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TamS Theater 50

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50

THEATER

ATHENA





50

Herausgegeben von TamS e.V.



Inhalt

Kapitel I

T wie THEATER

und wie man damit beginnt

Die wundersame Metamorphose eines Tröpferlbads 14

Kapitel II A wie AUF, HINTER

und vor der Bühne

Ein Bühnenbildner, treue Hausautoren und viele Ausstellungen 72

Kapitel III M wie MANCHE

mögen's TamS. Ein Kommen und ein Gehen

Wer kam, wer blieb, wer anfing 138

Kapitel IV

S wie SELBSTERFINDUNG

Neue Formate, von Wässerungen, Grenzgängern

und TamS Garage 178

Impressum 238


Nun wird das Geheimnis

Worte zum TamS

Worte zum TamS

Eine Frage, die ich mir bisweilen gestellt habe: „Wo wohnt eigentlich

die Phantasie?“, blieb mir lange unbeantwortet. Meine Bemühungen

waren anfänglich nicht von Erfolg gekrönt. Weder hat mich das Lesen

im Kaffeesatz befriedigen können, noch haben das mehrere Blicke in

die Glaskugel geschafft. Aber heute beziehungsweise seit geraumer Zeit

weiß ich es natürlich.

Die Phantasie wohnt in der Haimhauserstraße 13, wie immer, in München-

Schwabing. Dort hat sich sehr viel dazugesellt. Die Winzigkeit,

die Großartigkeit, die Zeitlosigkeit und die Großmut ergeben eine

wunderbare Paarung. Und sie erzeugen dann dieses Flair.

Unglaublich, wie dieses Flair mit der Raffinesse, aber auch mit dem

Deppertsein umgeht. Das Auf-der-Stelle-Treten zeigt sich dort genauso

wie die Gier nach Fortschritt, will heißen Geld (meistens). Fragilstes

Menschsein stolpert, aber gleitet auch äußerst würdevoll über die Bretter

dort. Dem Lächeln wird der rote Teppich ausgerollt, und das Lachen weicht

nur, wenn die Melancholie ihren Auftritt hat. Hier lebt die Phantasie schon

sehr lange zusammen mit dem Humor und in einer Art Gütergemeinschaft.

Wer krank ist, geht ins Krankenhaus oder ins Sanatorium, wer fit sein will,

geht ins Fitness-Studio. Wer ein Mensch werden will oder ein solcher bleiben

will, der geht ins TamS. Nicht lange her bin ich jemandem begegnet,

der mir gesagt hat, er sei ein neuer Mensch geworden und verdanke

das der Anette Spola, dem Philip Arp

und denen, die mit ihnen sind.

Gerhard Polt


gelüftet

Liebes TamS-Publiku

Liebe Leser

Was kann ein Großbauprojekt der Stadt München mit dem kleinen Tam Tam

der Anette Spola zu tun haben?

1969 war das Jahr des Bauens. Aus dem städtischen Tröpferlbad in Schwabing

entstand ein idyllisches Hinterhoftheater mit Galerie im Dachboden. Nebenan

wuchs gleichzeitig die U-Bahn-Station Münchner Freiheit zu stattlicher Größe

heran. Philip Arp, Gründer des Theaters und maßgeblicher Gestalter seines

Programms, entwarf jede Menge vielseitiger Umbaupläne. Sie sollten nicht nur,

sie wollten und konnten auch das ehemalige Brausebad einer neuen Öffentlichkeit

erschließen. Dabei halfen Freunde, die hemmungslos die Duschkabinen

einschlugen, Stromleitungen legten, Wände bemalten und Bretter zimmerten,

die die Welt bedeuten. Eine Welt aus hoher Bühnenkunst und Kleinkunst, aus

Schauspiel, Kabarett, Groteske, Gesang und Engagement. Eine Welt, die bis

heute zum Nachdenken, Staunen, Heulen und Lachen anregt.

Was sich seit diesen Anfangstagen diesseits und jenseits der Bretter ereignete,

haben wir mit Bild und Text auf 240 Seiten zusammengefasst. Es ist die Geschichte

eines kleinen und querulanten Hinterhoftheaters, das dem Mainstream

der Zeiten widerstand, indem es seinen eigenen, manchmal eigenwilligen,

manchmal aberwitzigen Tönen folgte.

Stellen Sie sich vor, Sie setzen sich in eine Aufführung, lassen Ihre Blicke zur

Bühnendecke hinaufwandern – wenn nicht von samtenen Vorhängen verhüllt,

sehen Sie dort eine 1-a-schöne Betondecke. Sie wurde an einem Wochenende

von original bayrischen und kunstinteressierten U-Bahn-Bauarbeitern

eingezogen und mit großem Applaus honoriert. Das war zweifelsohne der Höhepunkt

einer erfolgreichen Zusammenarbeit im Untergrund, die erst durch Sie,

wertes Publikum, ihre Krönung im Laufe der ersten fünfzig Jahre erlebte!




Ein Haus für das Besondere

Gottfried Knapp

Wenn Theater sich in der Stadt verstecken

müssten, wäre das TamS, das

Theater am Sozialamt in München,

besser als jedes andere Theater

versteckt und vor Blicken geschützt.

Wer die Haimhauserstraße in Schwabing

entlanggeht, wird vielleicht die

schöne Architektur der Schule am

Ende der Straße wahrnehmen und

die Eckkneipe an der Ursulastraße,

doch dass er auf der kurzen Strecke

an einem Theater vorbeigekommen

ist, wird er für unwahrscheinlich halten,

wenn er nicht zufällig das über

einem Garteneingang hängende

TamS-Schild entdeckt hat. Aber

auch wenn er registriert hat, dass das

Schild zu einem Theater gehört, wird

er sich kaum vorstellen können, dass

jenseits des schlichten Gartentors, am

Ende des schmalen, nach hinten führenden

Wegs, ein Theater versteckt

ist, zu dem an vielen Abenden die

Besucher hinströmen.

Begibt sich der durch das Schild angelockte

Passant hinein in den

versteckten Hinterhof, wird er sich

angesichts der herumstehenden Gartenmöbel

und der von einer Sitzbank

umgebenen Trauerweide wahrscheinlich

wie ein Eindringling in einem

Privatgarten vorkommen. Wenn er

aber abends vor oder nach einer

Theateraufführung diesen Hof betritt

und die bei einem Wein oder einem

Bier beieinandersitzenden Leute sieht,

wird er das Ganze vielleicht

für einen intimen Biergarten halten.

Wo aber ist in diesem Hinterhof das

versprochene Theater? Als Ort kommt

eigentlich nur das flache Rückgebäude

in Frage. Wir steuern also

auf die einzige Tür zu, die ins Innere

zu führen scheint, durchqueren den

Windfang – und landen verdutzt in

einem technischen Denkmal. Vor uns

erhebt sich ein Eisenmonstrum, das

dicke Rohre zur Decke hinaufschickt.

Dieser Stahlkoloss schiebt sich uns so

breithüftig entgegen, dass er fast wie

ein vorgerückter Altar wirkt. An diesem

Altar müssen wir, die ins versprochene

Theater vorstoßen wollen,

unser Opfer darbringen. Erst wenn

wir den bestimmten Geldbetrag entrichtet

haben, dürfen wir bleiben und

können uns umschauen.

Wo sind wir hingeraten? Mit unserer

Eintrittskarte haben wir ein höchst

merkwürdiges Ambiente erkauft. Wir

fragen uns: Gehören die massiven

Rohre und der Block schon zum Bühnenbild?

Die Antwort ist, wie alles

hier, recht ungewöhnlich: Nein, wir

sind im ehemaligen Heizraum eines

städtischen Brausebads gelandet.

Nach dem Krieg gab es noch mehrere

solcher öffentlichen Brause- oder

Wannenbäder in Münchens Vorstädten.

Heute sind sie alle abgerissen.

Nur im Bad am ehemaligen Sozialamt

in Schwabing, das wir eben betreten

haben, haben sich Teile der imposanten

Heizanlage erhalten, weil vor

nunmehr fünfzig Jahren zwei junge

Theaterleute, die einen Spielort

10


suchten, sich bereit erklärt haben, die

zum Abbruch vorgesehene Badegruft

zu übernehmen und auf eigene Rechnung

in ein Kulturhaus umzuwandeln,

in dem man Theater spielen und Ausstellungen

zeigen kann.

Mit Hilfe von Freunden haben Philip

Arp und Anette Spola die alte Duschhalle,

in der es jahrzehntelang gedampft,

gespritzt und getropft hat, in

einen intimen Theaterraum umgebaut,

der den Besuchern nicht nur gute

Akustik, sondern auch beste Sicht auf

eine cinemascopebreite Bühne bietet.

Im Vorraum aber, dem ehemaligen

Heizraum, haben sie von dem einzigartigen

Monument der Münchner Sozialgeschichte

so viel stehen lassen,

dass man heute noch etwas begreift

von den Umständen, denen sich früher

einmal Leute unterziehen mussten,

die einfach nur duschen oder

baden wollten.

Dass an einem so ungewöhnlichen

Ort langweilige Leute zusammenkommen,

ist eigentlich ziemlich unwahrscheinlich.

Und dass hier ganz

gewöhnliches Theater gemacht wird,

ist schon fast undenkbar. Tatsächlich

hat sich im TamS ein höchst eigenwilliger

Theaterstil entwickelt, der vom

höchst eigenwilligen Gehäuse inspiriert

ist und den baulichen Besonderheiten

auch szenisch immer wieder

gerecht wird.

Damit war der Weg freigeschlagen für

eine Vielfalt von Theaterexperimenten:

Autoren konnten für die intime

Bühne dramaturgische Sonderformen

entwickeln, und Regisseure haben

hier anarchisch komische bis surreal

verträumte Versionen des Bühnenspiels

erprobt. In kaum einem der

vielen Kleintheater, die es in den

letzten fünfzig Jahren in Deutschland

gegeben hat, dürfte sich im Lauf der

Jahrzehnte so viel bewegt haben wie

im TamS in München-Schwabing.

Dass nach Philip Arps frühem Tod das

Niveau gehalten werden konnte, ist

vor allem Anette Spola zu verdanken,

der Partnerin, der Prinzipalin.

Sie verstand es, einen Kreis von

theaterhungrigen Leuten um sich

zu versammeln. Und ihr ist es zudem

gelungen, erratische Bühnengrößen

zu Soloauftritten zu animieren, bekannte

Literaten zu Lesungen einzuladen

und vielversprechende Musiker

zu Konzerten zu bitten.

Für viele Schauspieler aber ist das

TamS zum dauerhaften Ankerplatz,

ja zu einer Art Heimat geworden.

Man könnte den Namen „Theater am

Sozialamt“ darum in doppeltem Sinne

deuten: Das TamS ist nicht nur der

ehemaligen Zweigstelle des Münchner

Sozialamts direkt benachbart,

es fungierte häufig selber als eine Art

Sozialamt – und zwar für Theatermacher,

Schauspieler, Autoren und

Musiker, die sich bewähren wollten,

die viel zu bieten, aber wenig zu

beißen hatten.

11



Die Sonderstellung des TamS

innerhalb der Münchner Theaterszene

ist also nicht nur an dem

geheimnisvoll versteckten Bau

abzulesen, in dem gespielt wird,

und nicht nur am spezifischen

Aufführungsstil des Hauses,

der sich von den hochsubventionierten

kommunalen und staatlichen

Theatern wohltuend unterscheidet,

sondern auch an den

sozialen Impulsen, die von

diesem Gebäude im Hinterhof

immer wieder ausgegangen sind.


Kapitel

I

Valentinaden S. 16

Frühe Inszenierungen S. 30

Freies Theater der 70er Jahre in München S. 52

Historie S. 56


T

wie

THEATER

und wie man damit beginnt

Die wundersame Metamorphose eines Tröpferlbads


Valentinaden I II III

16

Valentinaden III, Die Originalsprengung 1974


17


Geschwisterliche Nähe von Tie

Rudolf Vogel

Ein Jahr nach Gründung des Theaters

brachte Philip Arp seinen ersten

„Valentinaden“-Abend heraus: Szenen,

Vorträge im Geiste Karl Valentins,

die er für sich und seine Partnerin

Anette Spola geschrieben hatte.

Das TamS war eines der ersten Szenetheater

in München. An die 40 weitere

sollten im Lauf der 70er Jahre

folgen. Eine Dekade der Aus- und

Aufbrüche – auch und gerade auf dem

Theater. Von Agitprop über Mitspielbis

zum Antitheater: Proklamationen,

Provokationen, Manifeste, Pamphlete

allenthalben. Dem hielt Philip Arp

seine Verlautbarung entgegen: „Hiermit

gebe ich nichts bekannt.“ Eine

Provokation, gewiss. Aber nicht nur:

Anders als viele seiner Zeitgenossen,

die mit oft großem Aktionismus die

Gesellschaft und die Welt verändern

wollten zugunsten der sogenannten

„kleinen Leute“, sahen Arp und Spola

sich – ohne eine Fahne zu hissen oder

ein Transparent zu entrollen – ganz

unaufgeregt-selbstverständlich an

deren Seite, wollten ihnen eine

Stimme geben.

Im Lauf der Jahre entstanden fünf

„Valentinaden“, die zum Gesicht des

TamS wurden und – darin waren sich

Publikum und Kritik einig – Philip

Arp als einzig legitimen Nachfolger

des großen Querdenkers auswiesen.

Wie kommt man zu einem Zwetschendatschi

in 10 000 Meter Höhe? Die Stewardess ist ratlos.

„Valentinaden I“, 1971


fsinn und Unsinn

Weil er eben nicht, wie so manch anderer,

der sich in der Nachfolge Valentins

sah, der Versuchung erlag

(erliegen konnte!), das Original zu

imitieren, gar zu überbieten, um einen

möglichst großen Beifall einzuheimsen.

Weil er wusste, dass Valentins

Szenen mit Schwank und Slapstick

nicht allzu viel zu tun haben, vielmehr:

grundiert sind durch Schwermut

und Melancholie.

Arps wie Valentins „Helden“ versuchen

unentwegt, die Welt und die

eigene Existenz zu begreifen und mit

Worten zu erklären. Immer tiefer verstricken

sie sich in ein endloses, hilfloses

Philosophieren, entdecken und

erleben das Absurde im sogenannten

Normalen, die Banalität im Erhabenen,

die nahezu geschwisterliche

Nähe von Tiefsinn und Unsinn.

19


„Arp und seine Partnerin Anette Spola“, so Benjamin Henrichs

in seiner Kritik des ersten „Valentinaden“-Abends, „spielen den

Unsinn, als sei er die pure Normalität – so entstehen Szenen von

leiser Alltäglichkeit, von effektloser Melancholie. Am schönsten

zeigt dies die erste Szene, wo Arp ganz traurig und verstört

auf der Bühne herumsteht, wo nur zaghafte Gesten seine Sätze

begleiten, wo sich plötzlich ganz unerwartet ein kleines, schütteres

Lächeln auf sein Gesicht wagt: da ist er ein zarter Grübler,

ein stiller Chaotiker. Arp spielt solche Momente so untheaterhaft,

so verblüffend unaufwendig, als sei er nur das Fragment,

der Schatten eines Schauspielers.“


Aber alle ihre Versuche, in Worten und Handlungen einen gangbaren Weg aus

dem Chaos in ihnen und um sie herum zu finden, erweisen sich von Beginn an

als aussichtslos. Was sie nicht daran hindert, immer wieder einen neuen Anlauf

zu machen.

In seinem Vortrag „Zerrissenheit“ wendet sich Arp höchst emotional an sein

Publikum.

„Fünfundzwanzig Jahre kämpfe ich nun vergebens für den zerrissenen Menschen.

Gegen die Presse, gegen Television, gegen die Regierung, gegen die

Bauern, gegen dick und dünn. Durch. In unzähligen Vorträgen kämpfe ich

vergeblich gegen meine Zuhörer.

Meine Damen und Herren! Ich kann nicht länger so fortfahren. Aber der zerrissene

Mensch wird einst auf Sie zurückfallen.“

Die realistische Aufzählung von Menschen und Institutionen, gegen die sich

sein Zorn richtet, könnte – das weiß Philip Arp – als Plattitüde wahrgenommen

und mit einverständigem Betroffenheitsgähnen quittiert werden. Dieser Gefahr

entgeht er allein schon durch die Komposition der Aneinanderreihung seiner

Aggressionsobjekte und -subjekte. Und durch eine allem Anschein nach

„spontane“ Grammatikkorrektur. „… gegen dick und dünn. Durch.“

Die Heiterkeit, die er auf diese Weise für den Moment erzeugt, ist verflogen,

wenn er zwei Sätze weiter den hoffnungsfroh-boshaften Schlusspunkt setzt:

„Aber der zerrissene Mensch wird einst auf Sie zurückfallen.“ Anders ausgedrückt:

„Ihr, die ihr für all diese Missstände verantwortlich seid, glaubt ja

nicht, dass ihr ungeschoren davonkommt.“

Eine wie auch immer realistische Darstellung war, wie schon gesagt, Arps

Sache nie. Mit Hitchcock hätte er postulieren können: „Wir gestatten es

der Realität nicht, ihr hässliches Haupt zu erheben.“ Arp war und blieb der

Sprachspieler und Sprachbastler. Auch wenn er gesellschaftliche Missstände

anprangerte, eingefahrene Verhaltens- und Reaktionsmuster aufs Korn nahm.

So ruft in einem Bergsteigerstück der Mann seiner Frau, auf dem Gipfel angekommen,

ergriffen zu: „Schau das silberne Band am Horizonte.“ Allein das

Dativ-e genügt Arp, das Gefühl der Erhabenheit, das der Ausruf vermitteln will,

als Klischee zu entlarven und dem Gelächter preiszugeben.

21



„Schau das silberne

Band am Horizonte.“



25



oben: Technikpläne von Philip Arp

links: Szene aus „Die Originalsprengung“, 1974

27


Philip Arp

München-Collagen

28


Des Sängers Fluch

bis Montag ganz

Arps persönliche Abrechnung mit Schulzeit und

nationalsozialistischen Indoktrinierungsmethoden:

sein Balladenabend „Des Sängers Fluch bis Montag ganz“.

Die Aufzeichnung des Bayerischen Fernsehens gilt als eine

der ersten ungeschnittenen, mit einer einzigen Kameraeinstellung

dokumentierten Theaterinszenierungen.

29


Melancholie und Poesie

Wolf Jahn

In den ersten Jahren entwickelte das TamS einen Dreiklang,

der bis heute nachhallt: das Zusammenspiel von

literarischem, politischem und absurdem Schauspiel.

Eine Bühne, ein Mini-Technik-Raum

und eine ebenso kleine Garderobe.

Ausreichend für den ersten großen

Wurf des jungen Theaters: die „Valentinaden.“

Diese Abende ganz im

Geiste Karl Valentins hatte Philip Arp

gleichsam im Vorbeigehen gefunden,

so wie sie ihn zusammen mit Partnerin

Anette Spola gefunden hatten.

Ein Glücksfall fast wie eine lebenslange

Bestimmung für das junge

Gesicht des TamS.

Der Hunger nach Theater war aber

noch lange nicht gestillt. Die beiden

Neuankömmlinge auf eigener Bühne

verlangte es nach mehr, mehr Spiel,

mehr Inhalte, mehr Vielfalt. Und sie

fanden, ohne zu suchen, ähnlich

Picassos Motto „Ich suche nicht,

ich finde!“. Da das TamS aber bereits

existierte, gab es auch viel, was sich

dort einfand: junge Schauspieler,

oft Laien, Künstler, Poeten, Musiker,

Handwerker, Grafiker. Und es gab

jede Menge an Stoff und Ideen, die

sich mehr unbewusst als bewusstreflektiert

in den Köpfen von Arp

und Spola niederschlugen. Aus diesem

kreativen Mix aus Finden und

Einfinden formte sich ein erstes

und zartes Erfinden, das dem TamS

weitere Charakterzüge verlieh.

Ein Blick auf Inszenierungen der

ersten 10 bis 15 Jahre verrät, wohin

die Reise ging: Mit Ronald D. Laings

„Liebst du mich“ (1982) oder

Osvaldo Dragúns „Argentinische

Straßengeschichten“ (1978) lag ein

Schwerpunkt auf Literatur. Ergänzt

wurde dieses Programm mit literarischen

Abenden. Zudem reifte mit

Peter Handkes „Quodlibet“ sowie

Stücken von Ernst Toller, Dario Fo

bis Athol Fugard ein Bewusstsein

für politische Zeitfragen heran. So

ergänzte literarisches und politisches

Theater das absurde, das mit den

„Valentinaden“ noch lange nicht

ausgeschöpft war.

Von Beginn an setzte man ganz auf

eine spielkonzentrierte Einfachheit.

Gleiches gilt für das Publikum. Es

sollte nicht belehrt, sondern geehrt

werden, indem es mitgestaltet und

weiterspinnt, was ihm da auf der

Bühne zuweilen als absurde Querdenkerei

serviert wird. Schließlich

werden die Inszenierungen nicht

nach klassischem Muster einstudiert,

sondern gemäß der Vermögen der

Akteure entwickelt. „Darum“, so

Anette Spola über ihre Regiearbeit,

„nenne ich mich Spielleiter. In mir

entdeckte ich eine Aufmerksamkeit

für die Persönlichkeiten auf der Bühne,

ihre Ausstrahlung, ihren Witz, und

konnte sie begleiten. So entstanden

wunderbar feine Aufführungen, die

durch die Spieler frisch, aber auch

voll von Melancholie und Poesie

erblühten.“

30


1970 –1979


Quodlibet

Peter Handke

Mit Handkes „Quodlibet“ feierte das TamS seinen

ersten großen Erfolg. Drei Monate ausverkauft.

Das Stück war Handkes Auseinandersetzung mit

dem politischen Aufbegehren der 68er gegen das

verkrustete Establishment. Teil der Inszenierung waren

zwei Leute des CIA, die die Stützen der Gesellschaft

auf der Bühne vor dem Publikum schützen sollten.

„Es ist hier etwas geschehen“, so Manfred Pfister,

„was in unserem Theater noch viel zu selten ist. …

Hier wurden die Zuschauer nicht mit einem autonomen

Fertigprodukt konfrontiert, es ging vielmehr

um einen erst durch die gemeinsame Bemühung von

Spielern und Zuschauern zu erarbeitenden dramatischen

Vorgang. Dies macht diese Aufführung

wichtiger als die glatten eingängigen Inszenierungen

der subventionierten Konsum-Theater.“

1970, Regie im Jargon der Zeit: Kollektivarbeit

32


33


Briefe an kleine Mädchen

Lewis Carroll

Denken vom Raum. Von Anfang an

bestimmten auch die räumlichen Möglichkeiten

des Theaters sein literarischpoetisches

Programm: Lewis Carrolls

„Briefe an kleine Mädchen“ (1970),

Kinderreime wie „Metzger wetz

mias Metzgermesser ...“ (1974),

„Keine Angst vor dem König“,

ein Stück für Kinder (1971),

„Ergötzlicher Abend“ mit Gedichten

von Friederike Kempner (1975).

Adlaudabilis chirographi fermentet

vix verecundus quadrupei, utcunque

adlaudabilis rures incredibiliter verecunde

insectat satis adfabilis quadrupei.

Lascivius catelli imputat adfabilis apparatus

bellis. Catelli aegre frugaliter

fermentet apparatus bellis. Cathedras

comiter agnascor fragilis concubine.

Fiducias circumgrediet agricolae. Incredibiliter

pretosius syrtes fermentet

vix quinquennalis cathedras. Verecundus

concubine verecunde deciperet

oratori, semper saburre corrumperet

adfabilis agricolae. Apparatus bellis

agnascor tremulus saburre.

Saetosus ossifragi imputat Caesar,

quamquam quadrupei fortiter fermentet

adlaudabilis agricolae, quod satis

perspicax cathedras frugaliter circumgrediet

oratori, ut parsimonia saburre

praemuniet ossifragi, iam Augustus

corrumperet Caesar. Vix tremulus chirographi

praemuniet verecundus matrimonii,

quamquam pessimus

quinquennalis concubine conubium

santet saburre, utcunque lascivius syrtes

circumgrediet verecundus appara

tus bellis. Tremulus cathedras neglegenter

miscere verecundus suis, ut

saetosus matrimonii iocari incredibiliter

adfabilis zothecas. Parsimonia saburre

lucide miscere umbraculi.

Aquae Sulis comiter amputat agricolae.

Quinquennalis cathedras optimus

infeliciter praemuniet apparatus bellis.

