prozent der<br />
Frauen zwischen 15 und 45 Jahren kennen<br />
den Angaben zufolge die Angebote aus<br />
den Schwangerschaftsberatungsstellen.<br />
DSO: Erneut weniger Organspenden<br />
Frankfurt (<strong>ALfA</strong>). Die Zahl der Organspenden<br />
in Deutschland sinkt weiter.<br />
Das berichtet die katholische Nachrichtenagentur<br />
KNA unter Berufung auf<br />
die Deutsche Stiftung Organtransplantation<br />
(DSO). Danach spendeten im ersten<br />
Halbjahr 412 Menschen Organe. Das<br />
sei die geringste Zahl an Spendern in einem<br />
Halbjahr, die jemals gemessen wurde.<br />
Im Vergleichszeitraum des Vorjahres<br />
seien es 421 Spender gewesen, 2011 noch<br />
575. Auch die Zahl der gespendeten Organe<br />
sei deutlich weiter gesunken und<br />
von 1.397 im ersten Halbjahr 2016 auf<br />
DANIEL RENNEN<br />
jetzt 1.331 zurückgegangen. Die Zahl der<br />
transplantierten Organe sank im gleichen<br />
Zeitraum von 1.448 auf 1.410.<br />
Ist therapierbar: Lebensmüdigkeit<br />
Exit will Abgabe von Suizidpräparaten für<br />
Lebensmüde prüfen<br />
Zürich (<strong>ALfA</strong>). Die Schweizer Suizidbegleitungsorganisation<br />
Exit will auch lebensmüden<br />
Menschen den Zugang zu Suizidpräparaten<br />
ermöglichen. Das berichtet<br />
die »Neue Züricher Zeitung« (NZZ).<br />
Demnach beschloss Exit auf seiner diesjährigen<br />
Generalversammlung in Zürich,<br />
eine vereinsinterne Kommission einzurichten,<br />
die Gutachten bei Ethikern und<br />
Juristen einholen und den Mitgliedern der<br />
Organisation im kommenden Jahr einen<br />
Maßnahmenkatalog präsentieren soll.<br />
Bislang begleite Exit nur Menschen<br />
beim Suizid, die eine schwere Krankheit<br />
besäßen oder polymorbid seien, das heißt<br />
unter mehreren Altersgebrechen litten.<br />
Ob dies zutreffe, beurteile sowohl Exit<br />
als auch ein Arzt, der das Suizidpräparat<br />
verschreibe, so die Zeitung weiter. Begründet<br />
wurde die Errichtung der Kommission<br />
damit, es sei nicht länger hinzunehmen,<br />
dass ein Suizid nur mit ärztlicher<br />
Genehmigung möglich sei. Die<br />
heutigen Verhältnisse müssten im Sinne<br />
einer echten Selbstbestimmung liberalisiert<br />
werden. »Betagte und hochbetagte<br />
Menschen, die das Gesundheitssystem<br />
am Ende ihres Lebens nicht ausreizen<br />
oder 24 Stunden am Tag pflegebedürftig<br />
sein wollten«, benötigten »unbürokratische<br />
Hilfen«, gibt die NZZ den Tenor<br />
der Aussprache zu einem entsprechenden<br />
Antrag wieder.<br />
ethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik-Splitter +++ Bioethik<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3 9
A U S L A N D<br />
SERP/FOTOLIA.COM<br />
Drei Gründe<br />
In Chile ist das totale Abtreibungsverbot Geschichte. Mitte Dezember tritt in dem Andenstaat<br />
eine Teillegalisierung vorgeburtlicher Kindstötungen in Kraft, die sich auf drei klar umgrenzte<br />
Szenarien beschränkt. Doch die Initiatoren der Gesetzesnovelle wollen viel mehr.<br />
Die sogenannten »Tres Causales« dienen ihnen dabei lediglich als »Türöffner«.<br />
Von Sebastian Sander<br />
10<br />
»Es geht darum, ein Frauenrecht<br />
auf Abtreibung zu etablieren.«<br />
28<br />
Jahre lang waren Abtreibungen<br />
in Chile ausnahmslos verboten.<br />
Nun ist damit bald<br />
Schluss. Denn Mitte Dezember tritt in<br />
dem Andenstaat ein heftig umstrittenes<br />
Gesetz in Kraft, das vorgeburtliche Kindstötungen<br />
in drei Fällen für legal erklärt:<br />
in solchen, in denen der Fortgang der<br />
Schwangerschaft das Leben der Mutter<br />
gefährdet, in solchen, bei denen das<br />
Kind im Zuge einer Vergewaltigung gezeugt<br />
wurde, und in solchen, in denen<br />
Ärzte bei dem Kind eine schwere Schädigung<br />
diagnostizieren, die sein Überleben<br />
außerhalb des Mutterleibes als unwahrscheinlich<br />
erscheinen lässt.<br />
In weltanschaulich neutralen Staaten<br />
ließe sich auch mit Lebensrechtlern über<br />
die ersten beiden dieser Ausnahmen diskutieren.<br />
Denn bei Licht betrachtet darf<br />
der Staat von seinen Bürgern nur die Einhaltung<br />
von Rechtspflichten verlangen.<br />
Religionsgemeinschaften hingegen dürfen<br />
von ihren Mitgliedern auch die Beachtung<br />
von Tugendpflichten fordern. Zumal<br />
man in eine Religionsgemeinschaft <strong>–</strong><br />
anders als in ein Gemeinwesen <strong>–</strong> in aller<br />
Regel auch nicht einfach hineingeboren<br />
wird und diese obendrein <strong>–</strong> ebenfalls in<br />
aller Regel <strong>–</strong> auch jederzeit wieder verlassen<br />
kann. Wie auch immer: Ein Kind<br />
auszutragen, an dessen Zeugung die Mutter<br />
nicht willentlich beteiligt war, oder<br />
den Verlust des eigenen Lebens hinzunehmen,<br />
um das des Kindes zu sichern,<br />
ist zweifellos tugendhaft und insofern aller<br />
Unterstützung <strong>–</strong> auch der des Staates<br />
<strong>–</strong> wert. Aber es ist eben auch nichts, worauf<br />
ein weltanschaulich neutraler Staat<br />
seine Bürger ohne Rückgriff auf das, was<br />
sich außerhalb seiner eigenen Sphäre befindet<br />
<strong>–</strong> wie den Gedanken der Gottesebenbildlichkeit<br />
des Menschen <strong>–</strong>, ohne<br />
Weiteres verpflichten könnte.<br />
Dass solche Debatten in der Praxis jedoch<br />
gar nicht zustande kommen, liegt<br />
nicht etwa daran, dass Lebensrechtler<br />
»Fundamentalisten« wären, sondern daran,<br />
dass Abtreibungsbefürworter Fäl-<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
Auch wenn die Novelle des Abtreibungsgesetzes<br />
in dem zurückliegenden, sich<br />
über mehrere Jahre hinziehenden Gesetzgebungsverfahren<br />
anders beworben wurde,<br />
geben sich seine Befürworter eben gerade<br />
nicht damit zufrieden, Frauen von den als<br />
Unrecht betrachteten Bürden zu befreien,<br />
die ein totales Abtreibungsverbot ihnen<br />
in wenigen, »menschlich schwierigen«<br />
Fällen zweifellos auflud. Es ging und geht<br />
darum, ein sogenanntes »Frauenrecht auf<br />
Abtreibung« zu etablieren.<br />
»Seit 25 Jahren wird ein negatives<br />
Image der Abtreibung konstruiert.«<br />
le wie die oben genannten lediglich als<br />
»Türöffner« auf dem Weg zur totalen<br />
Freigabe vorgeburtlicher Kindstötungen<br />
begreifen.<br />
Auch Chiles sozialistische Präsidentin<br />
Michelle Bachelet, geboren 1951, macht<br />
da keine Ausnahme. Anfang 2015 brachte<br />
sie einen Gesetzentwurf ins Parlament<br />
ein, der nach einigem Hin und Her erst<br />
im August <strong>2017</strong> die erforderlichen Mehrheiten<br />
in beiden Kammern des Parlaments<br />
fand.<br />
Nachdem dann auch noch das chilenische<br />
Verfassungsgericht mit sechs gegen<br />
vier Richterstimmen zwei Anfechtungsklagen<br />
abgelehnt hatte, mit denen<br />
die konservative Opposition die umstrittene<br />
Gesetzesnovelle noch auf den letzten<br />
Metern zu Fall zu bringen suchte, war<br />
der Weg frei. Bei der feierlichen Unterzeichnung<br />
der umstrittenen Gesetzesnovelle<br />
erklärte die gelernte Medizinerin,<br />
die von 2006 bis 2010 als geschäftsführende<br />
Direktorin der Frauenorganisation<br />
der Vereinten Nationen »UN Women«<br />
arbeitete: »Heute unterschreiben<br />
wir endlich das Gesetz, das das Recht jeder<br />
Frau, über ihren Körper und über ihre<br />
Schwangerschaft zu entscheiden, in drei<br />
ausgesprochen präzisen und menschlich<br />
schwierigen Fällen verankert.«<br />
Ein Satz, den man ruhig zweimal lesen<br />
darf. Spätestens dann sieht man, dass das<br />
»Recht«, das Bachelet vorschwebt, sich<br />
keineswegs auf die genannten Fälle beschränkt,<br />
sondern dort bloß »verankert«<br />
wird, also prinzipiell weit darüber hinausreicht.<br />
Auch dass Bachelet zwischen dem<br />
»Körper« einer Frau und einer »Schwangerschaft«<br />
unterscheidet, lohnt einer genaueren<br />
Betrachtung. Denn gemeint ist<br />
damit keineswegs, dass Frauen über ihren<br />
Körper entscheiden können müssen,<br />
sondern dass sie über »ihren Körper<br />
und ihre Schwangerschaft« entscheiden<br />
können sollen. Der Begriff »Schwangerschaft«<br />
wird hier als Synonym für das<br />
noch »ungeborene Kind« gebraucht. Gemeint<br />
ist also, dass die (schwangere) Frau<br />
über dieses genauso wie über ihren Körper<br />
verfügen dürfe. Und zwar nicht bloß<br />
in den drei »ausgesprochen präzisen und<br />
menschlich schwierigen Fällen«, wo dieses<br />
Recht jetzt lediglich erstmalig verankert<br />
wird, sondern prinzipiell immer<br />
und überall.<br />
Präsidentin Michelle Bachelet unterzeichnet Chiles neue Abtreibungsgesetzgebung<br />
Dafür spricht auch die Genese des Gesetzes.<br />
An dessen Entwurf beteiligt war<br />
die Organisation MILES, die wiederum<br />
von »Catholics for a choice« unterstützt<br />
wird, einer Vereinigung, die sich in den<br />
Vereinigten Staaten von Amerika für ein<br />
»Recht auf Abtreibung« starkmacht und<br />
»Keine humanitäre Antwort auf<br />
die Dramen, die Frauen erleben.«<br />
die dort geltende, ungleich liberale Abtreibungsgesetzgebung<br />
gegen Kritik von<br />
Bischöfen und Lebensrechtlern verteidigt.<br />
MILES steht für »Tausende« und<br />
soll die Zahl der Unterstützer verdeutlichen,<br />
die hinter der kleinen, schlagkräftigen<br />
Lobbyorganisation stünden. Und<br />
in der Tat: In dem katholisch geprägten<br />
Staat unterstützten Umfragen zufolge<br />
70 Prozent der Befragten das Gesetz der<br />
»Tres Causales« <strong>–</strong> der »drei Gründe«.<br />
Nur, dass deren Initiatoren eben viel<br />
weiterreichende Pläne haben: »Es handelt<br />
sich um einen historischen Prozess,<br />
der während der Militärdiktatur aufgehalten<br />
wurde. Aber heute haben wir eine<br />
Stimme, um zu kämpfen, und die Möglichkeit<br />
des Wandels, damit das Parlament<br />
endlich für uns spricht«, erklärt MILES-<br />
Mitarbeiterin Constanza Fernandez. MI-<br />
LES-Leiterin Claudia Dides wird sogar<br />
noch deutlicher: »Seit 25 Jahren wird ein<br />
negatives Image der Abtreibung konstruiert<br />
und die Regierung hat nichts dagegen<br />
getan. In dieser Zeit haben konservative<br />
Gruppen dieses Image nicht nur in Chile,<br />
sondern weltweit verbreitet. Das ist ein<br />
sehr starker Gegenangriff.«<br />
Teile der Regierung wollen sogar noch<br />
weiter gehen. Wie die katholische Zeitung<br />
»Die Tagespost« im Sommer dieses<br />
Jahres berichtete, wollte der progressive<br />
Flügel der Regierung Bachelet das Recht<br />
von Ärzten einschränken, die Mitwirkung<br />
an einer Abtreibung unter Berufung auf<br />
das Gewissen zu verweigern. Selbst das<br />
Universitätsklinikum der Päpstlichen Universität,<br />
eines der größten Krankenhäuser<br />
des Landes, sollte verpflichtet werden,<br />
Abtreibungen vorzunehmen, wenn<br />
Patientinnen diese begehrten.<br />
Vor diesem Hintergrund muss auch die<br />
Haltung der Katholischen Kirche in der<br />
Causa gesehen werden. Wie »Radio Vatikan«<br />
berichtet, traf das Gesetz bei der<br />
chilenischen Bischofskonferenz auf heftige<br />
Kritik. So bezeichneten die katholischen<br />
Bischöfe Chiles das Vorhaben als<br />
eine »ungerechte Diskriminierung wehrloser<br />
menschlicher Wesen, deren Leben<br />
der Staat garantieren und schützen sollte«.<br />
Auch sei die Teillegalisierung der Abtreibung<br />
keine »humanitäre Antwort auf<br />
die großen Dramen, die Frauen in Extremsituationen<br />
erleben«.<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3 11
A U S L A N D<br />
DANIEL RENNEN<br />
Brüder der Sterbehilfe<br />
Man kann nicht aus Nächstenliebe töten. Was spontan so gut wie niemand bestreiten wird,<br />
trifft <strong>–</strong> wenn es um konkrete Interessen geht <strong>–</strong> nicht mehr überall auf Zustimmung. Dass aber<br />
ausgerechnet einige katholische Ordensleute nach Schleichpfaden suchen und die<br />
»Tötung auf Verlangen« an den ordenseigenen Kliniken nicht mehr ausschließen wollen, ist vor<br />
allem eines <strong>–</strong> nämlich dreist. Über ein katholisches Possenspiel.<br />
Von Eckhardt Meister<br />
12<br />
Sie nennen sich »Broeders van Liefde«<br />
(dt.: »Brüder der Nächstenliebe«).<br />
Gegründet 1807 von dem<br />
»Diener Gottes« Peter Joseph Triest im<br />
belgischen Gent, ist der Orden der Brüder<br />
der Nächstenliebe heute in 31 Ländern<br />
der Welt vertreten. Sein Wahlspruch<br />
»Deus caritas est« (dt.: »Gott ist die Liebe«)<br />
flößt Vertrauen ein. Und das ist auch<br />
gut so. Denn zum spezifischen Charisma<br />
des katholischen Männerordens gehört<br />
die Pflege psychisch kranker Menschen.<br />
Nun aber hat der Orden ein Problem.<br />
Und zwar ein eklatantes. Der Grund: Der<br />
belgische Mutterzweig hat angekündigt,<br />
die in Belgien legale Tötung auf Verlangen<br />
in den von ihm betreuten Kliniken<br />
nicht länger auszuschließen. Genauer:<br />
Der dem belgischen Ordenszweig angeschlossene<br />
Trägerverein »VZW Provincialaat<br />
der Broeders van Liefde«, der für<br />
die Brüder der Nächstenliebe in Belgien<br />
15 Kliniken mit rund 5.500 Betten verwaltet,<br />
will das nicht mehr.<br />
In Belgien wurde die Tötung auf Verlangen<br />
im Jahr 2002 legalisiert und in den<br />
vergangenen 15 Jahren mehrfach liberalisiert.<br />
Galt die 2002 beschlossene Regelung<br />
ursprünglich praktisch »nur« für Krankenhausärzte,<br />
so dürfen seit 2005 auch Hausärzte<br />
mit einem sogenannten »Euthanasie-Kit«<br />
Patienten auf deren Verlangen töten.<br />
Um dieses zu ermöglichen, wurden<br />
Apotheken in Belgien gesetzlich verpflichtet,<br />
Päckchen mit Barbituraten vorzuhalten.<br />
Ein nachträglich eingefügter »Artikel<br />
3bis« des belgischen Euthanasiegesetzes sichert<br />
deshalb auch Apothekern Straflosigkeit<br />
zu. Er sieht vor, dass »ein Apotheker,<br />
der eine todbringende Substanz abgibt«,<br />
keine Straftat begeht, »wenn er dies auf<br />
der Grundlage einer Verschreibung tut, in<br />
der der Arzt ausdrücklich vermerkt, dass<br />
er in Übereinstimmung mit dem vorliegenden<br />
Gesetz handelt«. Auch Jugendliche<br />
und Demenz-Patienten können inzwischen<br />
in Belgien ihre Tötung verlangen.<br />
Ärzte, die sich weigern, die tödliche<br />
Spitze zu setzen, sind gesetzlich verpflichtet,<br />
Patienten, die sie darum ersuchen, an<br />
Kollegen zu überweisen, die ein elastischeres<br />
Gewissen besitzen.<br />
Die Folgen sind bekannt: Von Jahr zu<br />
Jahr steigt die Zahl der Menschen, die sich<br />
von Ärzten aus der Welt spritzen lassen.<br />
Allein 2015 starben in Belgien 2022 Menschen<br />
durch die Tötung auf Verlangen.<br />
Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen<br />
und noch mindestens einmal so hoch<br />
sein. Sogar die belgische Kontrollkommission<br />
geht davon aus, dass ihr nur etwa<br />
jede zweite Tötung auf Verlangen auch<br />
gemeldet wird. Nach offiziellen Angaben<br />
wurden zwischen 2002 und 2015 offiziell<br />
insgesamt 12.726 Menschen auf Verlangen<br />
getötet. Selbstverständlich stirbt<br />
auch heute noch die Mehrheit der Belgier<br />
eines natürlichen Todes. Und doch<br />
wird genau das immer schwieriger und<br />
zunehmend begründungspflichtig.<br />
Dass die Tötung auf Verlangen heute<br />
als etwas Normales betrachtet wird, erhöht<br />
auch den Druck auf Krankenhäuser<br />
und Kliniken in katholischer Trägerschaft.<br />
Nicht nur, dass immer mehr Patienten danach<br />
fragen. Auch Mitarbeiter fürchten<br />
um ihren Arbeitsplatz, wenn solchen Patienten<br />
die Tür gewiesen wird. Laut einer<br />
Studie aus dem Jahr 2006 lehnt in Flandern<br />
nur noch ein Fünftel der Einrichtungen<br />
in katholischer Trägerschaft die<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
KOREA.NET / KOREAN CULTURE AND INFORMATION SERVICE<br />
gezielt herbeigeführte Beendigung des<br />
Lebens von Patienten kategorisch ab. In<br />
rund vier Fünftel der katholischen Einrichtungen<br />
Flanderns erklärten hausinterne<br />
ethische Richtlinien die Euthanasie<br />
<strong>–</strong> wenn auch überwiegend in eng begrenzten<br />
Ausnahmefällen <strong>–</strong> inzwischen<br />
für prinzipiell möglich.<br />
Vor zwei Jahren schließlich sollen sich<br />
Patienten und Mitarbeiter an den »VZW<br />
Provincialaat der Broeders van Liefde«<br />
gewandt und eine Neuausrichtung der<br />
von dem Orden betreuten Kliniken gefordert<br />
haben. So jedenfalls begründet<br />
Raf de Rycke, Vorstandsvorsitzender des<br />
Trägervereins, die Ausarbeitung eines<br />
Positionspapiers, in dem die Tötung auf<br />
Verlangen für psychisch kranke Patienten<br />
nicht mehr ausgeschlossen wird. Er<br />
sei kein Fan oder Förderer der Tötung<br />
auf Verlangen. In Belgien habe es jedoch<br />
eine Entwicklung in dieser ethischen Frage<br />
gegeben und darauf müsse seine Organisation<br />
eine Antwort geben, lässt de<br />
Rycke sich zitieren.<br />
Im April schließlich kündigte der belgische<br />
Ordenszweig dann auf seiner Homepage<br />
an, die von ihm getragenen Kliniken<br />
schlössen die Tötung auf Verlangen<br />
nicht mehr kategorisch aus. Trotzdem<br />
wolle man das Leben schützen und die<br />
Tötung auf Verlangen nur dann durchführen,<br />
wenn es keine anderen Behandlungsperspektiven<br />
mehr gebe, so die Ordensbrüder<br />
weiter.<br />
Der Generalsuperior des Ordens, Rene<br />
Stockmann, kritisierte kurz darauf die<br />
Entscheidung des belgischen Zweigs. Es<br />
sei nicht akzeptabel, in Einrichtungen des<br />
Ordens Euthanasie durchzuführen, erklärte<br />
der Ordensobere in Rom und kündigte<br />
an, nun mit der Führung des Ordens<br />
im Vatikan und den belgischen Bischöfen<br />
über mögliche Konsequenzen zu beraten.<br />
Sowohl die vatikanische Glaubenskongregation<br />
als auch Stockmann forderten<br />
von dem belgischen Ordenszweig<br />
und dem ihm angeschlossenen Verein die<br />
Rückkehr zur Lehre der Katholischen<br />
Kirche. Sollte sich der Verein stattdessen<br />
entschließen, die Tötung auf Verlangen<br />
