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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 19 · D onnerstag, 23. Januar 2020 – S eite 21<br />
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Feuilleton<br />
Zum Rücktritt<br />
des BBC-Direktors<br />
Tony Hall<br />
Seite 23<br />
„Was ist das für eine repressive Vorstellung von Frauen?“<br />
Sabine Rennefanz über Lisa Taddeos Buch „Three Women“ Seite 22<br />
Ai Weiwei<br />
Aus dem Taxi<br />
geflogen<br />
Harry Nutt<br />
spürtder Deutschland-Kritik<br />
des Künstlers nach.<br />
Immer diese Taxi-Fahrer. Ineinem<br />
Interview mit der Zeitschrift The<br />
Guardian schildert der chinesische<br />
Künstler Ai Weiwei, dass ihm in Berlin<br />
wiederholt die Fortsetzung der<br />
Beförderung verweigert worden sei.<br />
Einmal sei es darum gegangen, dass<br />
er wegen eines starken Parfümgeruchs<br />
das Fenster geöffnet habe und<br />
er daraufhin vom Fahrer hinausgeworfen<br />
worden sei. Ein anderes Mal<br />
sei er des Taxis wegen eines zu lauten<br />
Telefonats verwiesen worden.<br />
Es ist nicht das erste Mal, dass Ai<br />
Weiwei sich kritisch zu seinem fast<br />
vierjährigen Aufenthalt in Berlin äußert,<br />
wo er nach einer mehrmonatigen<br />
Haft in einem chinesischen Gefängnis<br />
und einem vierjährigen Reiseverbot<br />
von 2015 bis 2019 gelebt<br />
hat. Mehrfach hat der in Deutschland<br />
gefeierte Künstler, der auf der<br />
Documenta 12 im Jahre 2006 gleich<br />
mit zwei Werken präsent war, die<br />
allzu lasche Haltung Deutschlands<br />
gegenüber den Menschenrechtsverletzungen<br />
Chinas beklagt.<br />
Im Gespräch mit dem Guardian<br />
unterstellt AiWeiwei einen ganz konkreten<br />
Zusammenhang zwischen<br />
dem diplomatischen Lavieren der<br />
Deutschen und deren nationalen<br />
Charakter.Die Deutschen, mutmaßt<br />
er im Gespräch, lieben die Bequemlichkeit,<br />
unterdrückt zu werden.<br />
Diese Eigenart teilten sie mit seinen<br />
chinesischen Landsleuten. „Wenn<br />
du dich erst mal daran gewöhnt hast,<br />
kannst du es richtig genießen“, sagt<br />
Ai Weiwei sarkastisch und verweist<br />
dabei auf die Existenz eines auffällig<br />
autoritären Charakters in beiden<br />
Ländern. In Deutschland wie in<br />
China sei kein Platz für Individualität.<br />
Der Nazismus indes präge den<br />
deutschen Alltag bis heute.<br />
Es ist ein wenig verstörend, wenn<br />
Ai Weiwei nach unangenehmen Erfahrungen<br />
im öffentlichen Nahverkehr<br />
Hochrechnungen über völkische<br />
Mentalität anstellt. In Berlin<br />
präsentiertAiWeiwei demnächst übrigens<br />
ein Kunstwerkaus Baumaterialien<br />
in Zusammenarbeit mit einer<br />
deutschen Baumarktkette.<br />
Die Zeit der Gemeinsamkeit ist vorbei: Sasha Waltz und Johannes Öhman geben die Doppelspitze in der Intendanz des <strong>Berliner</strong> Staatsballetts vorfristig auf.<br />
Der Rückzug<br />
Johannes Öhman und Sasha Waltzgeben die Intendanz des Staatsballetts vorzeitig zum Ende des Jahres ab<br />
VonUlrich Seidler<br />
Für eine tanzweltbewegende<br />
Revolution, die mit einem<br />
veritablen Kulturkampf<br />
einherging, der dann tatsächlich<br />
befriedet wurde,ist das jetzt<br />
eine ratlos bis mürrisch stimmende<br />
Nachricht: Johannes Öhman und<br />
Sasha Waltz legen die gemeinsame<br />
Intendanz des Staatsballetts vorzeitig<br />
zum Ende des Jahres nieder. Die<br />
<strong>Berliner</strong> Choreografin Waltz war<br />
dann seit Sommer 2019 gerade mal<br />