Quadrupei corrumperet utilitas

matrimonii, utcunque pessimus adlaudabilis

concubine neglegenter agnascor

rures. Saetosus chirographi

conubium santet quinquennalis cathedras,

ut lascivius agricolae deciperet

plane utilitas suis. Aegre verecundus

chirographi imputat Medusa.

Aquae Sulis frugaliter fermentet tremulus

agricolae, semper gulosus matrimonii

senesceret perspicax

concubine, utcunque ossifragi miscere

verecundus catelli, ut lascivius umbraculi

vocificat oratori, utcunque catelli

amputat oratori, iam plane

pretosius ossifragi divinus conubium

santet parsimonia.



ACTION THEATRE LONDON

36


Zur programmatischen Vielfalt des jungen Theaters zählte ebenso die Einladung an internationale Theatergruppen,

unter ihnen das Londoner Action Theatre mit Arne Nannestad und Doraine Green. Die neapolitanische Gruppe Perhaps,

die britische TNT, die Schweizer Clowns Pic und Pello. Auch dies eine Tradition, die sich bis heute fortsetzt.

König Ludwig wir lieben Dich

1972, Koproduktion Action Theatre/TamS, Regie: Arne Nannestad

37


GEHALTSERHÖHUNG

Georges Perec

„Gehaltserhöhung“ nach

dem Text von Georges Perec

„Über die Kunst seinen Chef

anzusprechen und ihn um

eine Gehaltserhöhung zu bitten“.

Uraufgeführt 1972 unter

der Regie von Anette Spola,

nachgespielt in der Folgezeit

auf zahlreichen Bühnen.

38


39


Masse Mensch

Ernst Toller

40


DIE Lederköpfe

Georg Kaiser

Wiederbelebung des expressionistischen Theaters mit Zeitbezug: Ernst Tollers „Masse Mensch“, 1979,

und Georg Kaisers „Die Lederköpfe“, 1974, mit dem jungen, noch unbekannten Schauspieler

Herbert Fritsch zusammen mit Rolf Patzer und Bettina Hallwachs.

41


Aussagen nach einer Verhaftung aufgrund des Ge

Athol Fugard


setzes gegen die Unsittlichkeit 1976, Regie: Rudolf Vogel


Die Insel

Athol Fugard

Mit den Stücken von Athol Fugard begann die Auseinandersetzung mit der

Apartheidpolitik in Südafrika.

Seite 42/43: „Aussagen nach einer Verhaftung aufgrund des Gesetzes gegen

die Unsittlichkeit“, 1976, Regie: Rudolf Vogel

oben: „Die Insel“, 1977, Regie: Jörn van Dyck

– Josef Bierbichler spielte hier in einer seiner ersten Rollen –,

rechts und Mitte: „Boesmann und Lena“, 1977, Regie: Jörn van Dyck,

„Master Harold“, 1986, Regie: Jörn van Dyck

– mit Günther Kaufmann, S. 165 –

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Boesmann und Lena

Athol Fugard

45


ARGENTINISCHE STRAßENGESCHICHTEN

Osvaldo Dragún

1978, Regie: Anette Spola

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Wußten Sie schon … daß im TamS-Theater zwei große Opern an einem Abend

gespielt werden?

Wußten Sie schon … daß es sich um eine Aufführung ohne Musik, jedoch mit

heiteren Noten handelt?

Wußten Sie schon … daß der große Opernabend im TamS eine unterhaltsame,

erheiternde Parodie ist, bei deren Rührszenen Sie mitweinen können?

Auszüge aus Philip Arps Handzettel zur Vorstellung

Mit „Mord am Nationaltheater“ wurden die Opern „Tiefland“ und „Fidelio“ (nur die Libretti, keine Musik) auf dem als Theke dienenden

Heizkessel im Theaterfoyer dargeboten. Als Untertitel hatte Arp den Zusatz „Umstürzlerisches Opernspektakel“ gewählt. Eine, SEINE

ironisch akzentuierte Kritik an den Berufsverboten und Radikalenerlassen jener Zeit. Denn wäre es mit rechten Dingen zugegangen, wäre

die Obrigkeit ihrer Kontrollfunktion gewissenhaft nachgekommen, hätte diese Aufführung verboten werden müssen, wie viele andere auch.

Nachzulesen im Programmheft, in dem noch weitere solcher staatsgefährdenden Musikwerke aufgeführt wurden.

1977, Regie: Philip Arp



Bavaria Loas

Philip Arp/Rudolf Vogel


Einladung zum Münchner Theaterfestival 1979:

ein sozialkritischer Bilderbogen von der

Gründung Münchens bis in die Gegenwart und

darüber hinaus, von Philip Arp und Rudolf Vogel,

Regie: Anette Spola

Adlaudabilis chirographi fermentet vix verecundus quadrupei, utcunque adlaudabilis

rures incredibiliter verecunde insectat satis adfabilis quadrupei.Saetosus quadrupei

insectat umbraculi, etiam catelli suffragarit syrtes. Fiducias aegre celeriter iocari saburre.

Aquae Sulis praemuniet Medusa, ut optimus tremulus suis imputat utilitas

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Eins fehlt immer: Geld

Gabriella Lorenz

Die Autorin hat in den 70ern acht Jahre freies Theater in München

gemacht. Danach wurde sie Theaterkritikerin bei der Abendzeitung,

heute schreibt sie fürs Münchner Feuilleton.

War da mal was? Damals in den

1970er Jahren? Aufbruch, Revolution,

neue Gesellschaftskonzepte? 1968

protestierten Studenten gegen die

Notstandsgesetze und die Altnazis in

der Regierung. Bei einer Demo fiel

ich – zur Freude eines Polizisten – in

Ohnmacht. Direkt vor der Redaktion

der Abendzeitung, gegen die wir auch

protestierten. Später habe ich 35 Jahre

lang für die AZ als Theaterkritikerin

gearbeitet. Mit 19 wollte ich wie die

meisten Demonstranten anno 68/69

die Gesellschaft gerechter gestalten.

Und ich wollte Theater machen. Aber

nicht so dilettantisch wie beim Action-

Theater, das in der Studentenkneipe

Witwe Bolte eine Antigone im Gitterbett

wüten ließ. Auch das daraus entstandene

antiteater von Rainer Werner

Fassbinder schreckte mich ab. Bei

den Theaterwissenschaftlern fand ich

Anschluss an eine Studentengruppe,

die an der Uni ein Mittagstheater

betrieben hatte und sich jetzt neu

formierte. Unserer Finanzlage

gemäß nannten wir uns Theater in

der Kreide.

Für unsere erste Produktion „Beim

Arsch des Krebses“ suchten wir

1970 einen Spielort. Wir fragten bei

Anette Spola an, die mit Philip Arp

gerade das frühere Tröpferlbad (eine

öffentliche Dusch- und Badeanstalt)

in der Haimhauserstraße als Theater

am Sozialamt (das lag daneben) eröffnet

hatte. Für uns eine enttäuschende

Begegnung: Anette erbat Bedenkzeit,

schüttelte dann bedächtig den Kopf

und sagte nein. Heute, 50 Jahre später,

ist mir klar: Sie spürte, dass unsere

Inszenierung nicht in ihr

Programm passte. Sie und Arp hatten

ein Theaterkonzept, das sich jeder

Konvention verweigerte. Wir spielten

dann Gert Heidenreichs deftige

Ruzante-Bearbeitung im Modernen

Theater von Uta Emmer in der Hesseloherstraße.

Für freie Gruppen ohne feste Spielstätte

gab es kaum frei zugängliche

Aufführungsorte, auch noch keine

Zwischennutzungen, Miete zu zahlen

konnten wir uns nicht leisten. Aber

man konnte in privaten Theatern

gegen Einnahmenteilung gastieren.

1971 brachte das TiK die Uraufführung

seines Hausautors Gert Heidenreich,

„Aufstand der Kardinäle“, in

Alexeij Sagerers proT in der Isabellastraße

heraus. Zu denselben Produktionsbedingungen

wie im Jahr zuvor:

Alle schmissen die Sommerferien in

einen Topf, dazu so viel Geld, wie

jeder erübrigen konnte, und mit einem

Budget von weniger als 1000 Mark

wurde dann sechs Wochen im Kellertheater

geprobt. Nach zwei Wochen

52


Gabriella Lorenz und

Gerd Heidenreich

Spielzeit wurden die Einnahmen

gleichmäßig verteilt, wir waren ja ein

Kollektiv: Man ging vielleicht mit

34,87 Mark, im Glücksfall 134,87

nach Hause.

Mit freiem Theater ist kein Geld zu

verdienen, es funktioniert bis heute

nur durch Selbstausbeutung. Aber es

gab in München in den 70ern einige

private Theater mit festem Haus –

noch waren die Mieten erschwinglich.

Uta Emmers Modernes Theater

spezialisierte sich auf junge zeitgenössische

Dramatiker, darunter

Franz Xaver Kroetz. Es zog später in

die Hans-Sachs-Straße um und blieb

da lange, der Schwabinger Keller

wurde erst zur Kleinen Bühne München,

dann zum Theater Scaramouche.

In der Hohenzollernstraße

spielten Horst A. Reichel und seine

Frau Irmhild Wagner die Avantgarde

der 50er und 60er Jahre wie Sartres

„Geschlossene Gesellschaft“. Der

exzentrische Österreicher Kelle Riedl

und seine Frau Maddalena Kerrh

wagten an der Ecke Ludwig-/Von-der-

Tann-Straße verrückte Experimente

(in einer „Woyzeck“-Variation stand

53


oben: Modernes Theater,

„Blick zurück im Zorn“,

John Osborne, 1979/80

Mitte: Theater 44, „Delirium

zu zweit – auf unbegrenzte Zeit“,

Eugène Ionesco, 1978

unten: Pathos Transport Theater,

„The Agnes of Fortune“,

John Murdoch, 1983

ich erstmals auf einer Münchner

Bühne). Alexeij Sagerer verwirrte alle

mit seinem Prozessionstheater (proT).

Er bespielte als einer der Ersten neue

Räume wie die Alabamahalle mit

seinen „Maiandachten“.

Im Fuchsbau an der Ungererstraße

gründeten Gunnar Petersen und Beles

Adam das Studiotheater mit einer

Mischung aus modernen Klassikern

und Wagnissen. Einer ihrer Dauererfolge

wurde „Der kleine Prinz“,

Ronnie Janots Partner Max Tidof ist

heute ein Kinostar. Der Ex-Tänzer

George Froscher begann mit seinem

Freien Theater München (FTM) in

einem Zimmer in der Müllerstraße,

er und sein Partner Kurt Bildstein

waren später mit Froschers körperund

rhythmusbestimmten, streng

chorisch-choreographierten Inszenierungen

weltweit unterwegs und

gaben Workshops. Allmählich entstanden

neue Truppen und Orte

wie das Pathos Transport Theater

von Pierre Walter Politz und danach

Sylvia Panter mit einer tollen

„Johanna der Schlachthöfe“, Ute

Stammbergers ambitioniertes Comedia-Theater

brillierte mit einer furiosen

Gertrude-Stein-Inszenierung. Für

die freien Künstler öffnete die Stadt

die Dachauer Hallen, wo viele – wie

das ETA oder das Tape-Theater –

nebeneinander existierten. Mitte der

80er eröffneten Andreas Seyferth und

Margrit Carls in der Pasinger Fabrik

das Theater Viel Lärm um Nichts.

Das TiK wollte nicht das gefühlt

41. Kellertheater in Schwabing werden,

sondern sein sozialkritisches

Programm in die neue Trabantenstadt

Neuperlach tragen. Wir fanden dort

in den 70ern einen ausbaufähigen

Keller, die Stadt finanzierte großzügig

die Infrastruktur. Städtische Subvention

war für alle Theater knapp, aber

das Kulturreferat hatte für überzeugende

Konzepte offene Ohren und

Hände. Stephan Märki übernahm

das Teamtheater hinter dem Viktualienmarkt

und machte es u.a. mit

einer rasanten „Hamlet“-Kurzfassung

von Jochen Schölch zur Attraktion,

später entlockte er sogar der Eigentümer-Brauerei

Geld für einen Umbau.

Jochen Schölch gründete in den 90ern

das Metropoltheater in Freimann, das

gerade wieder mal zum besten freien

Theater Deutschlands gewählt wurde

und inzwischen auch vom Freistaat

subventioniert wird.

Das TiK gibt es nicht mehr, viele der

anderen auch nicht, erfolgreich gehalten

hat sich das literarisch geprägte

Teamtheater unter Petra Maria Grühn,

neu erblühen will gerade das Pathos

Theater auf dem Kreativquartier.

Das TamS jedoch ist seit dem Hippie-

Jahrzehnt ein Fixpunkt und eine

unverrückbare Adresse geblieben.

Die Trauerweide in dem verwunschenen

Hinterhöfchen steht symbolisch

für die stilistische, inhaltliche und

ästhetische Eigenheit des TamS.

Philip Arp war ein Erbe Karl Valentins,

dessen Denkweise er höchst

eigenständig weiterdachte. Diese

Liebe zum Verschrobenen, Skurrilen,

Absurden und Versponnenen hat

Anette Spola mit zartem Dickkopf

in ihrem Spielplan über 50 Jahre lang

bewahrt. Von den Ambitionen der

68er-Studenten ist nicht viel geblieben,

das TamS jedoch, das nie die

Revolution im Banner getragen hat,

ist ohne jede modische Anpassung

seiner subversiven Unterminierung

von Seh- und Verhaltensweisen

treu geblieben.

54


FTM – Freies Theater München,

„Schwarze Prozession“, 1978

55


Historie

1887: Bau des Feuerhauses

1888 bis 1898: Errichtung und Betrieb einer Elektrozentrale

1890: Das Dorf Schwabing wird von der Stadt München

eingemeindet

1899: Die Stadt München beschließt die Einrichtung

eines Brausebades

1905: Ein Totenkammerl vom Gisela-Kinderspital wird an

das Brausebad angebaut, später wurde dort die

Bademeisterwohnung eingerichtet

1969: Umbau als Theater

1970: Eröffnung des TamS Theaters

56


Gestern noch Gerätehaus und Wohnort der Feuerwehr,

heute Gebäude und Spielstätte des TamS:

Das Vorderhaus an der Haimhauserstraße

links:

Situationsplan 1888,

Lokalbaukommission

Stadt München

Plan oben und rechts:

Stadtarchiv München

57


Vor der Eingemeindung von Schwabing (1890) entstanden Pläne für ein neues Feuerhaus in

der ehemaligen Pfarr-Strasse, der heutigen Haimhauserstraße. Und noch vor der Errichtung

von Elektrozentrale und Tröpferlbad (Brausebad) im Hinterhaus wurde das Vorderhaus als

Feuerhaus entworfen. In ihm kamen Gerätschaften der Feuerwehr unter. 1913 wurde ein

Chauffeurzimmer eingerichtet. Heute lagern dort Theaterrequisiten. Das Vorderhaus wird von

Musikern und Schauspielern bewohnt. Und wo sich in den Garagen einst Spritzen und Wasserfässer

für die Feuerwehr befanden, wird im Winter wie im Sommer Theater gespielt.

Plan oben: Stadtarchiv München

58


Das ehemalige Tröpferlbad, 1969 vor dem Umbau

und danach in den 1970er Jahren

59


Nennen wir es doch Theater a

Rudolf Vogel über Anfänge und Alleinstellungsmerkmal des Theaters

Am 27. Januar 1970 eröffnete das

Theater am Sozialamt (TamS) mit

dem Stück „Die stummen Affen“ von

Fritz Herrmann. Ein veritabler Flop.

Fazit der AZ-Kritik:

„Die Eröffnung des neuen Theaters

war zugleich seine Beerdigung.“

So kann man sich täuschen.

Ein Jahr zuvor waren Anette Spola

und Philip Arp von einer erfolgreichen

Tournee durch Südamerika als

Pantomimenduo nach München

zurückgekehrt. Ihr Wunsch:

eine eigene Spielstätte.

Bei ihrer Suche entdeckten sie in

einem Schwabinger Hinterhof, Wand

an Wand mit dem dortigen Sozialamt,

ein seit langem nicht mehr genutztes

Tröpferlbad, das seinem endgültigen

Verfall entgegenbröselte. Nach eingehender

Besichtigung kamen Arp

und Spola zu der Überzeugung, den

geeigneten Ort für ihr Vorhaben gefunden

zu haben. Die Stadt München,

Eigentümerin der Immobilie, gab

grünes Licht, und die hoffnungsfrohen

Gründer gingen, unterstützt von

Freunden, ans Werk. Räumten den

Schutt weg, der sich bereits in beträchtlicher

Menge angesammelt

hatte, und machten sich an die architektonische

Umgestaltung: aus dem

Heizungsraum wurden Foyer und

Kasse, aus den Umkleidekabinen

und Duschen Zuschauerraum und

Bühne.

Das größte Problem – jeder und

jedem in ähnlicher Lage nur allzu

bekannt – war die Namensgebung.

Vorschläge wurden gemacht, hin

und her gewendet, akzeptiert und

wieder verworfen. Bis Philip sagte:

„Nennen wir es doch Theater am

Sozialamt.“ Allgemeine Zustimmung.

Einmal weil der Vorschlag durch

seine Einfachheit bestach. Zum anderen

weil er zwei weitere Vorzüge miteinander

verband. Einen praktischen:

Er erleichterte den erhofften Zuschauermassen

die Ortsfindung. Und einen

eher intellektuellen: Er weckte in

ihnen die Erwartung, in der neuen

Spielstätte Stücke mit sozialkritischer

Thematik sehen zu können, und

lockte sie damit auf die denkbar falscheste

Fährte. Eine Vorstellung, die

die Theatergründer mit anhaltend stiller

Freude erfüllte, da sich gewissermaßen

bereits im Gründungsakt ihr

Ansatz, Theater zu machen, verbarg:

das Publikum mit zweckentfremdendem

Spiel (wozu ganz wesentlich

auch das Verwirrspiel gehört) zu erfreuen

und nicht mit zweckgebundenen

Botschaften zu langweilen. In der

damaligen Zeit, wie man heute sagen

würde, ein „Alleinstellungsmerkmal“.


m Sozialamt

Roger Krötz,

Bildhauer und Erbauer des TamS

Links und unten: Umbau- und Renovierungsarbeiten am alten Tröpferlbad rund um die Uhr

61


rechts:

Das TamS-Büro unmittelbar

am Theatertrakt

unten:

Philip Arp gießt die Karl-

Valentin-Trauerweide ein Jahr

nach ihrer Pflanzung.

1972 wurde sie im Beisein

des damaligen Münchner

Oberbürgermeisters Georg

Kronawitter feierlich gepflanzt.

Es war die erste

öffentliche Pflanzung eines

Baums im urbanen Raum,

von Joseph Beuys dankbar

aufgenommen und zehn

Jahre später in Kassel

für die documenta 7 mit

seiner Aktion „7000 Eichen“

umgesetzt.


63


Wir steuern also auf die einzige Tür zu, die ins Innere zu führen

scheint, durchqueren den Windfang – und landen verdutzt in einem

technischen Denkmal. Vor uns erhebt sich ein Eisenmonstrum, das

dicke Rohre zur Decke hinaufschickt. Dieser Stahlkoloss schiebt

sich uns so breithüftig entgegen, dass er fast wie ein vorgerückter

Altar wirkt. An diesem Altar müssen wir, die ins versprochene

Theater vorstoßen wollen, unser Opfer darbringen. Erst wenn wir

den bestimmten Geldbetrag entrichtet haben, dürfen wir bleiben

und können uns umschauen.

Gottfried Knapp


Das TamS-Foyer

oben: Früher Entwurf zur Gestaltung von Architekt Adolf Schröter

links: Heute mit Kasse und Bar

nächste Seite: Im Mittelpunkt die alte Kesselanlage aus dem 19. Jahrhundert

oben rechts: Foyer als Bühne mit einer Szene aus „Mord am Nationaltheater“

65




Da kommt was durch die Wan

Lorenz Seib

Als das TamS einmal kurz vor

dem Abbruch stand.

TamS-Regisseur Seib erinnert

sich an Schrecken und

innig-zärtliche Gefühle

für eine Mauer.

Im Sommer 2017 überschlugen sich die Ereignisse.

Zuerst ließen Abrissarbeiten auf dem

benachbarten Grundstück des TamS nichts Gutes

erahnen. Auf Nachfrage sicherte der Bauherr

uns widerwillig zu, die alten Schuppen (wie er

das TamS bezeichnete) nicht anzutasten. Immerhin

standen die Gebäude Wand an Wand.

Es dauerte nicht allzu lange, dann klaffte ein

riesiges Loch in der Rückwand des Fundus.

Wir alarmierten die Polizei, das Baureferat,

das Kommunalreferat, die Presse und den Denkmalschutz.

Es half nichts: Die Mauer war so

beschädigt, dass sie abgerissen werden musste.

Als wir eine Woche später mit Dr. Körner von

der Denkmalschutzbehörde zu einer Begehung

im Hof standen, rief Edeltraud, unsere unermüdliche

Botschafterin zur Außenwelt, aus dem

Büro: „Kommen Sie schnell rein, da kommt was

durch die Wand!“ Und da lag auch schon ein

großer Brocken Putz auf dem Schreibtisch.

Nun war’s amtlich: Das TamS war ganz konkret

in seiner physischen Präsenz bedroht.

Edeltraud Prestele,

unentbehrlich für alle

Kontakte zur Außenwelt

Bis die Mauer wieder stand, dauerte es dann

doch zwei Jahre. Nun steht sie wieder, fast

schöner als zuvor. Ich hätte nie gedacht, dass

ich einmal eine so innige, ja fast zärtliche

Beziehung zu einer Mauer aufbauen würde.

Möge sie die nächsten 50 Jahre gut überstehen.

Ein Gutes hatte der ganze Wirbel:

Seit 15.1.2018 ist das Gebäude des TamS in

der Haimhauserstraße 13a denkmalgeschützt

und seit 16.10.2019 ist auch das Theater

Bestandteil des Baudenkmals.

68


d!


TamSisch

Das TamS ist ein Hort der Freundschaft,

im keuchenden Schwabing

ein Mikroklima zum Aufatmen.

Friedrich G. Scheuer

Von Beginn an begleitet

Künstler und Autor Friedrich

G. Scheuer das TamS Theater.

Der an der Akademie der

Bildenden Künste München

ausgebildete Künstler hatte

hier 1969 seine erste Einzelausstellung.

Seine Leidenschaft

für Kunst und Bild,

ihre philosophisch-theoretischen

Aspekte, findet ihren

Niederschlag in mehreren

Büchern.

rechts:

F. G. Scheuer liest aus

seinen Schriften im TamS.

Lauter Verrückte. Nicht alle. Fast alle.

Im Haus Haimhauserstraße 13a gehen

sie ein und aus. Dort leben sie ihre

Identität und verrücken die Realität.

Und das seit 50 Jahren.

Die Spola. Ein Glück amtlicher Verschlafenheit,

dass ihr Steckbrief nie

zur Fahndung ausgeschrieben stand.

Man hätte sie unmissverständlich

geschnappt, Verwechslung ausgeschlossen.

Es gibt keine Zweite,

keine wie sie.

Ich kann alles, was ich sag, mit Fug

und Recht behaupten. Ich habe alle

TamS-Produktionen gesehen, die

erste am 27.1.1970. Es war ein

lebensbegleitender Irrsinn und

gleichzeitig ein Prozess ästhetischer

Erkenntnis, ein schlüssiges Reifen

aufgrund der Darstellung unschlüssiger

Paradoxien theatralischer Kunst.

Das Paradoxe ist eine Verschwiegenheit

unserer Lebenswelt. Es passt

nicht ins Design erfolgreichen Fortschreitens.

Es irrlichtert. Das Paradoxe

hat einen Stammplatz im TamS,

dort, wo nicht linear gedacht wird,

sondern labyrinthisch, kreuz und quer

im existentiellen Raum. Das Paradoxe

und Unbestimmte (für die Gescheiten:

das „Nichtidentische“ des Th. W. A.),

das Mögliche jenseits des Wirklichen,

das sind die Gene im TamS-Genom.

Die Anette hat sie – auf Marienart –

vererbt an eine Meute Jüngerer, junger

Frauen und Männer, die Sinn und

Zweck unterscheiden und: die sich

kommentarlos mögen. Man muss es

nicht an die große Glocke hängen:

Zurück zum kulturellen Status des

TamS: Eigentlich gibt es keinen griffigen

Begriff für seine theatralische

Praxis. Bezeichnungen wie absurd,

irrational, märchenhaft, entrückt usw.

greifen zu kurz. Im TamS verschlägt

es die Sprache und schamlos schlägt

es aufs faulträge Gemüt. Es sind

Spiele alternativer Geister, die

das messbar Wirkliche spielend

verdrängen, es ersetzen, als sei das

Mögliche Ding, Stoff, Mensch zum

Anfassen. Die Spiele bestimmen das

Unbestimmte formal: Form als ästhetischer

Daseinsgrund ist die Stammzelle

für alle Ausdifferenzierungen ins

Politische, Soziale, ins Parodistische,

ins Gewitzte.

