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Berliner Zeitung 20.01.2020

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 16 · M ontag, 20. Januar 2020 5· ·<br />

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Politik<br />

„Der Antisemitismus ist im Aufwind“<br />

Jeremy Issacharoff, Israels Botschafter in Deutschland, über die Erinnerung an den Holocaust, den Anschlag in Halle und die AfD<br />

Jeremy Issacharoff ist seit Ende<br />

August des Jahres 2017der Botschafter<br />

Israels in Deutschland.<br />

DerDiplomat wurde 1955<br />

in London geboren.<br />

Herr Botschafter, was bedeutet<br />

Auschwitz für Sie?<br />

Es ist vonzentraler Bedeutung, an<br />

die Befreiung von Auschwitz vor 75<br />

Jahren zu erinnern. Wir werden uns<br />

nie von der Erinnerung an das<br />

Grauen der Konzentrationslager und<br />

des Holocaust befreien können. Wir<br />

müssen uns erinnern, damit uns die<br />

Geschichte an einen besseren Ort<br />

führen kann –ineine bessereZukunft<br />

für Israel, die Juden und Deutschland<br />

und die ganzeMenschheit.<br />

75 Jahre nach der Befreiung der Lager<br />

gibt es nicht mehr viele Überlebende<br />

...<br />

…aber einige gibt es noch. Und<br />

sie leben bis heute jeden Tagmit dieser<br />

Erinnerung. Für sie sind 75 Jahre<br />

wie ein Tag. Wirhatten gerade in der<br />

Botschaft eine Feierstunde. Ein<br />

Deutscher, Helmut Kleinicke, wurde<br />

als Gerechter unter den Völkern geehrt.<br />

Er hat als Kreisbaumeister im<br />

besetzten Polen viele Juden vor der<br />

Vernichtung gerettet. Kleinicke starb<br />

1979, er hat nie viel darüber gesprochen.<br />

Josef Koenigsberg, der heute<br />

95 Jahrealt ist, hat sich auf die Suche<br />

nach seinem Retter gemacht. Er war<br />

tief berührt, bei der Feierstunde der<br />

Tochter von Helmut Kleinicke danken<br />

zu können. Für Überlebende wie<br />

ihn ist nichts vorbei.<br />

„Ich finde jederzeit Gehör in der Bundesregierung,und wir hören uns ihre Positionen an“ –JeremyIssacharoff<br />