anderthalb Spielzeiten auf dem Posten,<br />
der vormalige Leiter des Königlichen<br />
Schwedischen Balletts Öhman<br />
hatte den Betrieb ein Jahr zuvor von<br />
Nacho Duato übernommen. Nun<br />
heißt es in einer Pressemitteilung<br />
vonMittwochvormittag aus der Kulturverwaltung,<br />
dass Öhman mit Beginn<br />
des nächsten Jahres das Dansens<br />
Hus in Stockholm als Geschäftsführer<br />
und künstlerischer<br />
Leiter übernehmen werde. „Vor diesem<br />
Hintergrund“ lege Waltz ihre<br />
Co-Intendanz ab.<br />
Der Kultursenator muss die persönliche<br />
Entscheidung von Öhman<br />
hinnehmen, dankt und macht klar,<br />
dass der vonden beiden eingeschlagene<br />
Weg−nämlich die Zusammenführung<br />
vonklassischem Ballett und<br />
zeitgenössischem Tanz unter dem<br />
Dach einer Institution − mit einer<br />
neuen Führung fortgesetzt werden<br />
solle. Ebendiese Zusammenführung<br />
hat nach kurzem Jubel über die Ernennung<br />
von Waltz/Öhmann im<br />
September 2016 durch den damaligen<br />
Kultursenator Michael Müller<br />
und seinen Staatssekretär Tim Renner<br />
großen Ärger ausgelöst −bei der<br />
Kompanie.<br />
Diesprach sich mitten in der ähnlich<br />
gelagerten Strukturstreiterei an<br />
der Volksbühne,die unter Chris Dercon<br />
vom Ensemble- zum Festspieltheater<br />
umgebaut werden sollte,einstimmig<br />
gegen die angekündigte<br />
Leitung aus. Man befürchtete, dass<br />
die Stärke und Exzellenz der Ballett-<br />
Kompanie mit ihren 86 Stellen geschwächt<br />
werde, wenn sie, wie geplant,<br />
Kapazitäten an den zeitgenössischen<br />
Tanz abgeben muss. Wenn<br />
Waltz das Haus führe, hieß es, würden<br />
sich auch klassisch weniger gut<br />
geschulte Tänzer bewerben. DerVerteilungskampf<br />
wurde mit Wut und<br />
Erbitterung geführt. Und doch<br />
konnten Waltz und Öhman, als sie<br />
dann ihre konkreten Pläne vorstellten,<br />
in denen das Ballett nicht zu<br />
kurz kam, die Bedenken einfangen<br />
und eine künstlerisch produktive<br />
Stimmung herstellen.<br />
Die letzten Staatsballettpremieren<br />
wurden vom Publikum begeistert<br />
und von der Kritik wohlwollend<br />
aufgenommen. Über interne Problemlagen,<br />
die möglicherweise<br />
komplex und individuell sein können,<br />
drang nichts in die Öffentlichkeit.<br />
Die steht bedröppelt da: Jetzt<br />
haben wir euer Projekt gerade nicht<br />
nur geschluckt, sondernsogar gefeiert.<br />
Und ihr lasst uns allein? Besonders<br />
die durchgeschüttelte Kompanie<br />
wird nun neuem Veränderungsstress<br />
ausgesetzt.<br />
Sasha Waltz war in Berlin schon<br />
einmal an einem ähnlichen künstlerisch-institutionellen<br />
Aufbruch beteiligt<br />
−hier ging es um die Fusion<br />
von Sprech- und Tanztheater an der<br />
Schaubühne. Nach einem furiosen<br />
Auftakt und immerhin fünf Spielzeiten<br />
kamen die Trennung und der<br />
Auszug vonWaltz. Damals wurde das<br />
Gezerre uminterne Verteilungskonflikte<br />
über die Presse ausgetragen.<br />
Dashat Nerven gekostet, wuchs sich<br />
zum Krieg der Eitelkeiten aus und<br />
trug wenig zur Wahrheitsfindung<br />
bei. Hier aber fiel das Schauspiel-<br />
Tanz-Projekt mit dem Weggang von<br />
Waltz in sich zusammen −Thomas<br />
IMAGO IMAGES<br />
Ostermeier führt das Haus heute als<br />
Sprechtheater reinen Wassers.Waltz<br />
hat sich nun dagegen entschieden,<br />
Öhman ziehen zu lassen und das<br />
Staatsballett zumindest interimistisch<br />