Bedeutungen streunen im Publikum.

Auf der Bühne geht es um Tatsachen:

Sprache, Stimme, raumgenaue Bewegung,

Bildlichkeit. Das Spiel ist die

Gestalt des Stücks. Das Spiel ist

Sache leibhaftigen Gespieltseins,

Sache ästhetischen Vollzugs. Man

sieht, hört, riecht und fühlt das artifizielle

Geschehen. Man sitzt auf Tuchfühlung

am Bühnenrand, intim dabei,

einem Ensemble applaudierend –

auch dies sehr TamSisch – einem

Ensemble ohne Rampensau.

Die Schauspieler spielen nicht Schau,

sie spielen Spielen. Das gibt’s.

Da sind sie wieder, Spolas Gene.

Natürlich gab es auch Einbrüche, Abstürze,

auch unverständliche Durchfälle.

Aber keine Spur von Resignation,

kein Selbstmitleid. Anettes

rotzfreche Vitalität blühte auf und im

Stillen: ausdauernde Besonnenheit.

70


Auch das muss mal gesagt sein:

Das TamS versetzt die sogenannte

Moderne. Es demonstriert die Untauglichkeit

von Begriffen wie progressiv,

konventionell, innovativ,

auch das Verdikt des Anachronismus

ist unbrauchbar, wenn die alte Schönheit

wiederaufersteht (neudeutsch:

diskursfähig wird) und der konventionelle

Naturschutz progressiv in die

Zukunft weist. Artenschutz fordern

kreuzbrave Bürger, die Zukunftspläne

haben und dicke Luft zum Pusten in

Tröten und Trillerpfeifen.

Artenschutz für Arps Weide. Sie

wächst, seit er sie am 29. März 1972

gepflanzt hat, wächst dickstämmig,

üppig verzweigt, dicht belaubt,

diskret versteckt die Nester der schrägen

Vögel des TamS. Man hört sie

zwitschern. Sie zwitschern harmonisch

und zwölftonig, pianissimo,

fortissimo, zwitschern von der Lust

mit der Kunst und von der Last,

von der Kunst zu leben, zwitschern

konfuse und konzise Konzepte ästhetischer

Praktiken, sie singen und

schwärmen und plärren sich in einen

Tumult bühnenreifer Sinnlichkeiten,

und plötzlich die Schnäbel gehalten,

um das Spiel kalt abzuschrecken im

analysierenden Zugriff. Sinnfragen

tauchen auf, Freiheiten sind gefragt

und die Postulate einer Ethik öffentlicher

Kunst. Gewissheiten zappeln,

aber Bühnenlust und Formlust spielen

Welt und Menschsein als theatralische

Realitäten, Wirklichkeiten schönster,

geistsatter Hirngespinste.

Und unüberhörbar die kantigen Töne,

wenn es darum geht, das TamS zu

schützen gegen die Übergriffe der

brutalen, kapitalgeilen Halsabschneider

in nächster Nachbarschaft.

Wenn nötig, ballt das TamS die Faust

und sticht seinen Stachel ins Fleisch

wirtschaftlicher Prosperität um

jeden Preis.

Die andere Welt, die Welt hinterm

Tor. Du öffnest es und stehst im Hof.

Die Weide, die Pflanzen, die Tische

und Stühle (kunstvoller Eigenbau),

die Fotoskulpturen, das Ganze eine

unsentimentale Heimstatt, fast ein

Sehnsuchtsort. Sehnsucht ersehnt

Besseres, Konfliktbefreites. TamSisch

betrachtet sind Konflikte Steilvorlagen

zum Krachenlassen oder

Gefühlsdusel zum Schmoren im

theatralischen Saft. Das bessere

Leben ist Spiel, spielend ein Anderssein

in Form bringen, eines, das

Phantasie und Freiheit ausformt als

ästhetische Existenz. Das ist die

artgerechte Substanz erwachsener

Kindsköpfe: Kunst-Substanz.

Ein halbes Jahrhundert spielt TamS

TamS, spielt an gegen Gewissheiten,

gegen Engstirniges und Eingefleischtes,

spielt sich und uns in eine Verrücktheit,

die alles, was recht ist,

mit dem Bad ausschüttet, das Kind

aber, den Bengel schwebender, irrlichternder

Möglichkeiten, nimmt es

an die Brust. Der Säugling saugt sich

voll, saugt den Sinn weisen Widersinns

und den Saft berauschender

Irrationalität, saugt eine Lebens- und

Kunstlust, die sogar den Tod erträgt.

Das TamS – wie eh und je – scheißt

auf die zweckstarren Normen einer

missverstandenen Normalität, und

ohne Brimborium erdet es die

schillerndsten Luftschlösser, bringt

Sinne und Verstand zum Dampfen

und spielt, spielt TamSisch, spielt,

was das Zeug hält, spielt auf Teufel

komm raus.

71


Kapitel

II

Hausautoren S. 74

Eberhard Kürn S. 100

Ausstellungen S. 118

Die Dienstleister S. 132


A

wie

AUF, HINTER

und vor der Bühne

Ein Bühnenbildner, treue Hausautoren

und viele Ausstellungen


Hausautoren



Groß- und hausartiges Theate

Wolf Jahn

Mit selbst geschriebenen Stücken prägte eine wachsende

Hausautorenschaft das tamsische Bühnengeschehen.

Heute ist sie fester Bestandteil des Theaters.

Früh schon gesellten sich dem jungen

TamS Theater Verwandte im Geiste

hinzu. Einige kamen wie gerufen,

andere wurden gerufen, weitere vom

Charme des Schwabinger „Welthinterhoftheaters“

(SZ) angelockt. So

entstand, was man einen Freundeskreis

nennt. Maßgeblich trug er zur

Verwandlung des TamS in ein lebendiges

Kulturbiotop bei.

Als programmprägend erwies sich

dieses Biotop durch zahlreiche Autoren,

die man gerne spielte. Sei es,

weil sie Stücke speziell für das TamS

schrieben oder aber Stücke in ihrem

Repertoire hatten, die dem TamS

geradezu auf den Leib geschrieben

waren. Das war bei Karl Valentin,

dem über allem schwebenden Hausgeist,

ungefragt der Fall. Aber auch

vom jüngeren Thomas Bernhard wurden

leidenschaftlich Stücke gespielt

und meisterlich auf der Bühne inszeniert,

als gäbe es das Wort improvisiert

nicht. Heute zählt er unwidersprochen

zum erweiterten Kreis der

Hausautoren.

In der Überzahl aber waren und sind

die mit maßgeschneiderten Stücken

beauftragten Hausautoren und -autorinnen.

Ähnlich dem ersten Hausherrn

Philip Arp belebten und beleben sie

mit ihrem Eigengeist die Bühne.

Fast von Anfang an mit dabei Rudolf

Vogel, bis heute aktiver Mitgestalter

des Theaters. Unter seiner Regie

formte er Inszenierungen, und mit

seiner Feder entstanden neue, unter

anderem die Politsatire „BONN-

BERLIN – Deutschland ein Altenheim“.

Wie Vogel zeigen und zeigten

auch andere „Interne“ ihr Talent für

mehrgleisiges Schaffen: Eberhard

Kürn als Bühnenbilder und Lorenz

Seib, überwiegend für Regie und

Dramaturgie verantwortlich, verfassten

Eigenes für Bühne und andere

Schauplätze. Oft steht auch die

multiple Autorenschaft des Ensembles

für Ideengebung und Gestaltung

des Bühnengeschehens.

Verstärkt in den vergangenen Jahren

ist mit Kabarettistin Maria Peschek,

mit Musik- und Theaterfrau Cornelie

Müller, der niederländischen Bühnenautorin

Judith Herzberg oder der

Dramatikerin Beate Faßnacht eine

wohltuende Mischung aus heitergroteskem,

nachdenklichem bis hin

zu ästhetisch-meditativem Theater

entstanden. Nachhaltig prägen sie das

aktuelle TamS-Geschehen, während

Inszenierungen moderner Theater-

76


r!

„Die Kunst des Schlafens“,

1998, Regie: Anette Spola

schreiber, ob von Max Frisch oder

Elfriede Jelinek, dem Programm

eine klassische Note geben. Zuvor

waren es Stücke des Schweizer

Schriftstellers Urs Widmer, allen

voran sein „Stan und Ollie“, die

die lange Tradition der Hausautoren

im TamS fortführten. Und mit ihr

noch eine weitere, unbeabsichtigte,

nichtsdestotrotz dominante: der Auftritt

des Paars auf der Bühne, das mit

von Blödelei, zugleich von Tiefsinn

und Hintersinn geprägten Dialogen

das Publikum in seinem Bann hält.

Philip Arp hatte sie mit den „Valentinaden“

initiiert, Maria Peschek hat

sie mit ihren „Charlie und Beppi“-

Episoden zur vorläufigen Krönung

geführt. Nicht nur sie sind Zeugen,

dass im TamS zwar Theater und nur

Theater gespielt, vor allem aber auch

geboren wird.

77


Urs Widmer

Stan und Ollie in Deutschland

Rudolf Vogel

1978 engagierten die Münchner Kammerspiele Philip Arp und Jörg Hube

für Urs Widmers 2-Personen-Stück „Nepal“. Die Idealbesetzung, befand Widmer

und schrieb den beiden Schauspielern ein neues Stück „auf den Leib“:

„Stan und Ollie in Deutschland“. Uraufgeführt ein Jahr später im TamS, in der Inszenierung des Autors.

Der liebe Gott kann es nicht mehr

hören, was Stan unentwegt auf der

Harfe spielt und Ollie auf der Trompete

(„Die Internationale“). Also verbannt

er sie auf die Erde. Wo sich

alsbald ein Gefühl wieder einstellt,

das in der Ewigkeit verloren gegangen

war: Hunger. Um den zu stillen,

fehlt ihnen allerdings das nötige

Kleingeld. Überhaupt fehlt ihnen

alles, was man auf Erden zum Leben

und Überleben braucht. Vor allem

eines, ohne das beziehungsweise ohne

den man in Deutschland nicht einmal

existiert: ein Ausweis.

Von einem Polizisten mit Maschinenpistole

im Anschlag aufgegriffen,

können sie sich der Verhaftung nur

durch die Flucht entziehen. Bei der

sich ihre himmlischen Attribute als

nicht unerhebliche Handicaps erweisen:

das ständige kräftezehrende

Flügelschlagen und die den Luftwiderstand

verstärkenden Heiligenscheine,

derer sie sich denn auch als

Erstes nach der gelungenen Flucht

entledigen.

Auf ihrem weiteren Weg begegnen sie

allerlei merkwürdigen Zeitgenossen.

Einem Jogger beispielsweise, der auf

die Frage, warum er immer so herumlaufe,

antwortet, er laufe nicht, er

jogge und er wundere sich: „Ja joggen

Sie denn nicht?“ Darauf Stan und

Ollie unisono: „Nein. Wir laufen

dafür viel.“

Was vielleicht nicht jede(r)

weiß: Das Stück „Stan und

Ollie in Deutschland“

mit den beiden herrlichen

Schauspielern Philip Arp und

Jörg Hube gibt es auch als

Hörspiel, ebenfalls in der

Regie von Urs Widmer,

man kann es im Internet

hören.

Barbara Wehr

78


Ollie (Jörg Hube) und Stan (Philip Arp), 1979, Autor und Regie: Urs Widmer

79


Den Schweizer Schriftsteller

Urs Widmer verband eine

lange Freundschaft mit dem

TamS, seinen Leitern und

Spielern.

„Wenn ich in München bin“,

schrieb er, „gehe ich in die

Haimhauserstraße und

schaue in den Hinterhof und

sehe jedes Mal mit Entzücken,

dass alles immer noch so ist,

wie es sein soll.

Und oft schaut die Chefin

gerade zum Fenster hinaus.

Anette blinzelt zur herrlichen

Sonne hinauf, und ich trete

aus dem Schatten der alten

Weide heraus, die ich als

junges Pflänzchen kennengelernt

habe. Ich grüße

die TamS-Wirtin artig.

Wir gehen ins Büro und

zählen die Einnahmen des

heutigen Abends.

Unsummen, schon wieder!

Von früher reden wir nie,

kaum je, allenfalls manchmal.

Noch gibt es eine Zukunft.“

In einer Grußadresse zum 35-jährigen

TamS-Jubiläum schrieb Widmer:

„Das TamS hat für mich eine ganz besondere

Rolle gespielt. Es steht nicht

ganz am Anfang meines Lebens als

Stückeschreiber, aber beinah. Ich

machte im TamS meine erste Regie,

mit einem Stück, das ich fürs TamS

geschrieben habe‚ Stan und Ollie in

Deutschland‘. Philip Arp spielte den

Stan (war Stan) und Jörg Hube den

Ollie (war Ollie) und Wolf Euba den

lieben Gott und den Teufel gleich

überzeugend. Ich versuchte, den unerschöpflichen

Einfällen der drei mit

möglichst eleganten Bewegungen

auszuweichen. Das Stück wurde ein

Knüller, und ich merkte, dass es

schön ist, einen Knüller geschrieben

zu haben. Also schrieb ich noch einen

Knüller, fürs TamS und, weil ich

gerade dabei war, auch für andere

Bühnen dieser Welt.

[...]

‚Alles klar‘ wurde der zweite TamS-

Knüller, dies vor allem, weil diesmal

Jörg Hube die Regie führte.

Ich kann getrost sagen, dass es die

beste Regie Hubes überhaupt war,

obwohl ich nie eine andere Regiearbeit

von ihm gesehen habe.“

80


Wolf Euba als Polizist (links) neben Ollie und Stan

81


rechts: Otto Grünmandl als lieber Gott

in „Alles klar“, 1988, Regie: Jörg Hube

Grünmandl, österreichischer Autor

und Kabarettist, gastierte mit vielen

seiner eigenen Stücke im TamS.

82


83


Maria Peschek

Charlie und Beppi

Rudolf Vogel

Maria Peschek,

bayerische Kabarettistin im

deutschsprachigen Raum.

Sie wurde mit dem Kabarettpreis

der Stadt München und

dem Ernst-Hoferichter-Preis

ausgezeichnet.

Von 2003 bis 2018 zog das TamS ein zunehmend wachsendes

Publikum in seinen Bann. Im Fokus der Aufmerksamkeit:

zwei Frauen auf graden und auf krummen Wegen.

„Ein Traumpaar!“, so das eindeutige Presselob für das ungewöhnliche

Duo. Erinnerungen an zwei Gschaftlhuberinnen

und an zwei, deren Mission Weltrettung hieß.

Einmal ein Stück fürs Theater schreiben

– diese Anregung von Anette

Spola nahm die Kabarettistin Maria

Peschek gern auf und ersann für sich

und die Spola das Existenz-Clowns-

Duo Beppi und Charlie. Charlie war

der Part der Resoluten, Vorwärtsdrängenden,

Entscheidungsfreudigen

zugedacht, Beppi der Part der Zögerlichen,

Nachdenklichen, Hinterfragenden.

Stärken und Schwächen

zugleich. Bei der Lösung der Aufgaben,

die sich beide stellten, wie in

ihrer persönlichen Beziehung, konnten

sie von Vorteil sein. Aber eben

auch von Nachteil. Für Irrungen und

Wirrungen war also reichlich gesorgt.

Im ersten Stück „Entschuldigung“

spielten Beppi und Charlie zwei

Gschaftlhuberinnen, die in einem

Büro der 50er Jahre gegen Bezahlung

„ungewöhnliche Lösungen für ungewöhnliche

Probleme“ versprachen.

Überflüssig zu erwähnen, dass keines

der Probleme einer Lösung zugeführt

werden konnte. Ungewöhnlich allenfalls

(nicht für den geübten TamS-

Besucher), dass Figuren, die sich

ebenfalls mit erheblichen Problemen

herumschlagen mussten, unter ihnen

Othello, König Lear und mehrere Johannen,

ganz selbstverständlich unter

den Ratsuchenden auftauchten.

Ratschläge für kleine Münze zu erteilen

konnte dem Duo auf Dauer natürlich

nicht genügen. Längst sahen sie

sich für weitaus Höheres ausersehen:

die Rettung der Welt. Der sie sich in

den folgenden sechs Stücken mit

nicht nachlassender Leidenschaft hingaben,

begleitet von einer stets wachsenden

Fangemeinde, die Wohl und

Wehe mit ihnen teilte.

Natürlich ist auch das Weltretten ein

Job, für den man sich bewerben muss.

Eine zusätzliche Hürde, die in

„Vorsicht Sturzgefahr“ behandelt

84

Anette Spola (vorne) und Maria Peschek zusammen mit Helmut Dauner in „Vorsicht Sturzgefahr“, 2018

Regie: Anette Spola und Ensemble



wird. Vielleicht gibt es ja, wenn

man alle Voraussetzungen erfüllt,

eine Prüfungszulassung, nach bestandener

Prüfung die Chance, ein Konzept

vorzulegen, und schließlich das

Vorstellungsgespräch, bei dem der

persönliche Eindruck entscheidet.

Wie stehen da die Chancen? Charlie

erinnert sich an Beppis Gesichtsausdruck

beim Butterbrotschmieren vor

einiger Zeit: „Damals hast du doch so

geschaut – hast du dir das G‘sicht

nicht gemerkt? So ein G‘sicht kann

man immer brauchen.“ Beppi erinnert

sich nicht.

„Ein Traumpaar ist geboren“, übertitelte

die tz ihre Kritik des ersten

Charlie-und-Beppi-Stücks. Der letzte

Satz: „Dieser hinreißend komische

Theaterabend reiht sich nahtlos ein in

die TamS-Sternstunden vergangener

Jahre. Tut mir leid, aber diese kleine

Hymne musste jetzt einfach sein.

Tschuldigung.“

Marsch! Vorwärts ins Theater! 2007, Regie: Anette Spola


Flieh mit mir 2004

Regie: Maria Peschek und Anette Spola


Beate Faßnacht

Zu allen Stücken von

Beate Faßnacht

entwarf und baute

Claudia Karpfinger

die Bühnenbilder.

2003 kam sie zum

TamS. Seitdem zählt

sie nicht nur wegen

ihrer zahlreichen

Bühnenbilder

zum kreativen Kern

des Theaters.

Sofort Heiraten 2009, Regie: Cornelius Gohlke

88


Als Bühnen- und Kostümbildnerin arbeitet Beate Faßnacht unter anderem für das Staatstheater Stuttgart, das Theater am Neumarkt in

Zürich sowie für das Schauspielhaus Zürich. Als Dramatikerin schrieb sie zahlreiche Stücke. Vier ihrer Stücke wurden im TamS gespielt,

davon zwei als Uraufführungen.

Der letzte Dreck 2019, Regie: Lorenz Seib

89


90

Obwohl 2016, Regie: Lorenz Seib


91


Judith Herzberg

Judith Herzberg, Lyrikerin

und Bühnenautorin, lebt

in Amsterdam.

Sie gilt als bedeutendste

niederländische Theaterautorin

der Gegenwart.

Für ihr Werk erhielt sie

zahlreiche Auszeichnungen,

2018 den wichtigsten

Literaturpreis der Niederlande,

den Prijs der Nederlandse

Letteren.

Erstaufführungen im TamS:

„Und/Oder“ (1990),

„Ein heller Kopf“ (1995),

„Seekrank im Schwimmbad“ (2016).

Judith Herzberg (links) zusammen

mit Anette Spola

92


Seekrank im Schwimmbad 2016, Regie: Lorenz Seib

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Cornelie Müller

Überall ist heiteres Tun 2004


Cornelie Müller, Musikfrau, Theaterfrau und geheime Klangrätin.

Ihre Installationen aus Wort, Klang und Bild sind oft poetische Annäherungen an die Schicksale vergessener und verfolgter Frauen.

Waldrieserl 2001

95


Rudolf Vogel

Selten so gelacht

Soeben war die Wende vollzogen,

schon nahm die damalige Regierungskoalition

unter Kanzler Helmut Kohl

ein neues Ziel ins Visier: den Umzug

von der alten Hauptstadt in die neue.

Seine Theaterversion vollzog sich im

TamS als Uraufführung. Eine kurze

Zusammenfassung des Autors von

„BONNBERLIN – Deutschland ein

Altenheim“.

Der Vollender der Einheit und sein

Generalsekretär machen sich zu Fuß

auf den Weg in die neue Hauptstadt.

Der Kanzler auf hohen Kothurnen,

der Generalsekretär beladen mit drei

Koffern: dem Grundgesetzkoffer, dem

Orden- und Ehrenzeichenkoffer und

dem Saumagenkoffer.

Rudolf Vogel, von Anbeginn im TamS

mit dabei: als Autor, Dramaturg,

Regisseur, gelegentlich Schauspieler,

und Chronist. Aus seiner Feder stammen

u.a. „Die Eröffnung der neuen

Probebühne der Kammerspiele“, 1991,

„Die Kunst des Schlafens“, 1998,

„Himmel einfach bitte“, 1996.

„Mann bleib am Ball“, ein Beitrag

zur Fußball-WM 1974 und – ein Flop.

Am Technikpult Wolf Jahn.

Der Marsch durch das wiedervereinigte

Land erweist sich nicht gerade

als das reinste Sommervergnügen:

Die Kultur ist im Eimer, der Wald

stirbt, die Verfassung ist aufgeweicht,

Bauern protestieren, Kumpel streiken.

Dennoch: Im unerschütterlichen Bewusstsein

seiner historischen Bedeutung

meistert der Kanzler alle Widrigkeiten

und Fährnisse bravourös.

„BONNBERLIN – Deutschland ein

Altenheim“ hatte seine Premiere

am 25.1.1995. Armin Eichholz in

Die Welt: „Selten so gelacht“

96


BONNBERLIN – Deutschland ein Altenheim 1995, Regie: Anette Spola

Bundeskanzler:

Sie denken mit, Hintze. Das freut mich

preußisch

protestantisch

sozialistisch.

Schlimmer hätte es nicht kommen können.

Bringen Sie mir den Saumagenkoffer.

Stefan Rutz als Bundeskanzler Kohl auf Kothurnen und Axel Meinhard als Generalsekretär Hintze auf dem Weg in die neue Hauptstadt

97


Ins Sprungtuch wird nicht gesprungen

1984, Arp/Vogel, Regie: Philip Arp

Phantasie und Anarchie sind im TamS immer wieder aufs Neue eine glückliche

und fruchtbare Ehe eingegangen. Etwa in dem Hausbesetzerstück „Ins Sprungtuch

wird nicht gesprungen“, in dem Philip Arp und Otto Grünmandl die Hausbesetzer

spielten. Selbst als das Abbruchkommando bereits vor der Tür steht, weigern

sie sich, ihre Wohnung aufzugeben. Und als die Abrissbirne ihre Zimmerwand

durchschlägt, fangen sie sie ein, präparieren sie mit Dynamit und schicken sie

als scharf gemachte Waffe zurück.

98


99


Du hast keine Ausbildung, als

Rudolf Vogel

Wer immer seine Wurzeln im TamS schlägt: Auffällig ist, dass

viele ohne konkrete Karriereabsicht zum Theater kamen. Anfangs

bewegten sie oftmals nur Interesse, Neugier oder die Attraktion der

charmanten Hinterhofidylle. Als Paradebeispiel für das Entstehen,

Wachsen und Gedeihen des Theaters gilt bis heute Eberhard Kürn,

ingeniöser Bühnenbildner und einfallsreicher Ideengeber.

Eberhard Kürn war ein, war DAS

Beispiel für die Ensemblebildung und

-bindung des TamS. Während seiner

Schulzeit in München allabendlich

in den Theatern der Stadt unterwegs

„und deshalb“, schrieb er einmal,

„immer müde und zu spät zur Schule

gekommen. 1972 im TamS hängengeblieben,

hinter den Kulissen als

Techniker, Beleuchter und Handwerker.

Wurzeln geschlagen, hineingewachsen.“

In der Zusammenarbeit mit Philip Arp

entdeckte er seine Begabung fürs

Bühnenbild. Eine, wie sich sehr bald

herausstellen sollte, außergewöhnliche

Begabung. Kaum eine Kritik in

den folgenden Jahren und Jahrzehnten

in denen seine Ideen und deren

praktische Umsetzung nicht ausführlich

gewürdigt wurden. In einer

Inszenierung zum Beispiel sollte ein

motorisiertes Luftschiff völlig geräuschlos

durch den Raum schweben.