In YadVashem werden kommende<br />

Woche mehr als 40 Staatschefs und<br />

Regierungsvertreter an den Holocaust<br />

erinnern. Doch zugleich steigt<br />

weltweit die Zahl derjenigen, die die<br />

Vernichtung leugnen und antisemitischen<br />

Hass verbreiten. Wie kann das<br />

zurückgedrängt werden?<br />

Diejenigen, die heute den Holocaust<br />

leugnen, wollen vergessen machen,<br />

was in Deutschland nach 1933<br />

geschah als Folge des Antisemitismus<br />

der Nazis –und was heute immer<br />

noch passieren kann –nicht nur<br />

in Deutschland, sondern weltweit.<br />

Der Antisemitismus ist im Aufwind,<br />

getragen von global vernetzten<br />

Rechtsextremen. Dieradikale Rechte<br />

und ihreParteien wollen die Erinnerung<br />

an den Holocaust verwischen.<br />

Was mich in Deutschland beeindruckt,<br />

ist die Stärke der Erinnerungskultur<br />

hierzulande, die es solchen<br />

Kräften erschwert, Fuß zufassen.<br />

Antisemitismus heutzutage<br />

richtet sich nicht nur gegen Juden<br />

oder Israel, er richtet sich gegen die<br />

tolerante deutsche demokratische<br />

Gesellschaft als Ganzes.<br />

„Das Mindeste, was ich über diese Partei<br />

sagen kann, ist dass sie eine Nostalgie für die<br />

NS-Zeit verspürt. In diesem Sinne halte ich sie<br />

in keiner Weise für pro-israelisch.“<br />

Was bedeutet die Erinnerung für<br />

Deutschland und Israel?<br />

Israel, das jüdische Volk und<br />

Deutschland haben in den vergangenen<br />

75 Jahren einen sehr langen Weg<br />

zurückgelegt –aufeinander zu. Wie<br />

eng heute die Zusammenarbeit zwischen<br />

Israel und Deutschland auf<br />

quasi allen Feldernist, hätte sich 1945<br />

niemand vorstellen können. Wir<br />

müssen uns erinnern–aber wir müssen<br />

auch dafür sorgen, dass unsere<br />

Geschichte nicht die Zusammenarbeit<br />

in der Zukunft erschwert. Der<br />

Holocaust berührtuns alle.Als Israeli<br />

kannte ich die Geschichten der Opfer.<br />

Die Familie meiner Frau stammt aus<br />

Dortmund, ihre Urgroßeltern wurden<br />

umgebracht, ihr Großvater in<br />

Auschwitz vergast. In Deutschland<br />

lerne ich jetzt die Nachfahren der Täter<br />

kennen und ihre Familiengeschichte.Auch<br />

für sie ist nach 75 Jahrennoch<br />

nichts vorbei.<br />

Wie wird esimJahr 2045 aussehen,<br />

100 Jahrenach Kriegsende? Waswird<br />

dann noch von der Erinnerungskultur<br />

bleiben?<br />

DieErinnerungskultur hat bereits<br />

viele Phasen durchgemacht. Nach<br />

1945 haben sich viele Israelis geweigert,<br />

deutsche Produkte zu kaufen<br />

und auch nur ein Wort Deutsch zu<br />

Jeremy Issacharoff über die AfD<br />

sprechen. Heute sind unsere beiden<br />

Länder eng befreundet. 2045 wird<br />

diese Freundschaft und Zusammenarbeit<br />

im Vordergrund stehen und<br />

hoffentlich noch tiefer sein. Wirwerden<br />

uns aber immer noch an den<br />

Holocaust erinnern.<br />

Im Oktober gab es den antisemitischen<br />

Anschlag auf die Synagoge in<br />

Halle. Viele haben den Schock bis<br />

heute nicht überwunden.Washat dieser<br />

Anschlag bei Ihnen ausgelöst?<br />

DPA<br />

Der Attentäter war so radikalisiert,<br />

dass er 100 Juden getötet hätte,<br />

wenn er gekonnt hätte –oder 100<br />

Muslime. Es hat nicht viel gefehlt,<br />

und es hätte einen Massenmord an<br />