in den von ihm getragenen Kliniken<br />
zu dulden, müsse sich der Orden<br />
von dem Verein trennen. »Das wäre sehr<br />
schlimm, weil 15 unserer psychiatrischen<br />
Krankenhäuser ihre katholische Identität<br />
verlieren würden«, sagte Stockmann<br />
der in Paris editierten katholischen Zeitung<br />
»La Croix«.<br />
Im August meldete sich dann auch<br />
Papst Franziskus zu Wort und forderte<br />
die »Brüder der Nächstenliebe« auf, keine<br />
Tötung auf Verlangen in den von dem<br />
Orden getragenen Kliniken mehr anzubieten.<br />
Der Vatikan setzte den Ordensbrüdern<br />
eine Frist bis Ende August, bis<br />
zu der sie eine entsprechende Erklärung<br />
abzugeben hätten.<br />
Um den Forderungen des Papstes zu<br />
genügen, müsste jedes Ordensmitglied<br />
im Vorstand des Vereins, der die Kliniken<br />
betreibt, einen gemeinsamen Brief<br />
an den Ordensoberen unterzeichnen. In<br />
dem Schreiben sollten die Ordensbrüder<br />
erklären, dass sie vollständig hinter<br />
der Lehre der Katholischen Kirche stünden,<br />
die »zu jeder Zeit bekräftigt hat,<br />
Papst Franziskus<br />
dass menschliches Leben unbedingt respektiert<br />
werden muss, von dem Moment<br />
der Empfängnis an bis zu seinem natürlichen<br />
Ende«.<br />
Ordensbrüder, die die Unterzeichnung<br />
verweigerten, drohte der Vatikan<br />
mit kirchenrechtlichen Sanktionen. Sogar<br />
eine Aberkennung des Ordensstatus<br />
könne dann nicht mehr ausgeschlossen<br />
werden. »Die Zeiten von ›Roma locuta,<br />
causa finita‹ (dt.: ›Rom hat gesprochen,<br />
die Sache ist erledigt‹) sind lange vorbei«,<br />
twitterte daraufhin der frühere EU-Ratspräsident<br />
und ehemalige belgische Ministerpräsident<br />
Herman van Rumpoy. Der<br />
Katholik sitzt ebenfalls im Vorstand des<br />
Vereins, der die Kliniken des belgischen<br />
Ordenszweigs verwaltet. Dem Vorstand<br />
des Vereins gehören elf Laien und drei<br />
Brüder des belgischen Ordenszweigs an.<br />
Die Fronten sind verhärtet und ein<br />
Einlenken des belgischen Ordenszweigs<br />
und des die Kliniken tragenden Vereins<br />
nicht in Sicht. Im Gegenteil. Nachdem<br />
der Vatikan die von ihm gesetzte Frist<br />
bis zur nächsten Sitzung des Vereinsvorstands<br />
verlängerte, erklärte dieser, bei<br />
seiner Entscheidung bleiben zu wollen.<br />
ANDRIES VAN DEN ABEELE CC-BY-SA/GFDL<br />
Mehr noch: Der Verein vertrat gar die<br />
Position, sich im Einklang mit der Lehre<br />
der Katholischen Kirche zu befinden.<br />
Die Begründung für diese steile These<br />
lautet in etwa so: Es sei guter katholischer<br />
Brauch, die kirchliche Lehre an<br />
die kulturellen Gegebenheiten anzupassen.<br />
Und da die Tötung auf Verlangen<br />
als Teil der belgischen Kultur angesehen<br />
werden könne, sei das, was dem belgischen<br />
Zweig an seinen Kliniken vorschwebe,<br />
gelebte Inkulturation der katholischen<br />
Lehre.<br />
René Stockmann<br />
Selbst für Nichtkatholiken ist das starker<br />
Tobak. Die Antwort des Generalsuperiors<br />
ließ denn auch nicht lange auf sich<br />
warten. Er »schäme« sich für Position seiner<br />
belgischen Mitbrüder, ließ Stockmann<br />
wissen und zeigte sich »überrascht«, dass<br />
die Brüder glaubten, ihre Entscheidung<br />
lasse sich mit der katholischen Lehre vereinbaren.<br />
Der absolute Respekt gegenüber<br />
menschlichem Leben sei ein »universaler<br />
Wert«, der nicht »kulturspezifisch«<br />
abgetan werden könne. Der Vatikan<br />
und die Generalverwaltung nähmen<br />
das Thema sehr ernst. Sie hätten sicherzustellen,<br />
dass die Bezeichnung »katholisch«<br />
nicht erodiere oder missbräuchlich<br />
verwendet werde. Die Kongregation<br />
habe dafür zu sorgen, dass das »Charisma<br />
der Nächstenliebe auch weiterhin<br />
auf wirklicher Barmherzigkeit begründet<br />
ist und sich nicht in eine Karikatur verwandelt«,<br />
so Stockmann.<br />
Mit anderen Worten: Weder der Vatikan<br />
noch die Ordenszentrale der »Brüder<br />
der Nächstenliebe« in Rom ist gewillt,<br />
sich von dem belgischen Zweig und dem<br />
ihm angeschlossenen Verein auf der Nase<br />
herumtanzen zu lassen.<br />
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N A C H R U F<br />
© RAIMOND SPEKKING / CC BY-SA 4.0 (VIA WIKIMEDIA COMMONS)<br />
14<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
Gelegen oder ungelegen<br />
Der am 5. Juli <strong>2017</strong> verstorbene Joachim Kardinal Meisner war nicht nur ein großer Mann Gottes und<br />
der Kirche, sondern auch ein leidenschaftlicher Streiter für den Schutz menschlichen Lebens <strong>–</strong> von<br />
dessen Anfang bis zu dessen natürlichem Tod. In Dankbarkeit für das immerwährende Interesse des<br />
Kardinals an Lebensrechtsthemen und seines großen Einsatzes für eben diese, dokumentiert<br />
»<strong>LebensForum</strong>« eine Predigt Meisners, die dieser am Fest der Unschuldigen Kinder im<br />
Hohen Dom zu Köln am 28. Dezember 2010 gehalten hat und die exemplarisch den Stellenwert<br />
verdeutlicht, den der frühere Erzbischof von Köln dem Lebensschutz stets beimaß.<br />
Von Joachim Kardinal Meisner<br />
Liebe Schwestern, liebe Brüder!<br />
1. Kurz nach dem letzten Weltkrieg<br />
schmerzten die Folgen des Krieges die<br />
Menschen noch zutiefst, und vielen war<br />
dabei überdeutlich geworden, wohin der<br />
Wahn von Ideologen und die Feigheit<br />
der Guten führen kann, jene Feigheit,<br />
von der der hl. Johannes Don Bosco sagt,<br />
dass sie die häufigste Ursache der bösen<br />
Taten ist. In dieser Zeit, 1949, verfasste<br />
der berühmte Theologe Romano Guardini<br />
eine kleine Schrift über das Recht<br />
des ungeborenen Menschenlebens. Es<br />
lohnt sich, diese Schrift <strong>–</strong> leider <strong>–</strong> angesichts<br />
der Debatte um die Präimplantationsdiagnostik/PID<br />
heute wieder erneut<br />
zur Kenntnis zu nehmen. Im Abschnitt<br />
mit dem Titel »Der entscheidende Gesichtspunkt«<br />
schreibt Romano Guardini:<br />
»Die endgültige Antwort liegt im Hinweis<br />
auf die Tatsache, dass das heranreifende<br />
Leben ein Mensch ist. Den Menschen<br />
aber darf man nicht töten, es sei<br />
denn in der Notwehr (...) und der Grund<br />
dafür liegt in der Würde seiner Person.«<br />
Mit anderen Worten: Der Mensch entwickelt<br />
sich nicht zum Menschen, sondern<br />
als Mensch, weil er Person ist. Denn, so<br />
Guardini weiter: »Nicht deshalb ist der<br />
Mensch unantastbar, weil er lebt und daher<br />
ein Recht auf Leben hat. Ein solches<br />
Recht hätte auch das Tier, denn das lebt<br />
ebenfalls (...) Sondern das Leben des Menschen<br />
darf nicht angetastet werden, weil<br />
er Person ist.« Dann definiert Guardini<br />
diesen Begriff der Person und fügt hinzu:<br />
»Sie ist nicht psychologischer, sondern<br />
existentieller Natur. Grundsätzlich<br />
hängt sie weder am Alter, noch am körperlich-seelischen<br />
Zustand, noch an der<br />
Begabung, sondern an der geistigen Seele,<br />
die in jedem Menschen ist. Die Personalität<br />
kann unbewusst sein wie beim Schlafenden;<br />
trotzdem ist sie da und muss geachtet<br />
werden. Sie kann unentfaltet sein<br />
wie beim Kinde; trotzdem beansprucht sie<br />
bereits den sittlichen Schutz. Es ist sogar<br />
möglich, dass sie überhaupt nicht in den<br />
Akt tritt, weil die physisch-psychischen<br />
Voraussetzungen dafür fehlen wie beim<br />
Geisteskranken ... Dadurch aber unterscheidet<br />
sich der gesittete Mensch vom<br />
Barbaren, dass er sie auch in dieser Verhüllung<br />
achtet. So kann sie auch verborgen<br />
sein wie beim Embryo, ist aber in ihm<br />
»Liebe akzeptiert den Menschen,<br />
seine Person, so wie sie ist.«<br />
bereits angelegt und hat ihr Recht. Diese<br />
Personalität gibt dem Menschen seine<br />
Würde (...). Die Achtung vor dem Menschen<br />
als Person gehört zu den Forderungen,<br />
die nicht diskutiert werden dürfen.<br />
Wird sie, die Würde, in Frage gestellt,<br />
gleitet alles in die Barbarei.« (Romano<br />
Guardini, Das Recht des werdenden<br />
Menschenlebens. Zur Diskussion um<br />
den § 218 des Strafgesetzbuches, aus der<br />
vom Presseamt des Erzbistums Köln herausgegebenen<br />
Reihe »Zeitfragen« Heft<br />
9, Seite 11f., Köln 1981).<br />
2. Liebe Schwestern, liebe Brüder, daran<br />
hat sich bis heute nichts geändert, auch<br />
nicht im Zeitalter des medizinischen und<br />
biotechnischen Fortschritts. Im Gegenteil,<br />
diese Errungenschaften können auch vom<br />
Heil ins Unheil, in die Barbarei kippen.<br />
Es gibt keine Würde zum Verramschen,<br />
zum Menschenschlussverkauf. Denn diese<br />
Würde wurzelt in dem Faktum, dass<br />
der Mensch von Gott erschaffen ist nach<br />
seinem Ebenbild. Im Ebenbild <strong>–</strong> vergessen<br />
wir das nicht! <strong>–</strong> ist Gott als Urbild gegenwärtig.<br />
Deshalb, so heißt es im Buch<br />
der Weisheit, betrachtet der Kreator sein<br />
Geschöpf auch »mit großer Ehrfurcht«,<br />
denn er erkennt sich selbst im Menschen.<br />
Wer Hand an den Menschen legt, in welcher<br />
Phase seiner biologischen Entwicklung<br />
auch immer, trifft Gott. Das ahnen<br />
gottlob auch viele Zeitgenossen, wie die<br />
letzten Diskussionen über die PID zeigen.<br />
Auch die Bundeskanzlerin hat sich ja für<br />
ein striktes Verbot der Präimplantationsdiagnostik<br />
ausgesprochen. Hier gibt es<br />
keinen Mittelweg, keinen Kompromiss.<br />
Der Mensch in seiner Würde ist von dem<br />
Moment an da, wo die Eizelle befruchtet<br />
ist. Ab diesem Moment ist nicht nur neues<br />
Leben vorhanden, das sich als Mensch<br />
entwickelt. Ab diesem Moment stehen wir<br />
vor einer neuen genetischen Identität, d. h.<br />
einem einzigartigen neuen Ebenbild Gottes.<br />
Und niemand hat das Recht, hier eine<br />
Auswahl zu treffen, weil ihm die Verhüllung<br />
dieser Identität nicht passt. PID<br />
zieht immer Selektion und Tötung nach<br />
sich. Wer PID zulässt, sagt Nein zum Leben<br />
und damit Nein zum Schöpfer und<br />
damit Nein zu Gott selbst. Dieses Nein<br />
aber bedingt gleichsam lawinenartig eine<br />
weitere Lockerung des Lebensschutzes:<br />
Der Präsident der Bundesärztekammer,<br />
Hoppe, geht jetzt davon aus, dass auch<br />
der Bundestag 2011 für eine bedingte Zulassung<br />
von PID stimmen wird. Gleichzeitig<br />
erklärte Hoppe, auch das ärztliche<br />
Berufsrecht sollte in dem Sinne geändert<br />
werden, dass eine assistierte Selbsttötung<br />
durch Ärzte nicht mehr strafrechtlich verfolgt<br />
wird.<br />
Warum treffen sich denn viele verantwortungsbewusste<br />
und bedrückte Chris-<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3 15
N A C H R U F<br />
Joachim Kardinal Meisner (25.12.1933-5.7.<strong>2017</strong>)<br />
ten gerade am Fest der Unschuldigen Kinder,<br />
um ihre Stimme besonders für das<br />
Leben und die ungeborenen Kinder zu<br />
erheben? Sie sehen mit Recht, dass auch<br />
Herodes damals eine Selektion vorgenommen<br />
hat: »Er ließ in Bethlehem und<br />
der ganzen Umgebung alle Knaben bis<br />
zum Alter von zwei Jahren töten, genau<br />
der Zeit entsprechend, die er von den<br />
Sterndeutern erfahren hatte« (Mt 2,16).<br />
So haben wir es soeben im Evangelium<br />
bei Matthäus 2,16 gehört. Die Kriterien<br />
des Herodes waren: Ort, Alter, Geschlecht,<br />
Stand der Forschung. Die Befürworter<br />
der PID haben auch ihre Kriterien,<br />
und sie machen sich auch den<br />
Stand der Forschung zunutze. Gewiss, es<br />
ist politisch unkorrekt, diesen Vergleich<br />
zu ziehen, weil die Befürworter von PID<br />
um ihre Entscheidung gerungen haben.<br />
Aber bei allem Ringen: Diese Entscheidung<br />
ist falsch! Sie tötet genetische Identitäten,<br />
sie tötet die Einzigartigkeit dieser<br />
Identitäten, sie tötet Personen, Menschen,<br />
sie tötet Abbilder Gottes, sie vergreift<br />
sich an Gott selbst.<br />
3. Die Befürworter der PID verweisen<br />
oftmals auf die absurde Situation,<br />
dass ein künstlich gezeugtes Kind später<br />
doch noch abgetrieben werden kann,<br />
wenn während der Schwangerschaft gesundheitliche<br />
Schäden festgestellt werden<br />
können. Was in der Petrischale verboten<br />
sein soll, ist aber im Mutterleib möglich,<br />
so wird argumentiert. Das ist in der Tat<br />
absurd. Hier liegt die Absurdität der ganzen<br />
gesetzlichen Abtreibungsproblematik.<br />
Das kann aber niemals ein Argument<br />
für die PID sein, denn hier wird der eine<br />
Tötungszeitpunkt gegen den anderen<br />
ins Feld geführt. Wahr ist einzig und allein:<br />
Der Mensch darf ab dem Zeitpunkt<br />
seiner Zeugung niemals getötet werden.<br />
16<br />
Hier kommen die Befürworter der PID<br />
und sagen: Bei der PID sterbe ein etwa 150<br />
Mikrometer großer Embryo vor der Einnistung.<br />
Den könne man mit bloßem Auge<br />
gar nicht sehen. Kann man denn die Seele<br />
des Menschen sehen? Kann man seine<br />
Würde sehen? Kann man seine Personalität<br />
sehen? Dann kommen sie und sagen:<br />
Euer beinhartes PID-Verbot ist herzlos,<br />
ihr versteht die Gefühle der Betroffenen<br />
nicht, ihr seid intolerant. Geht es hier um<br />
Gefühle oder Leben? Geht es um Gefühle<br />
oder Wahrheit? Sicher ist: Es geht bei<br />
diesem Thema nicht vorrangig um Gefühle.<br />
Es geht zuerst um den Logos, um<br />
DPA<br />
die Vernunft. »Der christliche<br />
Glaube ist die Option für<br />
die Priorität der Vernunft«,<br />
schrieb der heutige Papst Benedikt<br />
XVI. vor zehn Jahren<br />
in einem Buch über »Glaube,<br />
Wahrheit, Toleranz«. Es<br />
ist keine Toleranz, eine Person<br />
aus Angst töten zu lassen.<br />
Das fleischgewordene<br />
Wort, das ist der Mensch,<br />
ist mehr wert als Gefühle.<br />
Wer seine Vernunft gebraucht<br />
und glaubt, der kann<br />
auch Ängste überwinden,<br />
der kann auch Hoffnung leben.<br />
Das schmerzliche Thema<br />
PID zeigt einmal wieder:<br />
Es gibt bei Gott keine<br />
halben Sachen. Das gilt<br />
auch für sein Abbild. Gott wird Mensch,<br />
damit der Mensch wie Gott werde. Das<br />
ist das Thema zu Weihnachten. Es kann<br />
nicht göttlich sein, zu töten. Es kann nicht<br />
göttlich sein, zu selektieren. Es kann nicht<br />
göttlich sein, Angst triumphieren zu lassen.<br />
Es kann nicht göttlich sein, die Größe<br />
des Menschen auf ein Design zu reduzieren,<br />
auf ein Modell nach Maß unserer<br />
begrenzten Vorstellungen, nach dem Maß<br />
des Misstrauens gegenüber dem Leben.<br />
Und es kann nicht göttlich sein, das Leben<br />
nach dem Markt auszurichten, nach<br />
Angebot und Nachfrage.<br />
4. Das gilt auch für größere Lebensfragen.<br />
Man entschließt sich nicht, ein Kind<br />
zu bekommen, sondern »schafft« es sich<br />
an. Und das möglichst spät. Natürlich ist<br />
der Mensch frei, diese Entscheidung nach<br />
seinen persönlichen Umständen zu treffen.<br />
Aber die Selbstverständlichkeit, mit<br />
der eine Liebesbeziehung auch diese Gedanken<br />
verfolgte, ist mit der Schwächung<br />
der christlichen Substanz in der Gesellschaft<br />
verloren gegangen. Sicher stellte<br />
man sich früher auch die Frage, was ein<br />
Kind kostet. Aber die Frage lautete eher:<br />
»Wie schaffen wir es?« Und in dieser Frage<br />
ist das Beziehungsdreieck Mutter-Vater-Kind<br />
schon enthalten. Heute lautet<br />
die Frage eher: »Was bringt es? Was kostet<br />
es? Sollen wir überhaupt eins haben?«<br />
Und darin schwingt die Abwägung Kind-<br />
Konsum-Optionsverlust mit. Wer kleine<br />
Kinder hat, kann nicht mehr so ohne weiteres<br />
auf Partys, in die Oper, ins Theater,<br />
auf den Markt der Freizeitgesellschaft ziehen.<br />
Dass die Beziehung zu einem Menschen<br />
auch Leid mit sich bringen kann,<br />
spielt in der generativen Überlegung insofern<br />
noch eine Rolle, dass man dieses<br />
Leid ausklammern will, selbst um den Preis<br />
des Lebens. Das Preis-Leistungs-Verhältnis<br />
und das Kosten-Nutzen-Denken haben<br />
den Faktor Kind objektiviert. Besonders<br />
deutlich wird das bei der PID-Debatte<br />
und <strong>–</strong> nebenbei bemerkt <strong>–</strong> auch bei<br />
der Scheidung, wenn die Besuchs-, Sorge-<br />
oder Umgangsrechte mit dem Kind<br />
wie Claimrechte abgesteckt, eingeschränkt<br />
oder gar verboten werden.<br />
5. Liebe Schwestern, liebe Brüder,<br />
merken wir, wie sehr dieses Marktdenken<br />
von heute bei uns in Fleisch und Blut<br />
übergegangen ist? Zuerst wird die Angebotslage<br />
gesichtet, bevor man sich festlegt.<br />
Früher war die Beziehung zu Personen<br />
ausschlaggebend, heute ist es der<br />
»Konsum- und Freizeitwert«, manchmal<br />
auch nur der persönliche Nutzen<br />
für die Karriere. Hier offenbart sich ein<br />
Verlust an Menschlichkeit. Unmerklich<br />
hat sich dieses optionale Denken auch<br />
in die Unfähigkeit eingeschlichen, klare<br />
Aussagen zu treffen, zum Beispiel »Ja«<br />
zu sagen zum Leben, so wie es kommt,<br />
so wie Gott es schickt. Das Schicksal ist<br />
kein Schlag, den der Christ nicht ertragen<br />
könnte. Natürlich, eine Gesellschaft, die<br />
permanent nach Konsens und Kompromissen<br />
sucht, ist das nicht mehr gewohnt.<br />
Gesundheit ist gewiss ein hohes Gut,<br />
das höchste Gut des Menschen ist sie nicht.<br />
Das höchste Gut ist die Beziehung zu Gott,<br />
die Liebesfähigkeit. Sie bringt schließlich<br />
das wirkliche Glück, die Erfüllung. Das<br />
kann man bei vielen Familien sehen, die<br />
ein behindertes Kind in ihrer Mitte haben.<br />
Liebe ist stärker als Leid, Liebe selektiert<br />
nicht, Liebe akzeptiert den ganzen Menschen,<br />
seine Person, so wie sie ist. Einen<br />
Menschen annehmen und lieben, schrieb<br />
Dostojewskij, heißt, ihn so zu sehen, wie<br />
Gott ihn gemeint hat. Nicht wie wir ihn<br />
wollen, nicht wie der Mensch ihn sich zurechtbasteln<br />
will. Deshalb ist das Nein zur<br />
PID nicht nur ein Nein zur Anmaßung des<br />
Menschen, das Ebenbild Gottes nach seinem<br />
Bild zu schaffen. Es ist ganz besonders<br />