Kürn versteckte den summenden Generator

fernab der Bühne und löste

das Übertragungsproblem mittels

einer zwischengeschalteten Scheibenwischermaschine

eines Lkw.

Trotz – vielleicht auch wegen – der

Einschränkungen durch das „Handtuch

von Bühne“ (eine Lieblingscharakterisierung

der Kritik) und

– nicht zu vergessen – der geringen

finanziellen Mittel, die einem kleinen

Theater zur Verfügung stehen, gelang

es Kürn immer wieder, „das Unmögliche

möglich“ zu machen, wie es in

einer Besprechung hieß, eine Ästhetik

zu entwickeln, die, so die Süddeutsche

Zeitung, zum „unverwechselbaren

Markenzeichen des TamS“ wurde.

„Solange“, sagte er einmal in einem

Interview, „ich nicht drei Elefanten

durchlaufen lassen muss, ist alles

machbar.“


nutze sie!

Bühnenbildner

Eberhard Kürn

am Arbeitstisch

Folgende Seiten:

Bühnenbilder von

Eberhard Kürn

Anerkannt und gewürdigt nicht nur

in München. Bühnenbildaufträge in

Dessau, Kiew, Berlin (Ruedi Häusermanns

„Baden zusammen“ an der

Volksbühne). Im Auftrag des Goethe-

Instituts Bühnenbild-Workshops in

Pakistan und Indien. Enger Kontakt

mit Karl-Ernst Herrmann und seiner

Münchner Bühnenbild-Klasse.

1995 in einer Kritikerumfrage von

Theater heute als bester Nachwuchsbühnenbildner

nominiert.

Später stellten ihm die Münchner

Kammerspiele eine eigene Werkstatt

zur Verfügung mit der Aufgabe,

besonders knifflige Probleme zu

lösen, eben: das Unmögliche möglich

zu machen.

S. 226

203 Eberhard Kürn








Abbildungen vorangegangene Seiten

S. 102/103: „Eröffnung der neuen Probebühne“

von Rudolf Vogel, 1991, Regie: TamS-Team

S. 104/105: „Himmel einfach bitte“

von Rudolf Vogel, 1996, Regie: Anette Spola,

S. 106/107: „Geschichten aus dem Wienerwald“

von Ödön von Horváth, 1999, Regie: Gerd Lohmeyer

oben und rechts

„Ein heller Kopf“ von Judith Herzberg, 1995,

Regie: Anette Spola und Michael Greza

Abbildungen folgende Seiten

S. 112/113, 114/115: „er nicht als er“ von Elfriede Jelinek, 2000,

Regie: Gerd Lohmeyer und Ulrike Arnold

S. 116/117: „Die Blusen des Böhmen“ nach Texten

von Robert Gernhard, 1998, Regie: Gerd Lohmeyer

108



110

Thomas Bernhard


„Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“, mit Volker Prechtel und Alexander Duda, 1991, Regie: TamS-Team

111




114

Das Bühnenbild von

„er nicht als er“ war

eine der wichtigsten

Arbeiten von

Eberhard Kürn.

Für eine nicht vorhandene

Unterbühne

entwickelte er eine

raffiniert eingebaute

Hydraulik.


115


Für Eberhard Kürn

Eberhard Kürn starb 52jährig.

Er war Bühnenbildner. Das sagt

zu wenig. Man muß ihn erlebt haben:

Der Bühnenraum war sein Lebensraum.

Der physische Raum war ihm

Gedankenraum. Sein Handwerk,

ausdifferenziert bis ins Feinste,

war ihm eine Art Meditation.

Es ist ein Unterschied zwischen sich

etwas ausdenken und etwas ersinnen.

Eberhard ersann Bühnenräume und

Requisiten. Er verfertigte nicht, bewerkstelligte

nicht – er erwirkte.

Mit einfachsten Mitteln, schlicht handwerklich

verwandelte Eberhard Dinge

und Räume in einen Zustand bodenständiger

Schwerelosigkeit: wieder

eine jener Paradoxien der Rätselhaftigkeit

unserer Lebenswelt.

Eberhard brachte Verborgenes zur

Ansicht, löste Probleme der Technik,

der Versinnlichung stückgerechten

Denkens, ohne daß die Problemlast

das Spiel beschwerte.

Es war, als hätten seine Bühnenbauten

Körpertemperatur.

Und dies über 30 Jahre lang im

kleinen, kargen TamS Theater am

Sozialamt: uns zur Freude, zur kritischen

Besinnung, zum Erkennen

ästhetischer Qualität. Dafür sollten

wir Eberhard danken, posthum,

und traurig uns erinnern:

wie er sich selbstvergessen verlor

und sich selbstgewiß gewann durch

seine wunderbare Arbeit als stiller,

bedächtiger, leidenschaftlicher

Bühnenraumbildner.

Nachruf von F. G. Scheuer

21. Februar 2007


Auf einer gerade einmal viereinhalb Meter tiefen Bühne ist jedes Bühnenbild eine Herausforderung, muss alles aufeinander abgestimmt sein, jeder Zentimeter

genauestens verplant werden. „Ich probiere so viel rum und aus“, sagte Kürn in einem Interview, „dass es immer irgendwie geht. Ich will mich nicht einschränken

lassen von den wenigen Möglichkeiten, die die Bühne hier bietet. Solange ich nicht drei Elefanten durchlaufen lassen muss, ist alles machbar.“


Die Galerie des Hauses

Wolf Jahn

Vor dem TamS war das TamS, genauer die TamS-Galerie.

Ihre Pforten öffnete sie bereits im September 1969, Monate

vor der ersten Theaterpremiere im darauffolgenden Jahr.

Metallfiguren im Hof

von Wolfgang Ellenrieder,

siehe auch Seiten 8/9

und 12/13

Auch wenn es die Galerie in ihrer ursprünglichen

Form als lichter Schauraum

oberhalb der Bühne schon lange

nicht mehr gibt. Dem Konzept der

Ausstellung ist das TamS bis heute

treu geblieben. Den Anfang aber

nahm die Galerie mit bekannten und

gefragten Größen ihrer Zeit. Ausstellungen

von Arnulf Rainer, dem Bildübermaler,

Ernst Fuchs, Vertreter der

Wiener Schule des Phantastischen

Realismus, sowie Otto Ritschl, einem

der Großen abstrakter Kunst in

Deutschland, waren zu sehen. Ebenso

Werke der Jungen, unter anderem von

Friedrich G. Scheuer, der hier 1969

seine erste Einzelausstellung hatte.

Seither zählt er zum engen Kreis des

Theaters, publiziert, malt, hält Vorträge

und unterzieht als geübter Bergsteiger

mit scharfer Nah- und

Fernsicht die Kunst und Phänomene

unserer Zeit einer treffsicheren Analyse.

Zu erwähnen sind schließlich

noch Ivan Steiger und Luis Murschetz,

beide Zeichner und Karikaturisten,

Letzterer auch Kinderbuchautor

(Der Maulwurf Grabowski).

Wie Scheuer zeigten auch sie Kostproben

ihres Schaffens in der TamS-

Galerie im Jahre 1969.

Nach der Kunst ist vor der Kunst. Zunächst

war es Philip Arp selbst, der

die Fortsetzung der Ausstellungen im

eigenen Haus garantierte. Auf die legendäre,

mit allerlei Neuerfindungen

ausgestattete Brezenausstellung von

1972 folgte die mit Komikkeramik.

(S. 126). Wie bereits auf der Bühne

bewies er auch mit diesen kunstvollen

Einfällen sein unnachahmliches Gespür

für die wundersame Belebung

alltäglicher Gegenstände und Nahrung.

Weitere Ausstellungen folgten,

von Malern, Objekt- und Installationskünstlern.

1979, anlässlich der

Aufführung von „Bavaria Loas“ beim

Münchner Theaterfestival, verwandelte

sich der Raum in ein Forschritts-

Lach-Kabinett – mit Crashtest-Dummy

und geschmortem Kassettenrekorder

der Brüder Frank und Bernd Gross.

Mehr als ein Jahrzehnt später reifte

die Idee, den Seestadel am nahe gelegenen

Kleinhesseloher See in einen

Sehstadel zu verwandeln. Es gab also

was zu sehen, auch außerhalb des

TamS. Und zwar eine Fotoausstellung

mit seltenen Einblicken von Bernard

Lesaing in die freie Münchner Theaterszene.

Zugleich erlebte das Publikum

im Sehstadel aber auch eine

ungewöhnliche Theaterinszenierung,

wie Rudolf Vogel zu berichten weiß

(S. 130). Überhaupt: Dem TamS war

das Münchner Außengelände mehrfach

Anlass, dort Kunst oder Kunstverwandtes

zu platzieren, besondere

Skulpturen etwa in Form eines eingefrorenen

Brunnens (1992, Abb. S. 187).

Doch zurück ins TamS und zu seiner

neuen Spielstätte, der Garage im Vorderhaus.

Seit 2012 steht sie für neue

118



120

Bühnenformate, etwa fürs Sommertheater

und Adventstürl offen. Aber

schon vorher wurde hier auch Kunst

gezeigt. Regelmäßig seit 2009 eröffnen

in der Garage Ausstellungen mit

Outsider Art, parallel zum inklusiven

Theaterfestival „Grenzgänger“.

S. 124

Buchobjekt von Künstler

Herbert Biller aus den

1990er Jahren.

Titel: „Der Spion, der aus

der Türe kam. Und in die

Kälte ging.“

Das handgemachte und

mit einem echten Türspion

ausgestattete Buch erzählt

die skurrile Geschichte

eines Kindes, das dank

des Türgucklochs

zur Welt kam.


Erste Einzelausstellung von F. G. Scheuer in der TamS-Galerie, 1969


Ausstellungen Grenzgänger

Regelmäßig seit 2009 eröffnen in

der Garage Ausstellungen mit

Outsider Art, parallel zum inklusiven

Theaterfestival „Grenzgänger“.

Organisiert werden sie vom

atelier hpca, einer Ateliergemeinschaft

von zwanzig Künstlern,

inklusive angeschlossener Galerie

und eigener Kunstsammlung.

Das Atelier betreut das Schaffen

der Außenseiterkünstler und vertritt

ihr Werk durch Ausstellungsprojekte

und Publikationen.

122


123


Zu einer besonderen, ganz im

Geiste Philip Arps ausgerichteten

Ausstellung kam es dann

2014, als sich die Garage in

das „Museum des verlorenen

Glücks“ verwandelte. Als Teil

von Lorenz Seibs Inszenierung

„Competition, Competition!

oder Zum Thema Utopie kommen

wir vielleicht später noch“

gab es besondere Glücksbringer

von Claudia Karpfinger und

Katharina Schmidt zu sehen.

Auf Anregung von Claudia

Lohmann, Autorin des Stücks,

hatten die beiden Bühnenund

Kostümbildnerinnen

neun ambivalente Preziosen

angefertigt. Exponat #2, Motto

„Glück gehabt“, präsentierte

„Die feste Zweierbeziehung“.

Seite an Seite stolzierte sie

auf kitschig schönem Frühstücksteller

und einem

Scherbenhaufen als Fundament.


Museum des verlorenen Glücks

Objekteauswahl (von oben nach unten)

Exponat #5

„Ausgeträumt: Die sichere Anstellung“

Exponat #7

„Hübsche Idee: Der freie Wettbewerb“

Exponat #2

„Glück gehabt: Die feste Zweierbeziehung“

125


Brezissimo!

Rudolf Vogel

Spiel mit Worten, Spiel mit

Objekten, Spiel mit Fiktion

und Realität – in zwei Ausstellungen

vereinte Philip Arp

die Möglichkeiten, seiner

Phantasie Ausdruck zu verleihen,

gewissermaßen in einem

Gesamtkunstwerk. Gedanken

zu Arps subversiven Brezenund

Keramikobjekten.

In der Brezenausstellung (1972) waren

„Brezen von Heute, Morgen und

Gestern“ zu sehen: die Breze zur Zeit

der Völkerwanderung (mit Rädchen

unten), die Völkerschlacht-Breze (mit

Leber- und Blutwurst), die Breze der

NSDAP, die Europa-Breze (zwei verkehrt

zusammengefügte Brezenteile)

sowie diverse erotische Kreationen.

In Person von Prof. Tivoli-Brücke

hielt Arp selbst die Eröffnungsrede.

„Meine Damen und Herren“, wendet

er sich ans Publikum, „es ist mir eigentlich

brezuwider, Ihnen hier genau

zu erbrezen, was jedem Glezen hier

brezten Endes sowieso nicht erst

brezelhart bewiesen werden muss.“

Und so führt er weiter aus, was er erst

kürzlich im Lokalteil der „Brezdeutschen

Breizung“ von „Sosein und

Brezein“, von „Brezentum und Brezismus,

ja sogar von Brezen-Buddhismus“

erfahren habe. Schnell kommt

er zum Ende, nur um festzustellen,

dass „noch lange nicht alles gesagt“

ist. Last, not least folgt eine Empfehlung

für seinen nächsten Vortrag,

„über die Kaisersemmel und ihre

Auswirkungen auf das deutsche

Kulturleben“.

Die Brezen konnte man ihrem eigentlichen

Zweck, dem Verzehr, problemlos

zuführen. Bei den Komikkeramikobjekten

(1973) war die Handhabung

schon schwieriger. Etwa die Bedienung

der Flugkanne: Sie „schwebt“,

laut Arp’scher Gebrauchsanleitung,

„über dem Kaffeetisch. Ein kleiner

Stups befördert sie an den Platz, wo

sie gerade gebraucht wird. Praktisch

vor allem bei großer Tafel.“ Oder

die „Innenhenkeltasse“. Beim Aufstellen

half sie, Platz zu sparen.

Der Henkel war bruchsicher, weil

innen angebracht. Daraus zu trinken

allerdings erforderte schon eine

gewisse Kunstfertigkeit.

126



202

Die Keramikobjekte – das Gleiche

gilt auch für die Brezen – lediglich

als komisch wahrzunehmen, als

Ausgeburt einer überbordenden,

kruden Phantasie zum Ergötzen

des Publikums, wäre zu kurz gedacht.

Mit den nach seinen Vorstellungen

hergestellten Artefakten artikuliert

Philip Arp zugleich in der für ihn

typischen subversiven Art seine

Kritik an den Denkmodellen und

Heilsversprechen seiner Zeit.

Im Fall der Innenhenkeltasse etwa

an den Segnungen der Rationalisierung,

die in den 70er Jahren nicht nur

von Marktliberalen propagiert wurde.

Und führt sie, weil letztlich doch

nicht praktikabel und gegen den

Menschen gerichtet, ad absurdum.


3 Objekte aus der Inszenierung

„Die Originalsprengung“


Ein Sehstadel, wie er leibt und

Rudolf Vogel

Über Bilder einer Über Ausstellung Bilder einer und Ausstellung ihre wundersame Erweckung zum Leben

ihre wundersame Erweckung zum

Leben. Rudolf Vogel führt mitten hinein

in den Sehstadel.

Wir wollen die Leute mit

Charme verführen. Dem

Zuschauer soll ein neuer Blick

aufs Theater eröffnet werden.

Er soll hinter die Kulissen

schauen, soll „den Arbeitsprozess“,

den Theater

darstellt, hautnah miterleben.

Der Zuschauer soll zum

Entdecker werden.

Anette Spola in

einem Interview

Anette Spola und Eberhard Kürn hatten

1995 für das Projekt den Seestadel

im Englischen Garten, einen alten

Bootsschuppen an der Ostseite des

Kleinhesseloher Sees, zu einer Ausstellungshalle

umfunktioniert.

Zu sehen waren 50 Bilder des französischen

Fotografen Bernard Lesaing.

Drei Jahre hatte er für ein Fotobuch

die Arbeit an Münchner Privattheatern

mit der Kamera begleitet.

Auf den ersten Blick also eine Fotoausstellung.

Bei näherem Hinsehen

und längerem Verweilen jedoch ein

theatrales Ereignis, in dem sich die

Besucher – verwundert zunächst,

irritiert, aber auch amüsiert und

zunehmend animiert – als Akteure

eines Schauspiels erlebten.

Während sie von Exponat zu Exponat

gingen, geschah um sie herum allerlei

Sonderbares. Auffällige Gäste mischten

sich unter die Betrachter: ein

erbittert streitendes Pärchen, zwei

schwule Polizisten, die sich heißblütig

und völlig ungeniert anmachten.

Ein Mann, der sich auf einer Bank

ausruhen will, bemerkt sehr bald

einen höchst unangenehmen Geruch.

Ein zweiter Mann, der neben ihm

Platz nimmt, riecht ihn ebenfalls,

mustert den Nachbarn mit äußerstem

Widerwillen und verlässt die Bank.

Des Rätsels Lösung: eine abgestellte

Tasche, vollgestopft mit Schweizer

Käse. Hin und wieder werden Gäste

von zwielichtigen Figuren in Trenchcoats

abgeführt. Ein Aufseher, eine Zigarre

im Mund, fordert rauchende Besucher

auf, das Rauchen einzustellen.

Trat man auf bestimmte Stellen im

Boden, schalteten sich Mikros ein,

die von der Decke baumelten. Gesprächsfetzen

waren hörbar, zum

Teil verzerrt. Orts- und Zeitangaben,

Beschreibungen von Zufahrtswegen

und Parkmöglichkeiten … Wurde

da ein Banküberfall geplant oder

eine Hochzeitsfeier?

130


lebt

An den Querseiten des Stadels hatte

Eberhard Kürn durch Gaze-Leinwände

zwei Räume abgeteilt. Das

Theater wurde auf diese Weise transparent,

gab den Blick frei auf den

Fundus, wo sich Berge von Kostümen

und Requisiten türmten. Immer wieder

fanden sich Schauspielerinnen

und Schauspieler ein, bereiteten sich

auf ihre Auftritte vor, wechselten die

Kostüme, memorierten, schminkten

sich, probierten Haltungen – Lesaings

Bilder erwachten vor den Augen der

Betrachter gewissermaßen zum

Leben. Es war ein Spiel in und mit

dem Theater, seinen Grenzen und

Entgrenzungen, Verzauberungen und

Ernüchterungen. Von Beginn an gehört

es zur DNA des TamS und seinen

Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.


Die Dienstleister



Knapp am finanziellen Ruin vo

Rudolf Vogel

Dienstleistungsgesellschaft – ein Wort, das herumspukte, als

die Furcht vor Rationalisierung und dem Verlust traditioneller

Arbeitsplätze um sich griff. Nur keine Angst, hieß es beschwichtigend.

Denn nun kommt sie, die neue Gesellschaft,

und wir alle werden zu Dienstleistern. Vorbildlich wurde sie

im TamS anno 1993 in Szene gesetzt. Eberhard Kürn lieferte

die Idee, Anette Spola führte Regie.

Wie lässt sich das kulturelle Angebot,

das Tag für Tag, Nacht für Nacht den

interessierten Münchner lockt und

fordert, auch nur annähernd bewältigen?

Was ist verzichtbar, was ein

„Kann“, was ein „Muss“ für sie oder

ihn, wollen sie im Kreis Gleichgesinnter

als kompetente Gesprächspartner

wahrgenommen werden? Und

was könnten sie mit den Stunden, die

sie in einer für ihren Geschmack völlig

langweiligen Vorstellung absitzen,

alles anfangen, erleben, genießen,

erledigen? … Fragen, die bereits vor

30 Jahren den Kulturkonsumenten

beschäftigten und quälten.

Mit seinem Stück „Die Dienstleister –

oder: Die Errettung des Publikums

vor dem Theater“ gab das TamS darauf

eine allseits zufriedenstellende,

letztendlich gültige Antwort: In knapp

zwei Stunden wurden die Highlights

aus sämtlichen Münchner Theaterproduktionen

(an großen wie an kleinen

Häusern) in videogerechter Kurzfassung

dargeboten. Ein elektronisches

Laufband über dem Vorhang teilte

den Zuschauern die Zeitersparnis mit.

Dazu Börsennotierungen, der Wetterbericht,

Verkehrsaufkommen, Lottozahlen.

Unter das Publikum mischten

sich Anwälte, Frisörinnen, eine

Sprecherzieherin, Steuerberater,

Schuhputzer, Diätberaterinnen, ein

Beichtvater, Anlageberater, Zahnärzte,

Tourismusexperten und boten

ihre Dienste an, die Abend für Abend

gerne in Anspruch genommen wurden.

Auf einer Rampe quer durch den

Zuschauerraum zeigte eine Modenschau

die neuesten Kreationen. Eine

Jazzband marschierte ein und sorgte

zusätzlich für Stimmung.

„Ein beherzt kabarettistischer Theaterabend“,

urteilte Der Spiegel, „der

den Zuschauerraum zum kleinen Horrorladen

der spätkapitalistischen Service-Gesellschaft

umfunktioniert.

Parallel zum Konsumterror im Parkett

servieren die Künstler ein Potpourri

aus Höhepunkten des Münchner

Theaterlebens: gerade genug, um

mitreden zu können beim Party-

Smalltalk.“

Das TamS hätte dieses Stück monatelang

vor ausverkauftem Haus spielen

können und sich damit – auf der

Bühne waren mehr gagenberechtigte

Akteure zu sehen als Zuschauer im

Publikum – mit absoluter Sicherheit

in den finanziellen Ruin gespielt. Eine

Erfolgsstory, die so auch nur im TamS

möglich gewesen wäre.

134


rbei

„Unter das Publikum mischten sich Anwälte, Frisörinnen, eine Sprecherzieherin, Steuerberater,

Schuhputzer, Diätberaterinnen, ein Beichtvater, Anlageberater, Zahnärzte, Tourismusexperten und

boten ihre Dienste an, die Abend für Abend gerne in Anspruch genommen wurden.“

135


Mein erstes Mal

Maria Peschek

Erinnerungen von Autorin

und Schauspielerin

Maria Peschek an ihren

denkwürdigen und

turbulenten TamS-Einstand –

eine Fetzengaudi und ein

großartiges Theaterereignis.

Wenn ich an die „Dienstleister“, das erste

TamS’sche Theaterstückl, in dem ich mitspielte,

denke, ist mir ein Zitat aus meiner

Polt-Rede noch präsent: „Welcher Deutsche

kann sich noch einen Deutschen

leisten.“ Und ich sehe mich als einen der

Väter von „Romeo und Julia“ mit Volker

Prechtel oder alternierend mit Aurelio

Ferrara in einem erbitterten Schwertkampf,

um mich dann sterbend auf dem

Boden zu wälzen.

Vermutlich habe ich diese Idee als Herausforderung

angenommen: die Zuschauerblicke

auf mich zu ziehen, egal was im

Zuschauerraum grad für eine Dienstleistung

stattfindet.

Schauspieler überschätzen sich ja gern.

Ich erinnere mich an hektische, turbulente

Umzüge im Foyer und in der Winzgarde-

Anette Spola hatte mich mit der Frage

„Kannst du den Polt nachmachen?“ zur

Mitarbeit an einem Theaterabend geködert.

Aus allen möglichen Münchner

Erfolgsstücken, die zurzeit angesagt

waren, sollten Ausschnitte oder Szenen

gezeigt werden. Auch aus der Inszenierung

„Tschurangrati“, damals der Renner

an den Kammerspielen. Bekanntlich ein

Polt-Stück, womit sich Anettes Anfrage

geklärt hatte.

Während die Schauspieler auf der Bühne

agierten, sollten parallel dazu im Publikum

Dienstleistungen angeboten werden.

Als Schauspieler(in) wünscht man sich in

der Regel ein Publikum, das gefesselt und

gebannt den Blick zur Bühne richtet und

nicht durch irgendwelche Aktionen im

Zuschauerraum abgelenkt wird. Man neigt

schon dazu, die Husterer und Räusperer,

die Handtaschenkramer und Bonbonauspapierler

zu fürchten. Nicht zu vergessen

die Zuspätkommer mit ihrem tollpatschigen

Gerumpel und ihrem geflüsterten

Entschuldigungsgezischel. Solche Störungen

aber bewusst mit zu inszenieren,

quasi zur Kunstform zu erheben, ist

eigentlich eine schauspielerfeindliche

Angelegenheit.


robe und abenteuerliche Bühnenumbauereien.

Das Spektakulärste war ein von

Eberhard Kürn ersonnener Laufsteg für

eine Modenschau, der plötzlich im Zuschauerraum

eingerichtet war und –

Simsalabim – ebenso schnell wieder

verschwand.