jüdischen Gläubigen an Jom Kippur<br />

gegeben. Ich war am Tagdanach in<br />

Halle, ich habe die Tür gesehen, die<br />

seinen Schüssen standgehalten und<br />

ein Massaker verhindert hat. Es gab<br />

immer Antisemitismus,rechten, linken<br />

und solchen aus der Mitte der<br />

Gesellschaft. Viele haben ihre Einstellungen<br />

aber für sich behalten.<br />

Nun treten sie ins Offene und Worte<br />

werden zu Gewalttaten.<br />

Nach dem Anschlag in Halle hat der<br />

damalige Vorsitzende des Bundestags-Rechtsausschusses<br />

von der AfD<br />

einen antisemitischen Tweet weiterverbreitet.<br />

Wird so etwas in Israel<br />

wahrgenommen?<br />

Ja,soetwas wirdsehr eng verfolgt.<br />

Ich habe Kontakte zu allen Parteien<br />

im Bundestag –mit Ausnahme der<br />

AfD. Das Mindeste, was ich über<br />

diese Partei sagen kann, ist dass sie<br />

eine Nostalgie für die NS-Zeit verspürt.<br />

In diesem Sinne halte ich sie in<br />

keiner Weise für pro-israelisch.<br />

Gehen wir zur aktuellen Außenpolitik<br />

über; Deutschland, Frankreich<br />

und Großbritannien haben den<br />

Schlichtungsmechanismus im Atomabkommen<br />

mit dem Iran ausgelöst.<br />

Istder Atom-Deal noch zu retten?<br />

Seit Mai vergangenen Jahres,<br />

aber auch zuvor,tritt Iran im Mittleren<br />

Osten zunehmend aggressiv<br />

auf. Seitdem fährtTeheran auch die<br />

Uran-Anreicherung hoch und ergreift<br />

weitere Maßnahmen, die gegen<br />

das Atomabkommen verstoßen.<br />

Ob der Schlichtungsmechanismus<br />

ein Scheitern abwenden kann,<br />

hängt von der Kooperationsbereitschaft<br />

der Iraner ab. Eins steht fest:<br />

Unsere Politik ist, dass der Iran niemals<br />

über militärische nukleareKapazitäten<br />

verfügen soll. Undmit der<br />

Verfolgung dieses Ziels sind wir im<br />

Nahen und Mittleren Osten gewiss<br />

nicht allein.<br />

Wie beeinflusst die Tötung des hochrangigen<br />

iranischen Generals Suleimani<br />

durch US-Streitkräfte die Sicherheit<br />

Israels?<br />

Suleimani hat großes Leid über<br />

die Region gebracht und zu Lebzeiten<br />

unsere Sicherheit bedroht.<br />

Wenn der Iran –wie kürzlich erst<br />

mit Raketenangriffen aus Syrien –<br />

unsere Sicherheit bedroht, haben<br />

wir hart und entschlossen reagiert.<br />

Niemand sollte in dieser Hinsicht<br />

an unserer Entschlossenheit zweifeln.<br />

Die Bundesregierung kritisiert den<br />

fortschreitenden israelischen Siedlungsbau<br />

im Westjordanland. Trübt<br />

dies das israelisch-deutsche Verhältnis?<br />

Angesichts der Vielzahl an Themen,<br />

die uns verbinden, verwundert<br />

esmich nicht, wenn wir nicht<br />

jedes Mal einer Meinung sind. Aber<br />

glauben Sie mir: Ich finde jederzeit<br />

Gehör in der Bundesregierung und<br />

wir hören uns ihre Positionen an.<br />

Ob es um Iran, Syrien oder die Palästinenser<br />

geht: Meine Gesprächspartner<br />

in Berlin und ich können<br />

uns über alles offen austauschen. Es<br />

gibt zwischen Israel und Deutschland<br />

deutlich mehr Übereinstimmung<br />

als Uneinigkeit.<br />

DasGespräch führten Marina<br />

Kormbaki und JanSternberg.<br />

Trumps Verteidiger greifen an<br />

Die Anwälte des US-Präsidenten sehen im Impeachment-Verfahren einen Angriff gegen die Rechte des amerikanischen Volkes<br />