alleine zu führen. Siewolle sich<br />
wieder ganz auf die Choreografie<br />
konzentrieren. Hatsie ein für allemal<br />
die Nase vonInstitutionen voll?<br />
Und was ist mit Öhman? Heimweh?<br />
Verglichen mit dem <strong>Berliner</strong><br />
Staatsballett ist das Dansens Hus in<br />
Stockholm −eine vonschwedischen<br />
Opern- und Theaterhäuserngegründete<br />
Gastspielbühne −eineNummer<br />
kleiner. Wieso haben die beiden die<br />
Lust an ihrem Projekt verloren? Waren<br />
die Kämpfe mit der Kompanie<br />
doch nicht ausgefochten? Gab es<br />
Spannungen in der Doppelspitze? Ist<br />
es einmal mehr so,dass das Staatsballett<br />
als schwächstes Glied in der<br />
Opernstiftung untergebuttertwurde?<br />
Oder kam mit dem Erfolg schon so<br />
rasch die Langeweile?<br />
Im März wollen die beiden ihre<br />
Pläne für die Spielzeit 2020/21 vorstellen,<br />
weitere Planungen reichen<br />
bis weit ins Jahr 2022. Diese Positionen<br />
wird die Nachfolgeintendanz<br />
übernehmen müssen. Das erleichtert<br />
den Übergang nach so einer<br />
Überraschung.<br />
NACHRICHTEN<br />
Armin aus der „Sendung mit<br />
der Maus“ wird 80 Jahre alt<br />
Seine helle,warme,wache und unendlich<br />
entspannte Stimme kennt<br />
wohl jeder,der ab 1971 Kind war:Armin<br />
Maiwald, Miterfinder der WDR-<br />
„Sendung mit<br />
der Maus“ und<br />
neben Christoph<br />
Biemann und<br />
Ralph Caspers<br />
einer der wichtigsten<br />
Präsentatoren<br />
der sonntäglichen<br />
„Lachund<br />
Sachgeschichtren“<br />
wird<br />
am Donnerstag<br />
Sachexperte<br />
Armin Maiwald<br />
80 Jahrealt. Dergebürtige Kölner ist<br />
Autor,Regisseur und Produzent.<br />
2015 erschien seine Autobiografie<br />
„Aufbau vorlaufender Kamera“.<br />
(BLZ)<br />
DPA<br />
Komiker TerryJones von<br />
MonthyPython gestorben<br />
Derbritische Monty-Python-Komiker<br />
TerryJones ist im Alter von77<br />
Jahren gestorben. Mitbuschigen Augenbrauen<br />
und kreischender<br />
Stimme verkörperte TerryJones mit<br />
Wonne die weiblichen Quälgeister<br />
der Monty-Python-Truppe –etwa in<br />
der Bibelfilm-Persiflage „Das Leben<br />
des Brian“. Dergebürtige Waliser<br />
starb bereits am Dienstag. 2016 war<br />
bekannt geworden, dass TerryJones<br />
an Demenz litt. (dpa)<br />
BradleyCooper setzt mit<br />
Bernstein-Film auf Netflix<br />
Bradley Cooper („A Star is Born“)<br />
wirdseinen geplanten Film über den<br />
Dirigenten und Komponisten LeonardBernstein<br />
(1918–1990) bei Netflix<br />
unterbringen. DerStreamingdienst<br />
habe sich die Rechte für Coopers<br />
Regieprojekt gesichert, berichteten<br />
US-Filmblätter am Dienstag.<br />
Neben Cooper,der auch die Hauptrolle<br />
spielen soll, sind als Produzenten<br />
unter anderem Martin Scorsese,<br />
Steven Spielbergund „Joker“-Regisseur<br />
Todd Phillips an Bord.Der Film<br />
soll mehr als 30 Jahrevon Bernsteins<br />
Leben zeigen. Zusammen mit dem<br />
Oscar-prämierten Autor Josh Singer<br />
(„Spotlight“) liefertCooper auch das<br />
Drehbuch für das Biopic. (dpa)<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Hundeleben<br />
Mitbringsel aus<br />
dem Tegeler Forst<br />
VonCornelia Geißler<br />
BLZ/ANJA KÜHL<br />
Der Klimawandel ist auf den Hund gekommen.<br />
Aufmeinen Hund, um genau<br />
zu sein. Wir haben bald Ende Januar, immer<br />
noch hat es in Berlin nicht geschneit. Den<br />
Mäusen auf dem Tempelhofer Feld geht es so<br />
gut, dass der Hund kaum noch die Nase aus<br />