Sicherlich waren die Proben anstrengend

und mühsam. Und sicherlich mussten

viele Probleme bewältigt und zwischenzeitliche

Verzweiflung aus dem Weg geräumt

werden. Bestimmt wird das so

gewesen sein bei der Anzahl der Mitwirkenden:

dreißig Schauspieler und etwas

weniger an Dienstleistern. Doch davon

weiß ich nichts. Ich weiß nur von viel Gelächter

schon während der Proben. Und

wie sich aus dem Chaos eines zum anderen

fügte, sodass am Ende für alle eine

Fetzengaudi und ein großartiges Theaterereignis

herauskamen.

Maria Peschek mit Aurelio Ferrara in einem erbitterten Schwertkampf in „Romeo und Julia“


Kapitel

III

Die Spola S. 140

Weltstadttheater S. 144

Gesichter eines Theaters S. 162

TamS und sein Publikum S. 176


M

wie

MANCHE

mögen's TamS. Ein Kommen und ein Gehen

Wer kam, wer blieb, wer anfing


Die Spola

Rudolf Vogel

1981 inszenierte Philip Arp am TamS

Karl Valentins „Firmling“. Er spielte

den Vater, Anette Spola den Bepperl.

Nein, sie spielte ihn nicht, sie war der

Bepperl. Und das Erstaunliche war

nicht, dass sie, bereits in den Vierzigern,

den Bepperl „so glaubhaft verkörperte“,

wie es in der Kritik hieß,

das Erstaunliche war, dass niemand

im Publikum darüber erstaunt war.

Das im „Firmling“ leitmotivisch wiederkehrende

Lied „Schön ist die Jugend,

sie kommt nicht mehr“ schien

in seiner zweiten, melancholischen

Aussage für Anette als Darstellerin

und als Person außer Kraft gesetzt.

Das gilt (für mich) bis heute.

Jung bleiben heißt ja nichts anderes

als: neugierig bleiben, anarchisch, experimentierfreudig.

Heißt, die Freude

am Spiel, die Lust am Spielen nicht

zu verlieren. Eine Gabe, die Anette in

besonders reichem Maß zuteilwurde

und die das gemeinsame Ausdenken,

Erarbeiten und Proben so anregend,

mitunter auch so anstrengend macht.

„Im Spiel“, hat sie einmal geschrieben,

„darf ich über zensierte Abmachungen

hinausgehen, ich muss es

sogar. Im Spiel darf ich das Lebendigsein

erfahren. Im Spiel darf ich alles.“

Darf ich also auch – wie ein Kind –

ein Gebäude, das ich gestern errichtet

habe, heute wieder einreißen und neu

zusammensetzen. Das ist naturgemäß

nicht jedermanns Sache. Schon gar

nicht, wenn dieser Jedermann ein

Schauspieler ist, der bereits bei der

ersten Leseprobe wissen möchte,

durch welche Tür er bei der Premiere

auftreten soll. Seines Bleibens am

TamS war denn auch nie sehr lange.

Spontaneität, Freiheit zuzulassen, ja

zu fordern, ohne den großen Bogen

aus dem Blick zu verlieren …

die Authentizität des begabten Amateurs

mit der Darstellungskunst des

erfahrenen Profis zu verbinden ...

die Balance zwischen bewusstem

Unfertiglassen und akribischer Arbeit

am Detail zu finden – in diesem

Spannungsfeld bewegt sich Anette

Spola als Regisseurin und als Schauspielerin

mit intuitiver Sicherheit.

Viele, die in den ersten 50 TamS-

Jahren bereit waren, sich auf dieses

immer wieder neue Abenteuer einzulassen,

haben ihr viel zu verdanken.

Der dies schreibt, weiß das selbst

am besten.

140


203 Anette spola


Fünfzig Jahre Anette Spola

Also doch erst fü̈nfzig.

Irgendwann hieß es mal achtzig.

Aber das hat sowieso keiner geglaubt.

Die und achtzig.

Und dafü̈r so ein Tam Tam.

Das TamS, also Anette, gibt’s seit fü̈nfzig Jahren.

Was davor war, weiß ich nicht.

Ob es sie da auch schon gegeben hat.

Ohne TamS halt.

Aber das wäre dann ja eh nicht so wichtig.

Also fü̈r mich nicht.

Mich interessiert nur das TamS.

Und das auch nicht wirklich seit fü̈nfzig Jahren.

Da war ich ja erst acht.

Da wusste ich noch gar nicht, was ein TamS ist.

Heute weiß ich’s zwar,

aber erschrecken tu ich trotzdem jedes Mal.

Weil’s halt so verdammt klein ist.

Jedes Mal wenn ich reinkomme, denke ich:

Scheiße, so klein hatte ich’s gar nicht in Erinnerung.

Und wenn ich dann rausgehe, denk’ ich jedes Mal: So groß!

Dass die sich immer wieder an meine Texte rantrauen,

ehrt mich, und freut mich, und ermutigt mich,

ewig weiterzuschreiben. Also was heißt ewig.

Noch fü̈nfzig Jahr halt oder so.

Wenn das TamS mal wahnsinnig viel Geld kriegt,

von einem Spender oder Lotto oder irgend sowas,

dann sollen die als Erstes die Schauspieler-Garderobe vergrößern!

Die finde ich wirklich eine Zumutung.

Fü̈r die Schauspieler und -innen.

Ein Wunder, dass die sich nicht schlagen. Obwohl.

Zum Sichschlagen ist da drin gar kein Platz.

Nicht mal ein eigenes Klo haben die. Das muss man

sich mal vorstellen. Da scheißt man sich fast in die Hose

vor Aufregung, und um ebendas zu vermeiden,

muss Mann und Frau voll verkleidet durchs Foyer

latschen und sich blöd anquatschen lassen oder

so tun, als wär man gar nicht da.

Aber mich geht’s ja nix an. Solange die meine Texte sprechen …

142


eine Hommage

an die Prinzipalin von TamS-Autorin Beate Faßnacht

Eine Heizung wäre auch nicht schlecht. Also wenn das

mit dem Spender oder dem Lotto was wird.

Während der Proben ist es nämlich – je nach Jahreszeit –

arschkalt. Bei den Vorstellungen geht’s eigentlich.

So gesehen …

Das TamS ist klein. Aber es sind ziemlich viele.

Mit Lorenz Seib hat die Spola genau den Richtigen gefunden.

Vor allem für mich. Also für meine Texte, meine ich.

Da ist sie eh gut drin. Im Die-Richtigen-Finden.

Richtig schlechte Schauspieler hab’ ich im TamS

eigentlich noch nie gesehen.

Eine schlechte Ausstattung erst recht nicht.

Was das TamS sich da für eine Crew aufgebaut hat ...

da müssten viele Theaternasen sie drum beneiden.

Also solche, die vielleicht größere Künstler-Garderoben haben

oder sogar eigene Künstler-Toiletten.

So wie im TamS wird es nie irgendwo sein.

Für mich nicht und für sonst auch niemanden.

Ich bin froh ums TamS.

Gut, dass es so klein ist. Es nimmt einem die Angst.

Wenn’s schiefgeht, kriegen es grad mal siebzig Nasen mit.

Ansonsten brummt die Bude und es ist immer

ziemlich schnell ausverkauft. Wie gesagt: siebzig Nasen halt.

Wegen mir kann’s noch lange so weitergehen.

Vor fünfzig Jahren war ich acht.

Ich erinnere mich an schlaflose Nächte,

weil eine innere Stimme damals immer wieder

zu mir gesprochen hat:

„Sei wachsam, Beate! In München passiert grad was ganz

Besonderes. Da entsteht ein winzig kleines Theater,

so klein wie du ungefähr.

Aber dort kommst du,

wenn du mal groß bist, vielleicht noch mal ganz groß raus.

Die Stimme sollte recht behalten.

In tiefer Dankbarkeit für all die Liebe und Treue und

das Vertrauen, das ich im TamS erfahren durfte.

Vom Spaß mal ganz abgesehen.

Herzlichst

Beate Faßnacht

143


Weltstadtprogramm mit Loka


kolorit


Klänge, Wut und Riesenblödsi

Wolf Jahn

Im Süden beheimatet, im Herzen weltoffen.

Wo sich Lästern über Gott und die Welt ausgeht.

Mit Autoren, die wissen, wie und worüber man spricht.

Von Handke bis Polt.

Vielleicht zählt es zu den Eigenarten

nicht nur des bayerischen, sondern

allgemein des deutschen Sprachraums

im Süden, dass in ihm ein besonderer

Humus für Spielwitz im Ernsten wie

im Komischen gedeiht. Und ein ebensolcher

für Experimentelles und

Schwellenthemen. Auffallend ist, dass

dem TamS mit Thomas Bernhard und

Peter Handke, den Österreichern,

Ruedi Häusermann, dem Schweizer,

den Bayern Karl Valentin, Gerhard

Polt und Anton Prestele sowie dem

Franken Fitzgerald Kusz ein gewisses

südliches Flair zu eigen ist. Von anderen

Südfrüchten, von Philip Arp bis

Urs Widmer ist an dieser Stelle gar

nicht zu reden.

Doch sei jeglichem Protest umgehend

stattgegeben. Ein Heimatstadl ist das

TamS deswegen nicht. Wohl aber gibt

es Heimatklänge, wenngleich verfremdete,

laute, sanfte und aufmüpfige

gemischt mit klassischen Tönen

und Obertönen, konterkariert mit

Alltagsgeräuschen und getragen von

praktizierter Kenntnis internationalzeitgenössischer

Musik. Auf ihre

persönliche und voneinander sehr

unterschiedliche Weise repräsentieren

diese Bandbreite Ruedi Häusermann

und Anton Prestele. Dem Ersten war

das TamS Sprungbrett in seine anschließende

Karriere von Basel

über Wien bis Berlin. Und es war

ihm Bühne für seine theatralen,

poetischen, zugleich von subtilschweizerischer

Ironie getragenen

Improvisationen. Den Zweiten bereicherte

es um eine weitere Spielstätte

nach etlichen Ehrungen und Aktivitäten

als Komponist, Regisseur und

Interpret, von Graz bis zur Nordsee.

Für das TamS inszenierte und komponierte

er vieles, 2012 etwa „Birnbaum

so blau Juchhe“, ein Musikschauspiel,

inklusive Geigen und DJ.

Und seit 2017 leitet er nicht nur

musikalisch das Theater Apropos.

Was den südlichen und deutschen

Sprachraum auszeichnet, gründet in

seiner lustvollen Zuspitzung von

146


nn

Der österreichische Kabarettist,

Schauspieler und „Meister des höheren

Blödsinns“ Otto Grünmandl

wirkte in zahlreichen Stücken des

TamS mit. Zusammen mit Philip Arp

oder mit eigenem Soloprogramm

sorgte er für heitere Sternstunden

des Theaters.

Gegensätzen, seiner metaphernreichen

Alltagssprache und seinem Mut zur

Schimpftirade. Ob Polts „Kinderdämmerung“,

das Vorurteile der Erwachsenen

ins Kindsein projiziert, oder ob

Kusz in „Höchste Eisenbahn“ zwei

ältere Schwestern zum Schlagabtausch

bittet: Das sprichwörtliche

Blatt vor dem Mund verwandelt sich

hier in entwaffnende Komik, in sarkastisch-schonungslose

Abrechnung

oder in kalkuliert blinde Wut, wie sie

auch für Thomas Bernhards und Peter

Handkes Stücke bezeichnend sind.

Länger schon als Bernhard ist Karl

Valentin tot. Was aber nicht heißt,

dass man ihn nicht modern spielen

kann, wie 1996 in „Weltuntergang–

Riesenblödsinn“ mit zeitgemäßen

Versionen einiger seiner bekanntesten

Stücke. Darin erlebte Valentins Buchbinder

Wanninger seine unerwartete

Umwandlung in den arabischen Arun

Al-Wanning. Seiner telefonischen

Verstrickung ins behördliche

Unwesen hat das wenig genutzt.

Auch Al-Wanning scheitert an modern-paradoxer

Kundenabfertigung

am Telefon.

„Nicht auf Brettl-Niveau“, urteilte

der Bayerische Rundfunk über diesen

„Riesenblödsinn“, werden bekannte

Valentin-Texte „getrimmt, sondern

das Hintergründige wird nach außen

gekehrt – ganz wie der Autor es

immer gemeint hat.“ Und ganz so,

wie auch das TamS mit seinem

„Weltstadtprogramm“ alles Heimatliche

stets zurück auf Psyche und

Un-Sinn des modernen Lebens führt.

147


Ruedi Häusermann

Beginn einer Karriere:

Bevor der Schweizer

Ruedi Häusermann große

Erfolge auf europäischen

Bühnen feierte, startete er

im TamS mit „Baden zusammen“.

Eine Musikcollage

aus Geräuschen,

Klängen rund um das

Wasser, von der Blubbersprache

der Karpfen bis

zum Gurgeln ablaufenden

Wassers.

148


Und noch ein besonderes Erlebnis möchte ich nennen: das Stück

„Baden zusammen“ von Ruedi Häusermann. Es wurde ebenfalls im

TamS uraufgeführt (1991). Ich habe noch eine Tonbandkassette, die

man für ein paar Mark erwerben konnte. Auf ihr sind Wassertropfen,

ungewöhnliche Geräusche und ein merkwürdiger Gesang zu hören,

der von zwei französisch sprechenden Katzen stammen könnte.

Barbara Wehr

149


Anton Prestele

150


Birnbaum so blau Juchhe 2012, Regie: Anton Prestele

2012 entwickelte Anton Prestele für das TamS die Musiktheater-Komposition „Birnbaum so blau Juchhe“.

Das bekannte Volkslied diente ihm als Vorlage für eine groteske Ballade über den Lebenszyklus von der Wiege bis zur Bahre.

151


Thomas Bernhard

Ausgewandert

Schon sein Vater, ein Bäckergeselle aus dem

Mölltal, der mit meinem Vater in die Schule

gegangen ist, war in seinem Leben mindestens

zwanzigmal aus Kärnten in die Steiermark

ausgewandert und immer wieder aus

der Steiermark nach Kärnten zurückgekehrt,

bis er endlich in Kärnten seine Ruhe gefunden

hat, in Arndorf bei Sankt Veit an der

Glan, wo er sich in der alten Schmiede, die

sein letztes Quartier gewesen war, aus Heimweh

nach der Steiermark, an einem eisernen

Haken erhängt hat, ohne, wie ihm damals

und noch lange nach seinem Tod vorgeworfen

worden war, an seine Frau und an seine

Kinder zu denken.

Aus: Thomas Bernhard Der Stimmenimitator

152


Vom Schlimmsten das Beste 2011, Regie: Lorenz Seib

mit Sophie Wendt und Lorenz Claussen

153


Peter Handke

154


Untertagblues

2007, Regie: Burchard Dabinnus

mit Jörg Hube, Sarah Camp und dem Musiker Ardhi Engl

Tiraden gegen Politik, Mitmenschen und Wirtschaft, Wut gegen Rollkofferfahren

und alles, was sich bewegt.

Anette Spola: „Für mich kam nur Jörg Hube für die Besetzung in ‚Untertagblues‘

in Frage, ohne mit seiner Zusage rechnen zu können. Aber Überraschung.

Aus Freundschaft und großem Interesse an dem Stück kam sie. Es war Hubes

letzte große Rolle. Ich bin ihm bis heute dankbar.“

155


Karl Valentin

Weltuntergang – Riesenblödsinn

1996, Regie: Anette Spola und Gerd Lohmeyer

Ungewohnte Perspektive auf Valentin: Dieser Geniestreich gelang Bühnenbildner Eberhard Kürn mit seiner

Verlagerung von Valentins Stücken in die Wüste. Der vertraut kleinbürgerlichen Umgebung entkleidet,

wurden seine Figuren in ihren tragischen wie komischen Dimensionen neu erfahrbar.

156


157


Fitzgerald Kusz

Sooch halt wos

1986, Regie: Gerd Potyka

Streitgespräche auf Fränkisch mit

Elisabeth Welz und Dieter Augustin

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Gerhard Polt

Gerhard Polt, Lorenz Claussen, Ruedi Häusermann (v.l.n.r.)

Kinderdämmerung

1995, Regie: Anette Spola

Szene mit Gerd Bumeder (links) und Stefan Rutz

159


Großes kleines Haus

Michael Wachsmann

Das alte Brausebad im Hinterhof der Haimhauserstraße wird nicht gewusst haben, wie ihm geschieht – und was –, als es

vor 50 Jahren gefunden wurde, ohne dass es einer gesucht hätte.

Daraufhin wurde es von den Findern heimgesucht: mit einem blitzartigen Überfall. Es erlebte Hordenangriffe mit blanker

Faust und Spitzhacke, erlitt Hammerschläge, Bohrungen, Nagelungen, woraus schwere innere Verletzungen an Fundament

und Wänden bis hinauf zum Oberstübchen resultierten, die mit Beton-, Blech-, Holz-, Wasser- und Elektroleitungsimplantaten

glücklich (mehr oder weniger) kaschiert wurden.

Von außen merkte man ihm davon nicht viel an: Was sich da abgespielt hatte, war ja keine Schönheits-OP, sondern

schöpferischer Entkernungsvandalismus. Aber drinnen war es nun ein Theater.

Nun brauchte das Kind noch einen Namen.

So unbekümmert Gründungsvater und -mutter beim Haus-Innenabriss-und-Ausbau vorgingen, so unbesorgt hielten sie es

auch mit der Taufe. Es waren ja schwer programmatische Zeiten damals, und neue Gruppen schwenkten, um Gehör und

Zuschauer und Publizität zu finden, Fahnen, auf denen „Kollektiv“ oder „Action“ oder „Anti“ zu lesen war: raus aus

dem Hörsaal, raus auf die Straße. Wie legitimiert, wie positioniert man sich da, wenn man nicht aus dem Elfenbeinturm

kommt, sondern längst schon von der Straße, weil man da Theater gemacht hat?

Man schaut sich um im Viertel. Und wird fündig. Ums Eck ist eine Behördenzweigstelle der Stadt; nach der nennt man

das Theater, nicht ohne List. So trägt man das Soziale im Namen, auch wenn’s ein eher geographisches Bekenntnis ist,

und erhebt sich damit über jeden Verdacht, gesellschaftlich womöglich nicht relevant zu sein.

So ist diese Frage, die soziale, ein für alle Mal abgehakt: Für Relevanz war im Namen gesorgt, da konnte das Schifflein selber

unter dem Schutz der ja nicht einmal ganz falschen Flagge – schließlich lag man, wenn einem auch am Sozialen nicht viel lag,

immerhin doch am Sozialamt – kreuz und quer in der Welt der Wörter, Zeichen und Töne herumfahren, wie es der Wind blies,

und wie es Arp und Spola gefiel. Und einfiel.

Und eingefallen ist ihnen viel.

Relevant war das nie. Eigensinnig und eigen immer, oft vollendet geglückt, wenn es den selbstgesetzten eng begrenzten

Raum- und Bühnenrahmen mit Spiel, Sprache, Bild, Licht und Musik vollkommen zu erfüllen vermochte, wenn sich Poesie,

Witz und Geist mit einfach raffinierten, phantastisch erdachten und ingeniös konstruierten Bühnenraumwundern kreuzten.

Und auch im Scheitern – ja, das gab es freilich ebenfalls, das kann Kleinbooten genauso zustoßen wie Großtankern –

scheiterte das TamS immer tamsisch, also nie falsch tönend, oder blöd, oder routiniert.

Und selbst dann oftmals noch: besser als der Besuch.

160


Wozu noch bemerkt werden muss: Die Reiz-, die Ärgerschwelle des Betrachters liegt hier deutlich höher, als wenn man künstlerischen

Katastrophen an den großen Häusern beiwohnt. Und zwar nicht, weil es hier einen herablassend gewährten

Mitleidsbonus zu verteilen gäbe: Nein, denn der selbstgestellte Anspruch ist, egal in welchem Rahmen, hier wie dort immer

absolut. Sondern weil man in Oper wie Schauspiel oft vor Geld den Geist nicht sieht: Da wird aus dem Vollen geschöpft, in

die Vollen gegangen und geschmissen mit allem, was man hat, und das ist sehr viel. Wenn der künstlerische Ertrag dann sehr

wenig ist, regt sich über der Diskrepanz schnell Zorn und Verzweiflung. Da ist einem im Misslingensfalle dann Kongruenz der

Mittel und des Ertrags bedeutend lieber.

Wie wichtig, wie gut, dass es Subventionen gibt, für die Großen (zu?) viel („Die Ausstattung der Theater ist in Deutschland

glücklicherweise nach wie vor so gut, dass man auf das zahlende Publikum nicht angewiesen ist“, sprach ein Großregisseur),

für die Kleinen (immer zu) wenig: materieller Ausdruck eines (kleinen) kommunalen (oder staatlichen) kulturellen schlechten

Gewissens. Es erleichtert sich, indem es honoriert, was es selbst (sich) nicht leisten kann, nicht will und auch nicht muss:

den Wert, der im Unverwertbaren liegt.

Aber Subvention schafft nicht Geist.

Für den muss ein Haus schon selber sorgen (selbst wenn seine Bestuhlung aus einem der – ehemals – ersten Schauspielhäuser

des Landes stammt).

Und dies Haus hat einen: Der von Philip Arp ist es, der dort herumspukt.

Und Anette Spola ist es, Münchens, Bayerns, Deutschlands, der Welt (?) längstgediente Prinzipalin, die ihn mit Liebe, Verstand,

Herz und ohne Sentimentalitäten leichthändig und schwer arbeitend beschwört.

Deswegen gibt es das TamS immer noch. Das nennen wir tätigen Denkmalschutz, auch wenn das Haus inzwischen sowieso

unter Denkmalschutz steht.

Und es heißt immer noch so, auch wenn es längst kein Sozialamt mehr gibt, an dem es liegen könnte. Das wiederum liegt

daran, dass das Kürzel von Anbeginn an nichts als eine Schutzbehauptung war. Hinter dem Schutz dieser Behauptung nämlich

versteckte sich die wahre Bedeutung dieser vier Buchstaben. Sie ist ganz einfach, und sie blieb Programm:

T heater

A rp

M it

S pola

Und für die Zukunft: Mit S eib

Und S eele


Gesichter eines Theaters

Wolf Jahn

50 Jahre TamS. Aber wie viele Gesichter?

Ein Versuch, die Skizze eines TamS-Porträts mit einigen

Porträts seiner zahllosen Gesichter zu zeichnen.

Vom Theater, im Besonderen vom

dramatischen heißt es, es habe zwei

Gesichter, ein ernstes und ein lachendes.

Das erste gehört der Muse Melpomene,

das zweite ihrer Schwester

Thalia. Beide zählen ebenso zum

festen Inventar des TamS. Deutlich

erkennt man sie der Prinzipalin

Anette Spola auf ihrem ganz dem

Theater gewidmeten Porträt zugeordnet

(S. 141). Es sind Masken, hinter

denen sich unendlich viele Gesichter

verbergen. Von einer solch schier unendlichen

Zahl an Gesichtern, Individuen,

Schicksalen, von ihren unterschiedlichsten

Gaben und Fähigkeiten

erzählt auch die fünfzigjährige Geschichte

des TamS plus die Zeit seiner

Vorgeschichte. Aber wie es unmöglich

ist, alle Namen zu kennen und

zu nennen, zu erinnern, schließlich

korrekt zu schreiben, so ist es ebenso

unmöglich, sie alle im Bilde zu

zeigen. Wie gut, dass es die beiden

Masken gibt. Sie sind die Einzigen,

die alle zeigen.

Von allen Gesichtern, den bekannten

wie unbekannten, ihren kleinen und

großen Geschichten, haben wir, das

TamS, einige ausgewählt. Weder von

Absicht noch von Beliebigkeit, jedoch

von Kriterien geleitet. Kriterien,

die einen kleinen Querschnitt erlauben.

So zeigen sich Gesichter, die bekannt

wurden oder bekannt waren, als

das TamS mit ihnen oder umgekehrt

sie mit ihm erste Kontakte aufnahmen.

Gesichter, die Spiel und Bild des

Theaters prägten und prägen, Gesichter,

die emsig hinter und vor den Kulissen

agieren, und solche, die wir in

guter Erinnerung behalten. Sie stehen

stellvertretend für alle anderen, die

hier nicht im Bilde auftauchen. Und

die uns verzeihen mögen, sie nicht

berücksichtigt zu haben. Aber nach

dem Jubiläum ist vor dem Jubiläum.

Spätestens dann klappt’s! Bestimmt!

