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Prolog<br />
Wie an manchen dienstfreien Sonntagen fahre ich an einem stürmischen<br />
Novembertag nach Hiddesen, einem kleinen Ort unterhalb des Hermannsdenkmals<br />
bei Detmold. Meiner Mutter geht es nicht gut. Sie leidet<br />
unter Schmerzen im Rücken und Hüftbereich. Sie ist gerade 86 Jahre alt<br />
geworden. Vor 15 Jahren wurde sie am Brustkrebs operiert. Mein Vater<br />
dagegen ist mit seinen 93 Jahren noch ausgesprochen munter. 13 Jahre<br />
lang hatten die Eltern im Wohnstift Augustinum eine gute Zeit. Doch<br />
jetzt, wenn ich meine Mutter leidend, leicht gekrümmt in ihrem Sessel<br />
sitzen sehe, beschleichen mich böse Vorahnungen. Wie Fragmente eines<br />
Filmes drängen sich mir immer mehr Bilder aus meiner Kindheit während<br />
des Krieges auf. In dieser bedrohlichen Zeit fühlte ich mich meiner<br />
Mutter besonders eng verbunden.<br />
Ich fasse ihre schmale, faltige Hand und frage sie: „Weißt Du noch, wie<br />
wir uns bei den Bombenangriffen fest umarmt hatten und uns gegenseitig<br />
versicherten: wir zwei tapferen Deutschen?“<br />
„Ja, dieser böse Krieg hat so viele Opfer gefordert. Am Ende waren wir<br />
zu willenlos und schwach, um noch etwas zu empfinden.“ Ihr Blick<br />
wendet sich zu den gerahmten Fotos zweier junger Männer in Wehrmachtsuniform.<br />
„Heinz und Friedel, meine Brüder, sind umsonst in<br />
Russland gefallen. Wir beiden konnten uns retten mit Volkerchen, Deinem<br />
kleinen Brüderlein.“ Nach einer Pause, in der sich ihr Blick nach<br />
innen richtet, sagt sie: „Bleib noch ein wenig.“<br />
Ihre Lippen sind wie immer geschminkt. Make-up kaschiert ein wenig<br />
die hängenden Falten unter den Augen. Sie war früher eine schöne Frau,<br />
immer apart gekleidet, eine gute Gastgeberin und Mittelpunkt bei Festen.<br />
„Kannst Du Dich noch an Deine schwerste Zeit mit mir zusammen<br />
erinnern, Muttchen?“<br />
Ihr Blick ruht auf mir: „Wenn Du etwas Geduld hast, mein Großer,<br />
übergebe ich Dir mein Leben in gebundener Form.“<br />
Ich bin gespannt auf die Fertigstellung. Ob sie noch so viel Kraft<br />
aufbringen kann?<br />
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