ein Ja zur Schöpfung, ein Ja zur Liebe.<br />
Dazu sind wir da und berufen. Amen.<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
N A C H R U F<br />
Ein Nachruf in Zitaten<br />
Statt eines klassischen Nachrufes dokumentiert »<strong>LebensForum</strong>« einen solchen in Zitaten, die dem<br />
vergriffenen Buch »Mit dem Herzen sehen <strong>–</strong> Chance und Auftrag der Kirche zu Beginn des dritten<br />
Jahrtausends« (MM-Verlag, Aachen 1999) entnommen sind. In dem Interviewbuch antwortete<br />
Joachim Kardinal Meisner auf Fragen, die ihm der Journalist und Publizist Stefan Rehder stellte.<br />
»Wenn eine Frau eine Abtreibung erwägt,<br />
dann besteht eine Not zweier Menschen:<br />
eine Not der Frau und eine Not des<br />
in ihr wachsenden Kindes. Die Kirche wird<br />
niemals dafür plädieren, die Not eines dieser<br />
beiden Menschen zu vermehren, aber<br />
sie muss darauf hinweisen, dass die Nöte<br />
sich qualitativ in einem ganz entscheidenden<br />
Punkt unterscheiden: Das Kind ist<br />
in jedem Fall in Lebensgefahr. Nicht aus<br />
Missachtung für Frauen in Not, sondern<br />
aus dem allgemeinen menschlichen Prinzip,<br />
da zu helfen, wo die Not am größten<br />
ist, richtet daher die Kirche zunächst den<br />
Blick auf dieses in Lebensgefahr befindliche<br />
unschuldige Kind. Und wenn überhaupt<br />
über ›schonende Abtreibungsmethoden‹<br />
geredet werden kann, dann muss die Kirche<br />
also zunächst nach der Wirkung auf<br />
das Kind fragen. Dabei ist zuzugestehen,<br />
dass es bei der Tötung von Menschen Methoden<br />
unterschiedlichen Grausamkeitsgrades<br />
gibt, aber es ist klar, dass der Ausdruck<br />
›schonend‹ in jedem Fall zynisch ist.<br />
Es gibt nämlich für das Kind keine wirklich<br />
schonende Methode, denn der Effekt<br />
jeder beliebigen Abtreibungsmethode ist<br />
die Vernichtung des Kindes.«<br />
»Man hat in der Abtreibungsdiskussion<br />
der siebziger Jahre stets bestritten,<br />
dass die Aufgabe des prinzipiellen Lebensschutzes<br />
am Anfang des Lebens konsequenterweise<br />
auch Folgen für den Lebensschutz<br />
am Ende des Lebens haben<br />
wird. Der Kirche, die schon damals auf<br />
diese Gefahren hingewiesen hat, wurde die<br />
Beschwörung von Horrorszenarien vorgeworfen.<br />
Heute sind unsere schlimmsten<br />
Befürchtungen bereits übertroffen. In<br />
den Niederlanden, die schon bei der Freigabe<br />
von Abtreibungen die zunehmende<br />
Einschränkung der Menschenrechte<br />
für Niederländer demagogisch als ›Fortschrittlichkeit‹<br />
deklariert haben, werden<br />
inzwischen mehrere tausend Menschen<br />
jedes Jahr ohne eigene Zustimmung nach<br />
dem Beschluss von ›Kommissionen‹ gegebenenfalls<br />
unter Zuziehung von Angehörigen<br />
totgespritzt. Die in anderen Ländern<br />
viel weiter fortgeschrittene moderne<br />
Schmerzmedizin führt hier ein Schattendasein,<br />
da man Schmerzen am sichersten<br />
durch Tötung ›vermeiden‹ kann. Dieser<br />
Zynismus ist kaum mehr zu überbieten.«<br />
Joachim Kardinal Meisner =<br />
»Ich habe den Weg, den die deutschen<br />
Bischöfe nach der Neufassung der Abtreibungsgesetze<br />
1993 bzw. 1995 mehrheitlich<br />
beschritten haben, von Anfang an als<br />
problematisch angesehen. Im Hinblick auf<br />
die Einheit der Kirche in Deutschland und<br />
die Chance, schwangeren Frauen in Notund<br />
Konfliktsituationen wirksam beistehen<br />
zu können, war ich jedoch bereit, eine<br />
Mitwirkung in der gesetzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung<br />
zu erproben.<br />
Unsere Richtlinien, die hierzu 1995 von<br />
der Bischofskonferenz erlassen wurden,<br />
waren bewusst nur als ›vorläufige Richtlinien‹<br />
gekennzeichnet. Denn wir waren<br />
uns von Anfang an klar darüber, dass die<br />
Grundfrage, ob die Kirche überhaupt im<br />
System der staatlichen Beratung bleiben<br />
könnte, noch zu klären bliebe <strong>–</strong> und dass<br />
dies nicht ohne die Hilfe des Papstes ging.<br />
Weil das in den Medien oft nicht klar herausgestellt<br />
wird, will ich hier noch einmal<br />
darauf hinweisen: Es waren also die<br />
deutschen Bischöfe, die im Gespräch mit<br />
dem Heiligen Stuhl nach einer endgültigen<br />
Lösung gesucht haben.«<br />
»Es ist doch skandalös, wenn in unserer<br />
Gesellschaft immer mehr Menschen<br />
von einem ›Recht auf Abtreibung‹ sprechen,<br />
nur weil die ,rechtswidrige Abtreibung’<br />
nach dem Willen des Gesetzgebers<br />
unter bestimmten Bedingungen ›straffrei‹<br />
bleiben soll. Hier muss die Kirche doch ein<br />
sichtbares Zeichen für die gesamte Gesellschaft<br />
setzen. Und genau das tut sie jetzt.<br />
Unsere Beratung soll nicht länger innerhalb<br />
eines gesetzlichen Systems bleiben,<br />
in dem sie als Bedingung für die straffreie<br />
Tötung ungeborener Kinder wirkt.«<br />
»Man kann aber auch hoffen, dass der<br />
himmelschreiende Kontrast zwischen der<br />
Sensibilität für die Umwelt und der Gleichgültigkeit<br />
gegenüber dem Lebensrecht von<br />
unerwünschten Menschen irgendwann<br />
so schrill wird, dass die Menschen wieder<br />
nachdenklich werden. Das geschieht<br />
manchmal schon heute. So hat die Partei<br />
Bündnis 90/Die Grünen in der Diskussion<br />
über den sogenannten Hirntod und<br />
auch über die sogenannte Bioethik-Konvention<br />
respektable Positionen bezogen.<br />
Der Embryonenschutz wird sehr ernst genommen.<br />
Manche Politiker dieser Partei<br />
bemerken bereits den Widerspruch zwischen<br />
der strikten Ablehnung jeder Manipulation<br />
des Embryos und der widerspruchslosen<br />
Akzeptanz der größtmöglichen<br />
Manipulation des Embryos, nämlich<br />
seiner Tötung. Wir Christen müssen<br />
das Tabu, über Abtreibung zu reden, so<br />
lange brechen, bis solche Widersprüche<br />
nicht mehr übersehen werden können.«<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3 17
P O L I T I K<br />
Hornberger Schießen<br />
Lange ist es her. Um die Jahrtausendwende galten die aus menschlichen Embryonen gewonnenen<br />
embryonalen Stammzellen als der »heilige Gral« der regenerativen Medizin. Ein aus dem Boden gestampftes<br />
Stammzellgesetz sollte sicherstellen, dass deutsche Forscher von den vermeintlichen<br />
Segnungen profitieren können, ohne selbst Embryonen töten zu müssen. In diesem Jahr hat die<br />
Bundesregierung ihren siebten Erfahrungsbericht über die Durchführung dieses Gesetzes vorgelegt.<br />
Von Urs Rotthaus<br />
Die Bundesregierung hat ihren<br />
»Siebten Erfahrungsbericht über<br />
die Durchführung des Stammzellgesetzes«<br />
(Bundestagsdrucksache<br />
18/12761) vorgelegt. Der 40-seitige Bericht<br />
umfasst den Zeitraum vom 1. Januar<br />
2014 bis zum 31. Dezember 2015.<br />
Demnach hat die beim Robert-Koch-Institut<br />
angesiedelte Zentrale Ethik-Kommission<br />
für Stammzellforschung (ZES) in<br />
den Jahren 2014/2015 ganze 17 neue Anträge<br />
auf den Import humaner embryonaler<br />
Stammzellen (hES-Zellen) genehmigt.<br />
Damit steigt die Zahl der deutschen<br />
Forschern genehmigten Importe embryonaler<br />
Stammzelllinien seit dem Inkrafttreten<br />
des umstrittenen Gesetzes im Jahr<br />
2002 auf 105. In 19 weiteren Fällen hätten<br />
Forscher, so der Bericht weiter, eine<br />
Ausweitung bereits erteilter Genehmigungen<br />
beantragt.<br />
Laut dem 2002 verabschiedeten<br />
Stammzellgesetz ist die Forschung mit<br />
embryonalen Stammzellen in Deutschland<br />
grundsätzlich verboten. In als Ausnahmen<br />
deklarierten Fällen können Forscher in<br />
Deutschland jedoch den Import im Ausland<br />
gewonnener embryonaler Stammzellen<br />
beantragen. Über die Bewilligung<br />
der Anträge entscheidet jeweils die ZES.<br />
Seit 2002 gibt es allerdings keinen einzigen<br />
dokumentierten Fall, in dem Forschern<br />
der Import embryonaler Stammzellen<br />
verweigert wurde.<br />
hES-Zellen werden aus menschlichen<br />
Embryonen gewonnen, die ursprünglich<br />
für künstliche Befruchtungen erzeugt wurden,<br />
dann aber für eine solche aus unterschiedlichen<br />
Gründen nicht mehr benötigt<br />
wurden.<br />
Seit der Ermöglichung der Präimplantationsdiagnostik<br />
(PID) steigt die Zahl<br />
solcher »verwaisten« Embryonen auch<br />
in Deutschland an. Der Grund: Für die<br />
erfolgreiche Durchführung einer PID,<br />
bei der ein im Labor erzeugter Embryo<br />
18<br />
noch vor dem Transfer in die Gebärmutter<br />
auf genetische Auffälligkeiten untersucht<br />
wird, wird international die Erzeugung<br />
von sieben bis zwölf Embryonen für<br />
erforderlich erachtet.<br />
Ursprünglich wurde in Deutschland<br />
nach der sogenannten »Dreierregel« verfahren.<br />
Nach dieser durften bei künstlichen<br />
Befruchtungen maximal drei Embryonen<br />
erzeugt werden. Damit sollte<br />
verhindert werden, dass durch künstliche<br />
Befruchtungen eine Vielzahl »überzähliger<br />
Embryonen« entsteht.<br />
Die Forschung mit humanen embryonalen<br />
Stammzellen ist ethisch hoch umstritten.<br />
Der Grund hier: Bei der Entnahme<br />
der embryonalen Stammzellen<br />
»17 neue Anträge auf den Import<br />
embryonaler Stammzellen.«<br />
JANE GITSCHIER<br />
wird der Embryo zerstört. Weil das in<br />
Deutschland seit 1991 geltende Embryonenschutzgesetz<br />
(ESchG) jede Verwendung<br />
von Embryonen verbietet, die nicht<br />
ihrem Erhalt dienen, sollte das Stammzellgesetz<br />
Wissenschaftlern die Forschung<br />
mit embryonalen Stammzellen ermöglichen,<br />
ohne dass dafür in Deutschland<br />
Embryonen getötet werden.<br />
Wie in »<strong>LebensForum</strong>« berichtet, wollen<br />
Wissenschaftler um den Rechtsmediziner<br />
Jochen Taupitz das jedoch ändern.<br />
Sie fordern, dass verwaiste Embryonen,<br />
die ursprünglich zu reproduktiven Zwecken<br />
erzeugt wurden, künftig der Forschung<br />
zur Verfügung gestellt werden<br />
können. Dafür müsste das ESchG geändert<br />
werden. Das schreibt nämlich in Paragraf<br />
2, Absatz 1 unter der Überschrift<br />
»Missbräuchliche Verwendung menschlicher<br />
Embryonen« vor: »Wer einen extrakorporal<br />
erzeugten oder einer Frau vor<br />
Abschluss seiner Einnistung in der Gebärmutter<br />
entnommenen menschlichen<br />
Embryo veräußert oder zu einem nicht<br />
seiner Erhaltung dienenden Zweck abgibt,<br />
erwirbt oder verwendet, wird mit<br />
James A. Thomson<br />
Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder<br />
mit Geldstrafe bestraft.«<br />
Laut dem Stammzellgesetz müssen die<br />
mit dem Import embryonaler Stammzellen<br />
verfolgten Forschungsziele »hochrangig«<br />
sein. Auch darf sich der angestrebte<br />
Erkenntnisgewinn nicht anders als durch<br />
die Forschung mit embryonalen Stammzellen<br />
erzielen lassen. Ferner müssen die<br />
zu klärenden Fragestellungen zuvor im<br />
Tierversuch vorgeklärt worden sein.<br />
Laut dem Bericht der Bundesregierung<br />
arbeiten in Deutschland derzeit 75<br />
Arbeitsgruppen in 53 Forschungseinrich-<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
tungen mit aus dem Ausland importierten<br />
hES-Zellen. Weltweit sollen nach Angaben<br />
des Human Pluripotent Stem Cell<br />
Registry derzeit mehr als 3.000 Zelllinien<br />
aus humanen embryonalen Stammzellen<br />
verfügbar sein.<br />
Interessanterweise hält der aktuelle<br />
Erfahrungsbericht der Bundesregierung<br />
über die Durchführung des Stammzellgesetzes<br />
hierzu jedoch fest: »Etwas im<br />
Gegensatz zu diesem Anstieg an verfügbaren<br />
neuen hES-Zellen lässt sich allerdings<br />
weiterhin eine Fokussierung der internationalen<br />
Forschung auf eine überschaubare<br />
Anzahl von Standard- bzw.<br />
Referenz-hES-Zelllinien beobachten«<br />
(S.17). Ursache hierfür könnte sein, dass<br />
DPA<br />
sich noch »keine substantiell neuen Bedingungen<br />
zur Ableitung und zur weiteren<br />
Kultivierung von hES-Zellen durchgesetzt<br />
haben und daher die Verwendung<br />
von gut charakterisierten Linien naheliegend<br />
erscheint«. Dieser Trend zeige sich<br />
»auch bei der Forschung an hES-Zellen<br />
in Deutschland. So wurden in allen 17<br />
während des aktuellen Berichtszeitraumes<br />
(2014/2015) genehmigten Anträgen<br />
nach dem Stammzellgesetz auch jeweils<br />
die Einfuhr und Verwendung einiger<br />
der ersten von James Thomson etablierten<br />
hES-Zellen genehmigt.« Dem<br />
US-Stammzellforscher gelang es 1998<br />
als Erstem, embryonale Stammzellen<br />
des Menschen dauerhaft im Labor zu<br />
kultivieren.<br />
Zur Erinnerung: In der Debatte im<br />
Vorfeld der Änderung des ohnehin umstrittenen<br />
Stammzellgesetzes im Frühjahr<br />
2008 war die vom Deutschen Bundestag<br />
mehrheitlich beschlossene Verlegung<br />
des Stichtags vom 1. Januar 2002<br />
auf den 1. Mai 2007 unter anderem mit<br />
der mangelnden Qualität der bis dahin<br />
etablierten embryonalen Stammzelllinien<br />
begründet worden.<br />
Aber mit der Wahrheit nahm man es<br />
in der Stammzelldebatte ohnehin nicht<br />
sonderlich genau. Von den damals noch<br />
als »Alleskönnern« gehandelten Zelltypen<br />
erwartete zum Beispiel Thomson eine<br />
»unbegrenzte Versorgung mit spezifischen<br />
Zelltypen zu Transplantationszwecken<br />
für eine ganze Reihe von Erkrankungen,<br />
vom Herzinfarkt über Morbus<br />
Parkinson bis zur Leukämie«. Und der<br />
Bonner Stammzellforscher Oliver Brüstle,<br />
der als Erster in Deutschland mit diesen<br />
Zellen zu arbeiten begann (weshalb<br />
das Stammzellgesetz von manchen auch<br />
»Lex Brüstle« genannt wird), versprach<br />
damals »Nervenzellen für Parkinson-<br />
Patienten, Herzmuskulatur für Infarktopfer,<br />
insulinbildende Zellen für Diabetiker<br />
und blutbildende Zellen für Leukämiekranke«.<br />
len heute Pharmafirmen dabei, die Kosten<br />
für die vergleichsweise teuren Tierversuche<br />
zu drücken.<br />
Verschwiegen wurden dagegen, dass<br />
humane embryonale Stammzellen ein bis<br />
zu 100-prozentiges Risiko besitzen, zu Tumoren<br />
zu entarten. »Alle embryonalen<br />
Stammzellen bilden Tumore aus, wenn sie<br />
im undifferenzierten Zustand in ein anderes<br />
Umfeld als das der frühen Embryonalentwicklung<br />
verpflanzt werden. Daher ist<br />
an eine aus diesen Zellen hergestellte Kultur<br />
die Bedingung absoluter Reinheit zu<br />
stellen, die bislang noch in keinem Ansatz<br />
(...) sicher« erreicht wurde, schrieb Gisela<br />
Badura-Lotter bereits 2005.<br />
Ein Problem, das, wie auch der aktuelle<br />
Erfahrungsbericht der Bundesregierung<br />
zeigt, auch zehn Jahre später noch nicht<br />
zufriedenstellend gelöst werden konnte.<br />
Was die Autoren des Berichts jedoch<br />
»Deutsche Forscher importierten<br />
die ältesten Stammzelllinien.«<br />
So wandlungsfähig wie eine Stammzelle: Oliver Brüstle<br />
»Auch nach 15 Jahren gibt es keine<br />
einzige Therapie mit hES-Zellen«<br />
Bis heute gibt es keine einzige Therapie<br />
mit embryonalen Stammzellen. Das<br />
Einzige, wozu die aus menschlichen Embryonen<br />
gewonnenen Zellen bisher tatsächlich<br />
taugen, ist ein Substitut: Als<br />
Testsysteme für Wirkstoffe von Medikamenten<br />
helfen embryonale Stammzel-<br />
nicht daran hindert, bereits die nächste<br />
bioethische Sau durchs Dorf zu treiben:<br />
»Angesichts der im Berichtszeitraum entstandenen<br />
Verfügbarkeit sehr effektiver<br />
Werkzeuge zur genetischen Manipulation<br />
von Zellen in vitro (insbesondere<br />
CRISPR/Cas) ist die genetische Veränderung<br />
von hES-Zellen mit deutlich geringerem<br />
Aufwand verbunden, als dies in<br />
der Vergangenheit der Fall war. Aus diesen<br />
Arbeiten werden neue Erkenntnisse<br />
über Veränderungen erwartet, die bei der<br />
jeweiligen Erkrankung auf molekularer<br />
und zellulärer Ebene auftreten, was zu<br />
einem besseren Verständnis der Pathogeneseprozesse<br />
und ggf. zu neuen Therapieansätzen«<br />
für Erkrankungen führen<br />
könne, die »derzeit nur inadäquat« behandelbar<br />
seien.<br />
Die derzeit nur inadäquate Behandlung<br />
von beispielsweise degenerativen<br />
Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson<br />
und dergleichen mehr führte um die Jahrtausendwende<br />
zu einer fiebrigen Goldgräberstimmung.<br />
Nicht nur, aber auch in<br />
Deutschland. Gelernt scheint man daraus<br />
noch nicht zu haben.<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3 19
M A R S C H F Ü R D A S L E B E N<br />
Gänsehaut und Geschrei<br />
Auf der Wiese vor dem Reichstag und durch das Brandenburger Tor <strong>–</strong> Impressionen vom<br />
diesjährigen »Marsch für das Leben« in Berlin<br />
Von Stefan Rehder<br />
Gänsehaut« habe er gehabt, erzählt<br />
Sebastian, als die Teilnehmer des<br />
diesjährigen »Marsches für das<br />
Leben« das Gelände vor dem Berliner<br />
Reichstag wieder verlassen. Der 38-Jährige<br />
ist zum fünften Mal beim Marsch dabei.<br />
Auf der Bühne vor dem Reichstagsgebäude<br />
hat die Band »Gnadensohn« gerade<br />
ihren Song »Silber und Gold« intoniert.<br />
Der eingezäunte Bereich, den die Polizei<br />
den Marschteilnehmern zu ihrem Schutz<br />
auf der Wiese vor dem Reichstag zugewiesen<br />
hat, ist bereits zu gut Dreiviertel<br />
gefüllt. Ein Stück Niemandsland trennt<br />
den eingezäunten Bereich von der offenen<br />
Wiese. Dort skandieren einige Gegendemonstranten<br />
lautstark: »My body,<br />
my choice. Raise your voice!« (»Mein<br />
Körper, meine Wahl. Erhebt Eure Stimme!«)<br />
oder »Wir sind die Perversen! Wir<br />
sind Euch auf den Fersen!« Die Band<br />
»Gnadensohn« singt derweil: »Ich bin<br />
Licht auf Deinem Weg/ Die Schulter,<br />
20<br />
an der Du lehnst/ Bei mir darfst Du einfach<br />
sein/ So ohne Plan, nur Du allein/<br />
Wenn Du fällst, bin ich da/ Bist Du fern,<br />
bin ich nah/ Ich teile Deinen Schmerz/<br />
denn ich seh Dein Herz.«<br />
Die Gegendemonstranten erhöhen ihre<br />
Lautstärke. Dann verstummen sie völlig<br />
unvermittelt. Die Band singt: »Lass<br />
mich Deinen Herzschlag spüren/ und<br />