162


163




Du musst nicht dramatisch spie

Friederike Frerichs

Wie viele andere spülte auch

Friederike Frerichs der Zufall

auf die Bühne des TamS.

Als 24-Jährige hatte die Tochter

einer Handwerkerfamilie

eine besondere Begegnung

mit Anette Spola und ihrem

Mann Philip Arp in einem

Münchner Buchgeschäft.

Heute lebt und arbeitet die

ehemalige Buchhändlerin als

erfolgreiche Schauspielerin

in Berlin.

… über ihre erste Begegnung mit

Anette Spola in der Buchhandlung

GIELOW, einem verrückten, vollgestopften

kleinen Laden in der

Theatiner-Passage

„Wir hatten ein großes Sortiment an

Theater- und Filmliteratur, Comics,

viel über Ballett, außerdem Pornos.

Alle Theater- und Filmleute kauften

dort ein: Tabori, Fassbinder, Syberberg

... Anette Spola und Philip Arp

gehörten ebenfalls zu unseren Kunden.

Bei einem ihrer Besuche hat

Anette mich dann überredet, mit

ins TamS zu kommen, zum Putzen.

Das habe ich dann gemacht.“

… über die freie Theaterszene im

München der 70er Jahre

„Man darf nicht vergessen, diese siebziger

Jahre, diese Nach-68er-Ära war

in München eine ganz spezielle, wilde

und unbürgerliche Zeit. Damals gab

es viel Sympathien für kleine Theater.

Die kleinen waren zu der Zeit auch

tausendmal besser als die großen

Theater. Experimentierfreudiger.

Mutiger. Frecher. Das, was heute die

Großen machen, haben damals kleine

Theater wie das TamS geschafft.“

… über Philip Arp als Lehrer und ihr

erstes Engagement als Schauspielerin

„Philip Arp wollte mich zum Spielen

animieren. Das habe ich zunächst

komplett verweigert. Dann musste ich

aber bei seiner Lewis-Carroll-Show

als Technikerin kurz auf die Bühne –

ich brachte ein weißes Kaninchen.

Bei diesem Auftritt hab ich Blut geleckt.

… Und im ersten oder zweiten

Jahr habe ich schon einen Soloabend

gemacht, über fünfzig Mal alleine

gespielt: Friederike Frerichs spielt

Friederike Kempner. Friederike

Kempner war eine Lyrikerin des

19. Jahrhunderts, die Gedichte voll

Pathos und unfreiwilliger Komik

fabriziert hat. Und der Arp hat einen

‚ergötzlichen Abend‘ über diese

Dame entwickelt. Und jeden Abend

hat er mir einen Zettel mit Kritik in

der Garderobe hinterlassen. … Er hat

mich richtiggehend erzogen. … Einen

Satz von ihm habe ich nie vergessen:

‚Du musst nicht dramatisch spielen,

du bist schon dramatisch.‘“

aus: Interview von Raphaela Bardutzky

166


len, du bist schon dramatisch

Friederike Frerichs in „Friederike Kempner. Ein ergötzlicher Abend“, 1975, Regie: Philip Arp

167


Was für ein gigantischer Ort!

Katharina Schmidt

und ihrer Assistentin die Bühne gebaut.

Das war 2007, bei der Produktion

‚Marsch! Vorwärts ins Theater!‘

Einem Stück von Maria Peschek.“

Seit mehr als zehn Jahren

kümmert sich Katharina

Schmidt um das Kostüm auf

der TamS-Bühne. Zusammen

mit Bühnenbildnerin Claudia

Karpfinger hat sich dort ein

erfolgreiches Duo etabliert.

… über ihre Anfänge im TamS

„Nach dem Abitur habe ich mich bei

Anette Spola für ein Praktikum vorgestellt.

Um auszuprobieren, ob

Bühne und Kostüm was für mich sein

könnten. Monate später habe ich dann

eine E-Mail bekommen, in der die

zwei entscheidenden Fragen standen:

Ob ich Bayerisch spreche und ob ich

mit einem Besen umgehen kann. …

Überhaupt putzen. Ich habe in diesem

ersten Praktikum einfach alles gemacht.

Geputzt, Kaffee gekocht, in

schlechtem Bayerisch souffliert, mit

Bühnenbildnerin Claudia Karpfinger

… über einen kurzen Ausflug zum

Staatstheater und ihre Rückkehr

ins TamS

„Im Anschluss habe ich noch am

Gärtnerplatz ein Praktikum gemacht.

Im Staatstheater. Wo ich nichts durfte.

Stattdessen saß ich in diesem großen

Saal und wusste im Hinterkopf, die

Claudia nagelt, schraubt, bohrt und

schwitzt jetzt allein auf der Bühne

und könnte meine zwei Händchen

schon brauchen. Da hab ich richtig

gemerkt, ich hab Lust auf die freie

Szene. Ich hab Lust, alles selbst herzustellen

und mich einzubringen.“


… über die wunderbare Zusammenarbeit

mit Claudia Karpfinger

„Claudia hat mich wirklich sehr, sehr

herzlich aufgenommen. Wir haben

uns gesehen und sofort gemocht. Sie

ist gelernte Innenarchitektin, Schreinerin

und hat langjährige Erfahrung

als Bühnenbildnerin. Inzwischen arbeiten

wir sogar häufig im Kollektiv.

Claudia verfügt über einen enormen

Ideenreichtum. Und dass ich, obwohl

ich bei ihr gelernt habe, jetzt auf Augenhöhe

mit ihr arbeiten kann, das

rechne ich ihr sehr hoch an.“

… über das TamS

„Als ich damals zum Vorstellungsgespräch

kam, bin ich zum ersten Mal

durch den Innenhof gelaufen, und ich

weiß noch, wie ich mir gedacht habe:

Wow, was für ein gigantischer Ort!

Da will ich mal wohnen! Witzigerweise

bin ich dann ja auch ins Vorderhaus

gezogen und dort acht Jahre

geblieben.“

… über die TamS-Familie

„Man kann da flügge werden und darf

auch weggehen und wieder nach

Hause kommen. Es ist auch alles sehr

menschlich. Am TamS wird viel

miteinander geredet und Rücksicht

genommen, zum Beispiel bei

Probenzeiten.“

… Wünsche für die TamS-Zukunft

„Dass es weitergeführt wird. Mit genauso

viel Energie. Für mein Gefühl

ist das ein Ort, der sehr belebt ist.

Wo viel ausprobiert wird. Der auch

einen Stadtteil prägt. Und ich würde

mir wünschen, dass das auch weiterhin

honoriert wird.“

aus: Interview von Raphaela Bardutzky


Ein Leben, wie es ein Traum fü

Lorenz Claussen

Als theaterbegeisterten

Studenten der Mathematik

zog es Lorenz Claussen

in den 70er Jahren

nach München.

Es war der Beginn einer

ungeplanten Karriere als

professioneller Schauspieler.

… über erste Kontakte

„Ein großer Zufall brachte mich ins

TamS, ausgerechnet zu einem Clownabend,

was mich eher skeptisch

machte. Aber den Clown im TamS,

den fand ich richtig klasse. Das war

Franz Josef Bogner. Am Ende des

Abends kündigte er einen fünftägigen

Workshop an, den ich unbedingt mitmachen

wollte, koste es, was es wolle.

Am letzten Tag hatten wir dann Leute

vom Theater im Publikum, unter anderem

Anette Spola und ihren Mann

Philip Arp. Eine Zeit später fand ich

dann eine Postkarte in meinem Briefkasten.

… Anette fragte, ob ich mitspielen

wolle im nächsten Stück,

einer Produktion für das Münchner

Theaterfestival. Es hieß ‚Bavaria

Loas‘. ‚Loas‘ ist bayerisch für

Muttersau. Natürlich wollte ich mitspielen,

obwohl ich mich gar nicht

beworben hatte.

Seitdem gehöre ich zum TamS. Nun

war ich jeden Abend im Theater und

hab dort alles gemacht: Technik,

Kasse, Inspizienz, auch kleinere Rollen

gespielt. Eine ausgefüllte und aufregende

Zeit.“

… und erste Erfahrungen

„Das TamS war sehr erfolgreich, weil

es nicht mit klassischen Theaterstrukturen

produzierte. Es gab einen

größeren Pool von Freunden, die alle

verschiedene Aufgaben übernahmen.

Manche haben nur Kostüme genäht,

andere Requisiten besorgt. Alles

Studenten oder Menschen, die ihre

Brötchen anderswo verdienten. Und

jeden Abend nach der Vorstellung

sind wir zusammengesessen. Das war

einfach ein Leben, wie es ein Traum

für mich war.“

… über seine jahrzehntelange Stadttheaterkarriere

als professioneller

Schauspieler mit Stationen in Reutlingen,

Tübingen, Krefeld, Mannheim,

Zürich und Aachen

„Am TamS habe ich Chris Burton

kennengelernt, er wurde Dramaturg

am Theater in der Tonne in Reutlingen.

Reutlingen hat mich dann 1981

engagiert. … Dann habe ich wieder

gekündigt. Ich wollte anderes Theater

machen. Nicht meine Welt. Am TamS

war alles viel freier.“

170


r mich war!

… über anhaltende Kontakte und

Engagements in München

„Als ich 1988 von Krefeld nach

Mannheim gewechselt bin, habe ich

im TamS eine Produktion unter der

Regie von Jörg Hube gemacht. ‚Alles

klar‘ von Urs Widmer. Überhaupt

habe ich immer versucht, den Kontakt

zu halten. Auch in Phasen, in denen

ich dort kaum gespielt habe, bin ich

oft zu Aufführungen gekommen.“

… über Theater mit Behinderten

„Anette Spola hat sich sehr für Menschen

mit Behinderung engagiert, u.a.

mit dem inklusiven Theater Apropos.

Dabei hat sie nie zwischen behinderten

Schauspielern und Profis unterschieden.

Bei Apropos gehört die

Einschränkung einfach dazu.

Leider betrifft mich das inzwischen

ebenfalls. Ich sitze heute im Rollstuhl.

Und es gibt nur wenige Theater,

die behinderten Schauspielern eine

Rolle anvertrauen. Das gilt genauso

für den Film. Umso mehr freut es

mich, dass ich 2020 bei der großen

Jubiläumsaufführung im TamS mitspielen

werde.“

aus: Interview von Raphaela Bardutzky

171


Mit einem Schneeglöckerl im

Charlotte von Bomhard

„Das TamS Theater ist mein

Jungbrunnen!“, versichert uns

Charlotte von Bomhard.

In jungen Jahren erlebte sie

Karl Valentin auf der Bühne,

Jahre später wechselte sie

selbst dorthin als Schauspielerin.

Noch ein paar Jährchen

später, mit jung

gebliebenen 73 Jahren,

tauchte sie ein in die Welt

des TamS und seiner Familie.

Erinnerungen der Grande

Dame an ihre Alterskarriere.

Wie hat die Geschichte eigentlich angefangen?

Als geborene Münchnerin habe ich

Karl Valentin glühend verehrt. Schon

mit 15 Jahren durfte ich ihn auf der

Kellerbühne des Hotels Wagner in der

Sonnenstraße erleben. Er spielte mit

Liesl Karlstadt zusammen „Die Orchesterprobe“.

Ich war begeistert.

Etwa 30 Jahre später habe ich zum

ersten Mal das TamS besucht, auf

Grund des Titels „Valentinaden“.

Voller Misstrauen gegen alle, die

sich mit dem Namen meines Idols

schmückten, nahm ich den Weg

in die Haimhauserstraße.

Und dann spielten Philip Arp und

Anette Spola die „Valentinaden I“.

Die Texte waren eigenständig, aber

so ganz im Geiste von Karl Valentin

verfasst. Ich war verzaubert und bin

es bis heute. Dieses Paar wurde wohl

von unbekannter Hand zusammengeführt.

Die Bühne hat auf sie

gewartet.

In diese Welt wollte ich eintauchen.

Aber es dauerte noch eine Weile.

Ich war ja erst einmal Zuschauer.

Mit der Zeit kam es hin und wieder zu

persönlichen Begegnungen mit Anette

und Philip. Was für ein Glücksgefühl,

als Philip einmal mit einem Schneeglöckerl

im Knopfloch die Bühne

betrat. Es war aus einem Sträußerl

von mir.

Jahrzehnte vorher war ich als

Schauspielerin unter Vertrag an den

Kammerspielen und am Münchner

Volkstheater. An der Otto Falckenberg

Schule unterrichtete ich Sprecherziehung.

links: Zum Verwechseln ähnlich: Charlotte von

Bomhards Alter Ego auf einer schrillen Postkarte.

Wie geschaffen für frohe Autogrammstunden mit

ihrem begeisterten Publikum.

rechts: Charlotte von Bomhard im Gespräch mit

Lorenz Seib

172


Knopfloch

Meine erste Rolle im TamS Theater

war Sabine Wetzstein, eine Sprecherzieherin

im Stück „Die Dienstleister“.

Begeistert machte das Publikum

die angesagten Übungen mit: „Dürft

ich dies üppige Mündchen züchtig dir

küssen?“ So startete ich mit 73 Jahren

meine Alterskarriere.

Es folgten Auftritte in der Garage, im

Foyer, auf der eisernen Treppe, im Höferl

und auf der Haimhauserstraße.

Aus Anlass des 35. Todestages von

Philip Arp spielten wir ein Stück mit

Arp-Texten.

Der Titel war „Die Affengruppe ist gar

nicht vorgekommen“.

Ich suchte mir den Vortrag „Gift“ aus.

„Gift! Meine Damen und Herren.

Uns allen ist nicht wohl bei

diesem Wort …“

Ich hatte Philips Stimme noch

im Ohr.

Dieser Auftritt war für mich der

bisherige Höhepunkt meiner

TamS-Laufbahn.

Toi toi toi liebes TamS, Gratulation!

173


Schützenswertes Biotop

In jeder Hinsicht ein schützenswertes

Biotop in unserer Theaterlandschaft.

Und daher zählt bekanntlich auch

die Stadt München zum treuesten

Freundeskreis des TamS.

Christian Ude

Münchner Oberbürgermeister 1993–2014

The same procedure as every year

Wie eine TamS-Produktion entsteht. Eine Szenenfolge von Rudolf Vogel

– von der Prinzipalin stark gekürzte und also verstümmelte Fassung.

1. Szene

Projektbesprechung im

TamS-Garten

Prinzipalin

Also, ich stelle mir eine

leere Bühne vor. Auf der die

Schauspieler – zu Anfang – hin

und her gehen, aufeinander

reagieren, wieder abgehen ...

Hausautor

Oder sitzen.

Prinzipalin

Weiß ich noch nicht. Eher

nicht.

2. Schauspielerin

Stumm oder mit Text?

Prinzipalin

Weiß ich auch noch nicht. Wir

probieren beides. Aber damit

sollten wir uns jetzt nicht

unnötig aufhalten. Wichtiger

ist die Grundkonzeption des

Abends. Und da hab ich von Anfang

an EINE Idee gehabt, von

der ihr mich auch nicht mehr

abbringen werdet: Das eigentliche

Stück, das die Zuschauer

nicht zu sehen bekommen, spielt

hinter der Bühne. Vermittelt

sich nur akustisch und auch

nur fragmentarisch.

1. Schauspieler kratzt sich am

Kopf und schaut verzweifelt

zum Hausautor

Prinzipalin

Das Problem ist: Wie verzahnen

wir die beiden Ebenen? Hat

einer eine Idee?

Schweigen

Hausautor

Auf jeden Fall sollte das

Geschehen hinter der Bühne

nicht eindeutig sein.

1. Schauspieler lacht bitter

Also: Kein Anfang, kein

Schluss, keine Geschichte,

kein Sinn. Die vier Säulen

des TamS. Allgemeine Heiterkeit

Seit fünfzehn Jahren tu

ich mir das jetzt an. ...

Könntet ihr nicht mal ein

richtiges Stück machen?

Mit viel Sex und Crime?

Hausautor

Gerd, ich schreibe dir eine

Sexszene, dass es deine Anwaltskollegen

aus dem Sessel

haut.

1. Schauspieler

Leere Versprechungen.

174


Preise

der Stadt München

Förderpreis für Literatur

– Philip Arp –

Schwabinger Kunstpreis

– Philip Arp –

Schwabinger Kunstpreis

– Anette Spola –

Ernst-Hoferichter-Preis

– TamS –

Die größten Flops – eine kleine Auswahl –

1. Die stummen Affen

2. Premierenfeier ohne Premiere

29 Zuschauer, davon 18 Freikarten

3. Das Echolot

14 Zuschauer bis zur Pause

4. Theaterlust und Anarchie I

5. Destroy Nestroy

30 000 DM allein für Requisiten

Letzter Satz der Premierenkritik: „Vor mir ein herrlicher

Biergarten und hinter mir diese gräßliche Kunst.“

Zwei weitere Vorstellungen, kein einziger Zuschauer

1997 wurden Anette Spola, Eberhard

Kürn und Rudolf Vogel mit dem

Ernst-Hoferichter-Preis der Stadt

München ausgezeichnet. Den Förderpreis

für Literatur und den Schwabinger

Kunstpreis hatten Anette Spola

und Philip Arp schon früher erhalten.

Laudatoren bei der Preisverleihung

waren Gerhard Polt und László Vajda,

Ethnologieprofessor und gebürtiger

Ungar.

Die Preisträger baten ihn, die Laudatio

in seiner Muttersprache zu halten

und als Textgrundlage die Betriebsanleitung

zum Gebrauch einer Waschmaschine

zu verwenden. Die Idee

gefiel dem Laudator und animierte

ihn zu einem gestenreichen, höchst

emotionalen Vortrag, in den er hin

und wieder das Wort „TamS“ einflocht,

was im Auditorium mit wohlwollendem

Kopfnicken und dezentem

Beifall bedacht wurde.

175


immer wieder Aufgaben während der Vorstellung:

Fleischpflanzerl braten und Salzkartoffeln

kochen wie bei „Stan und Ollie in Deutschland“,

den Garten in einen orientalischen Hinterhof

umgestalten und anderes.

Ewige Konstante in all den Jahren war und ist

von Beginn an das Kassenbrett. Da macht man

sich so seine Gedanken, wie viel Tausende (oder

sind’s gar Millionen?) darübergeflossen sein

mögen? Einmal in den vergangenen 50 Jahren

sollte das Brett gegen eine elegante Edelstahlvariante

ausgetauscht werden. Der gewaltige

Protest hat den Initiator dieser Idee völlig von

der falschen Seite erwischt. Das Brett aber hat’s

überstanden und tut bis heute seinen Dienst.

In einem Gedicht erinnert es sich an diese

dunkle Stunde ...

Musik und Kasse Stephanie Heyl

Mit der Geige hat alles angefangen: mein Leben im und mit dem TamS Theater.

Als klingendes Bühnenbild spielte ich 1978 bei den „Argentinischen Straßengeschichten“

von Osvaldo Dragún mit. Eine neue Welt tat sich da auf: musikalisch

dabei sein, wo Kunst entsteht. Seit dieser Zeit bin ich diesem Haus verbunden.

Einmal bin ich gegangen, der Liebe wegen. Nach 15 Jahren kam ich wieder zurück

und weiß ganz genau, ich gehe (sicher!) nicht mehr.

Nach meinem Einsatz als Straßengeigerin suchte ich andere Aufgaben: Telefondienst

und Büro am Nachmittag, später Abendkasse und Barbetrieb. Und das ist

inzwischen meine Welt an diesem Ort. Ich liebe diese Tätigkeit: Die Leute, die ins

Theater kommen, sind guter Stimmung, weil sie sich einen schönen Abend machen

wollen. Manche erzählen mir Geschichten oder werden bei Missfallen ihren Frust

und Ärger los. Andere kommen nur der Vorstellung wegen, um gleich danach

wieder heimzuhuschen. Inzwischen kenne ich viele beim Namen – eine Zuschauerin

hat bei jedem Theaterbesuch etwas Süßes für mich dabei. Ich verbringe anregende

Abende, aber auch schöne und stille Momente, etwa im Garten, während

der Sommervorstellungen. Dann zupfe ich Unkraut, lese oder sinniere einfach

vor mich hin. Je nach Produktion gibt es aber auch für mich als „Abendkasse“

Meist geht es rund an Bar und Abendkasse,

aber nicht immer. Bei „Morgen geht’s los, ich

bring die Axt mit“ betrugen die Abendeinnahmen

insgesamt 1,50 €. Die wenigen, obendrein

mit Freikarten bestückten Besucher waren nicht

auf Konsum eingestellt. So kam die einzige Einnahme

durch den Verkauf einer Tasse Pfefferminztee

zustande.

Eine Freundin besucht mich im Theater. Vor Beginn

der Vorstellung kommt sie mit einer Frau

ins Gespräch. Sie unterhalten sich prächtig und

freuen sich, dass ihre Plätze im Theater (zufällig)

nebeneinanderliegen. Nach der Vorstellung erfährt

meine Freundin, dass die Frau bei ihrem

Vater studiert hat. Später, als ihm die Begegnung

zu Ohren kommt, erinnert er sich gut an

die Frau. „Sie war“, verrät er seiner Tochter „die

größte Liebe meines Lebens.“ Ja und ein Theaterbesucher

kannte noch das alte Tröpferlbad,

das das TamS einst gewesen war. Er war als

Student hier noch duschen.

Die Geige ist aber nicht vergessen, beim

Sommertheater 2016 konnte ich meine beiden

Talente einbringen: Musik und Kasse ...

176


Zwei (Beinahe-)Katastrophen und ein Glücksfall

Gabriele Werbeck

Erste Szene: Premierenabend.

Wir haben gerade angefangen, als eine hochoffizielle, mit Blumensträußen

bewaffnete koreanische Delegation vor der Tür

steht, um der Künstlerin zur Vernissage zu gratulieren. Die zähen

Verhandlungen, bei denen ich erfolglos versuche, den Unterschied

zwischen Vernissage und Premiere zu erklären, gipfeln

in der Drohung, ich würde es bitter bereuen, wenn ich sie nicht

reinlasse. Was wissen die schon? Im Vergleich zu Anettes Reaktion,

wenn ich jemanden in eine Premiere platzen lasse, ist ein

lebenslanges Einreiseverbot nach Korea leicht zu verschmerzen.

Geschlagen zieht die Delegation schließlich ab und kehrt mit

einer Entschuldigung zur rauschenden Premierenfeier zurück.

Szene zwei: Bahnfahrt zurück nach München an einem Vorstellungstag

… Als ich nach jeder vorstellbaren Panne mit einer

guten Dreiviertelstunde Verspätung beim Theater ankomme,

erwartet mich draußen ein freundlich ausharrendes Publikum,

das meinen Sprint zum Technikpult mit Beifall quittiert, und drinnen

– εσαεί ευχαριστώ, ihr seid unglaublich. Im TamS gehören

Katastrophen irgendwie dazu, und manchmal machen sie

glücklich.

Selffulfilling Prophecy

Als ich vor fünfundzwanzig Jahren das erste Mal bei einer

Produktion am TamS dabei war, sprach Anette bei der

Premierenfeier die wunderbare Drohung

aus: „Dich lassen wir nimmer weg.“

Tja, was soll ich sagen – so isses.

Hier bin ich und hier bleibe ich.

Und wenn ihr mich (endlich)

mal wieder ein paar Kulissen

schieben lasst, dann dreh ich

mich auch um und geh raus

auf die Bühne. Versprochen.

links:

Passionierte Geigerin und

erprobt im Umgang mit

dem außergewöhnlichen

Publikum an Kasse und

Theke: Stephanie Heyl

oben:

Seit 25 Jahren in den Diensten des TamS:

Gabriele Werbeck im eng begrenzten Technikraum

nahe der Bühne, und ebenso nah immer am Publikum

Infokasten:

Technikraum zu den Anfängen des TamS

mit Gerhard Häusler am Lichtpult

177


Kapitel

IV

Wässerungen S. 180

Grenzgänger S. 196

Neue Formate S. 210


S

wie

SELBST

ERFINDUNG

Neue Formate, von Wässerungen,

Grenzgängern und TamS Garage


Wässerungen I II III

Rudolf Vogel

Über eine ungewöhnliche Theatertrilogie,

die „Wässerungen“ mitten im Herzen Münchens

Zu seinem 21-jährigen Gründungsjubiläum

1992 brachte das TamS

den Dreiteiler „Wässerungen“ heraus.

Vordergründig ein Bezug zur Geschichte

des Hauses als städtisches

Brausebad. Im Wesentlichen aber ein

Spiel mit Assoziationen und Bildern,

die durch fließendes, stehendes, tropfendes

Wasser hervorgerufen werden

und mannigfache Bezüge zu Literatur,

Musik, Philosophie und Kulinarik

ermöglichen.