Im Amtsenthebungsverfahren gegen<br />

US-Präsident Donald Trump<br />

gehen dessen Anwälte zum Angriff<br />

über. Die Anklagepunkte gegen den<br />

Präsidenten seien verfassungswidrig<br />

und müssten abgelehnt werden,<br />

heißt es in einem Schreiben, das das<br />

Weiße Haus am Sonnabend veröffentlicht<br />

hat und damit auf die Anklage<br />

des Präsidenten vor dem US-<br />

Senat eingeht.<br />

Trump muss sich als dritter Präsident<br />

in der Geschichte der Vereinigten<br />

Staaten einem Amtsenthebungsverfahren<br />

stellen. Ihm werden<br />

Machtmissbrauch und Behinderung<br />

der Ermittlungen des Repräsentantenhauses<br />

vorgeworfen.<br />

Die wichtigsten Punkte des Verfahrens<br />

im Überblick:<br />

Wie argumentieren die Verteidiger des<br />

Präsidenten?<br />

Ausihrer Sicht beinhalten die Anklagepunkte<br />

weder Straftaten noch<br />

Gesetzesverstöße, geschweige denn<br />

„schwere Verbrechen oder Vergehen“<br />

–Gründe, die die Verfassung<br />

unter anderem als Grundlage für ein<br />

sogenanntes Impeachment anführt.<br />

Sieseien darüber hinaus das Produkt<br />

eines „ungültigen Verfahrens“, das<br />

dem Präsidenten jedes Recht verwehrt<br />

habe, hieß es aus Kreisen des<br />

Verteidigerteams. Zudem macht die<br />

Verteidigung den Demokraten<br />

schwere Vorwürfe: Ihre Anklagepunkte<br />

gegen den Präsidenten „sind<br />

ein gefährlicher Angriff auf das Recht<br />

des amerikanischen Volkes, ihren<br />

Präsidenten frei zu wählen“, heißt es<br />

in dem am Sonnabend veröffentlichten<br />

Schreiben.<br />

Wie argumentieren die Ankläger?<br />

Die sieben Anklagevertreter des<br />

US-Repräsentantenhauses legen<br />

ihre Vorwürfe in einem 111 Seiten<br />

langen Dokument vordem inhaltlichen<br />

Start des Amtsenthebungsverfahrens<br />

am Dienstag noch einmal<br />

ausführlich dar. Sie sehen es<br />

als erwiesen an, dass der Präsident<br />

für seine persönlichen Ziele die<br />

Macht seines Amtes missbraucht<br />

hat.<br />

So soll er Druck auf seinen ukrainischen<br />

Kollegen Wolodymyr Selenskyj<br />

ausgeübt haben, damit sich dieser<br />

zu seinen Gunsten in die US-Wahl<br />

2020 einmischt. „Sein Fehlverhalten<br />

stellt das Grundprinzip infrage,dass<br />

Trump muss sich als dritter Präsident der USA einem Impeachment-Verfahren stellen.<br />

Amerikaner die amerikanischen<br />

Wahlen entscheiden sollen“, schreiben<br />

die Anklagevertreter. Zudem<br />

habe Trump verhindern wollen, dafür<br />

zur Rechenschaft gezogen zu<br />

werden, indem er die Impeachment-Ermittlungen<br />

behindert<br />

habe. Trumps Verhalten sei der<br />

DPA<br />

„schlimmste Albtraum“ der amerikanischen<br />

Gründerväter.<br />

Werverteidigt den Präsidenten?<br />

Angeführt wird das insgesamt<br />

achtköpfige Team vom Rechtsberater<br />

des Weißen Hauses, Pat Cipollone,und<br />

Trumps persönlichem An-<br />

walt Jay Sekulow. Einen Namen<br />

kennt man noch aus dem letzten Impeachment<br />

gegen den früheren Präsidenten<br />

Bill Clinton: Kenneth Starr<br />

war der Sonderermittler in dem Verfahren.<br />

Der emeritierte Harvard-<br />

Professor Alan Dershowitz wurde<br />

Mitte der 1990er-Jahre als Mitglied<br />

des Verteidigerteams des Football-<br />

Stars O. J. Simpson bekannt.<br />

Waspassiertals Nächstes?<br />

Der Verfassungsrichter John Roberts<br />

ist als Leiter des Verfahrens am<br />

Donnerstag im Senat vereidigt worden<br />

–und auch die 100 Senatoren,<br />

die am Ende über eine Amtsenthebung<br />

von Trump entscheiden. Nun<br />

kann das Amtsenthebungsverfahren<br />

inhaltlich beginnen.<br />

Der Senat kommt dafür am<br />

Dienstagmittag (Ortszeit) zusammen.<br />

Viele Verfahrensfragen müssen<br />

noch geklärtwerden. So ist zum Beispiel<br />

völlig unklar, obneue Zeugen<br />

vernommen werden. Die Demokraten<br />

pochen darauf, die Republikaner<br />

lehnen es bislang ab.<br />

Muss Trump fürchten, des Amtes enthoben<br />

zu werden?<br />

Eigentlich nicht. Seine Republikaner<br />

haben in der entscheidenden Parlamentskammer<br />

die Mehrheit. Für<br />

eine Amtsenthebung Trumps müsste<br />

eine Zweidrittelmehrheit von 67Senatoren<br />

für mindestens einen der<br />

beiden Anklagepunkte stimmen. Das<br />

gilt als extrem unwahrscheinlich.<br />

Warum haben die Demokraten ein<br />

Amtsenthebungsverfahren in die<br />

Wege geleitet?<br />

Sie beschuldigen Donald Trump,<br />

den ukrainischen Präsidenten zu<br />

Ermittlungen gegen seinen politischen<br />

Rivalen JoeBiden gedrängt zu<br />

haben, um die US-Präsidentschaftswahl<br />

2020 zu seinen Gunsten<br />

zu beeinflussen. Sie sehen es als erwiesen<br />

an, dass Trump von der Ankündigung<br />

solcher Ermittlungen<br />

ein Treffen mit Selenskyj im Weißen<br />

Haus und die Freigabe von Militärhilfe<br />

in Höhe von rund 400 Millionen<br />

US-Dollar für die Ukraine abhängig<br />

gemacht habe. Als das herausgekommen<br />

sei, habe Trump alles<br />

darangesetzt, die Ermittlungen<br />

des Repräsentantenhauses zu blockieren.<br />

Trump weist dieseVorwürfe<br />

zurück. (dpa)

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