Deine Worte hören/ Du bist Liebe und<br />
Licht/ Du bist alles für mich/ Zeig mir<br />
Deine Welt/ denn ich hab Dich gewählt/<br />
Berlin <strong>2017</strong>: Erneut nahmen 7.500 Menschen am »Marsch für das Leben« teil<br />
Du bist Silber und Gold/ Du bist absolut<br />
gewollt.« »Ich weiß nicht«, sagt Sebastian,<br />
»ob die verstanden haben, dass<br />
sie mitgemeint waren. Aber für mich war<br />
das ein Gänsehaut-Moment.«<br />
»Wir sind eine Provokation. Aber wir<br />
lassen uns nicht provozieren«, lautet die<br />
Devise, die Hartmut Steeb, Generalsekretär<br />
der Evangelischen Allianz und Stellvertretender<br />
Vorsitzender des Bundesverbands<br />
Lebensrecht (BVL), ausgibt, bevor<br />
BISTUM REGENSBURG/TOBIAS LIMINSKI<br />
sich der Marsch, der in diesem Jahr unter<br />
dem Motto: »Die Schwächsten schützen.<br />
Ja, zu jedem Kind« steht, am Ende der<br />
Kundgebung in Bewegung setzt und auf<br />
die Scheidemannstraße Richtung Dorotheenstraße<br />
einbiegt.<br />
Die Route, die die Lebensrechtler<br />
nehmen, ist nicht einmal dem Veranstalter<br />
bekannt. Sie wurde, heißt es, diesmal<br />
geheim gehalten, um auch den Gegendemonstranten,<br />
die in diesem Jahr deutlich<br />
stärker vertreten sind als noch in vergangenen,<br />
die Störung des Marsches nicht<br />
zu einfach zu machen. 850 Beamte, einige<br />
davon in zivil, wurden nach Angaben<br />
der Polizei aufgeboten, um den<br />
Marsch zu schützen. Trotzdem gelingt<br />
es einer Handvoll Gegendemonstranten,<br />
die sich mit bürgerlicher Kleidung<br />
getarnt und unter die Marschteilnehmer<br />
gemischt haben, in der Dorotheenstraße,<br />
kurz vor der Kreuzung Wilhelmstraße,<br />
einer Teilnehmerin ein weißes Holzkreuz<br />
zu entreißen. Sofort ist ein Trupp<br />
Polizisten zur Stelle, kreist die chancenlosen<br />
Gegendemonstranten ein, drängt<br />
sie auf den Bürgersteig und stellt sie an<br />
der Gebäudewand. Die ganze Unternehmung<br />
dauert nur wenige Sekunden und<br />
läuft so geordnet und so sachlich ab, dass<br />
an Eskalation nicht einmal zu denken ist.<br />
Nach Angaben des BVL nahmen an<br />
diesem Marsch, wie im vergangenen Jahr,<br />
erneut 7.500 Menschen teil. »So viele<br />
junge Menschen«, meint ein aus dem<br />
Rheinland angereister Familienvater, der<br />
»zum ersten Mal« dabei ist und strahlt.<br />
»Und so viele junge Priester«, ergänzt<br />
seine Frau. Und in der Tat: Der Anteil<br />
beider Personengruppen ist ebenso auffällig<br />
gestiegen wie eine neue Personengruppe<br />
hinzugekommen ist: Menschen<br />
mit offensichtlichem Migrationshintergrund.<br />
An der Kreuzung Friedrichstraße<br />
biegt der Marsch, angeführt von der<br />
BVL-Vorsitzenden Alexandra Linder,<br />
rechts ab auf die Prachtallee Unter den<br />
Linden und nimmt Kurs auf das Brandenburger<br />
Tor. Der scheidende Bundestagspräsident<br />
Norbert Lammert (CDU) hat<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
den Lebensrechtlern ein Grußwort geschickt.<br />
Gleiches gilt für Bundestagsvizepräsident<br />
Johannes Singhammer (CSU),<br />
Bundeslandwirtschaftsminister Christian<br />
Schmidt (CSU), Unionsfraktionschef<br />
Volker Kauder sowie die CDU-Bundestagsabgeordneten<br />
Wolfgang Bosbach, Marie-Luise<br />
Dött, Franz Josef Jung, Hubert<br />
Hüppe, Volkmar Klein, Philipp Lengsfeld,<br />
Patrick Sensburg und Marian Wendt.<br />
Viele Lebensrechtler registrieren sehr<br />
aufmerksam, wer in Politik und Kirche<br />
den »Marsch für das Leben« unterstützt.<br />
Dass neben Papst Franziskus<br />
auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz<br />
Reinhard Kardinal Marx<br />
und ZDK-Präsident Thomas Sternberg<br />
sich mit den Anliegen der Lebensrechtler<br />
öffentlich solidarisieren, tut vielen<br />
sichtbar gut. Mit viel Applaus wird das<br />
Grußwort von Berlins Erzbischof Heiner<br />
Koch bedacht, das von Weihbischof<br />
Matthias Heinrich verlesen wird und in<br />
dem Koch den Lebensrechtlern bescheinigt,<br />
»völlig zu Unrecht« in »die rechte<br />
Ecke« gestellt zu werden.<br />
Mit Spannung verfolgen viele Jahr für<br />
Jahr, welche Bischöfe an dem »Marsch<br />
für das Leben« teilnehmen. Dass der Regensburger<br />
Bischof Rudolf Voderholzer,<br />
der beim Ökumenischen Abschlussgottesdienst<br />
auf der Wiese vor dem Reichstag<br />
die Predigt hielt, schon zum dritten Mal in<br />
Folge zum Marsch nach Berlin gekommen<br />
ist, wird mit Hochachtung kommentiert.<br />
Auch die Anwesenheit der Weihbischöfe<br />
I N F O<br />
9 Forderungen an den neuen Bundestag<br />
BISTUM REGENSBURG/TOBIAS LIMINSKI<br />
Hubert Berenbrinker (Paderborn), Matthias<br />
Heinrich (Berlin) und Florian Wörner<br />
(Augsburg) sind Gesprächsthemen.<br />
Auch dass der Berliner Diözesanrat<br />
nicht zur Teilnahme an dem Marsch aufrufen<br />
wollte, ist Thema und hat viele verärgert.<br />
»Ich fühle mich von denen nicht<br />
vertreten«, sagt ein Berliner Arzt und Katholik.<br />
An der Liebfrauenschule, einem<br />
Berliner Gymnasium in katholischer Trägerschaft,<br />
sei sogar vor der Teilnahme am<br />
Bei der diesjährigen Kundgebung verabschiedeten die Teilnehmer des »Marsches<br />
für das Leben« die folgenden Forderungen an den neu gewählten Deutschen Bundestag:<br />
1. Seien Sie familienfreundlich: Unterstützen Sie Eltern, die ein Kind erwarten, statt Abtreibung<br />
aus Steuergeldern zu finanzieren!<br />
2. Seien Sie gerecht: Das Recht jedes Menschen auf Leben ist grundlegend <strong>–</strong> ein »Recht auf<br />
Abtreibung« gibt es nicht!<br />
3. Starten Sie eine Bildungsoffensive: Alle sollen wissen, dass der Mensch von der Zeugung<br />
an einmalig ist und Menschenwürde hat!<br />
4. Fördern Sie das Recht von Schwangeren auf Information: Kostenlose Ultraschallbilder<br />
schon bei Feststellung der Schwangerschaft!<br />
5. Seien Sie ehrlich: Analysieren Sie die hohen Abtreibungszahlen und ziehen Sie die Konsequenzen,<br />
um Kinder und Mütter zu schützen!<br />
6. Handeln Sie inklusiv: Gentests an Embryonen (NIPD) sind nur zulässig, wenn sie dem Leben<br />
und der Gesundheit von Mutter und Kind dienen!<br />
7. Bewahren Sie das Embryonenschutzgesetz: Verbieten Sie Genmanipulationen und »reproduktive«<br />
Verfahren wie PID, Eizellspende und Leihmutterschaft!<br />
8. Respektieren Sie das Gewissen: Keine Ausgrenzung von Menschen, die in medizinischen<br />
Berufen tätig sind und sich nicht an Abtreibung und assistiertem Suizid beteiligen!<br />
9. Achten Sie Alte und Kranke: Weiten Sie die palliative Versorgung für Menschen am Lebensende<br />
aus, statt den assistierten Suizid straffrei zuzulassen!<br />
Bei vielen erregte der laute und obszöne Protest der Gegendemonstranten Mitleid<br />
»Marsch für das Leben« gewarnt worden,<br />
berichten Teilnehmer. Wegen »rechter<br />
Elemente« solle man daran besser nicht<br />
teilnehmen, habe es geheißen.<br />
Applaus brandet auf, als Voderholzer<br />
in seiner Predigt »aus ganzem Herzen<br />
allen Polizisten und Polizistinnen«<br />
dankt. »Sie haben uns beschützt und somit<br />
das staatsbürgerliche Recht auf freie<br />
Meinungsäußerung verteidigt«, so Voderholzer<br />
weiter. »Das lautstarke Geschrei<br />
und die Obszönität des Protestes,<br />
der uns entgegenschlägt«, sei »ein untrüglicher<br />
Beweis dafür, dass wir etwas<br />
Wichtiges zu sagen, etwas Notwendiges<br />
zu vertreten, etwas Heiliges zu schützen<br />
haben«. Dabei könnten sich Christen<br />
nicht nur auf die »Position ihres Glaubens«<br />
stützen, sondern auch auf das Naturrecht<br />
und die Philosophie, betonte Voderholzer.<br />
Der Regensburger Oberhirte<br />
lobte, dass Menschen mit Behinderungen<br />
»noch nie so viel Fürsorge« erhielten<br />
wie heute. Bei ungeborenen Kindern<br />
gebe es jedoch eine »unbarmherzige und<br />
gnadenlose Selektion«. So würden heute<br />
neun von zehn Embryonen mit Down-<br />
Syndrom abgetrieben. Zugleich mahnte<br />
er, beim Schutz des Lebens auch für die<br />
Menschen einzutreten, »die sich nach einer<br />
lebenswerten Heimat sehnen«.<br />
Der Vorsitzende der Deutschen Evangelischen<br />
Allianz, Ekkehart Vetter, der<br />
dem Gottesdienst vorstand, betonte ebenfalls<br />
unter dem Applaus, dass das Engagement<br />
für das Leben unteilbar sei und<br />
auch verfolgte und geflüchtete Menschen<br />
umfassen müsse. Von »rechten Elementen«<br />
auch hier keine Spur.<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3 21
M A R S C H F Ü R D A S L E B E N<br />
Jeder hat das Recht auf Leben<br />
Nachfolgend veröffentlichen wir die Predigt, die der Regensburger Bischof, Prof. Dr. Rudolf<br />
Voderholzer, am 16. September beim diesjährigen »Marsch für das Leben« in Berlin während des<br />
ökumenischen Abschlussgottesdienstes gehalten hat. Bei dem Text handelt sich um eine sprachlich<br />
leicht überarbeitete und im biblischen Teil erweiterte Fassung, die die Pressestelle der<br />
Diözese Regensburg »<strong>LebensForum</strong>« zur Verfügung gestellt hat.<br />
Von Bischof Dr. Rudolf Voderholzer<br />
22<br />
Wir sind am Ende unseres Marsches<br />
durch die Berliner Innenstadt<br />
angekommen und<br />
zwar beim Höhepunkt, nämlich der gemeinsamen<br />
Gottesdienstfeier. Wir hören<br />
gemeinsam auf Gottes Wort und mit<br />
Psalmen, Hymnen und Liedern loben<br />
und preisen wir den Schöpfer und Erlöser.<br />
Lassen Sie mich zunächst Ihnen allen<br />
ein herzliches bayerisches »Grüß Gott«<br />
sagen und ein herzliches »Vergelt’s Gott«,<br />
dass Sie in so großer Zahl nach Berlin gekommen<br />
sind, um dem Lebensrecht auch<br />
der Schwächsten eine Stimme zu verleihen.<br />
Danke aus ganzem Herzen auch an<br />
alle Polizistinnen und Polizisten, die uns<br />
beschützt und somit das staatsbürgerliche<br />
Recht auf freie Meinungsäußerung<br />
verteidigt haben. Danke auch dafür, dass<br />
wir durch das Brandenburger Tor ziehen<br />
durften. Das Anliegen, das uns verbindet,<br />
entspricht diesem Symbol der Freiheit<br />
und der Einheit des deutschen Volkes.<br />
Das lautstarke Geschrei und die Obszönität<br />
des Protestes, der uns entgegenschlägt,<br />
ist ein untrüglicher Beweis dafür,<br />
dass wir etwas Wichtiges zu sagen, etwas<br />
Notwendiges zu vertreten, etwas Heiliges<br />
zu schützen haben.<br />
Für mich ist dieser ökumenisch getragene<br />
Marsch für das Leben ein großes<br />
ökumenisches Hoffnungszeichen,<br />
ein Stück schon verwirklichter, sichtbarer<br />
Einheit der Kirche, besonders in diesem<br />
Jahr des 500-jährigen Reformationsgedenkens.<br />
Danke für dieses ökumenisch<br />
ermutigende Zeichen.<br />
Gerne greifen wir die Bitte unserer<br />
Schweizer Freunde auf, mit Ihnen zu<br />
beten für das Leben. Ja, wir sind gekommen,<br />
um zu beten für Frauen in schwierigen<br />
Entscheidungssituationen, dass sie<br />
die richtigen Ratgeber bekommen, um zu<br />
beten für Familien, die sich materiell und<br />
ideell schwertun zu überleben, um zu beten<br />
für die Beraterinnen, um zu beten für<br />
die Frauen, die unter einem Post-Abortion-Syndrom<br />
leiden, wovon nur wenig gesprochen<br />
wird, um zu beten für alle, die<br />
heimatlos sind, kein Dach über dem Kopf<br />
haben und sich sehnen nach einer lebenswerten<br />
Heimat und um zu beten für alle,<br />
die Dienst in den Hospizen und auf den<br />
Palliativstationen tun, um Menschen einen<br />
lebenswürdigen Lebensabend zu schenken,<br />
damit sie nicht durch die Hand anderer,<br />
sondern gehalten von der Hand anderer<br />
den letzten Weg antreten können.<br />
Wenn wir zusammen gekommen sind,<br />
um zu beten und Gottes Wort zu hören,<br />
dann dürfen wir uns ruhig zuerst bewusst<br />
machen, dass uns nicht erst Gottes Wort<br />
und unser christlicher Glaube verpflichten,<br />
die Stimme zu erheben für das Leben,<br />
insbesondere für die Schwächsten in<br />
unserer Gesellschaft, sondern erst schon<br />
einmal die Vernunft und das natürliche<br />
Sittengesetz, das uns als Handlungsregel<br />
Bischof Dr. Rudolf Voderholzer bei einer Messe im Regensburger Dom<br />
nahelegt, mit anderen so umzugehen, wie<br />
wir selbst es für uns wünschten: die Goldene<br />
Regel. Darüber hinaus hat das Grundgesetz<br />
unseres Landes <strong>–</strong> unter dem Eindruck<br />
der Folgen einer menschenverachtenden<br />
Ideologie <strong>–</strong> im ersten Artikel festgehalten:<br />
»Die Würde des Menschen ist<br />
unantastbar. Sie zu achten und zu schützen<br />
ist Verpflichtung der staatlichen Gewalt.«<br />
In Artikel 2 heißt es: »Jeder hat das<br />
Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.<br />
Die Freiheit der Person ist unverletzlich.«<br />
(Grundgesetz der Bundesrepublik<br />
Deutschland)<br />
Diese Rechte gelten für das Leben jeder<br />
menschlichen Person vom ersten Augenblick<br />
der Empfängnis bis zu ihrem<br />
letzten Atemzug, unabhängig davon, ob<br />
die betreffende Person den ästhetischen,<br />
ökonomischen oder sonstigen Erwartungen<br />
und Vorstellungen anderer oder der<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
Gesellschaft entspricht. Jede menschliche<br />
Person ist ein Zweck an sich selbst,<br />
darf dementsprechend auch nicht anderen<br />
Interessen geopfert werden. Diese elementaren<br />
Einsichten, erarbeitet vor allem<br />
von der großen deutschen Philosophie,<br />
sind der menschlichen Vernunft evident.<br />
Und sie gehören zum Fundament unserer<br />
freiheitlichen Gesellschaft. Wir sollten<br />
sie und ihren philosophisch einsichtigen<br />
Geltungsanspruch nicht leichtfertig<br />
preisgeben und uns nicht zu früh auf die<br />
Position des Glaubens stützen. Das Thema<br />
Lebensrecht ist nicht erst ein christliches<br />
Thema, es ist ein Menschheitsthema.<br />
Es geht um das Recht, um die Anerkenntnis<br />
des Rechtes anderer, die meinem<br />
Handeln Grenzen setzen. Und es<br />
geht letzten Endes um das Funktionieren<br />
des Rechtsstaates.<br />
Wir stehen in diesem Zusammenhang<br />
vor dem Paradox, dass postnatal große<br />
und größte Anstrengungen unternommen<br />
werden für die Inklusion, für die<br />
Integration von behinderten Menschen<br />
in unsere Gesellschaft, sie teilhaben zu<br />
lassen an unserem Leben. Und ich kann<br />
hier nur allen Einrichtungen in unserem<br />
Land, den kirchlichen und den staatlichen<br />
mit ihren Tausenden von Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeitern, von Herzen<br />
danken, dass sie mithelfen, dass unsere<br />
Gesellschaft ein so menschliches Antlitz<br />
zeigt. Ja, noch nie wurde Menschen mit<br />
Behinderung so viel Fürsorge zuteil wie<br />
in unseren Tagen und in unserem Land <strong>–</strong><br />
postnatal. Pränatal haben wir gleichzeitig<br />
eine unbarmherzige und gnadenlose Exklusion<br />
und Selektion. Ich stelle die Frage:<br />
Kann man wirklich gleichzeitig Tränen<br />
der Rührung vergießen beim Verlesen<br />
eines Briefes aus dem Jahr 1943 durch<br />
einen Schauspieler mit Down-Syndrom <strong>–</strong><br />
so geschehen hier neben uns in diesem hohen<br />
Hause am 27. Januar <strong>2017</strong>, dem Tag<br />
des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus,<br />
und gleichzeitig schweigen<br />
über die pränatale Selektion unserer<br />
Tage? Mindestens neun von zehn Trisomie<br />
21 diagnostizierte Embryos dürfen<br />
das Licht der Welt nicht mehr erblicken<br />
in unserem Land. Von einem Augenblick<br />
zum anderen scheint sich die<br />
Rechtsposition einer menschlichen Person<br />
um einhundertachtzig Grad zu verändern.<br />
Ist das nicht irrationale Willkür?<br />
Ich kann in diesem Zusammenhang nur<br />
unterstreichen, was der Vorsitzende der<br />
Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard<br />
Kardinal Marx im Grußwort zum diesjährigen<br />
Marsch für das Leben geschrieben<br />
hat: »Die modernen vorgeburtlichen Diagnosemethoden<br />
entwickeln sich rasant.<br />
So wird es in unserer Gesellschaft zunehmend<br />
›normal‹, Kinder während der<br />
Schwangerschaft auf ihre Gesundheit zu<br />
testen. Den vorgeburtlichen diagnostischen<br />
Möglichkeiten entsprechen jedoch<br />
nicht immer auch therapeutische Handlungsoptionen,<br />
so dass nicht selten eine<br />
Abtreibung an die Stelle fehlender Therapiemöglichkeiten<br />
gestellt wird. Dem<br />
gilt es klar zu widersprechen.«<br />
Wir sind gekommen, denen eine Stimme<br />
zu geben, die ihr Selbstbestimmungsrecht<br />
über ihre Leiblichkeit und über ihre<br />
Sexualität noch nicht selbst zum Ausdruck<br />
bringen können. Sie brauchen uns.<br />
Die biblische Botschaft, auf die sich<br />
unser christlicher Glaube stützt, hat wesentlich<br />
zur Erkenntnis und zur vertieften<br />
Begründung der unveräußerlichen Rechte<br />
der menschlichen Person beigetragen.<br />
Wenn jeder Mensch ein Bild Gottes ist,<br />
berufen zum Dialog und zur Gemeinschaft<br />
mit ihm, hat er auch teil an seiner<br />
göttlichen Würde. Wenn Gott in seiner<br />
»Das Leben ist Schönheit,<br />
bewundere es!«<br />
Menschwerdung unser aller Menschenbruder<br />
geworden ist, unsere menschliche<br />
Natur angenommen hat, hat er damit<br />
den Menschen erhöht und geadelt.<br />
Jeden Menschen. Die Schrifttexte unserer<br />
ökumenischen Andacht jetzt hier und<br />
heute haben uns zwei herrliche Details der<br />
göttlichen Wertschätzung des Menschseins<br />
vor Augen gestellt. Psalm 139 beschreibt<br />
das Heranwachsen des Kindes<br />
im Mutterleib als göttliches Kunstschaffen:<br />
»Du hast mein Inneres geschaffen,<br />
/ mich gewoben im Schoß meiner Mutter.<br />
/ Ich danke Dir, dass du mich so wunderbar<br />
gestaltet hast.« Und weiter geht es<br />
mit der Vorstellung, dass jedes menschliche<br />
Wesen vom ersten Augenblick seines<br />
Daseins bei Gott Ansehen hat, weil<br />
Er auf ihn schaut: »Als ich geformt wurde<br />
im Dunkeln / kunstvoll gewirkt in den<br />
Tiefen der Erde, / waren meine Glieder<br />
dir nicht verborgen. / Deine Augen sahen,<br />