Mit den „Wässerungen“ verließ

das TamS – getreu seiner Maxime

„Tradition und Innovation“ – zum

ersten Mal sein angestammtes

Domizil in der Haimhauserstraße

und dehnte seine Aktivitäten auf

ganz München aus.

Teil I: „Das letzte Ma(h)l“

Ort des Geschehens: das kurz zuvor

geschlossene städtische Wannen- und

Duschbad im Westend. Inszenierung:

Ruedi Häusermann, der in der zurückliegenden

Spielzeit seine Klanginstallation

„Baden zusammen“ für das

Theater entwickelt hatte.

Rund um einen Innenhof waren die

Kabinen mit den zu mietenden Wannen

und Duschen angeordnet. Im

Hof selbst saßen die Zuschauer bei

Kerzenschein und Tafelmusik an langen

Tischen und feierten bei einem

italienischen Menü in zehn Gängen

den Abschied von dem Hygienetempel.

Italienische Kellner servierten

die Köstlichkeiten und sangen dazu

neapolitanische Lieder.

Das eigentliche Geschehen spielte

sich in den Kabinen ab. Musiker

saßen hinter den Türen und spielten

ein Potpourri aus Wassermusiken.

Allerletzte Besucher duschten und

föhnten sich die Haare. Eine Dame

überkletterte die Wand einer Kabine,

in der ein Herr in der Wanne saß. Eine

ältere Münchnerin hatte sich wegen

des stadtbekannten Wohnungsmangels

in einer Nasszelle häuslich

eingerichtet und kommentierte lautstark

das Spektakel. Bademeisterin

Anneliese sang ein paar schräge

Schlager. Wer war Zuschauer, wer

Schauspieler?

„Es gab keine Handlung“, schreibt

Häusermann in einem Werkskatalog,

„es ging um die Verzauberung in diesem

Raum, um eine Abschiednahme.“

Teil II: „München taut auf“

Ein Freilicht-Spektakel auf dem seit

Jahrzehnten bekanntesten Stiefkind

der Stadtplanung: dem Jakobsplatz.

180


Anlass: die Einweihung eines

Brunnens durch den bayerischen

Ministerpräsidenten.

Die Brunnenskulptur – ein monumentales

Gebilde mit Falten und Zacken,

schneeweiß, klassizistisch gestylt –

aus Eis, das während der Rede des

Ministerpräsidenten dahinschmolz.

Gewohnt detailverliebt beklagte der

MP (in Gestalt von Jörg Hube) all die

zerronnenen Hoffnungen und auf Eis

gelegten Pläne – nicht nur – der Landeshauptstadt,

sondern weit darüber

hinaus: der ganzen Republik.

„Deutschlands Zukunft“, rief er zum

Schluss der Menge zu, „liegt auf dem

Wasser.“ Ein München-Tourist aus

Norddeutschland, der zufällig in die

Festivität geraten war, ergriffen zu

dem neben ihm Stehenden: Er freue

sich, den bayerischen Ministerpräsidenten

einmal live erlebt zu haben.

Im Fernsehen sehe der allerdings

etwas anders aus.

Teil III: „Den Bach runter“

Spielstätte: der durch den Englischen

Garten fließende Eisbach. Ein Publikum

war nicht geladen. Es war einfach

da, gab sich auf den Wiesen

beiderseits des Baches seinen sommerlichen

Freizeitvergnügungen hin:

Sonnenbaden, Lesen, Musikhören,

Picknicken … Aber was waren das

für merkwürdige Dinge, die da plötzlich

den Bach herunterschwammen?

… Weißwürste mit Senf … altbayerische

Gerichte … Geweihe und Jägerhut

… ein ganzes Bett mit klingelndem

Wecker … ein Modell der Staatskanzlei,

aus der die Bayernhymne

erklang …

Eberhard Kürn hatte an die fünfzig

Objekte gebaut, schwimmtauglich gemacht

und am Einlauf des Eisbaches

in den Englischen Garten zu Wasser

gelassen.

Die Zuschauer drängten ans Ufer und

spekulierten, was wohl noch kommen

würde. Manche sprangen ins Wasser,

um den einen oder anderen Gegenstand

zu ergattern. Gleichzeitig wandelten

alte, dunkel gekleidete Damen

mit Filethandschuhen auf den Parkwegen.

Eine Gruppe von Businessleuten

diskutierte erregt über die

Nutzung des Monopteros als Spekulationsobjekt.

Ein kleines Kammerorchester

bezog Position und begann

mit seinem Konzert. Streng blickende

Männer in Polizeiuniformen musterten

die Flaneure, forderten gelegentlich

deren Ausweise …

181


Teil I:

„Das letzte Ma(h)l“

182



… Das eigentliche Geschehen spielte sich in

den Kabinen ab. Musiker saßen hinter den

Türen und spielten ein Potpourri aus Wassermusiken.

Allerletzte Besucher duschten und

föhnten sich die Haare. Eine Dame

überkletterte die Wand einer Kabine, in der ein

Herr

in der Wanne saß …

184


185


München taut auf

Catelli vocificat lascivius umbraculi,

et oratori imputat umbraculi. Syrtes

frugaliter vocificat satis parsimonia

matrimonii, etiam OpfParsimonia

agricolae spinosus adquireret Medusa,

quamquam utilitas saburre

agnascor quadrupei, semper Augustus

infeliciter miscere incredibiliter

lascivius zothecas, etiam

concubine comiter praemuniet umbraculi.

Pessimus parsimonia saburre

agnascor bellus apparatus

bellis, et adlaudabilis fiducias imputat

Octavius, iam suis divinus insectat

syrtes, utcunque catelli

celeriter corrumperet syrtes.

Quadrupei plane frugaliter mis

202

Teil II: „München taut auf“


Ein zu Eis erstarrter Brunnen

auf dem Jakobsplatz

und ein leicht aus dem

Konzept geratener bayerischer

Ministerpräsident

(Jörg Hube). „Deutschlands

Zukunft“, rief er

zum Schluss seiner Einweihungsansprache

der

Menge zu, „liegt auf dem

Wasser.“

187


Viele Zuschauer empfanden die Aktionen

als Ermunterung zum Mitmachen. Andere

fühlten sich in ihrem Freizeitvergnügen

gestört und alarmierten die

Polizei. Die rückte auch an in Form einer

Reiterstaffel, wurde sofort als Teil des

Spektakels begriffen und mit großem

Beifall bedacht als Lohn für die außerordentlich

gelungene, authentische Darbietung

eines Polizeieinsatzes.

„Bei dieser sommerlichen Vermischung

von Kunst und Leben“, resümierte

Renate Schtostack in der FAZ, „hob das

längst verloren geglaubte Schwabing

plötzlich den Kopf: kritisch, leicht verrückt,

zauberhaft. Da sah man, in Abwandlung

eines Schwabinger Mottos,

die Möglichkeit einer Kunst, die überall

anderswo unmöglich ist.“

S. 192

Teil III: „Den Bach runter“

rechts:

Seiner Substanz beraubt: Nur noch als Fassade treibt der Bayerische Landtag mit der Strömung des Eisbaches seinem Ende entgegen.

nächste Seite:

Blick in die Requisitenkammer mit den Objekten für „Wässerungen III“

202


203




Der Erfolg der „Wässerungen“ beflügelte

den Wunsch, die externen

Aktivitäten beträchtlich auszuweiten,

bis in den „politischen Raum“

hinein. Zum Beispiel durch eine

Unterwanderung des Bayerischen

Landtags mit dem Ziel, eine

öffentliche Sitzung zu einem

TamS-Happening umzufunktionieren.

Mit dem größten Bedauern –

allein die Beschäftigung mit der

berühmten Stoiber-Einlassung

über die Anbindung des Airports

an den Münchner Hauptbahnhof

war highlightverdächtig – musste

das TamS-Trio (Anette Spola,

Eberhard Kürn und der Schreiber

dieser Zeilen) von seinem Plan

Abschied nehmen. Die Realisierung

hätte das „kleine arme Theater“,

so die Lieblingscharakterisierung

der Münchner Theaterkritik

(87 Nennungen), in einem nicht

mehr verantwortbaren Maß

überfordert.

Also hieß es in der nachfolgenden

„Sehstadel“-Produktion wieder,

„kleinere Semmeln“ zu backen.

(S. 130)


Eberhard Kürn hatte an die fünfzig Objekte gebaut … und am Einlauf des Eisbaches in den Englischen Garten

zu Wasser gelassen. Die Zuschauer drängten ans Ufer und spekulierten, was wohl noch kommen würde.

Manche sprangen ins Wasser, um den einen oder anderen Gegenstand zu ergattern.

193


Im Sitzungssaal 110 des Landg

Gerd Bumeder

Der Münchner Anwalt und

erprobte Schauspieler des

TamS spinnt fort, was hier

einst begann, aber nie enden

sollte: Die Verlagerung des

Theaters bis hinein in

öffentliche Institutionen.

Gerd Bumeder (links) und

Ardhi Engl in „Hiermit gebe

ich nichts bekannt“, 2005,

Regie: Anette Spola

Warum nicht? Die Idee kam bei unseren

Proben zu „Kinderdämmerung“.

Das TamS hatte schon viele Spielstätten

außer Haus, im Tröpferlbad im

Westend, im Englischen Garten, aber

noch nie in einem Justizgebäude.

Der Vorsitzende Richter Turmayer

wunderte sich zwar, als zu Beginn der

Beweisaufnahme im Nachbarrechtsstreit

nicht nur der Anwalt der Klagepartei

und ich als Anwalt der

Beklagten erschienen waren.

Anwesend waren ebenso unüblich

viele Zuhörer, dort, wo sich höchstens

einmal eine Schulklasse im Rahmen

des Sozialkundeunterrichts einfand.

Oder ein Obdachloser zum Aufwärmen

die für solche Verhandlungen erforderliche

Öffentlichkeit herstellte.

Bester Stoff also fürs Theater.

Die Regie im Zuhörerraum hatte, wie

immer, Anette Spola. Ich selbst übernahm

die Rolle des anwaltlichen

Vertreters der Beklagten, und die Kollegen

Schauspieler waren als rechtsstaatlich

gewährleistete Öffentlichkeit

einer Zivilprozessverhandlung präsent.

Das alles ohne Text und ohne

Proben, versteht sich. Zunächst spielten

die Kollegen bei der Einführung

des Vorsitzenden Richters in den

Sach- und Streitstand nur die zurückhaltend

interessierten Zuhörer. Mit

beginnender und heftig werdender

Auseinandersetzung im Rahmen der

Parteienanhörung wurde aber auch

die Zuhörerbank engagierter und

parteiergreifender. Der arme Richter

Turmayer wusste nicht, wie ihm geschah.

Hinten auf der Zuhörerbank

stieg die Unruhe, während sich vorne

die streitenden und kaum von ihren

Anwälten gebremsten Nachbarinnen

immer heftiger angifteten. Obendrein

empörte sich die Zuhörerbank mit

„Hört! Hört!“, „Also sowas“ oder

„Unglaublich“. Als die Zeugenvernehmung

schließlich ergab, dass die

Aussagen einander höchst unglaubwürdig,

nämlich gegensätzlich gegenüberstanden,

war die Zuhörerbank

kaum noch zu bremsen. Mehrfach

musste der Richter eingreifen und zur

Ruhe mahnen. Schließlich mahnte er,

dass die Öffentlichkeit ausgeschlossen

werden müsse, wenn nicht bald Ruhe

herrsche.

194


erichts München II

Entzieht man aber dem Schauspieler

das Wort, dann greift er zur Pantomime;

fortan kommentierte die Zuhörerbank

schweigend, aber nicht

minder deutlich den Prozessverlauf

mit Kopfschütteln, Fingerzeigen und

Raumverlassen und Wiederkommen –

kurz, man spielte weiter, und der gute

Richter Turmayer wusste wieder

nicht, was sich da eigentlich abspielte.

Das Verbot des stummen

Spiels, der Pantomime, war in der

Zivilprozessordnung nicht vorgesehen

und ein Ordnungsruf nicht zulässig.

Ebenso wenig der Ausschluss der

Zuhörer bei lautlosem, wenn auch

pantomimisch eindeutigem parteiergreifendem

Verhalten.

Der Anwalt der Klägerin, durch die

vermeintliche Unterstützung der

Zuhörerbank angespornt, lief zur

Höchstform auf. Obwohl eher

zu sachlicher Argumentation neigend,

ließ er sich, vermeintlich von Volkes

Stimme unterstützt, zu lautstarken

und die Grenze der Beleidigung fast

erreichenden Plädoyers für den hühnermistfreien

Rasen seiner Mandantschaft

hinreißen; das konnte auch ich

mir auf Seiten der armen kleinhäuslerischen

Beklagten nicht bieten lassen.

So übertrug sich der auf der Zuhörerbank

entfachte Tumult auch in

die Reihe vor dem Richter und den

beiden Parteien und Parteienvertretern.

Das wiederum hatte zur Folge,

dass auch der sonst so zurückhaltende

Richter Turmayer notgedrungen die

Stimme erhob, um sich im allseitigen

Gewirr noch durchsetzen zu können.

Bald schon herrschte ein Tumult im

gesamten Gerichtssaal, in dem sich

schließlich auch noch die Zeugen

kommentierend einmischten. Und

auch der Sachverständige versuchte,

sich Gehör zu verschaffen, womit die

Inszenierung dieses Gerichtstages

unter der Regie von Anette Spola als

höchst erfolgreiche Aufführung zu

Ende ging. Bedauernd nur war festzustellen,

dass es leider keine Zuschauer

und auch keine für die Nachwelt

aufgezeichnete Dokumentation

gegeben hat.

Richter Turmayer, der Klägervertreter

und die Parteien haben nie erfahren,

dass sie an einer TamS-Inszenierung

unentgeltlich mitwirken durften.

Und wir Schauspieler mussten leider

auf den einzigen Lohn des genügsamen

Theatermenschen verzichten,

auf den Applaus.

195


Therapiefreier Raum und Rolls

Wie das TamS zur Bühne des inklusiven Theaters wurde

Wolf Jahn

Als das Wort Inklusion noch am

Reifen war, gab es die von ihm

Gemeinten schon immer, Menschen

mit Behinderung, körperlich, geistig

oder beides zusammen. Und es waren

sie selbst, die die Initiative zur Inklusion

ergriffen, nicht nur sprachlich.

Einer von ihnen: Dr. Peter Radtke.

Von Kind an an den Rollstuhl gebunden,

setzt er sich bis heute für die

Belange behinderter Menschen ein.

1981 war er selbst auf der Bühne, der

TamS-Bühne, mit seiner „Nachricht

vom Grottenolm“. In den Jahren

darauf engagierte ihn George Tabori

an den Münchner Kammerspielen.

Radtkes Nachricht wurde gehört, verbreitet

und weiter auf den Bühnen der

Republik verkündet. Mit dabei auch

das von Regisseur und Choreograph

Werner Geifrig geleitete Münchner

Crüppel Cabaret. 1983 hatte es seinen

ersten Auftritt im TamS. Auf dem

Programm seines ersten Stücks

„Soziallästig“ standen u.a. kosmetische

Integration, Rollstuhlmodenschau

und -ballett. So zog die

„Nachricht“ ihre Kreise …

Mit Peter Radtkes „Nachricht vom Grottenolm“ begann 1981

im TamS die Ära des inklusiven Theaters.

196


tuhlballett

Behinderte und nichtbehinderte Künstler tourten über zwei Jahrzehnte erfolgreich in vielen Ländern und Städten.

Seine Premiere feierte das Crüppel Cabaret 1983 im TamS.

197


THEATER APROPOS

Nachdem das neue Format erst einmal im Programm inkludiert war,

blieb das TamS ihm auch weiterhin treu. Nächste Station war das

Theater Apropos. 1998 wurde es auf Anregung von Prof. Dr. Hans

Lauter gemeinsam mit Ariadne, Verein zur Hilfe für Alterskranke

und seelisch Kranke, von Anette Spola und Rudolf Vogel aus der

Taufe gehoben. Die Idee: einen therapiefreien Raum zu schaffen, in

dem Patienten zusammen mit Ärzten und Therapeuten Theater spielen.

Durch die Bearbeitung von Stücken, literarischen Texten und Märchen

(Beispiele: Eugène Labiche, „Das Sparschwein“, Tankred Dorst,

„Kleiner Mann – was nun?“, „Die Bremer Stadtmusikanten“), bei

der die Spielerinnen und Spieler ihre ganz persönlichen Erfahrungen,

Ängste, Hoffnungen und Glücksmomente einbringen konnten, und

durch die Entwicklung eigener Produktionen erarbeiteten sie sich

im Lauf der Jahre eine Bühnenpräsenz, die es ihnen ermöglichte, gemeinsam

mit „gelernten“ Schauspielern in TamS-Stücken aufzutreten.

Wobei nicht selten sie erheblich mehr „absahnten“ als die Profis.

Seit 2014 leitet Anton Prestele das Theater Apropos, als Regisseur,

Komponist und Mitspieler. „Ein Therapie-Projekt? Nein, viel mehr.

Ein theatralisches Unternehmen, das lustvoll animiert zu Selbstäußerung

und Kreativität, zum Zuschauen und Mitmachen. Wer ist hier

wohl behandelte, wer behandelnde Person?“ (Münchner Merkur,

22. Februar 2000) Nicht weniger euphorisch, doch anders gefasst sind

die Erfahrungen der Spieler über die Zeit. Sie reichen von „besser als

jede Therapie“ bis hin zu Schwächen, die „plötzlich zu Stärken werden“.

S. 204

Das hat mich tief bewegt!

Ich habe gelernt von euch. Und ein bisschen beneide ich euch, meine Lieben.

Wie selbstverständlich ihr euch mitteilt – ich denke an eine Probe. Ihr alle kommt

von weit her, aus der Fremde, alt oder krank oder einfach nur müde, und man

kommt nach vielen Jahren nach Hause. Ihr seid einer oder zu zweit, zu dritt

nacheinander durch den leeren Zuschauerraum gegangen und habt euch

als heimgekommene Gruppe zusammengesetzt. Gewartet. Das war ein großes

„Schauspiel“, eine wahrhaftige Darstellung. Das hat mich tief bewegt.

Anette Spola


Kleiner Mann – was nun? 2009, Regie: Anette Spola und Rudolf Vogel

Hans Falladas Welterfolg hatte Dramatiker, Schriftsteller und Regisseur Tankred Dorst für die Bühne bearbeitet.

Nach dem Besuch der einstündigen Fassung in TamS lobte er das Ensemble. Gegenüber der über vierstündigen

Fassung von Luk Perceval in den Münchner Kammerspielen habe er keinen „Verlust an Substanz“ bemerkt.

199


200


Unterwegs nach Utopia. Ein Zwischenstop

2011, Regie: Anette Spola und Rudolf Vogel

Eine gemeinsam mit den Schauspielern entwickelte zeitgemäße Version des philosophischen Traktats „Utopia’von Thomas Morus

201


Valentin in Halifax 2016, Regie: Anton Prestele

Frei nach Karl Valentin inszenierte Anton Prestele sein zweites Stück für das Theater Apropos. Eine illustre Reisegesellschaft

überlebt mühelos Flugzeugabsturz und Durchschwimmen des Ozeans. Dabei dringt sie in besondere Tiefen, in seelische Tiefen vor.

rechts:

In „Ich bin Anders“ wird das Publikum mit Momentaufnahmen aus dem Leben der Akteure konfroniert, mit Erinnerungen,

die vom Aussterben der Kegelbahnen oder von geisterabwehrenden Kräften der Frittatensuppe erzählen.

202


Ich bin Anders 2019, Regie: Anton Prestele

203


Höhepunkt und Ergebnis der bisherigen Arbeit mit Künstlern

mit Behinderung ist das alljährliche, seit 2009 stattfindende

Festival „Grenzgänger“. Immer mit dabei

internationale und renommierte Gruppen, u.a. Die Tonne

Reutlingen, das Theater HORA Zürich sowie Thikwa aus

Berlin. Und immer mit im Programm begleitende Ausstellungen

des atelier hpca. Während knapp zwei Wochen

erwarten das Publikum dann aufregende, bezaubernde,

berührende, urkomische Szenen bis hin zu Slapsticks.

Inkludieren bedeutet hier immer eins: keinen Unterschied

zwischen dem Profi und seinem „eingeschränkten“ Mitspieler

machen. „Ich kann“, betont Anette Spola, „keinen

Unterschied entdecken zum gelernten Schauspieler. Ein

absolut professionelles Arbeiten, ohne Empfindlichkeiten,

ohne Launen, mit Disziplin und Genauigkeit. Und mit

großer gegenseitiger Toleranz.“

Enormous Room 2017

Gemeinsam entwickeln Tänzer und Tänzerinnen mit und ohne Behinderung die

Choreographien der 1995 gegründeten britischen Stopgap Dance Company.

Im Mittelpunkt von „Enormous Room“ stehen Vater und Tochter, die gemeinsam

den Verlust von Frau und Mutter bewältigen.

204


205


206


Frida Kahlo 2014

Spieler mit unterschiedlichen – geistigen, körperlichen oder psychischen – Behinderungen bilden das Ensemble

des Reutlinger Theaters Die Tonne. Mehrfach gastierte es beim Grenzgänger-Festival, 2014 mit dem Stück „Frida Kahlo“.

Das Leben der mexikanischen Künstlerin und Ehefrau des Malers Diego Rivera war früh von einer Kinderlähmung,

später von den Folgen eines schweren Unfalls gezeichnet.

207


Zwillinge 2017

Das 1990 gegründete Berliner Theater Thikwa (hebräisch: Hoffnung) zählt zu den ältesten

inklusiven Theatern in Deutschland.

Muuh! 2015

Die Bergbauern-Tragikomödie„Muuh!“ des Passauer Theaters Brût

208


Sold! 2018

2013 formierte sich in Kapstadt die Unmute Dance Company. Ihre Choreographien setzen auf die Fähigkeiten

von Menschen mit Behinderungen, vorrangig auf Gebärden- und Zeichensprache von Gehörlosen.

209


Draußen vor der Tür

Wolf Jahn

Öffnung nach außen:

Sommers wie winters werden

Rollen getauscht und Orte

gewechselt. Was ist Theater?

Wo das Publikum, wo das

Spiel? Und wo ist der Unterschied?

Fragt sich auch

Charlotte von Bomhard

(Bild rechts) an der TamS

Garage in „Die Nachtigall

mit der Kettensäge“ (2015).

Hier hofft man nicht auf Einlass, sondern auf Überraschungen.

Eine simple Garage, früher Herberge

eines stolzen Feuerwehrfuhrparks, macht’s möglich.

Seit 2012 hat das TamS einen Stall,

pardon, eine Garage direkt an der

Haimhauserstraße für besondere Aufführungen

im Sommer wie im Winter.

Wird es kalt, kann es aber durchaus

vorkommen, dass sich die ehemalige

Garage der Schwabinger Feuerwehr

in einen Stall verwandelt. So war es

jedenfalls in den Jahren 2012–2017,

als sie einen Adventsschauplatz mit

Schaf, Esel und Ochs hergab. Draußen

vor der Garagentür stand das

Publikum in aller Dunkelheit, drinnen

wurde gejodelt, gemuht und gemäht,

gespielt und gesungen, dass einem

jeden das Herz aufging. Vor lauter

Adventseuphorie und aller Besinnlichkeit.

Und pünktlich zu jedem

Adventssonntag öffnete sich dann ein

weiteres Adventstürl. Ach ja, Nikolaus

war auch da, Adventskerzen

brannten und herzergreifende Dramen

spielten sich ab. Und alle lachten und

fanden’s komisch. Da versteh einer

Weihnachten und seine rührende

Stallgeschichte.

Im Sommer ist das natürlich ganz anders.

Jetzt, wo die Tage lang sind und

die Luft wohltemperiert, muss das Publikum

nicht mehr draußen vor der

Tür mit klappernden Zähnen und dem

letzten Rest an Glühwein ausharren.

Jetzt sitzt es gemütlich mittendrin im

Theaterspektakel, das in ihm wohlwollendes

Grunzen und Schmunzeln

erzeugt. Doch siehe da: Plötzlich geht

sie wieder auf, die Tür, und wir selbst

sitzen im „Stall“ und sehen auf die

Welt da draußen, die sich vor unseren

Augen abspielt. Hier ein Fußgänger,

dort Passanten und ganz nahe ein

Eisbär, der mitten aus dem Theatergeschehen

heraus seinen ersten

Schritt in die Wirklichkeit wagt.