dem Boden bekommt: Es riecht nach dem<br />
süßem Leben. Eigentlich müsste die Erde<br />
jetzt hartgefroren sein.<br />
Also muss ich Lotta gut zureden, sich lieber<br />
für Ball (nö!), Stöckchen (nö!) oder Leckerli<br />
(na ja) zu entscheiden. Die Parkwächter<br />
in ihren weißen Dussmann-Autos mögen<br />
das Buddeln gar nicht. Siehaben ja recht. Sie<br />
argumentieren damit, dass Menschen in die<br />
ausgeweiteten Mauselöcher fallen könnten.<br />
Menschen könnten ja wenigstens gucken,<br />
wo sie hintreten. Aber eine alte Freundin<br />
meiner Lotta, eine Wiszla-Dame, die mit ihrenstolzen<br />
13 Jahren etwas wackelig auf den<br />
Beinen ist, zogsich neulich genau in solch einem<br />
Hundebuddelloch eine Zerrung zu. Die<br />
Wachleute könnten ja auch die Mäuse vom<br />
Tempelhofer Feld vertreiben, doch dann<br />
fehlte ein paar größerenVögeln die Nahrung.<br />
Aber ich komme vomWege ab.<br />
Ganz in der Nähe, imBöcklerpark, sprießen<br />
in Büscheln die Schneeglöckchen.Wenn<br />
es bis zur Berlinale nicht geschneit hat, wird<br />
es nichts mehr mit dem Winter, heißt eine<br />
alte Kulturjournalistenweisheit. Die <strong>Berliner</strong><br />
Filmfestspiele beginnen in diesem Jahr besonders<br />
spät, am 20. Februar,dableibt noch<br />
ein bisschen Hoffnung. Aber in diesen Zeiten<br />
…Hunde, die jetzt Strickkleider tragen, wirken<br />
träge in der <strong>Berliner</strong> Sonne, denn sie<br />
können die Wolle nicht abwerfen, wie ihre<br />
Artgenossen das zu viel gewachsene Winterfell.<br />
„Nackte Tiere“ heißt ein deutscher Film,<br />
der seine Weltpremiere inder neuen Berlinale-Sektion<br />
Encounters feiert. Aber darin<br />
geht es offenbar nur am Rande um Tiere.<br />
Auch Hunde sind in der Stadt zur Randexistenz<br />
verdammt. Daswill ich gar nicht kritisieren,<br />
nur feststellen. Dorfhunde haben<br />
ganz andere Erfahrungen: Sie müssen nur<br />
vordie Tür treten, schon ist die Natur da, sie<br />
können frei herumlaufen und eine Arbeit bei<br />
den Schafen verrichten. Wie heldenhaft toll<br />
#Dorfkinder sind, zeigt in diesen Tagen die<br />
Agrarministerin in einer Kampagne.<br />
Stadtkinder kennen eigene Spielplätze<br />
und Hundespielplätze. Gerade hat Lotta ein<br />
Fußbad im Tegeler See genommen, nachdem<br />
sie sich über den eingezäunten Hundespielplatz<br />
dortschlapp gelacht hat, so winzig<br />
ist der. Mein kleiner Neffe tobt dort denoch<br />
mit Vergnügen. Als wir weiterspazieren wollen,<br />
sage ich mit böser Tantenstimme: Für<br />
Kinder verboten! So streng halte ich sonst<br />
den Hund vomKinderspielplatz fern.<br />
Ein Fuchs huscht vorbei, wie überall in<br />
der Stadt. Die Leine hält, meine leichte Zerrung<br />
im ArminFolges des Hundebändigens<br />
hält dann noch etwas an. Der Klimawandel<br />
hält uns zwar den Schnee vor, doch ist er wenigstens<br />
noch nicht so schlimm, dass wir im<br />
Januar Walderd- oder Blaubeeren hätten.<br />
Fuchsbandwurmgefahr besteht derzeit nun<br />
wirklich nicht. Allerdings hätte ich auch<br />
nicht mit Zecken gerechnet. Wasaber hängt<br />
am Abend bei Lotta zwischen Hals und<br />
Schulter an der Haut fest, verborgen unterm<br />
Fell? Das Mitbringsel aus dem Tegeler Forst<br />
hat acht Beine, die sich noch munter bewegen,<br />
als ich mit demWerkzeug anrücke.Jeder<br />
Ratgeber verspricht, dass jetzt keine Zeckenzeit<br />
ist, frühestens ab Märzsei wieder mit ihnen<br />
zu rechnen. Der Klimawandel macht<br />
aber auch vorgar nichts halt.