wie ich entstand, …«<br />
Unser Ja zum Leben ist der Mitvollzug<br />
des göttlichen Ja zum Leben, ist Antwort<br />
auf sein Schöpfungshandeln. In diesem<br />
Glauben wird in der ganzen jüdischchristlichen<br />
Tradition das Kind als ein Segen<br />
betrachtet, und jede Geburt als Beweis,<br />
dass Gott ein Freund des Lebens ist.<br />
Mit Papst Franziskus rufe ich Ihnen zu:<br />
»Jedes Leben ist unantastbar! Bringen wir<br />
die Kultur des Lebens als Antwort auf die<br />
Logik des Wegwerfens und auf den demographischen<br />
Rückgang voran; stehen<br />
wir zusammen und beten wir gemeinsam<br />
für die Kinder, deren Leben durch einen<br />
Schwangerschaftsabbruch bedroht ist, wie<br />
auch für die Menschen, die am Ende des<br />
Lebens angelangt sind <strong>–</strong> jedes Leben ist<br />
unantastbar! <strong>–</strong>, dass niemand alleine gelassen<br />
werde und die Liebe den Sinn des<br />
Lebens verteidige. Rufen wir die Worte<br />
Mutter Teresas in Erinnerung: ›Das Leben<br />
ist Schönheit, bewundere es; das Leben<br />
ist Leben, verteidige es!‹ sei es beim<br />
Kind, das kurz vor der Geburt steht, sei<br />
es bei dem Menschen, der dem Tod nahe<br />
ist: jedes Leben ist unantastbar!«<br />
Unser Herr Jesus, der selbst als hilfsbedürftiges<br />
und wehrloses Kind in der<br />
Krippe geboren wurde, hat noch einmal<br />
in besonderer Weise das Kindsein ins Zentrum<br />
unserer Aufmerksamkeit gerückt.<br />
In einer Zeit, in der das »Kind-sein« als<br />
»noch-nicht-erwachsen-sein« galt, hat er<br />
die Haltung der Kindlichkeit den Erwachsenen<br />
zum Vorbild gemacht. »Wenn ihr<br />
nicht werdet wie die Kinder.« Ohne das<br />
Kindsein naiv idealisieren zu wollen, gilt<br />
doch: Kindlich sein im guten Sinne, das<br />
bedeutet: Staunen können, große Augen<br />
machen können über die kleinen und großen<br />
Wunder dieser Welt, sich gerne beschenken<br />
lassen und nicht gleich auf Revanche<br />
(Rache!) sinnen (wie die Erwachsenen),<br />
die Abhängigkeit vom Größeren<br />
(von Papa und Mama, Oma und Opa)<br />
anerkennen, sich gerne tragen lassen im<br />
Wissen, dadurch nicht klein, sondern im<br />
Aufblick selbst wahrhaft groß zu werden.<br />
Der Geist schenke uns allen immer wieder<br />
diese Haltung echter Kindlichkeit, die<br />
wir <strong>–</strong> meiner Erfahrung nach <strong>–</strong> oft gerade<br />
noch einmal auch bei Menschen mit einer<br />
Behinderung in besonders herzlicher<br />
Weise erleben können. Der Herr sagt uns,<br />
wir haben es im Evangelium vorhin gehört,<br />
der Größte im Himmelreich muss<br />
sein wie ein Kind, das dankbar die Gnade<br />
der Erlösung annimmt. Und schließlich<br />
fügt er noch hinzu: »Wer ein solches<br />
Kind um meinetwillen aufnimmt, der<br />
nimmt mich auf.« (Mt 18,5) Hier klingt<br />
schon die Verheißung des großen Gerichtsgleichnisses<br />
von Mt 25 auf: »Was<br />
ihr dem geringsten meiner Schwestern<br />
und Brüder getan habt, das habt ihr mir<br />
getan« <strong>–</strong> die Identifizierung des Herrn<br />
mit den Schwachen und Hilfsbedürftigen<br />
gilt in besonderer Weise im Blick<br />
auf die Kinder. Dem wissen wir uns verpflichtet,<br />
und bei all diesem unseren Tun<br />
wissen wir uns dem Herrn in besonderer<br />
Weise nahe. »Wer ein solches Kind um<br />
meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich<br />
auf.« (Mt 18,5) Amen.<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3 23
M E D I Z I N<br />
Von Risiken und<br />
Nebenwirkungen<br />
Überall in der Medizin werden Patienten sorgfältig über Risiken und Nebenwirkungen aufgeklärt, nur<br />
nicht in der Reproduktionsmedizin. Warum das so ist und welche Bedeutung dem<br />
deutschen Embryonenschutzgesetz auch deshalb zukommt, behandelt der nachfolgende Beitrag.<br />
Von Professor Dr. med. Christoph von Ritter<br />
24<br />
Der Kinderwunsch ist ein elementares<br />
menschliches Bedürfnis.<br />
Die Sorge, dass der Kinderwunsch<br />
unerfüllt bleibt, beschäftigt<br />
die Menschen seit eh und je. Im europäischen<br />
Raum nimmt der unerfüllte Kinderwunsch<br />
zu. Schätzungen gehen von<br />
zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung aus.<br />
Rund 400 Kinderwunschkliniken bemühen<br />
sich allein in Deutschland um kinderlose<br />
Paare. Diese Kliniken können unter<br />
anderem mit der medikamentösen Behandlung<br />
eines Prolaktinoms, der hormonellen<br />
Behandlung des polyzystischen<br />
Ovars oder auch der chirurgischen Behandlung<br />
der Endometriose helfen. Bei<br />
Letzterer kommt es zu einer Versprengung<br />
von Schleimhaut der Gebärmutter<br />
in den Bauchraum. Auch den Männern<br />
kann und muss bei Infertilität häufig mit<br />
unterschiedlichen Methoden geholfen<br />
werden. Vielfältige psychosoziale Beratungsmöglichkeiten<br />
bestehen. Ganz generell<br />
gilt, dass ein wichtiger Grund für<br />
die Zunahme des unerfüllten Kinderwunsches<br />
die gesellschaftlich bedingte Verlagerung<br />
der ersten Schwangerschaft ins<br />
höhere Lebensalter ist. Derzeit bekommen<br />
in Deutschland Frauen im Mittel<br />
erst mit rund 29 Jahren ihr erstes Kind.<br />
Ungeachtet der vielen Möglichkeiten,<br />
auf einen unerfüllten Kinderwunsch einzuwirken,<br />
wird heutzutage mit der Behandlung<br />
der Kinderlosigkeit fast ausschließlich<br />
die sogenannte Reproduktionsmedizin<br />
assoziiert. Alleine der Name<br />
Re-»Produktions«-Medizin verrät<br />
viel. Statt als Geschenk, wird das ersehnte<br />
Kind als Produkt einer medizinischen<br />
Leistung definiert. Aus einem Kinderwunsch<br />
wird schnell die Bestellung eines<br />
Wunschkindes. Die Reproduktionsmedizin<br />
weckt Erwartungen, dass ein solches<br />
Wunschkind mit beliebigen Eigenschaften<br />
ausgestattet werden kann, ganz<br />
in der Art eines Designerbabys. Vor diesem<br />
Hintergrund behandelte auch die<br />
diesjährige ökumenische »Woche für das<br />
Leben« mit dem Motto »Kinderwunsch-<br />
Wunschkind-Designerbaby« die grundlegenden<br />
medizinischen, gesellschaftlichen<br />
und ethischen Probleme der modernen<br />
Fortpflanzungstechniken.<br />
Im Jahr 1990 wurde in Deutschland<br />
das Embryonenschutzgesetz (ESchG)<br />
verabschiedet. Es handelt sich um ein<br />
»Statt als Geschenk, wird das<br />
Kind als Produkt definiert.«<br />
in mehrerer Hinsicht bemerkenswertes<br />
Gesetzeswerk. In erstaunlich weiser Voraussicht<br />
wurden die vielfältigen Möglichkeiten,<br />
aber auch Risiken der modernen<br />
Fortpflanzungstechniken beschrieben und<br />
beurteilt. International wird das ESchG<br />
häufig zitiert und diskutiert und respektvoll<br />
als Reaktion der Deutschen auf ihre<br />
leidvollen Erfahrungen mit der eugenischen<br />
Ideologie der Nazizeit angesehen.<br />
In Deutschland wird das Gesetz dagegen<br />
häufig als veraltet und verbesserungswürdig<br />
heftig kritisiert oder von den Reproduktionsmedizinern<br />
einfach ignoriert.<br />
Das ESchG beschert Deutschland eine<br />
erfreulich klare Festlegung zum Beginn<br />
des Lebens eines Menschen mit der<br />
Verschmelzung von Samen- und Eizelle<br />
(§ 8 Nr.1 EschG): »Als Embryo im Sinne<br />
dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete,<br />
entwicklungsfähige menschliche<br />
Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung<br />
an (...).« In gleicher Weise<br />
legte sich die Große Kammer des Europäischen<br />
Gerichtshofs (EuGH) im Fall<br />
C-34/10 »Brüstle vs. Greenpeace« fest<br />
und entschied, dass die Menschenwürde<br />
des Embryos zu schützen und der Embryo<br />
keiner Patentierung zugänglich sei.<br />
Die bisher erfolgreichste europäische<br />
Bürgerinitiative »One of us« hat auf der<br />
Basis der Rechtsprechung des EuGH mit<br />
über 1,7 Millionen Unterschriften einen<br />
durchgehenden Schutz des menschlichen<br />
Lebens vom Zeitpunkt der Gametenfusion<br />
an in allen Mitgliedsländern<br />
der EU gefordert. Unabhängig von der<br />
Gesetzeslage gibt es naturwissenschaftlich<br />
nur eine belastbare Definition für<br />
den Beginn des menschlichen Lebens.<br />
Alle sogenannten »SKIP-Kriterien« für<br />
den Beginn unseres Lebens sind mit der<br />
Verschmelzung der Samen- und Eizelle<br />
erfüllt: die eindeutige Zugehörigkeit<br />
zur Spezies Mensch, die ungebrochene<br />
Kontinuität bis hin zum erwachsenen<br />
Menschen, die Entstehung einer neuen,<br />
einmaligen Identität und die Potentialität<br />
des Embryos, sich zum erwachsenen<br />
Menschen zu entwickeln. Trotz aller juristischen<br />
und naturwissenschaftlichen<br />
Festlegungen des genauen Zeitpunkts,<br />
zu dem ein menschliches Leben beginnt,<br />
wird in der öffentlichen Diskussion dieser<br />
Zeitpunkt häufig als vollständig ungeklärt<br />
bezeichnet. Nicht selten sekundär moti-<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
gibt, erwirbt oder verwendet, wird mit<br />
Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder<br />
mit Geldstrafe bestraft (...). (3) Der Versuch<br />
ist strafbar.«<br />
Das Verbot einer genetischen Untersuchung<br />
des Embryos vor dem Transfer<br />
(§ 3 EschG) besteht zwar weiterhin, wurde<br />
aber vom Gesetzgeber im Jahr 2011<br />
mit der Erlaubnis zur sogenannten »Präimplantationsdiagnostik«<br />
in Einzelfällen<br />
relativiert. Solche Entscheidungen haben<br />
DANIEL RENNEN<br />
fertile Eizellen vorhält, sind nur mit gespendeten<br />
Eizellen Erfolgsraten in einem<br />
einigermaßen akzeptablen Bereich<br />
von rund 30 Prozent zu erzielen.<br />
Im ESchG ist ein Verbot der Eizellspende<br />
in Deutschland festgelegt (§ 1<br />
Nr. 1, II ESchG). Argumente gegen dieses<br />
Verbot beinhalten den Vorwurf einer<br />
Geschlechterungerechtigkeit, weil<br />
ja die Samenspende erlaubt sei und eine<br />
Benachteiligung von deutschen Ehepaaren<br />
im internationalen Vergleich den<br />
belastenden »Fertilitätstourismus« notwendig<br />
mache. Die Kuriosität, die Umgehung<br />
deutscher Gesetze als Benachteiligung<br />
der Gesetzesbrecher zu beklagen,<br />
wurde schon oben erwähnt. Für die<br />
Diskussion von größerer Bedeutung ist,<br />
»›Eizellvermarktung‹ wäre wohl<br />
die zutreffendere Bezeichnung.«<br />
Das ESchG behindert die Reproduktionsmedizin im internationalen Wettbewerb<br />
viert, wird eine große Zahl anderer willkürlicher<br />
Festlegungen vorgeschlagen:<br />
14 Tage, Nidation, 28 Tage, drei Monate<br />
oder ganz generell erst, wenn Selbstbestimmung<br />
zu erkennen ist, wie es etwa<br />
der Utilitarist Peter Singer postuliert und<br />
damit sogar das Lebensrecht des Neugeborenen<br />
relativiert. Mit der Festlegung<br />
im ESchG bleibt Deutschland der leidvolle<br />
Kampf um einen Konsensus in Sachen<br />
»Personhood«, der in unterschiedlichen<br />
Staaten der USA derzeit ausgefochten<br />
wird, erspart.<br />
Eindeutig verboten ist im ESchG die<br />
Erzeugung von mehr Embryonen, als<br />
auf die Frau übertragen werden sollen,<br />
und damit jede Art von Vorratshaltung<br />
(§1 Nr. 5 ESchG). Damit eng verbunden<br />
ist das Verbot zur Befruchtung zu anderen<br />
Zwecken als der Herbeiführung einer<br />
Schwangerschaft (§ 1 Nr. 2, II, § 2<br />
ESchG). Einigermaßen kurios beklagen<br />
sich trotz dieser klaren Verbote die Reproduktionsmediziner<br />
häufig in der deutschen<br />
Öffentlichkeit über das ungelöste<br />
Problem »überzähliger Embryonen«, die<br />
man gerne für Forschungszwecke »verbrauchen«<br />
würde. Hellsichtig haben die<br />
Gesetzgeber dieses Begehren vorausgeahnt<br />
und im § 2 ESchG schon beim Versuch<br />
der missbräuchlichen Verwendung<br />
von Embryonen mit einer Freiheitsstrafe<br />
von bis zu drei Jahren gedroht: »ESchG §<br />
2: Missbräuchliche Verwendung menschlicher<br />
Embryonen (1) Wer einen extrakorporal<br />
erzeugten oder einer Frau vor<br />
Abschluss seiner Einnistung in der Gebärmutter<br />
entnommenen menschlichen<br />
Embryo veräußert oder zu einem nicht<br />
seiner Erhaltung dienenden Zweck ab-<br />
natürlich die Bemühungen interessierter<br />
Kreise unterstützt, das Gesetz nach Belieben<br />
auszulegen. Man geht so weit, den<br />
vom Gesetzgeber beabsichtigten privilegierten<br />
Schutz des ungeborenen Menschen<br />
mit dem Argument zu kritisieren,<br />
dass das Gesetz einen »Fertilitätstourismus«<br />
ins Ausland notwendig mache. Die<br />
Möglichkeit, vernünftige Gesetze einfach<br />
strikt zu befolgen, wird in der munteren<br />
Diskussion um den »Fertilitätstourismus«<br />
nur ganz zuletzt in Erwägung gezogen.<br />
Warum wird das ESchG mit solcher<br />
Energie attackiert? Nun, ganz eindeutig<br />
behindert das Gesetz die Reproduktionsmedizin<br />
in Deutschland im internationalen<br />
Wettbewerb. Zwei Maßnahmen,<br />
die für die Fertilitätsindustrie besonders<br />
wichtig und lukrativ, in Deutschland<br />
aber verboten sind, sind in diesem<br />
Zusammenhang von besonderer Bedeutung:<br />
die Eizellspende und die Leihmutterschaft.<br />
Für die Reproduktionsmediziner ist<br />
die Verfügbarkeit von Eizellen von jungen<br />
Spenderinnen von zentraler Bedeutung.<br />
Wegen der schwindenden Fertilitätsreserve,<br />
die bei Frauen ab dem Alter<br />
von 35 Jahren immer weniger gesunde,<br />
dass die Eizellspende in Ländern, in denen<br />
sie erlaubt ist, einer zunehmenden<br />
Kritik gerade von Frauen ausgesetzt ist.<br />
Die Kritik zielt auf die Risiken und Nebenwirkungen<br />
der Eizellspende und den<br />
rechtsfreien Raum, in dem sich die jungen<br />
Eizellspenderinnen bewegen. Ganz<br />
konkret wird die mangelnde Aufklärung<br />
zu den Nebenwirkungen der extrem starken<br />
Hormongabe kritisiert, die zur Follikelstimulation<br />
notwendig ist. Die Medikamente<br />
sind für die Eizellspende nicht<br />
zugelassen. Die standardmäßig für jedes<br />
Medikament geforderten Langzeitstudien<br />
fehlen. Haftungsfragen und Kostenübernahme<br />
bei Komplikationen sind weitgehend<br />
ungeklärt. Weiterhin besteht Unklarheit,<br />
inwieweit der Spenderin eine<br />
dauerhafte Anonymität garantiert werden<br />
kann und ob eine solche überhaupt<br />
angesichts des Rechts eines jeden, seine<br />
genetischen Vorfahren zu kennen,<br />
gewährt werden darf. Dieses Recht auf<br />
Kenntnis der eigenen Abstammung ergibt<br />
sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht<br />
und ist durch die UN-Kinderrechtskonvention<br />
geschützt. Belastend für<br />
eine Spenderin ist weiterhin die Pflicht,<br />
ihr persönliches Profil mit vielen privaten<br />
Details öffentlich zu machen. Nur so<br />
kann die gespendete Eizelle auf dem Anbietermarkt<br />
die volle Attraktivität entfalten<br />
und für den Reproduktionsmediziner<br />
die höchste Rendite erzielen. Schließlich<br />
wird es als trügerisch empfunden, die Eizellspende<br />
mit der karitativen Idee zu bewerben,<br />
die Spende werde ausschließlich<br />
zur Erfüllung eines Kinderwunsches ver-<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3 25
M E D I Z I N<br />
Schutz im Zusammenhang mit der Eizellspende.<br />
Trotz derart starker und gut<br />
begründeter Kritik an der Praxis der Eizellspende<br />
im Ausland wird hierzulande<br />
eine Erlaubnis der Eizellspende speziell<br />
von Frauen lautstark gefordert. Man muss<br />
hoffen, dass die wenig altruistischen, rein<br />
ökonomischen Interessen der Reproduktionsmedizin<br />
in diesem Zusammenhang<br />
nicht übersehen werden.<br />
DANIEL RENNEN<br />
ESchG. Leihmutterschaft ist konsequenterweise<br />
in Deutschland nach ESchG §<br />
1 Abs. 1 Nr. 7 verboten. Auch die Vermittlung<br />
einer Leihmutter ist strafbar.<br />
Der Gesetzgeber fand es wichtig, dass für<br />
ein Kind Klarheit bezüglich seiner Mutter<br />
besteht und eine Frau ihren Körper<br />
nicht zum Austragen eines Kindes gegen<br />
Bezahlung verleiht.<br />
Die Rechtslage ist aber in Europa derzeit<br />
sehr unterschiedlich und selbst in<br />
Deutschland verwirrend und komplex.<br />
So hat der BGH in einer richtungsweisenden<br />
Entscheidung (BGH, Beschl. v.<br />
»Es ist leicht, den verzweifelten<br />
Kinderwunsch auszubeuten.«<br />
Mit der Leihmutterschaft gerät ein eherner gesellschaftlicher Konsens in Gefahr<br />
wendet, während tatsächlich viele der Eizellen<br />
nach der Befruchtung lukrativ für<br />
Forschungszwecke »verbraucht« werden.<br />
»Eizellvermarktung« statt »Eizellspende«<br />
wäre wohl vor diesem Hintergrund<br />
die zutreffendere Bezeichnung.<br />
Die Situation einer Eizellspenderin<br />
kann tragisch enden und sie selbst in die<br />
Not eines unerfüllten Kinderwunsches<br />
geraten: wenn sie nämlich nach einer Eizellspende<br />
zur Finanzierung ihres Studiums<br />
und der anschließend meist erfolgreichen<br />
und längeren beruflichen Tätigkeit<br />
ihren eigenen Kinderwunsch erfüllen<br />
will, ist ihre Fertilitätsreserve möglicherweise<br />
schon aufgebraucht. In dieser Situation<br />
ist sie gezwungen, für sich selbst<br />
eine Eizellspenderin zu finden und teuer<br />
zu finanzieren. Sie muss dann hoffen,<br />
dass sie trotz der in ihrem Alter niedrigen<br />
Erfolgsrate von der Reproduktionsmedizin<br />
ihren Kinderwunsch erfüllt bekommt.<br />
Die Ähnlichkeit der Kollektive<br />
ist tatsächlich eindrucksvoll: Die große<br />
Mehrzahl der Kunden der Reproduktionsmedizin<br />
in den USA sind weiße Akademikerinnen,<br />
genauso wie die große Mehrheit<br />
der Eizellspenderinnen. Die autologe<br />
Eizellspende, das »Social Freezing«, das<br />
von großen US-Unternehmen wie Apple<br />
und Facebook bei dem gleichen Kollektiv<br />
erfolgreicher weißer Akademikerinnen<br />
beworben wird, kann natürlich<br />
ebenfalls in die oben beschriebene tragische<br />
Situation führen.<br />
Angesichts der offenen Fragen bei der<br />
Eizellspende wundert es überhaupt nicht,<br />
dass sich in den USA besonders bei den<br />
Frauen heftiger ziviler Widerstand regt.<br />
Blogs wie »Hands of my Ovaries« und<br />
der preisgekrönte Film »Eggsploitation«<br />