So wird die Welt um uns zum reinen

Theater und wir als seine Zuschauer

zu ihrem Teil. Im TamS nennt man

das Sommertheater, das sein Publikum

außer in die Garage noch zu

anderen Schauplätzen führt. Michael

Wachsmann, ehemaliger Dramaturg

der Münchner Kammerspiele, schrieb

nach seinem Besuch von „Zwei spanische

Italiener und die Signora aus

Moskau“ begeistert: „Das Theater

ging dabei weiter, ohne dass wir

nachzahlen mussten. Hat man nämlich

einmal die Theaterbrille auf, verwandelt

sich die Wirklichkeit und mit

ihr jeder Ausschnitt, den das Betrachterauge

sich wählt, in eine Bühne …“

Foto eisbär

210


211


Adventstürl

212


Erst eins, dann zwei, dann drei … und immer steht das Publikum vor der Tür. Jahr um Jahr. Und schaut zu,

was für feine Überraschungen die Garage des Theaters vor und hinter ihrem „Adventstürl“ parat hat.


Sommertheater

Hildegard Steigerwald überrascht bei jeder Premierenfeier

mit köstlichen Eigenkreationen nach internationalen,

traditionellen Rezepten. Einer von zahlreichen Gründen

für den steten Run auf die Premierenkarten.

214


Zwei spanische Italiener und die Signora aus Moskau

2012, Regie: Anette Spola, Burchard Dabinnus und Lorenz Seib

215


Die Nachtigall mit der Kettensäge 2015, Regie: Anette Spola und Lorenz Seib

Eine rasante Fahrt quer durch die Örtlichkeiten des TamS. Stets dabei: der ominöse Mann mit der Kettensäge.

Seite 218/219:

Bühnenbild zur „Nachtigall“ von Claudia Karpfinger in der Garage

216





Ins Offene gedacht

Adrian Herrmann

Dem dramaturgischen Blick wird oftmals etwas Ethnologisches

nachgesagt. Das Beobachten des Fremden. Es sich nicht sofort

anzueignen, sondern mit einer liebevollen, wachen Distanz auf

eine andere, nicht eigene Welt zu schauen.

Wer den Beruf wirklich ernsthaft

ausübt, weiß natürlich, dass das gar

nicht geht. Objektive Beobachtung ist

eine schöne Idee, aber wer ernsthaft

glaubt, die anderen würden ihr Verhalten

nicht anpassen, wenn da auf

einmal jemand sitzt und glotzt, der

oder die da sonst nicht ist, der hat

weder von Ethnologie noch vom

Theater eine Ahnung. Es geht immer

viel mehr um den Blick des Sehenden

als um die, die da beobachtet werden.

Und doch blickt man natürlich auf

etwas. In diesem Falle auf das TamS

Theater und seine jüngere Vergangenheit

bis in die Gegenwart.

Als ich das TamS das erste Mal betrat,

war ich gerade am Beginn meines

Studiums. Dramaturgie hieß mein

Studiengang, aber „Irgendwas mit

Theater“ wäre wohl treffender gewesen.

Wenig Ahnung, aber viel

Meinung zeichnete diese Zeit aus.

Und das TamS, so meinte ich damals,

sei gar kein richtiges Theater. Dazu

„fehlte“ schlicht zu viel. Also sah ich

einen wunderbaren „Untertagblues“

von Peter Handke, den ich nicht zu

würdigen wusste, der sich erst lange

später unbewusst seine Bahn brach.

Danach vergingen Jahre, ein Studium

und ein Engagement am Theater (als

Dramaturg natürlich), bis ich wieder

ins TamS kam. Und plötzlich fragte

Lorenz Seib, ob ich nicht die Dramaturgie

übernehmen wolle bei seiner

nächsten Inszenierung. Es sei eine

Stückentwicklung. Er habe da auch

schon einen Titel: „Lässt sich die

Katastrophe noch potenzieren?

Ein halber Untergang“. Was sollte

also schiefgehen?

Knapp drei Wochen später probierten

wir. Madrigale und mehrstimmiger

barocker Gesang wechselten sich mit

Gedichten von van Hoddis und

Schnipseln von Adorno ab, dazwischen

viel improvisiertes Spiel und

ein Regisseur, der die ganze Zeit auf

der Bühne stand und den dritten

Spieler gab. Langsam dämmerte mir,

dass das hier nichts mit Stadttheater

zu tun hatte.

Aber es war kein Defizit, wie ich es

Jahre zuvor auszumachen meinte. Es

war eine Abwesenheit von etwas, die

ein Mehr schaffte. Die Gedankenräume

öffnete. Denn hier war keine

Angst im Raum, wenn ich kam. Ich

war nicht die Textpolizei, kein verlängerter

Arm der Intendanz, ich schaute

nicht, ob denn alle sich auch brav

überarbeiteten. Ich war einfach da

und sah zu. Und die auf der Bühne –

die fragten, was ich denn sähe. Ob

das eine Spannung habe. Ob es da

220


zu einer Szene vielleicht doch noch

einen Text brauche. Wieder benötigte

es eine Zeit, bis ich verstand – und

wieder verstand ich zunächst unbewusst:

Die Ansage von Lorenz zu Beginn,

er wolle keine Angst mehr auf

Produktionen, zu keinem Zeitpunkt,

wir würden das anders machen –

diese Ansage war wirklich so gemeint.

Sie sollte nicht die Schauspieler

zu etwas ermutigen, das dann von

außen doch wieder kritisiert würde,

sie meinte alle im Raum und das

Theater dazu. Dabei arbeiten hier, anders

als am Stadttheater, keine Menschen

in festen Arbeitsverhältnissen.

Hier wechseln treue Gäste sich ab von

Produktion zu Produktion.

Die Förderung geschieht lediglich auf

drei Jahre gesichert und ist projektbezogen.

Hier könnte also ein neoliberaler

Geist wehen, wie er Teile

der freien Szene in Deutschland

längst erfasst hat.

Es ist aber vielmehr eine Gegenbewegung,

die die aktuelle Arbeitsweise

am TamS bestimmt. Eine Gegenbewegung

zu einem optimierenden

Denken, das, weil es den Misserfolg

vermeiden möchte, gar nicht erst das

Risiko des Unbekannten sucht. Hier

wird untersucht und diskutiert, gelesen,

Ideen zu Ketten gesponnen und

wortwörtlich an die (Proben-)Wand

gepinnt. Meinungen haben ihren

In seiner „Brandstifterei“,

einer Bearbeitung von

Max Frischs „Biedermann

und die Brandstifter“, gelang

es Lorenz Seib und seinem

Team, den gelegentlich etwas

zähen und didaktischen

Text in reines Spiel aufzulösen

und ein mit artistischen

Leckerbissen gespicktes

Bewegungsspektakel

zu veranstalten.

2014, Regie: Lorenz Seib


festen Platz auf der Probe und können Teil des Stückes werden.

Eine so radikal offene Arbeitsweise bedingt – im Sinne einer

Dialektik von Form und Inhalt – eine eigene Ästhetik: Offen,

humorvoll, gegenwartsbezogen, augenzwinkernd, nie die Bühne

vergessend, auf der alles passiert. So könnte man vielleicht beschreiben,

was sich hier zeitigt. Egal ob Klassiker, Uraufführung,

Stückentwicklung oder – besser – Stückerfindung, alles wird in

diesen Sinne durchgesponnen und auf den TamS’schen Prüfstein

gelegt. Ehrfurcht ja, aber keine falsche. Kein aufgesetztes Regietheater,

aber auch kein bloßes Umsetzen von Text. Radikal eigenwillig

und eigenständig – so könnte man es vielleicht versuchen zu

fassen, wenn man müsste. Aber das ist auch wieder eine dieser

Geistesübungen, die zu kurz greifen (müssen). Denn eigentlich ist

es die Lust an der Anarchie, die in all diesem steckt, was hier geschieht.

Und so reicht der Geist des TamS von seinen Anfängen bis

heute. Er hat sich jung gehalten und ist immer noch aktuell, weil er

die Dinge so lange wendet, bis er die dritte – die nach Karl Valentin

komische Seite – an ihnen entdeckt. Und dabei so einiges andere

an ihnen ebenfalls zur Betrachtung kommt.

Aber Anarchie kann nur herrschen, wo man ihr Raum lässt. Wo

man Vertrauen hat, statt es zu behaupten. Wo der spielerische Missgriff

höher geschätzt wird als die sichere Routine. Das große Verdienst

all dieser Menschen hier, zuvorderst natürlich Anette Spola

und Lorenz Seib, ist es, neben so vielem anderen, dass sie diese

Form, diesen Geist suchen, ermöglichen und fördern. Und dass er

nun, so scheint es, längst das Haus beherrscht und alle befällt, die

hier wirken. Und der selbst Dramaturgen noch einmal ganz anders

denken und fühlen lässt auf jeder Probe und bei jeder Aufführung.

So hat sich längst ein Stamm gebildet von Menschen, die dem

Haus mehr Gesicht geben als manches Ensemble seinem Stadttheater.

Menschen, die eine wache Neugier haben. An dem, der

da schaut, aber auch an dem, was er sieht und fühlt. Und so geht

es vielleicht doch, das Eigene im Fremden und vice versa zu entdecken

und zu leben. Besonders hier.

Nachtrag: Die „Katastrophen“ wurden ein herrlicher Theaterabend.

Und sie wurden es zu einem Zeitpunkt – nämlich an der

Premiere –, als viele andere bereits angstvoll abgebrochen, geändert

und den sicheren Weg gewählt hätten. Aber Mut gehört dann

eben auch dazu, beim Anderssein.

222


Vielleicht lässt sich die Katastrophe ja noch potenzieren

2017, Lorenz Seib und Ensemble, Regie: Lorenz Seib

Wie wir lustvoll dem Untergang entgegensteuern. Und sich Katastrophen in Grotesken verwandeln.

223


Wartungsarbeiten

2014, Autor und Regie: Lorenz Seib

Ein musikalischer Theaterabend: Mal nicht auf Godot, sondern auf den nächsten Zug

warten. In „Wartungsarbeiten" tun dies die vier Musiker von der Express Brass Band.


225


Steuerberater, Taxifahrer und

Rudolf Vogel

von Seite 101

Nicht „hängengeblieben“, aber auf

ähnlich unorthodoxe Weise sind fast

alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

ans TamS geraten. Wer sich bewarb,

musste keine Fragen nach Abschlusszeugnissen,

Zertifikaten gleich welcher

Art befürchten. Musste keine

Auskunft darüber geben, wie viel

kostbare Lebenszeit er als dritter,

vierter, fünfter Dramaturg in staubigen

Kabuffs am Ende des Ganges verbracht

hatte. Zu wessen Füßen eines

Regiekünstlers er oder sie gesessen

hatte, Einfälle, Kürzungen, Änderungen

im Skript notierend, gelegentlich

als Souffleur oder Stichwortgeber eingesetzt

– nichts dergleichen. Anette

Spola stellte zwei einfache Fragen,

deren Beantwortung aber für den täglichen

Theaterbetrieb eine nicht zu

unterschätzende Bedeutung hatte und

hat: Kannst du einen Kurzschluss reparieren?

Und: Kannst du mit dem

Besen hantieren? Fiel die Antwort zufriedenstellend

aus, war dies – in aller

Regel – der Beginn einer langjährigen

Zusammenarbeit. Im Idealfall: einer

wunderbaren Freundschaft.

Diese (zugegeben etwas verkürzte)

Laufbahnbeschreibung galt und gilt –

wie schon gesagt – für alle Mitarbeiter

des TamS: Bühnen- und Kostümbildner,

Techniker, Inspizienten,

Schauspieler und Regisseure.

Auch für einen jungen Mann, Lorenz

Seib, der als theaterbegeisterter Schüler,

wie Jahrzehnte vor ihm Eberhard

Kürn, zum TamS kam. In der Tradition

ehrbarer Zünfte erlernte er bei

Kürn, inzwischen Meister, die Kunst

des Bühnenbaus, des Ton- und Lichteinrichtens,

des Herstellens von Requisiten

und Kulissen. Anschließend

ging er nach Berlin und machte eine

Ausbildung als Schauspieler und Puppenspieler.

Zurück in München, übernahm

er die Rolle des jüngsten

Managers in Suters „Business Class“.

2011 debütierte er mit seiner Inszenierung

von Thomas Bernhards „Vom

Schlimmsten das Beste“ als Regisseur.

Heute leitet er gemeinsam mit

Anette Spola das TamS.

226


ein Seemanns-Chor

links:

Lorenz Seib

unten:

Zusammen mit Anette Spola

Von Beginn an – auch dies ein TamS-

Spezifikum – hat Anette Spola die vor

allem in Deutschland gern vorgenommene

Grenzziehung zwischen Profis

und Laien aufgehoben und Frauen

und Männern ganz unterschiedlicher

Professionen die Mitarbeit ermöglicht.

So stießen Ärzte zum TamS,

Mathematiker, Taxifahrer, Obdachlose,

Wachmänner, Steuerberater, eine

Sprecherzieherin (Charlotte von

Bomhard, mit 99 die Grande Dame

des Ensembles), Stewardessen, Juristen

(der vorzügliche Gerd Bumeder,

überpünktlich bei den Proben, überpünktlich

bei Gericht), ein Seemanns-

Chor, ein bayerischer Meister im

Einradfahren, ein Schäfer (der zudem

den Dachboden als Winterquartier

nutzte), Akrobaten, Glücksspieler,

Frisörinnen … die Reihe

ließe sich fortsetzen. Sie alle kamen

und gingen und kamen wieder,

manche blieben.

Durch die gemeinsam entwickelten

Projekte für gelernte Schauspieler und

begabte Menschen, die andere, ungewohnte

Lebenswirklichkeiten einbringen

konnten, entstanden Theaterabende

von einem Reichtum und

einer Vielschichtigkeit, die mit einem

konventionellen Ansatz kaum möglich

gewesen wären: „Argentinische

Straßengeschichten“ zum Beispiel,

in denen der oben genannte Schäfer

eine stumme Rolle derart eindrucksvoll

spielte, dass er zum „Star“ des

Abends wurde … das Hausbesetzerstück

„Ins Sprungtuch wird nicht

gesprungen“ … „Die Eröffnung der

neuen Probebühne der Kammespiele“

… „Die Dienstleister“ … „Himmel

einfach bitte“ … „Sehstadel – Bilder

vom Theater“ … „BONNBERLIN –

Deutschland ein Altenheim“ …

die Sommertheater-Produktionen …

Die Philosophie der „asymmetrischen

Ensemblebildung“ galt auch und in

ganz besonderem Maße für das Theater

Apropos, ein Gemeinschaftsprojekt

von TamS und dem Klinikum

rechts der Isar, von dem zuvor ausführlich

die Rede war.

Natürlich blieb auch das TamS von

Misshelligkeiten nicht verschont.

Gegen Ende des ersten Jahres setzte

das Ensemble Anette Spola wegen

unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten

als Intendantin ab.

Ausfluss der an vielen Theatern diskutierten

und eingeforderten „kollektiven

Führung“. Die Spola holte

umgehend zum Gegenschlag aus, unterbrach

die Strom-, Wasser- und Gasversorgung

und stellte (es war Winter)

die Heizung ab. Die Revolte brach in

sich zusammen, und die Spola hatte

den Nachweis erbracht, alle Voraussetzungen

für die Leitung eines mittelständischen

Unternehmens zu

erfüllen. In einem Interview mit der

Abendzeitung zu den Vorkommnissen

an ihrem Theater sagte sie auf die

Frage, wo sie denn bei sich die

Schuld sehe: „Vielleicht war ich zu

wenig autoritär.“ Eine Logik, die sich

nur dem TamS-Kenner in ihrer tieferen

Bedeutung erschließt.

227



Die Affengruppe ist gar nicht vorgekommen

2017, Regie: Anette Spola und Lorenz Seib, Texte: Philip Arp

mit Burchard Dabinnus, Maria Peschek, Charlotte von Bomhard, Helmut Dauner, Axel Röhrle, Ines Honsel

Wenn der Theaterkosmos um sich selbst kreist und die Mittel der Inszenierung zum Inhalt werden,

dann ist Zeit für „Die Affengruppe ist gar nicht vorgekommen“.

229


Das Käthchen von Heilbronn hab ich mir anders vorgestellt

2017, Regie: Lorenz Seib

Kleists „Käthchen“ war 2011 das letzte Mal in München zu sehen. Dieter Dorns Abschiedsvorstellung am Residenztheater.

Aus Ehrfurcht vor Autor und Werk hatte Dorn kein einziges Wort gestrichen, vielmehr auch noch jedes Komma liebevoll inszeniert.

Ergebnis: eine Spieldauer von gefühlt sechs Stunden. Ein unvergessliches Erlebnis für alle, die dabei gewesen. Für nicht wenige

der Auslöser einer massiven, therapiebedürftigen Klassikerphobie.

Nicht so das TamS-„Käthchen“, fairnesshalber mit dem Untertitel „… hab ich mir anders vorgestellt“ versehen. Statt dreißig

eine Handvoll Schauspieler, statt einer kaum mehr überschaubaren Anzahl von Szenenwechseln ein karges, in sich verschiebbares

Globe-Theater-Podest. Spieldauer: gut eine Stunde. Kurz: eine geradezu beispielhafte Klassikerentstaubung, die des Kleistes Kern,

seine radikale Gefühlsversessenheit, umso deutlicher zum Ausdruck brachte.

230



232

Sie sinken, wir winken. Die Odyssee 2018, Regie: Lorenz Seib


Mit dem Stück „Sie sinken, wir winken“, einer Adaption der „Odyssee“, spiegelte Lorenz Seib das Heute im Damals.

Zugleich erbrachte er den Beweis, dass sich Peymanns Forderung an Thomas Bernhard, „den ganzen Shakespeare an einem Abend,

einschließlich der Sonette“, mühelos auf ein vergleichbares Kaliber der Weltliteratur übertragen und bewältigen lässt.

233




Freunde

Kulturreferenten

Bühnenbildner

Schauspieler

Bürochefinnen

Zusch

Regisseure

Dan

Techniker

Fotografen

Bastler

Autoren

Filmer

Stammgäste

Telefonisten

Münchner Theatermuseum

Grantler

Dramaturgen

Studenten

Denkmalschützer

berittene Polizei

Publikum

Lichtgestalter

Praktikanten

Mäuse

Mit freundlicher Unterstützung von

Geräuschemacher

gefördert durch den Bezirksausschuss

Schwabing-Freimann


Puppenspieler

Claqueure

Spender

auer

Sänger

Redakteure

Team

Kostümbildner

ke

Hausperlen

Wichtigtuer

Gönner

Musiker

Förderer

Großmäuler

inklusive aller Innen, /innen, _innen, (innen) und *innen

Abrissunternehmen

Köchinnen

Putzfeen

Fans

Bardamen

Grafiker

Kritiker

Dick- und Dünnhäuter

Landratsamt


Impressum

Herausgeber

TamS Theater e.V.

Anette Spola

Haimhauserstraße 13a

80802 München

089 34 58 90

tams@tamstheater.de

www.tamstheater.de

Redaktion

Wolf Jahn

Anette Spola

Rudolf Vogel

Grafische Gestaltung

Felicitas Rall-Wirtz

Korrektorat

Gabriele Werbeck

Recherche

Karin Platzer

Druck und Bindung

Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, Calbe (Saale)

1. Auflage 2020

Copyright © by ATHENA-Verlag

Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen

www.athena-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

ISBN 978-3-7455-1085-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

238


Bildnachweis

David Baltzer 208. Hans Bergmann 40, 111. Bernd Böhner 129. Lorenz Claussen 50, 51.

Volker Derlath 158, 159, 165, 202/203, Umschlag außen. Dorothee Feinlieb 6, 60, 61, 121.

Arno Friedrich 164. Kraft Geer 6, Umschlag außen. Wolfgang Giesche 55. Jo Görsch 120/121.

Elena Gram 197. Wolf Jahn 7, 8, 9, 29, 120, 226. R. Klaffenböck 208. Eberhard Kürn 100/101,

102–109, 111–117. Ibab Kunkel 164, 165, Umschlag außen. Bernard Lesaing 62/63, 101, 130,

131, 135, 144/145, 148, 149, 163, 164, 165, 174, 182–193, Umschlag außen. Hilda Lobinger 84–88,

90, 91, 92/93, 94, 95, 136, 151–155, 164, 165, 171, 178/179, 194, 199, 200/201, 212/213, 214/215,

217, 221, 222–225, 228–233, Umschlag außen. Daniel Mayer 23, 156, 157, Umschlag außen.

Wolfgang Meier Weber 97, 132/133, 138/139, Umschlag außen. Ferdinant Neumüller 147, 164.

Isolde Ohlbaum 53. Oscar O’Ryan 208/209. Chris Parkes 204/205. Edeltraud Prestele 165, 214.

©Privat 6, 96, 164, 165, 196, 210, Umschlag innen vorne, Umschlag außen. Jo Prökel 134,

136/137, Umschlag außen. Felicitas Rall-Wirtz 8, 12/13, 64, 66/67, 68, 71, 122, 141–143, 161, 164,

165, 176, 177, 227, Umschlag innen hinten. Brigitta Rambeck 80, 92, 159, 164. Axel Röhrle 216.

Harald Rumpf 54. Adolf Schäfer 59. Peter Schinzler 28. Benjamin Schmidt 203.

Katharina Schmidt 125, 234/235, Umschlag außen. Karen Schultze 206, 207. Lorenz Seib 68/69,

164. Ernst Spycher 148. Stadtarchiv München 56, 57, 58, 59. Bernd Thomas 212.

Bianca Toledo 164. Claus-Michael Trapp 74/75, 164, 165. Jean-Marc Turmes 89, Umschlag außen.

Hannelore Voigt 6, 7, 14 –22, 24, 26, 31, 34/35, 37, 39, 41, 42 –49, 67, 72/73, 79, 80–83, 98, 99, 126,

127, 128–129, 164, 165, 167, 177, Umschlag außen. Ursel Wehrhahn 164. Gabriele Werbeck 173,

210, 211, 218/219. Alexander von Werz 164. Barbara Westernach 122, 123, 124/125, 168–169.

Trotz intensiver Recherchen konnte nicht in allen Fällen der fotografische Urheber zweifelsfrei

ermittelt werden. Wir bitten gegebenenfalls um Nachricht.

Autoren

Raphaela Bardutzky, Autorin und Dramaturgin. Charlotte von Bomhard, Schauspielerin.

Dr. Gerhard Bumeder, Anwalt. Beate Faßnacht, Bühnenbildnerin und Autorin.

Adrian Herrmann, Dramaturg. Stephanie Heyl, Archivarin. Dr. Wolf Jahn, Kunsthistoriker und

Journalist. Dr. Gottfried Knapp, Autor und Journalist. Gabriella Lorenz, Schauspielerin und

Journalistin. Maria Peschek, Autorin und Kabarettistin. Gerhard Polt, Autor und Kabarettist.

Friedrich G. Scheuer, Maler und Philosoph. Lorenz Seib, Regisseur und Puppenspieler.

Anette Spola, Schauspielerin und Spielleiterin. Rudolf Vogel, Autor.

Dr. Michael Wachsmann, Dramaturg und Übersetzer. Dr. Barbara Wehr, Sprachwissenschaftlerin.

Gabriele Werbeck, Übersetzerin und Inspizientin.

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In 50 Jahren werden wir 100

www.tamstheater.de



Am 27. Januar 1970 feierte das Theater am Sozialamt – TamS – seine erste Premiere. Damit war der Grundstein

für eine beispiellose Karriere in der Münchner Theaterlandschaft gelegt. Nur wenige Spielstätten aus dieser

turbulenten Pionierzeit der Privattheater überlebten. Das Rezept für solch Überlebenskünste steckt in Improvisation

und Offenheit des TamS. Weder folgten sie dem Ruf nach politischer Agitation, noch dem permanenten Aufschrei

nach radikalem Gesellschaftsumbau. Stattdessen pflegte man die leisen bis komischen, die literarischen, satirischen,

absurden bis experimentierfreudigen Töne, von Münchens bekanntesten Komiker Karl Valentin über Philip Arp bis

zu Gerhard Polt. Und immer kam neues, zum Beispiel inklusives Theater hinzu. Heute steht das TamS noch immer

dort, wo es einst begann: versteckt in einem idyllischen Schwabinger Hinterhof im Gebäude eines ehemaligen Brausebads.

Seinen Ruf hat es sich über die ersten 50 Jahre verdient. Der Denkmalschutz sichert ihm Gebäude und

Spielstätte. Im vorliegenden, reich bebilderten Band sehen und lesen Sie warum.

ISBN 978-3-7455-1085-0

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