fordern deutlich mehr Aufklärung und<br />
Wichtiger und besonders lukrativer<br />
Teil der modernen Fertilitätsindustrie ist<br />
die Bereitstellung von Leihmüttern, den<br />
sogenannten Surrogat- bzw. Ersatzmüttern.<br />
Mit der Leihmutterschaft gerät ein<br />
eherner gesellschaftlicher Konsens in Gefahr:<br />
»Mater semper certa est«: die ungeteilte<br />
Mutterschaft. Schutz der »ungeteilten<br />
Mutterschaft« war eine wichtige<br />
Triebfeder für die Verabschiedung des<br />
I N F O<br />
10.12.2014, XII ZB 463/13) einem homosexuellen<br />
Paar die Elternschaft zugesprochen,<br />
nachdem sie das in Kalifornien<br />
»bestellte« Kind mit schriftlichem Einverständnis<br />
der Leihmutter nach Deutschland<br />
gebracht hatten. Für das Gericht war es<br />
entscheidend, dass sich die Mutter als ledig<br />
bezeichnete. Es postulierte, dass zwischen<br />
dem »Besteller« und der von ihm<br />
bezahlten Leihmutter ein eheähnliches<br />
Verhältnis bestanden habe und der »freiwillige«<br />
Verzicht der Leihmutter auf ihr<br />
Kind nicht nur das Sorgerecht, sondern<br />
auch die alleinige Elternschaft des »Bestellers«<br />
und genetischen Vaters zweifelsfrei<br />
begründe. Im Rahmen der »Stiefkindadoption«<br />
war es im Weiteren möglich,<br />
eine komplette Elternschaft der beiden<br />
Väter zu etablieren. Ein ordentliches<br />
Maß an Naivität der richterlichen Ent-<br />
SKIP-Argumente<br />
In der Debatte um den moralischen Status von Embryonen werden vier klassische Argumente<br />
immer wieder herangeführt und diskutiert. Sie werden auch als SKIP-Argumente bezeichnet:<br />
S <strong>–</strong> Das Speziesargument: Da Embryonen als Mitglieder der Spezies Homo sapiens sapiens<br />
Menschen sind, besitzen sie Würde.<br />
K <strong>–</strong> Das Kontinuitätsargument: Embryonen entwickeln sich kontinuierlich, d. h. ohne moralrelevante<br />
Einschnitte, zu erwachsenen Menschen, die Würde besitzen.<br />
I <strong>–</strong> Das Identitätsargument: Embryonen sind in moralrelevanter Hinsicht identisch mit erwachsenen<br />
Menschen, die Würde besitzen.<br />
P <strong>–</strong> Das Potentialitätsargument: Embryonen haben das Potential, Menschen zu werden, und<br />
dieses Potential ist uneingeschränkt schützenswert.<br />
Quelle: Gregor Damschen / Dieter Schönecker (Hrsg.): Der moralische Status menschlicher<br />
Embryonen. Verlag Walter De Gruyter, Berlin 2002. 332 Seiten.<br />
26<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
DANIEL RENNEN<br />
scheidung lässt sich unter anderem auch<br />
daran ablesen, dass vollständig unkritisch<br />
und ungeprüft von einem »Spontanabort«<br />
des ungeborenen Zwillings des Kindes in<br />
der 30. Schwangerschaftswoche (SSW)<br />
ausgegangen wird. Es ist kein vertieftes<br />
Spezialwissen notwendig, um zu wissen,<br />
dass Spontanaborte von Zwillingen nach<br />
der zwölften SSW eine extreme Rarität,<br />
die tragische selektive Tötung eines Zwillingskindes<br />
von Leihmüttern aber häufig<br />
verlangt wird, um den vertraglich fixierten<br />
Anspruch des »Bestellers« auf nur ein<br />
Kind zu befriedigen.<br />
Ganz anders als der BGH entschied<br />
am 24. Januar <strong>2017</strong> die Große Kammer<br />
des EuGH in Sachen »Paradiso<br />
und Campanelli vs. Italien« (Beschwerde<br />
Nr. 25358/12). Es bestätigte die Entscheidung<br />
der italienischen Richter, einem<br />
»Besteller«-Ehepaar das in Russland<br />
von einer Leihmutter erworbene<br />
Kind zu entziehen. Begründung: Mit der<br />
Beauftragung der Leihmutter sei nationales<br />
Recht gebrochen worden. Um das<br />
Kindeswohl nicht zu gefährden, wurde<br />
das Kind in einem gesetzeskonformen<br />
Adoptionsverfahren neuen Pflegeeltern<br />
zugesprochen.<br />
Die Reproduktionsmedizin leidet an<br />
einer massiven sozialen Asymmetrie mit<br />
gravierender Benachteiligung der sozial<br />
Schwachen zugunsten einer privilegierten<br />
Oberschicht. Nicht selten wird<br />
die finanzielle Not von Frauen im Rahmen<br />
der Leihmutterschaft rücksichtslos<br />
ausgenutzt. Die Verträge, die mit Leihmüttern<br />
abgeschlossen werden, entmündigen<br />
die Frau in einer inakzeptablen Art<br />
und Weise. So muss sich die Leihmutter<br />
nicht nur zu einem bestimmten Lebensstil<br />
inklusive sexueller Enthaltsamkeit<br />
verpflichten, sondern auch ihr Einverständnis<br />
zur Tötung des ungeborenen<br />
Kindes im Rahmen einer Abtreibung im<br />
Falle einer vermuteten Erkrankung geben.<br />
Mehr noch muss die Leihmutter<br />
einer sogenannten »selektiven Reduktion«<br />
eines ihrer gesunden Kinder bis<br />
kurz vor der Geburt zustimmen. Mehrlingsschwangerschaften<br />
kommen in der<br />
Reproduktionsmedizin in bis zu 30 Prozent<br />
wegen der üblichen Implantation<br />
von mehreren Embryonen vor. Etwa 20<br />
Prozent davon sind Zwillingsschwangerschaften.<br />
Eine aktuelle Studie berichtet,<br />
dass Zwillingsschwangerschaften 30 Prozent<br />
der Tötungen im Rahmen der »selektiven<br />
Reduktion« ausmachen (Evans,<br />
Fetal Diagn Ther 2014;35:69-82). Ohne<br />
jede medizinische Notwendigkeit,<br />
wie etwa einer Gefährdung von Mutter<br />
oder Kindern, wird hier also eine gezielte<br />
Selektion von einem der zwei gesunden,<br />
ungeborenen Kinder mittels einer<br />
Kaliumchlorid-Injektion ins Herz vorgenommen.<br />
Diese Tötung findet ausschließlich<br />
zum Zweck der Erfüllung des<br />
unsittlichen »Baby-Take-Home«-Vertrages<br />
zwischen »Besteller« und Reproduktionsmediziner<br />
statt.<br />
»Es ist leicht, den verzweifelten Kinderwunsch<br />
von Menschen auszubeuten,<br />
und wir haben die Technologie dafür«,<br />
darf man den berühmten Reproduktionsmediziner<br />
Sir Robert Winston, Professor<br />
am Imperial College, London, zitieren<br />
(Daily Mail, 01.05.2007). In der Tat<br />
locken in der Reproduktionsmedizin hohe<br />
Profite. Es kann getrost von einer Fertilitätsindustrie<br />
gesprochen werden. Ein<br />
Geschäftsvolumen von 24 Milliarden US-<br />
Dollar wird diesem Wirtschaftszweig für<br />
das Jahr 2022 prognostiziert. Eine mächtige<br />
Lobby sorgt in Politik und Gesellschaft<br />
dafür, Hindernisse beim unbegrenzten<br />
Einsatz der Fortpflanzungstechniken<br />
möglichst gering zu halten. Es hat sich<br />
bewährt, Bedenken gegen einen Missbrauch<br />
der Techniken als frauenfeindlich<br />
und herzlos angesichts eines unerfüllten<br />
Kinderwunsches zu stigmatisieren.<br />
Tatsächlich finden die Sorgen der<br />
Frauen und Kinder in der Reproduktionsmedizin<br />
aber wenig Beachtung. Nebenwirkungen,<br />
niedrige Erfolgsrate, Ausbeutung<br />
im Rahmen von Leihmutterschaft<br />
und der Eizellspende, finanzielle<br />
und psychische Belastung werden unzureichend<br />
berücksichtigt und nur selten<br />
thematisiert. Vollständig unberücksichtigt<br />
scheint das Anliegen des ungeborenen<br />
Kindes zu bleiben. Weder wird der<br />
Verletzung der ungeteilten Mutterschaft<br />
Die Verträge entmündigen die Frau in einer inakzeptablen Art und Weise<br />
noch dem Recht auf Kenntnis der genetischen<br />
Eltern ausreichend Rechnung getragen.<br />
Mehr noch: Um vertragsgemäß<br />
nur ein gesundes Baby dem finanzstarken<br />
»Besteller« liefern zu können, ist man sogar<br />
zur Tötung von ungeborenen Babys<br />
bis kurz vor der Geburt bereit. Absurd!<br />
Behauptet man doch, dabei zu helfen, einen<br />
Kinderwunsch zu erfüllen.<br />
Zusammenfassend muss eine zunehmende<br />
Maßlosigkeit im Bereich der Reproduktionsmedizin<br />
festgestellt werden.<br />
Schwerwiegende Nebenwirkungen für<br />
alle Beteiligten werden in Kauf genommen,<br />
nicht selten bleiben vernünftige medizinische,<br />
gesellschaftliche und ethische<br />
Bedenken unberücksichtigt. Das ESchG<br />
hat in kluger Vorsicht schon 1990 einen<br />
Schutz vor einem »Missbrauch der<br />
Fortpflanzungstechniken« ins Gesetzbuch<br />
geschrieben. Diesen Schutz für die<br />
Schwächsten in unserer Gesellschaft gilt<br />
es zu verteidigen!<br />
I M P O R T R A I T<br />
Prof. Dr. Christoph von Ritter<br />
Professor Dr. med. Christoph von Ritter,<br />
PhD ist Chefarzt für Innere Medizin an<br />
der RoMed Klinik<br />
Prien am Chiemsee<br />
und Dozent an<br />
der Ludwig-Maximilians-Universität<br />
München. Er ist in<br />
nationalen und internationalen<br />
Organisationen zu Fragen<br />
der Bioethik tätig.<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3 27
D O K U M E N T AT I O N<br />
Prävention statt Unterstützung<br />
Anlässlich der umstrittenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. LF Nr. 122, 2/<strong>2017</strong>,<br />
S. 36) erinnert der Deutsche Ethikrat an seine Ad-hoc-Empfehlung »Zur Regelung der<br />
Suizidbeihilfe in einer offenen Gesellschaft« vom 18. Dezember 2014.<br />
»<strong>LebensForum</strong>« dokumentiert nachfolgend ungekürzt die neuerliche Stellungnahme des Gremiums,<br />
das Bundesregierung und Parlament in bioethischen Fragen berät.<br />
28<br />
Berlin, 1. Juni <strong>2017</strong><br />
Der Umgang mit der Beihilfe zum Suizid<br />
gehört zu den meistdiskutierten ethischen<br />
Problemen der jüngsten Vergangenheit<br />
und ist auch vom Deutschen Ethikrat<br />
bereits thematisiert worden. In seiner Adhoc-Empfehlung<br />
vom 18. Dezember 2014<br />
(»Zur Regelung der Suizidbeihilfe in einer<br />
offenen Gesellschaft«) hat er sich für eine<br />
gesetzliche Stärkung der Suizidprävention<br />
ausgesprochen und gleichzeitig unterstrichen,<br />
dass im freiheitlichen Verfassungsstaat<br />
keine Rechtspflicht zum Leben besteht<br />
und deshalb auch Suizid nicht abstrakt-generell<br />
als Unrecht zu qualifizieren<br />
ist. Eine spezielle, etwa professionsbezogene<br />
gesetzliche Regulierung der Suizidbeihilfe<br />
lehnte die Mehrheit des Deutschen<br />
Ethikrates mit der Begründung ab, auf<br />
diese Weise würden gleichsam »erlaubte<br />
Normalfälle« einer Suizidbeihilfe definiert.<br />
Betont wurde darüber hinaus, dass<br />
eine Suizidbeihilfe, die nicht individuelle<br />
Hilfe in tragischen Ausnahmesituationen,<br />
sondern wählbares Regelangebot von<br />
Spaltet auch den Ethikrat: das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts<br />
Ärzten oder speziellen Vereinen ist, Gefahr<br />
läuft, den gesellschaftlichen Respekt<br />
vor dem Leben zu schwächen, fremdbestimmte<br />
Einflussnahmen in Situationen<br />
prekärer Selbstbestimmung zu begünstigen<br />
sowie Anstrengungen der Suizidprävention<br />
zu konterkarieren. Der Deutsche<br />
Ethikrat sprach sich dementsprechend<br />
mehrheitlich für ein »Verbot der Suizidbeihilfe<br />
sowie ausdrücklicher Angebote dafür,<br />
wenn sie auf Wiederholung angelegt<br />
sind und öffentlich erfolgen«, aus. Unter<br />
anderem mit Verweis auf diese Stellungnahme<br />
hat der Deutsche Bundestag Ende<br />
2015 das Strafgesetzbuch um eine Regelung<br />
zur Strafbarkeit der »geschäftsmäßigen<br />
Förderung der Selbsttötung« ergänzt<br />
(§ 217 StGB n. F.).<br />
In seinem Urteil vom 2. März <strong>2017</strong> (Az.:<br />
BVerwG 3 c 19.15) hat nun das Bundesverwaltungsgericht<br />
die Auffassung vertreten,<br />
das allgemeine Persönlichkeitsrecht<br />
aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG<br />
umfasse »auch das Recht eines schwer und<br />
unheilbar Kranken Menschen, zu entscheiden,<br />
wie und zu welchem Zeitpunkt sein<br />
DANIEL RENNEN / REHDER MEDIENAGENTUR<br />
Leben enden soll, vorausgesetzt, er kann<br />
seinen Willen frei bilden und entsprechend<br />
handeln« (Rn. 24). Für den Fall<br />
einer »extremen Notlage« folge hieraus<br />
ein Anspruch auf Erteilung einer Erlaubnis<br />
zum Erwerb von Natrium-Pentobarbital<br />
zum Zweck der Selbsttötung (Rn. 32).<br />
Diese Entscheidung ist nach Auffassung<br />
der Mehrheit des Deutschen Ethikrates<br />
nicht zu vereinbaren mit den Grundwertungen<br />
des parlamentarischen Gesetzgebers,<br />
auf denen die Neuregelung des §<br />
217 StGB beruht:<br />
• In ethischer Hinsicht problematisch ist<br />
zunächst, dass das Bundesverwaltungsgericht<br />
das einleuchtende Gebot, die<br />
staatliche Gemeinschaft dürfe »den hilflosen<br />
Menschen nicht einfach sich selbst<br />
überlassen« (Rn. 27) verknüpft mit dem<br />
staatlich garantierten Zugang zu Betäubungsmitteln.<br />
Indem die Entscheidung<br />
das Bundesinstitut für Arzneimittel und<br />
Medizinprodukte zum Verpflichtungsadressaten<br />
der Selbsttötungsassistenz<br />
macht, macht sie diese von einer staatlichen<br />
»Erlaubnis« abhängig und erweckt<br />
so den Anschein, Suizidwünsche müssten<br />
staatlicherseits bewertet bzw. könnten<br />
staatlicherseits legitimiert werden.<br />
Das aber würde bedeuten, die höchstpersönliche<br />
Natur solcher Wünsche infrage<br />
zu stellen. Ferner könnte es diejenigen<br />
sozialen Normen und Überzeugungen<br />
schwächen, in denen sich der<br />
besondere Respekt vor jedem menschlichen<br />
Leben ausdrückt.<br />
• Zudem bestehen grundsätzliche Bedenken<br />
dagegen, unter Berufung auf besondere<br />
Ausnahmesituationen die durch das<br />
hierfür zuständige und demokratisch legitimierte<br />
Parlament festgelegten allgemeinverbindlichen<br />
Verhaltensregeln infrage<br />
zu stellen. Der Gesetzgeber hat sich<br />
in Übereinstimmung mit der Mehrheit<br />
des Deutschen Ethikrates bewusst dagegen<br />
entschieden, die Legitimität der<br />
Suizidassistenz an die Erfüllung materieller<br />
Kriterien <strong>–</strong> wie schweres und<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
unerträgliches Leiden <strong>–</strong> zurückzubinden.<br />
Diese zentrale, ethisch fundierte<br />
Grundentscheidung wird durch das Urteil<br />
des Bundesverwaltungsgerichts unterlaufen.<br />
Es zwingt eine staatliche Instanz,<br />
die § 217 StGB wie dem gesamten<br />
System des (straf-)rechtlichen Lebensschutzes<br />
zugrunde liegende ethische<br />
Leitidee der staatlichen Neutralität gegenüber<br />
Lebenswertvorstellungen aufzugeben.<br />
Zugleich wird ihr zugemutet,<br />
ohne konkretisierende Vorgaben <strong>–</strong> die<br />
das Bundesverwaltungsgericht für entbehrlich<br />
hält (Rn. 40) <strong>–</strong> eigene Erwägungen<br />
anzustellen über das Kriterium<br />
eines »unerträglichen Leidensdruck[s]«<br />
(Rn. 31) und die Frage einer anderen<br />
zumutbaren Möglichkeit zur Verwirklichung<br />
des Sterbewunschs.<br />
• Die Entscheidung steht damit schließlich<br />
auch in einem Spannungsverhältnis<br />
zu der Forderung einer Stärkung suizidpräventiver<br />
Maßnahmen und Strukturen.<br />
Die Entscheidung, das eigene Leben<br />
beenden zu wollen, verweist auf eine<br />
individuelle Ausnahmesituation, in<br />
der lebensorientierte Antworten nicht<br />
(mehr) gesehen werden. Auch im Kontext<br />
schwerster und unheilbarer Erkrankung<br />
ist es dabei durchaus möglich,<br />
dass sich Suizidgedanken aktuell aufdrängen<br />
und oft nicht auf reflektierten<br />
oder bilanzierenden Erwägungen beruhen.<br />
Damit soll nicht in Abrede gestellt<br />
werden, dass manche Leidenszustände<br />
auch durch eine optimale palliativmedizinische<br />
Versorgung und Unterstützung<br />
nicht behoben werden und so Suizidwünsche<br />
begründen können. Doch<br />
in vielen Fällen steht der Wunsch, eine<br />
subjektiv unerträgliche und durch anderweitige<br />
Maßnahmen nicht mehr zu<br />
lindernde, irreversible Leidenssituation<br />
durch Suizid zu beenden, in engem<br />
Zusammenhang mit der im individuellen<br />
Fall verfügbaren Versorgung und<br />
Unterstützung. Denn diese ist in vielen<br />
Bereichen, besonders im Hinblick auf<br />
Schmerztherapie, rehabilitative Pflege<br />
und Psychotherapie, immer noch defizitär.<br />
Eine Minderheit des Deutschen Ethikrates<br />
hält das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts<br />
dagegen für ethisch wohl<br />
Eine Minderheit des Rates hält das Urteil für »ethisch wohl erwogen«<br />
DEUTSCHER ETHIKRAT<br />
erwogen und begrüßenswert. Ihr zufolge<br />
steht es im Einklang mit der dem Notstandsprinzip<br />
zugrunde liegenden Moralpflicht,<br />
vor allem in existenziellen Grenzfällen<br />
ein generell begründbares Verbot<br />
nicht zum Gebot der Unmenschlichkeit<br />
werden zu lassen. In diesem Sinne eröffnet<br />
die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts<br />
die Möglichkeit, in »extremen«<br />
Notsituationen der zwangsrechtlichen<br />
Ausnahmslosigkeit der Strafregelung<br />
des § 217 StGB zu begegnen. Eine »staatliche<br />
Verpflichtung« zur Unterstützung<br />
von Suiziden liegt darin nicht. Der Staat<br />
wird lediglich verpflichtet, in Fällen extremer<br />
Not seine grundsätzliche Blockade<br />
dieses Medikaments ausnahmsweise<br />
aufzuheben und damit anderen eine Hilfe<br />
nicht (mehr) zu verwehren, zu der sie<br />
sich nach den Maximen ihres Gewissens<br />
aus verständlichen Gründen verpflichtet<br />
fühlen. Auch in Fällen, in denen nach der<br />
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts<br />
das Medikament gegebenenfalls direkt<br />
an den Sterbewilligen herauszugeben<br />
wäre, wird der Staat nicht zum Gehilfen<br />
eines Suizids.<br />
Es wird ihm lediglich nicht (mehr) gestattet,<br />
die Verfügbarkeit eines Medikaments<br />
aktiv zu blockieren, das schließlich<br />
nicht er bereitstellt, sondern dem Zugriff<br />
Dritter lediglich entzieht. In Notstandsfällen<br />
das Handeln eines anderen nicht mehr<br />
aktiv verhindern zu dürfen, heißt aber keineswegs,<br />
nun als dessen Unterstützer verpflichtet<br />
zu sein. Die dem Urteil zugrunde<br />
liegende Notstandserwägung, die auch<br />
einer moralischen Pflicht entspricht, sollte<br />
daher nach Auffassung der Minderheit<br />
im Sinne einer klarstellenden und präzisierenden<br />
Regelung in das Betäubungsmittelgesetz<br />
aufgenommen werden.<br />
Ungeachtet dieses Dissenses bekräftigt<br />
der Deutsche Ethikrat in seiner Gesamtheit<br />
die Forderung nach einer Stärkung<br />
suizidpräventiver Maßnahmen sowie<br />
nach einem Ausbau nicht nur der Hospizund<br />
Palliativversorgung im ambulanten<br />
und stationären Bereich, sondern allgemein<br />
der Versorgung von Menschen in<br />
der letzten Lebensphase. Zugleich unterstreicht<br />
er seine Position, dass eine freiheitliche<br />
Verfassungsordnung freiverantwortliche<br />
Suizidhandlungen zu respektieren<br />
hat. Ein Anspruch auf entsprechende<br />
staatliche Unterstützung besteht hingegen<br />
nicht. Der Deutsche Ethikrat hält es deshalb<br />
für erforderlich, die Spannung zwischen<br />
den in § 217 StGB zum Ausdruck<br />
gebrachten Regelungsintentionen und der<br />
jetzt vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommenen<br />
Interpretation des Betäubungsmittelgesetzes<br />
durch eine klarstellende<br />
Regelung abzubauen. Die Mehrheit<br />
des Ethikrates empfiehlt, entgegen<br />
der vom Bundesverwaltungsgericht vorgeschlagenen<br />
problematischen Neuausrichtung<br />
des normativen Ordnungsrahmens an<br />
dem zuletzt noch einmal legislativ bekräftigten<br />
ethischen Grundgefüge festzuhalten<br />
und nicht der gebotenen Achtung individueller<br />
Entscheidungen über das eigene<br />
Lebensende eine staatliche Unterstützungsverpflichtung<br />
zur Seite zu stellen.<br />
Der Mehrheitsposition haben sich die<br />
folgenden Ratsmitglieder zugeordnet:<br />
Steffen Augsberg, Franz-Josef Bormann,<br />
Alena M. Buyx, Peter Dabrock, Christiane<br />
Fischer, Sigrid Graumann, Martin Hein,<br />
Wolfram Henn, Wolfram Höfling, Ilhan Ilkilic,<br />
Andreas Kruse, Adelheid Kuhlmey, Volker<br />
Lipp, Andreas Lob-Hüdepohl, Elisabeth<br />
Steinhagen-Thiessen, Claudia Wiesemann<br />
Der Minderheitsposition haben sich die<br />
folgenden Ratsmitglieder zugeordnet:<br />
Constanze Angerer, Dagmar Coester-Waltjen,<br />
Carl Friedrich Gethmann, Ursula Klingmüller,<br />
Stephan Kruip, Leo Latasch, Reinhard<br />
Merkel, Gabriele Meyer, Petra Thorn<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3 29
B Ü C H E R F O R U M<br />
Mit »Das Leben nehmen <strong>–</strong> Suizid<br />
in der Moderne« ist Thomas<br />
Macho, Direktor des<br />
Internationalen Forschungszentrums<br />
Kulturwissenschaften<br />
in Wien, zweifellos ein<br />
großer Wurf gelungen.<br />
Das gilt auch dann, wenn<br />
man die wichtigste Konsequenz,<br />
die Macho aus<br />
seiner Beschäftigung mit<br />
dem Thema zieht, ablehnt. Aber der Reihe<br />
nach.<br />
Völlig zu Recht erblickt der österreichische<br />
Kulturwissenschaftler und Philosoph,<br />
der auch Kulturgeschichte an der<br />
Humboldt-Universität zu Berlin lehrt, in<br />
der »radikalen Umwertung des Suizids«<br />
einen »der größten und folgenreichsten<br />
Umbrüche des 20. und 21. Jahrhunderts«.<br />
Viele Jahrhunderte lang sei der Suizid als<br />
»schwere Sünde, sogar<br />
als ›Doppelmord‹<br />
<strong>–</strong> nämlich an Seele und<br />
Körper <strong>–</strong>, als Verbrechen,<br />
das streng bestraft<br />
wurde, nicht allein<br />
durch Verstümmelung<br />
und Verscharrung<br />
der Leichen, sondern<br />
beispielsweise<br />
auch durch Beschlagnahmung<br />
des Familienvermögens,<br />
zumindest<br />
aber als Effekt<br />
des Wahnsinns und<br />
als Krankheit bewertet«<br />
worden. In der<br />
Moderne jedoch sei<br />
die Frage nach dem<br />
Suizid, welcher Walter<br />
Benjamin gar als<br />
deren »Quintessenz«<br />
erschien, zu einem zentralen Leitmotiv<br />
der Epoche geworden. Macho: »Seit<br />
dem Fin de Siècle, spätestens aber nach<br />
dem Ende des Zweiten Weltkriegs, hat<br />
sich die radikale Umwertung des Suizids<br />
<strong>–</strong> einerseits als Prozess der Enttabuisierung,<br />
andererseits als Verbreitung einer<br />
emanzipatorischen ›Selbsttechnik‹ <strong>–</strong> auf<br />
mehreren kulturellen Feldern vollzogen:<br />
als Protest in der Politik, als Strategie<br />
des Anschlags und des Attentats in neueren<br />
Erscheinungsformen des bewaffneten<br />
Konflikts, als Grundthema der Philosophie<br />
und der Künste, in Literatur,<br />
Malerei und Film.« Auf dem Gebiet des<br />
Rechts schließlich seien Suizid und Suizidversuch<br />
entkriminalisiert und verschiedene<br />
Formen der Selbsttötung sowie<br />
des (ärztlich) assistierten Suizids legalisiert<br />
worden.<br />
30<br />
Das Leben<br />
nehmen<br />
Auf allen diesen Feldern spürt Macho<br />
der Umwertung des Suizids nach<br />
und erzählt so eine lesenswerte (Kultur-)Geschichte<br />
des Suizids in der Moderne.<br />
Wie Journalisten,<br />
die sich die Empfehlungen<br />
von Suizidpräventionsforschern<br />
zu Herzen<br />
nehmen, spricht Macho<br />
überdies in seinem<br />
Buch weder vom »Selbstmord«<br />
noch vom »Freitod« und vermeidet<br />
so präskriptive Wertungen ganz. Auch<br />
seinem Vorschlag »zwischen suizidfaszinierten<br />
Kulturen und Epochen, die dem<br />
Suizid ein hohes Maß an Aufmerksamkeit<br />
schenken, und suizidkritischen Zeiten und<br />
Lebensformen, die den Suizid tendenziell<br />
tabuisieren und abwerten«, zu unterscheiden,<br />
lässt sich folgen, jedenfalls solange<br />
es dabei um eine Beschreibung geht,<br />
die das Verstehen und<br />
das Einordnen dessen<br />
fördert, was der Autor<br />
hier zusammenträgt.<br />
Widersprechen<br />
aber muss man dem<br />
Autor, wenn er aus<br />
der Behauptung, dass<br />
»nicht alle«, die sich<br />
das Leben nähmen,<br />
»krank oder verrückt«<br />
seien, folgert, der Suizid<br />
müsse weiter entpathologisiert<br />
werden.<br />
Denn die Evidenz von<br />
Studien, die zeigen,<br />
dass sich mehr als vier<br />
Fünftel der Suizide auf<br />
psychische Erkrankungen<br />
zurückführen<br />
lassen, ist schlicht<br />
überwältigend.<br />
Wenn aber der Suizid, wie auch Macho<br />
feststellt, inzwischen weltweit als eine<br />
der Haupttodesursachen gilt und diese<br />
andererseits in aller Regel auf psychische<br />
Erkrankungen zurückgeführt werden<br />
können, ist es gewissermaßen normal<br />
geworden, psychisch zu erkranken.<br />
Ihnen ist nicht damit geholfen, den Suizid<br />
<strong>–</strong> wie Macho anregt <strong>–</strong> künftig als einen<br />
Weg neben anderen zu betrachten,<br />
um aus dem Leben zu scheiden. Im Gegenteil.<br />
Sie blieben mehr als jemals zuvor<br />
auf sich selbst verwiesen. Ein schauriger<br />
Gedanke.<br />
Stefan Rehder<br />
Thomas Macho: Das Leben nehmen <strong>–</strong> Suizid in<br />
der Moderne. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.<br />
Gebunden. 532 Seiten. 28,00 EUR.<br />
Im Schaufenster<br />
Mensch sein<br />
Auch naturwissenschaftliche<br />
Ergebnisse<br />
müssen sauber interpretiert<br />
und zuverlässig<br />
eingeordnet<br />
werden. Geschieht<br />
dies nicht, landen<br />
die Wissenschaftler<br />
selbst <strong>–</strong> und noch<br />
häufiger das ihnen vertrauende Publikum <strong>–</strong><br />
beim Reduktionismus und erblicken dann<br />
zum Beispiel in einem menschlichen Embryo<br />
nur noch einen bloßen Zellhaufen. Insofern<br />
kommt dieses Buch also wie gerufen. Denn<br />
in »Mensch sein« entfaltet Günter Rager die<br />
»Grundzüge einer interdisziplinären Anthropologie«.<br />
So gerufen wie das Buch daherkommt,<br />
so berufen auch ist sein Verfasser,<br />
ein solches Unterfangen erfolgreich und für<br />
den Leser gewinnbringend zu meistern. Denn<br />
der Mediziner und Philosoph war viele Jahre<br />
lang Ordinarius und Direktor des Instituts für<br />
Anatomie und spezielle Embryologie an der<br />
Universität Fribourg. Von 1999 bis 2006 war<br />
er Direktor des Instituts für interdisziplinäre<br />
Forschung der Görres-Gesellschaft. Unvergessen<br />
ist das von ihm herausgegebene und<br />
inzwischen in mehrfacher Überarbeitung erschienene<br />
großartige Werk »Beginn, Personalität<br />
und Würde des Menschen«. Wer also<br />
wissen will, was die Wissenschaften heute<br />
alles über Bewusstsein, Ich, Person, Evolution,<br />
Sterben und Tod wissen, der kommt<br />
auch an seinem neuen Werk nicht vorbei. Eine<br />
ausführliche Besprechung folgt. reh<br />
Fazit: Ein Must-have für Lebensrechtler.<br />
Günter Rager: Mensch sein: Grundzüge einer<br />
interdisziplinären Anthropologie. Verlag Karl<br />
Alber, Freiburg im Breisgau <strong>2017</strong>. Gebunden. 208<br />
Seiten. 24,00 EUR.<br />
Das regulierte Gen<br />
Der Autor, Sebastian<br />
Schuol, studierte<br />
Philosophie und Molekulargenetik<br />
in Erlangen<br />
und Tübingen<br />
und war Stipendiat<br />
am DFG-Graduiertenkolleg<br />
Bioethik<br />
am Internationalen<br />
Zentrum für Ethik in den Wissenschaften<br />
(IZEW) in Tübingen. Sein lesenswertes Buch<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
zeigt, wie schwierig die Definition des Begriffs<br />
»Gen« ist und wie sehr sich diese im<br />
Zuge der Erkenntnisse, die in letzter Zeit vor<br />
allem auf dem Gebiet der Epigenetik gewonnen<br />
wurden, gewandelt hat. Wurde das Gen<br />
(allein oder im Verbund mit anderen) bis vor<br />
Kurzem noch als monokausale Ursache für<br />
die Initiierung und Steuerung biologischer<br />
Prozesse und Aktivitäten innerhalb von Organismen<br />
betrachtet, so weiß man inzwischen,<br />
wie kurzsichtig und unzureichend derartige<br />
Erklärungsversuche sind. Mit den Worten<br />
Schuols: Das Verständnis von Genen als einer<br />
statischen Ding-Einheit ändert sich hin zu<br />
dem einer »dynamischen Prozess-Einheit«. In<br />
seinem Buch greift Schuol diese Entwicklung<br />
auf und diskutiert ihre theoretischen und<br />
praktischen Implikationen.<br />
Fazit: Für Fachleute.<br />
reh<br />
Sebastian Schuol: Das regulierte Gen: Implikationen<br />
der Epigenetik für Biophilosophie und Bioethik.<br />
Reihe: Lebenswissenschaften im Dialog, Band<br />
24. Verlag Karl Alber, Freiburg im Breisgau <strong>2017</strong>. Gebunden.<br />
424 Seiten. 49,00 EUR.<br />
Menschenwürde<br />
In der Philosophie<br />
meint Kontingenz<br />
das Nichtnotwendige.<br />
Wenn wie jetzt<br />
ein Buch erschienen<br />
ist, das die Dimensionen<br />
der Kontingenz<br />
ausgerechnet<br />
bei einem Wert<br />
wie der Menschenwürde<br />
diskutiert, heißt es: aufmerken! Denn<br />
bereits die bloße Existenz eines Sammelbandes<br />
wie des Vorliegenden zeigt: Die Würde<br />
des Menschen, die das Grundgesetz noch<br />
als »unantastbar« und damit als unhintergehbar<br />
und unverlierbar ausweist, steht <strong>–</strong> jedenfalls<br />
für manche <strong>–</strong> eben doch zur Disposition.<br />
Statt darin nun reflexartig einen Angriff<br />
zu vermuten und zur Attacke zu blasen, empfiehlt<br />
es sich, zur Kenntnis zu nehmen, dass<br />
die Begründung der Idee der Menschenwürde,<br />
ebenso wie der ihr eigene Absolutheitsanspruch,<br />
manchen brüchig geworden, in<br />
Teilen in Vergessenheit geraten sind oder<br />
eben schlicht nicht jedem einleuchten. Wem<br />
daher an der Menschenwürde etwas liegt,<br />
tut gut daran, diesen Sammelband zu studieren<br />
und nach Antworten auf die dort ausgebreitete<br />
Kritik zu suchen. reh<br />
Fazit: Für Denker.<br />
Eva Weber-Guska / Mario Brandhorst (Hrsg.): Menschenwürde.<br />
Eine philosophische Debatte über<br />
Dimensionen ihrer Kontingenz. Suhrkamp Verlag,<br />
Frankfurt am Main <strong>2017</strong>. 363 Seiten. 18,00 EUR.<br />
Der Wissenschaftshistoriker Ernst<br />
Peter Fischer hat wieder zugeschlagen.<br />
In seinem neuesten<br />
Werk »Treffen sich zwei Gene <strong>–</strong> Vom Wandel<br />
unseres Erbguts und<br />
der Natur des Lebens«<br />
liefert Fischer nicht weniger<br />
als einen historischen<br />
Abriss der Geschichte der<br />
Genetik von ihren Anfängen<br />
bis heute. So erfährt<br />
der Leser unter anderem, wie der Augustinermönch<br />
Gregor Mendel (1822<strong>–</strong>1884)<br />
bei der Kreuzung von Erbsen im Garten<br />
seines Klosters auf die Vererbungsregeln<br />
stieß oder wie der US-amerikanische Zoologe<br />
Thomas Morgan (1866<strong>–</strong>1945) jahrzehntelang<br />
Taufliegen kreuzte und dabei<br />
die Chromosomen entdeckte. Die Entdeckung<br />
des kanadischen Mediziners Oswald<br />
Averys (1877<strong>–</strong>1955), der<br />
herausfand, dass sich die<br />
Erbinformation in der<br />
DNA und nicht etwa in<br />
den Proteinen befindet,<br />
wird ebenso beschrieben<br />
wie die Forschungen des<br />
deutschen Biophysikers<br />
Max Delbrück (1906<strong>–</strong><br />
1981) mit Bakteriophagen,<br />
die die Grundlagen<br />
für die moderne Molekularbiologie<br />
legten.<br />
Fischer wurde übrigens<br />
bei Delbrück promoviert<br />
und schrieb später<br />
dessen Biografie. Selbstverständlich<br />
fehlen auch<br />
James D. Watson (geboren<br />
1928) und Francis<br />
Crick (1916<strong>–</strong>2004)<br />
nicht, die die Struktur<br />
des Erbguts entdeckten und das DNA-<br />
Modell der Doppelhelix entwarfen, und<br />
nicht einmal das Genome-Editing mittels<br />
der CRISPR/Cas9-Genscheren, die<br />
erst 2012 von der Französin Emmanuelle<br />
Charpentier und der US-Amerikanerin<br />
Jennifer Doudna entwickelt wurden, werden<br />
ausgespart.<br />
Wer meint, dass Wissenschaftsliteratur<br />
entweder sterbenslangweilig oder aber<br />
notwendig unseriös sein und ungedeckte<br />
Schecks ausstellen müsse, den belehrt Fischer<br />
eines Besseren. Wie bei einer Expedition<br />
führt der Autor die Leser durch den<br />
Dschungel der Genetik, verweilt mal hier<br />
und mal dort, um den Blick seiner Leser<br />
für das große Ganze zu schärfen, drückt<br />
zwischendurch aufs Tempo, um andernorts<br />
ausführlicher zu werden.<br />
Nicht immer erschließt sich die vom<br />
Autor vorgenommene Gewichtung dem<br />
Treffen sich<br />
zwei Gene<br />
Leser sofort. So fragt man sich etwa, warum<br />
Fischer so lange auf umgangssprachlichen<br />
Nonsens-Formulierungen wie dem<br />
»Unternehmer-«, »Stürmer«- oder »Bayern-Gen«<br />
herumreitet.<br />
Doch schon bald wird<br />
klar: Solche Formulierungen<br />
illustrieren für<br />
den Autor, wie tief verankert<br />
das völlig falsche<br />
Verständnis von Genen<br />
in der Gesellschaft ist.<br />
Verantwortlich dafür sind nicht bloß<br />
Vermittler wie die Wissenschaftsjournalisten,<br />
sondern mehr noch die Wissenschaftler<br />
selbst. Es sind ihre Modelle und<br />
vollmundigen Ankündigungen und Versprechungen,<br />
denen Glauben geschenkt<br />
wird. Fischer geht darauf an mehreren<br />
Stellen ein, so etwa, wenn er auf das Humangenomprojekt<br />
zu<br />
sprechen kommt, oder<br />
auch, wenn er sich im<br />
Nachwort zu diesem<br />
Buch kritisch mit Richard<br />
Dawkins »Das<br />
egoistische Gen« auseinandersetzt,<br />
dessen<br />
Reduktionismus ganze<br />
Generationen in die<br />
Irre geführt und verbildet<br />
hat. Allerdings<br />
fällt Fischers diesbezügliche<br />
Kritik überaus<br />
verhalten aus. Das<br />
ist insofern schade, als<br />
zu guter Wissenschaft<br />
stets auch gehört, ein<br />
zureichendes Bild von<br />
den jeweiligen Grenzen<br />
des eigenes Faches<br />
und der Reichweiten<br />
der Methoden zu besitzen, derer man<br />
sich bedient. Und wer <strong>–</strong> wenn nicht der<br />
Wissenschaftshistoriker <strong>–</strong> wäre berufener<br />
zu beurteilen, ob und in welchem Umfang<br />
dem jeweils Genüge getan wurde?<br />
Wie auch immer. Fischer zeigt, dass<br />
der Mensch keine Biomaschine ist. Und<br />
dass die Vorstellung, ein Gen sei etwas,<br />
auf dem sich der Bauplan oder die Betriebsanweisung<br />
finden ließe, eine irrige<br />
ist. Oder, um es mit den Worten des<br />
Autors zu sagen: »Gene sind nicht. Gene<br />
werden. Sie ändern sich, und das Denken<br />
über sie wandelt sich mit ihnen.«<br />
Sebastian Sander<br />
Ernst Peter Fischer: Treffen sich zwei Gene. Vom<br />
Wandel unseres Erbguts und der Natur des<br />
Lebens. Verlag Siedler, München <strong>2017</strong>. 336 Seiten.<br />
24,99 EUR.<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3 31
K U R Z V O R S C H L U S S<br />
Expressis verbis<br />
»Wir können nicht akzeptieren, dass aktive<br />
Sterbehilfe in den Mauern unserer Institution<br />
durchgeführt wird.«<br />
Rene Stockmann, Generaloberer des Ordens<br />
»Broeders van Liefde« (dt.: Brüder der Nächstenliebe),<br />
gegenüber dem US-Nachrichtendienst<br />
CNS<br />
»<br />
Die Zeiten von ›Roma locuta, causa finita‹<br />
sind lange vorbei.«<br />
Der frühere EU-Ratspräsident Herman van<br />
Rompuy auf Twitter zur Meldung, der zufolge<br />
der Vatikan den Orden aufgerufen hat, »unter<br />
keinen Umständen« Euthanasie länger »als Lösung<br />
für menschliches Leid« in Betracht zu ziehen<br />
»<br />
Die aktive Sterbehilfe, wie sie in Belgien,<br />
den Niederlanden und Luxemburg praktiziert<br />
wird, ist und bleibt mit der katholischen<br />
Lehre nicht vereinbar. Van Rompuys<br />
Statement irritiert in seiner Missachtung<br />
des christlichen Menschenbildes und in<br />
seiner mangelnden Begriffspräszisierung.«<br />
ZdK-Präsident Thomas Sternberg<br />
»<br />
Kardinal Meisner war ein furchtloser Streiter,<br />
der keine Diskussionen und Konflikte<br />
scheute und immer ein klares Bekenntnis<br />
abgab, als Bischof wie als Mensch. Gerade<br />
auch im Bereich des Lebensrechts war<br />
er eine große, verlässliche Stimme, die<br />
vielen Mitgliedern der Lebensrechtsverbände<br />
zusätzlich Mut und Halt gab.«<br />
Der niederländische Psychiater<br />
und Psychotherapeut<br />
Boudewijn Chabot, der als<br />
Vorkämpfer und Befürworter<br />
des 2002 in Kraft getretenen niederländischen<br />
Euthanasiegesetzes gilt, hat<br />
sich schockiert über<br />
die Praxis der Euthanasie<br />
in den Niederlanden<br />
gezeigt. Wie<br />
das »NRC Handelsblad«,<br />
das zu führenden<br />
Zeitungen<br />
des Landes zählt,<br />
berichtet, sei Chabot<br />
von der raschen<br />
Zunahme der Zahl<br />
Tops & Flops<br />
Boudewijn Chabot<br />
von Menschen, die durch Euthanasie den<br />
Tod finden und an einer psychiatrischen<br />
Krankheit oder Demenz litten, entsetzt.<br />
»Das System in den Niederlanden ist entgleist«<br />
und »Ich weiß nicht, wie wir den<br />
Geist wieder in die Flasche zurückbekommen«,<br />
wird Chabot zitiert. reh<br />
Irlands Ministerpräsident<br />
Leo Varadkar will das Volk<br />
über eine Verfassungsänderung<br />
abstimmen lassen, die<br />
auf eine nahezu vollständige Freigabe vorgeburtlicher<br />
Kindstötungen hinausliefe.<br />
Bislang hält die irische<br />
Verfassung in<br />
ihrem 8. Zusatzartikel<br />
fest, dass ungeborene<br />
Kinder die gleichen<br />
Rechte genießen<br />
wie ihre Mütter.<br />
Vorgeburtliche<br />
Leo Varadkar<br />
Kindstötungen sind<br />
daher nur erlaubt,<br />
wenn die Fortsetzung<br />
der Schwangerschaft das Leben der<br />
Mutter bedroht. Wie der britische Guardian<br />
berichtet, soll das Referendum entweder<br />
im Mai oder im Juni stattfinden, in<br />
jedem Fall aber bevor Papst Franziskus im<br />
August zum Weltfamilientreffen in Dublin<br />
erwartet wird.<br />
reh<br />
wie sollen wir es machen? erst das<br />
natrium-pentobarbital und dann die<br />
sterbesakramente oder lieber umgekehrt?<br />
Die <strong>ALfA</strong>-Bundesvorsitzende Alexandra Maria<br />
Linder zum Tod des Alt-Erzbischofs von Köln,<br />
Joachim Kardinal Meisner<br />
»<br />
Kompromisslos in wichtigen Glaubens- und<br />
Lebensfragen stellte er deutlich heraus,<br />
dass die Würde des Kindes, der Frau und<br />
der Wert der Familie nicht einem einseitig<br />
interpretierten ›Selbstbestimmungsrecht‹<br />
oder gar einem Recht auf Abtreibung und<br />
Suizidbeihilfe geopfert werden dürfe.«<br />
Mechthild Löhr, Bundesvorsitzende der Christdemokraten<br />
für das Leben (CDL), zum selben<br />
Anlass<br />
32<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
Aus der Bibliothek<br />
Manfred Spieker: Biopolitik (2009)<br />
»Ausländer retten deutsche Sozialversicherung!«<br />
Das könnte in der Welt<br />
von morgen Deutschlands auflagenstärkste<br />
Boulevardzeitung titeln. Denn<br />
wie das »Handelsblatt« kürzlich unter<br />
Berufung auf Daten der Deutschen<br />
Rentenversicherung berichtete, hat eine<br />
wachsende Zahl an Zuwanderern, die<br />
vor allem aus EU-Ländern stammen,<br />
die Finanzlage der deutschen Sozialversicherungen<br />
in den letzten Jahren deutlich<br />
verbessert. Und zwar so deutlich,<br />
dass die Renten- und Krankenkassenbeiträge<br />
trotz kostspieliger Reformen<br />
auf absehbare Zeit stabil bleiben. Den<br />
Berechnungen zufolge stieg die Zahl der<br />
Beitragszahler mit ausländischem Pass<br />
zwischen 2008 und 2015 um 1,7 Millionen,<br />
was einer Zunahme um 53 Prozent<br />
entspricht. Aber war da nicht mal<br />
was? Richtig: »Wer betrügt, der fliegt«,<br />
schallte es vor der Europawahl 2014<br />
aus dem Süden durch das Deutschland<br />
»Die Welt. Die von morgen« (35)<br />
»Probleme des Lebensschutzes waren<br />
lang Zeit kein Gegenstand der Sozialethik.<br />
Dies gilt für die klassischen Probleme Abtreibung<br />
und Euthanasie, die es gibt, seit<br />
es Menschen gibt. Es gilt aber auch für die<br />
modernen Probleme der Kryokonservierung<br />
von Embryonen, der Präimplantationsdiagnostik,<br />
des Klonens und der embryonalen<br />
Stammzellforschung. Dies war<br />
verständlich, solange die Rechts- und Verfassungsordnungen<br />
der zivilisierten Staaten<br />
Abtreibung und Euthanasie als Verstöße<br />
gegen das Menschenrecht auf Leben<br />
verboten haben. Anfang der 70er Jahre<br />
des vergangenen Jahrhunderts aber hat<br />
sich dies grundlegend geändert. Zahlreiche<br />
Staaten haben das Abtreibungsverbot und<br />
manche, wie Belgien und die Niederlande,<br />
auch das Euthanasieverbot gelockert<br />
oder ganz aufgehoben. Nachdem sich die<br />
künstliche Befruchtung in den 80er Jahren<br />
nahezu weltweit ausbreitete und zu<br />
zahllosen kryokonservierten, so genannten<br />
›überzähligen‹ Embryonen führte, die<br />
keine Chance mehr auf einen Transfer in<br />
eine Gebärmutter haben, und nachdem es<br />
1998 erstmals gelang, embryonale Stammzellen<br />
zu isolieren, legalisierten viele Staaten<br />
auch die Forschung mit embryonalen<br />
Stammzellen, das (therapeutische) Klonen<br />
und die Präimplantationsdiagnostik.<br />
Forschung mit embryonalen Stammzellen<br />
aber bedeutet die Tötung des Embryos.<br />
Die Gesetzgeber degradierten damit den<br />
›überzähligen‹ Embryo zu einem biomedizinischen<br />
Rohstoff und beraubten das<br />
Verbot privater Gewaltanwendung und<br />
der Tötung unschuldiger Menschen seiner<br />
Verbindlichkeit. (...) Die gesellschaftlichen<br />
und rechtlichen Entwicklungen erlauben<br />
es der Christlichen Gesellschaftslehre<br />
aber nicht länger, die Probleme des<br />
Lebensschutzes nur als Randproblem zu<br />
behandeln. Sie hat gegenüber der Lockerung<br />
bzw. Aufhebung des Abtreibungs- und<br />
Euthanasieverbots und der Legalisierung<br />
der embryonalen Stammzellforschung die<br />
zentrale Legitimitätsbedingung eines demokratischen<br />
Rechtsstaates zur Geltung<br />
zu bringen: Das Verbot privater Gewaltanwendung<br />
und der Tötung unschuldiger<br />
Menschen. (...)«<br />
Manfred Spieker (Hrsg.): Biopolitik <strong>–</strong> Probleme des Lebensschutzes<br />
in der Demokratie. Verlag Ferdinand Schöningh,<br />
Paderborn 2009. 290 Seiten. 22,90 EUR.<br />
von gestern, nachdem Meldungen vom<br />
massenhaften Missbrauch von Sozialleistungen<br />
durch Zuwanderer aus Osteuropa<br />
die Runde machten. Woraufhin<br />
es »Deutschland den Deutschen« aus<br />
dem Osten zurückschallte. Dass schon<br />
damals die überwiegende Mehrheit der<br />
hier lebenden Bulgaren und Rumänen<br />
in die sozialen Sicherungssysteme einzahlte,<br />
statt sich daraus zu bedienen,<br />
wollte kaum jemand zur Notiz nehmen.<br />
Nicht, dass man sich keine Sorgen<br />
um den Verlust deutscher Identität<br />
machen dürfe. Das schon, auch wenn<br />
keine Einigkeit darüber besteht, was das<br />
ist: deutsche Identität. Goethe, Schiller,<br />
Kleist oder doch nur Götze, Schuhbeck,<br />
Klum? Nur, nach Lage der Dinge<br />
bedeutet »Deutschland den Deutschen«<br />
bislang, dass die Rentner in der<br />
Welt von morgen genau eine Alternative<br />
haben: Nämlich jene zwischen Euthanasie<br />
und Pflegeroboter. Stefan Rehder<br />
K U R Z & B Ü N D I G<br />
Abstammungsrecht steht vor Reform<br />
Berlin (<strong>ALfA</strong>). Angesichts der Entwicklungen<br />
in der Reproduktionsmedizin und der damit<br />
einhergehenden möglich gewordenen neuen<br />
Familienkonstellationen hat der »Arbeitskreis<br />
Abstammungsrecht« grundlegende Reformen<br />
des deutschen Abstammungsrechts empfohlen.<br />
Das berichtet die katholische Nachrichtenagentur<br />
KNA. Statt von »Abstammungsrecht«<br />
solle künftig von der »rechtlichen<br />
Eltern-Kind-Zuordnung« gesprochen werden,<br />
da die genetische Abstammung nur noch eines<br />
unter mehreren Prinzipien der Zuordnung<br />
sei, heißt es in dem Abschlussbericht, den<br />
der Arbeitskreis Bundesjustizminister Heiko<br />
Maas (SPD) übergab. Der 2015 eingesetzten<br />
Kommission unter dem Vorsitz der ehemaligen<br />
Familienrichterin am Bundesgerichtshof,<br />
Meo-Micaela Hahne, gehören weitere acht<br />
Fachjuristen sowie die Kölner Medizinethikerin<br />
Christiane Woopen und der Münchner<br />
Psychologe Heinz Kindler an. Sie legen 91<br />
Thesen als »Orientierungs- und Entscheidungshilfe«<br />
für den Gesetzgeber vor. Anlass<br />
für die Prüfung waren nach Angaben des<br />
Ministeriums die zunehmende Vielfalt der<br />
heutigen Familienkonstellationen und die<br />
Entwicklungen der Reproduktionsmedizin.<br />
Das Recht müsse mit diesem Veränderungsprozess<br />
Schritt halten.<br />
reh<br />
Samenspenderregister gebilligt<br />
Berlin (<strong>ALfA</strong>). Menschen, die mittels einer<br />
Samenspende entstanden sind, können<br />
künftig Informationen über ihre biologische<br />
Herkunft verlangen. Nach dem Bundestag<br />
billigte auch<br />
der Bundesrat<br />
ein Gesetz, das<br />
den Aufbau<br />
JUAN GÄRTNER/FOTOLIA.COM<br />
eines bundesweiten<br />
Spenderregisters<br />
vorsieht. Das<br />
berichtet das<br />
Online-Portal<br />
des Deutschen<br />
Ärzteblatts. In Künstliche Befruchtung<br />
dem Register<br />
werden die Daten von Samenspendern und<br />
-empfängerinnen für die Dauer von 110<br />
Jahren gespeichert. Gleichzeitig erhalten die<br />
Kinder, die durch eine künstliche Befruchtung<br />
mit gespendeten Samen gezeugt wurden,<br />
einen gesetzlichen Auskunftsanspruch zu<br />
Einzelheiten ihrer Abstammung. Bundesgesundheitsminister<br />
Hermann Gröhe (CDU)<br />
hatte das Gesetzgebungsverfahren damit<br />
begründet, dass jeder Mensch erfahren<br />
können solle, von wem er abstamme.<br />
reh<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3 33
G E S E L L S C H A F T<br />
Fulminant<br />
Herzlichen Dank für das neue »<strong>LebensForum</strong>«<br />
mit der fulminanten Titelgeschichte<br />
von gleich drei ausgewiesenen<br />
Experten. Sie verstehen sicher, dass ich <strong>–</strong><br />
wie Sie vermutlich auch <strong>–</strong> trotzdem hoffe,<br />
dass die Autoren Unrecht behalten und<br />
sich Politik und Gesellschaft noch für einen<br />
anderen Kurs erwärmen lassen.<br />
Dr. med. Matthias Klein, Düsseldorf<br />
Lektion nicht gelernt<br />
Wenigstens die Deutschen, so sollte man<br />
meinen dürfen, müssten ihre Lektion beim<br />
Thema Eugenik doch gelernt haben. Der<br />
Beitrag Dr. Kiworrs und der Herren Professoren<br />
Bauer und Cullen zeigt in erschreckender<br />
Weise, dass dies offenbar keineswegs<br />
der Fall ist. Vielen Dank, dass <strong>ALfA</strong><br />
das problematisiert und öffentlich macht.<br />
Jesko Jochemsen, Cuxhaven<br />
Ethische Alternative<br />
Haben Sie Dank für den eindrucksvollen<br />
Bericht von Gerhard Steier über die Tagung<br />
des Bundesverbands Lebensrecht zum Auftakt<br />
der diesjährigen ökumenischen »Woche<br />
für das Leben«. Besonders interessant<br />
fand ich die Wiedergabe der Äußerungen<br />
der Gynäkologin Susanne Van der Velden<br />
aus Kleve, die zeigen, dass es auch bei unerfülltem<br />
Kinderwunsch lebensfreundliche<br />
Alternativen zu der ethisch unverantwortbaren<br />
künstlichen Befruchtung gibt. Das<br />
34<br />
Wenn es »<strong>LebensForum</strong>«<br />
noch nicht gäbe, müsste<br />
es erfunden werden.<br />
Mein Kompliment zu<br />
dieser (wieder mal) sehr<br />
gelungen Ausgabe.<br />
Hans Richter, Bad Vilbel<br />
müsste noch sehr viel stärker bekannt gemacht<br />
werden und hätte daher wohl auch<br />
im »<strong>LebensForum</strong>« mehr Platz verdient.<br />
Ich rege hiermit an, das Thema bei anderer<br />
Gelegenheit noch einmal aufzugreifen<br />
und dann ausführlicher zu behandeln.<br />
Elvira Mendes, Hamburg<br />
Empörend und verstörend<br />
Teilnehmer beim »Marsch für das Leben«<br />
Dass der Berliner Diözesanrat nicht zur<br />
Unterstützung des »Marschs für das Leben«<br />
(vgl. LF 122, 2/<strong>2017</strong>, S.32) aufrufen<br />
will, empfinde ich als empörend und geradezu<br />
verstörend. Denn damit stellt sich<br />
der Berliner Diözesanrat <strong>–</strong> bewusst oder<br />
unbewusst <strong>–</strong> sowohl gegen Papst Franziskus,<br />
der Katholiken verschiedentlich zur<br />
Teilnahme an den Märschen für das Leben<br />
aufgerufen hat, als auch gegen den eigenen<br />
Ortsbischof. Ich selbst war Zeuge, wie<br />
Erzbischof Heiner Koch auf der Kundgebung<br />
zum Beginn des Marsches im vergangenen<br />
Jahr ein Grußwort gesprochen hat.<br />
Auch ich empfinde gelegentlich Äußerungen<br />
von einigen wenigen Teilnehmern des<br />
Marsches als problematisch und zu wenig<br />
differenziert. Aber als jemand, der seit acht<br />
Jahren immer wieder an dem Marsch teilgenommen<br />
hat, erlaube mich mir jedoch,<br />
zu behaupten, dass solche Krawall-Lebensrechtler<br />
eine verschwindende Minderheit<br />
darstellen. Mein Eindruck ist, dass die ganze<br />
große Mehrheit der Teilnehmer zwar<br />
die Abtreibung als Tötung eines wehrlosen<br />
Menschen verurteilt, keineswegs jedoch<br />
Frauen, die sich genötigt sehen, einen<br />
Arzt aufzusuchen, der sie von dem Kind<br />
»befreit«. Ich habe jedenfalls in den zurückliegenden<br />
Jahren immer wieder Teilnehmer<br />
kennengelernt, die sich um Frauen<br />
kümmern, die sich in ihrer Verzweiflung<br />
für eine Abtreibung entschieden haben<br />
und nun darunter leiden.<br />
Winfried Horstmann, Münster<br />
A N Z E I G E<br />
L e b e n s F o r u m 1 2 3
I M P R E S S U M<br />
IMPRESSUM<br />
LEBENSFORUM<br />
Ausgabe Nr. <strong>123</strong>, 3. Quartal <strong>2017</strong><br />
ISSN 0945-4586<br />
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Aktion Lebensrecht für Alle (<strong>ALfA</strong>) e.V.<br />
Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg<br />
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Herausgeber<br />
Aktion Lebensrecht für Alle e.V.<br />
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das Leben im Beitrag enthalten)<br />
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L e b e n s F o r u m 1 2 3 35
L E T Z T E S E I T E<br />
Feministinnen<br />
aufgepasst!<br />
Selektive Abtreibungen<br />
sind keine rein asiatisches<br />
Phänomen mehr<br />
Von Sebastian Sander<br />
Postvertriebsstück B 42890 Entgelt bezahlt<br />
Deutsche Post AG (DPAG)<br />
Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (<strong>ALfA</strong>)<br />
Ottmarsgässchen 8, 86152 Ausgburg<br />
Die selektive Abtreibung nach<br />
Geschlecht, die bislang vor allem<br />
in Asien beklagt wird, ist<br />
auch in westlichen Industrienationen<br />
auf dem Vormarsch. Nach Ansicht des<br />
Wiener Instituts für medizinische Anthropologie<br />
und Bioethik (IMABE) verschärfen<br />
vor allem die von verschiedenen<br />
Herstellern angebotenen, nicht-invasiven<br />
Gentests diese Problematik. Mit<br />
diesen einfachen Bluttests lässt sich das<br />
Geschlecht des ungeborenen Kindes bereits<br />
in der neunten Schwangerschaftswoche<br />
feststellen. Und damit nicht nur<br />
deutlich früher als bei einer Ultraschalluntersuchung,<br />
sondern auch innerhalb<br />
der gesetzlichen Frist von zehn bis zwölf<br />
Wochen, während derer vorgeburtliche<br />
Kindstötungen in vielen Ländern als legal<br />
betrachtet werden.<br />
In der Oktober-Ausgabe seines monatlichen<br />
Newsletters zitiert das Institut<br />
jetzt Daniel Surbek, Chefarzt am Inselspital<br />
Bern. Ihm zufolge kommt es allein<br />
in der Schweiz jährlich zu rund 100 Abtreibungen<br />
aufgrund des »falschen Geschlechts«.<br />
Grund genug für den Schweizer<br />
Bundesrat, einen Gesetzentwurf zu<br />
erarbeiten, der die Mitteilung des Geschlechts<br />
ungeborener Kinder vor Ablauf<br />
der zwölften Schwangerschaftswoche<br />
untersagt.<br />
Auch in Schweden und Großbritannien<br />
werden laut IMABE Abtreibungen wegen<br />
eines von den Eltern nicht gewünschten<br />
Geschlechts vorgenommen. Und in den<br />
USA offerieren Kinderwunschkliniken<br />
Paaren, die sich einer künstlichen Befruchtung<br />
unterziehen, die Selektion im<br />
Labor erzeugter Embryonen nach Geschlecht.<br />
Möglich ist das, weil sich das<br />
Y-Chromosom, das nur Jungen besitzen,<br />
unter Neonlicht zweifelsfrei ausmachen<br />
lässt. Die Angebote verbergen sich hinter<br />
Begriffen wie »social sexing« und »family<br />
balancing« und gehören nach Aussagen<br />
von Reproduktionsmedizinern längst<br />
zum »Lifestyle«.<br />
36<br />
DANIEL RENNEN<br />
In Deutschland verbietet das am 1.<br />
Februar 2010 in Kraft getretene Gendiagnostik-Gesetz<br />
die Mitteilung des Geschlechts<br />
ungeborener Kinder vor Ende<br />
der Zwölf-Wochen-Frist, innerhalb derer<br />
Abtreibungen zwar grundsätzlich verboten<br />
sind, aber nicht bestraft werden,<br />
wenn sich die Schwangere zuvor hat beraten<br />
lassen und dies nachweisen kann.<br />
In Indien und China, wo Mädchen seit<br />
Langem massenhaft abgetrieben werden,<br />
haben die selektiven Abtreibungen überwiegend<br />
soziale Gründe. So messen Eltern<br />
in China, wo jedes Jahr rund eine Million<br />
Mädchen gezielt vor der Geburt getötet<br />
werden, den männlichen Nachkommen<br />
traditionell eine höhere Bedeutung zu.<br />
Männer tragen dort nicht nur den Familiennamen<br />
weiter, sondern versorgen<br />
ihre Eltern auch im Alter.<br />
In Indien, wo jedes Jahr noch mehr<br />
Mädchen vor der Geburt getötet werden<br />
als in China, ist häufig die obligatorische<br />
Mitgift ausschlaggebend, die Eltern bei<br />
der Heirat einer Tochter zahlen müssen.<br />
Zeitweise bewarben indische Kliniken die<br />
zur Geschlechtsbestimmung erforderlichen<br />
Tests ganz offen mit Slogans wie:<br />
»Geben Sie jetzt 800 Rupien aus, damit<br />
Sie später 50.000 Rupien sparen.«<br />
Expertenschätzungen zufolge fehlen für<br />
eine gesunde demografische Entwicklung<br />
weltweit inzwischen 90 bis 150 Millionen<br />
Durch gezielte Abtreibung von Mädchen gibt es dramatisch weniger Frauen als Männer<br />
Frauen, überwiegend in Asien. In China<br />
etwa beträgt der Männerüberschuss mittlerweile<br />
rund 100 Millionen. Eine solche<br />
Vermännlichung der Gesellschaft müsste<br />
gerade Feministinnen ein Dorn im Auge<br />
sein. Erstaunlicherweise gibt es jedoch aus<br />
diesem Lager kaum wahrnehmbare Kritik<br />
an selektiven Abtreibungen.<br />
»Wer Abtreibungen wegen des Geschlechts<br />
toleriert, forciert eine diskriminierende<br />
Sicht auf Mädchen und Frauen.<br />
Geschlechterselektion ist keine Lappalie,<br />
sondern eine Menschenrechtsverletzung,<br />
die unter allen Umständen unterbunden<br />
werden muss«, erklärt die Bioethikerin<br />
und IMABE-Geschäftsführerin Susanne<br />
Kummer.<br />
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