TamS Theater 50
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50
THEATER
ATHENA
50
Herausgegeben von TamS e.V.
Inhalt
Kapitel I
T wie THEATER
und wie man damit beginnt
Die wundersame Metamorphose eines Tröpferlbads 14
Kapitel II A wie AUF, HINTER
und vor der Bühne
Ein Bühnenbildner, treue Hausautoren und viele Ausstellungen 72
Kapitel III M wie MANCHE
mögen's TamS. Ein Kommen und ein Gehen
Wer kam, wer blieb, wer anfing 138
Kapitel IV
S wie SELBSTERFINDUNG
Neue Formate, von Wässerungen, Grenzgängern
und TamS Garage 178
Impressum 238
Nun wird das Geheimnis
Worte zum TamS
Worte zum TamS
Eine Frage, die ich mir bisweilen gestellt habe: „Wo wohnt eigentlich
die Phantasie?“, blieb mir lange unbeantwortet. Meine Bemühungen
waren anfänglich nicht von Erfolg gekrönt. Weder hat mich das Lesen
im Kaffeesatz befriedigen können, noch haben das mehrere Blicke in
die Glaskugel geschafft. Aber heute beziehungsweise seit geraumer Zeit
weiß ich es natürlich.
Die Phantasie wohnt in der Haimhauserstraße 13, wie immer, in München-
Schwabing. Dort hat sich sehr viel dazugesellt. Die Winzigkeit,
die Großartigkeit, die Zeitlosigkeit und die Großmut ergeben eine
wunderbare Paarung. Und sie erzeugen dann dieses Flair.
Unglaublich, wie dieses Flair mit der Raffinesse, aber auch mit dem
Deppertsein umgeht. Das Auf-der-Stelle-Treten zeigt sich dort genauso
wie die Gier nach Fortschritt, will heißen Geld (meistens). Fragilstes
Menschsein stolpert, aber gleitet auch äußerst würdevoll über die Bretter
dort. Dem Lächeln wird der rote Teppich ausgerollt, und das Lachen weicht
nur, wenn die Melancholie ihren Auftritt hat. Hier lebt die Phantasie schon
sehr lange zusammen mit dem Humor und in einer Art Gütergemeinschaft.
Wer krank ist, geht ins Krankenhaus oder ins Sanatorium, wer fit sein will,
geht ins Fitness-Studio. Wer ein Mensch werden will oder ein solcher bleiben
will, der geht ins TamS. Nicht lange her bin ich jemandem begegnet,
der mir gesagt hat, er sei ein neuer Mensch geworden und verdanke
das der Anette Spola, dem Philip Arp
und denen, die mit ihnen sind.
Gerhard Polt
gelüftet
Liebes TamS-Publiku
Liebe Leser
Was kann ein Großbauprojekt der Stadt München mit dem kleinen Tam Tam
der Anette Spola zu tun haben?
1969 war das Jahr des Bauens. Aus dem städtischen Tröpferlbad in Schwabing
entstand ein idyllisches Hinterhoftheater mit Galerie im Dachboden. Nebenan
wuchs gleichzeitig die U-Bahn-Station Münchner Freiheit zu stattlicher Größe
heran. Philip Arp, Gründer des Theaters und maßgeblicher Gestalter seines
Programms, entwarf jede Menge vielseitiger Umbaupläne. Sie sollten nicht nur,
sie wollten und konnten auch das ehemalige Brausebad einer neuen Öffentlichkeit
erschließen. Dabei halfen Freunde, die hemmungslos die Duschkabinen
einschlugen, Stromleitungen legten, Wände bemalten und Bretter zimmerten,
die die Welt bedeuten. Eine Welt aus hoher Bühnenkunst und Kleinkunst, aus
Schauspiel, Kabarett, Groteske, Gesang und Engagement. Eine Welt, die bis
heute zum Nachdenken, Staunen, Heulen und Lachen anregt.
Was sich seit diesen Anfangstagen diesseits und jenseits der Bretter ereignete,
haben wir mit Bild und Text auf 240 Seiten zusammengefasst. Es ist die Geschichte
eines kleinen und querulanten Hinterhoftheaters, das dem Mainstream
der Zeiten widerstand, indem es seinen eigenen, manchmal eigenwilligen,
manchmal aberwitzigen Tönen folgte.
Stellen Sie sich vor, Sie setzen sich in eine Aufführung, lassen Ihre Blicke zur
Bühnendecke hinaufwandern – wenn nicht von samtenen Vorhängen verhüllt,
sehen Sie dort eine 1-a-schöne Betondecke. Sie wurde an einem Wochenende
von original bayrischen und kunstinteressierten U-Bahn-Bauarbeitern
eingezogen und mit großem Applaus honoriert. Das war zweifelsohne der Höhepunkt
einer erfolgreichen Zusammenarbeit im Untergrund, die erst durch Sie,
wertes Publikum, ihre Krönung im Laufe der ersten fünfzig Jahre erlebte!
Ein Haus für das Besondere
Gottfried Knapp
Wenn Theater sich in der Stadt verstecken
müssten, wäre das TamS, das
Theater am Sozialamt in München,
besser als jedes andere Theater
versteckt und vor Blicken geschützt.
Wer die Haimhauserstraße in Schwabing
entlanggeht, wird vielleicht die
schöne Architektur der Schule am
Ende der Straße wahrnehmen und
die Eckkneipe an der Ursulastraße,
doch dass er auf der kurzen Strecke
an einem Theater vorbeigekommen
ist, wird er für unwahrscheinlich halten,
wenn er nicht zufällig das über
einem Garteneingang hängende
TamS-Schild entdeckt hat. Aber
auch wenn er registriert hat, dass das
Schild zu einem Theater gehört, wird
er sich kaum vorstellen können, dass
jenseits des schlichten Gartentors, am
Ende des schmalen, nach hinten führenden
Wegs, ein Theater versteckt
ist, zu dem an vielen Abenden die
Besucher hinströmen.
Begibt sich der durch das Schild angelockte
Passant hinein in den
versteckten Hinterhof, wird er sich
angesichts der herumstehenden Gartenmöbel
und der von einer Sitzbank
umgebenen Trauerweide wahrscheinlich
wie ein Eindringling in einem
Privatgarten vorkommen. Wenn er
aber abends vor oder nach einer
Theateraufführung diesen Hof betritt
und die bei einem Wein oder einem
Bier beieinandersitzenden Leute sieht,
wird er das Ganze vielleicht
für einen intimen Biergarten halten.
Wo aber ist in diesem Hinterhof das
versprochene Theater? Als Ort kommt
eigentlich nur das flache Rückgebäude
in Frage. Wir steuern also
auf die einzige Tür zu, die ins Innere
zu führen scheint, durchqueren den
Windfang – und landen verdutzt in
einem technischen Denkmal. Vor uns
erhebt sich ein Eisenmonstrum, das
dicke Rohre zur Decke hinaufschickt.
Dieser Stahlkoloss schiebt sich uns so
breithüftig entgegen, dass er fast wie
ein vorgerückter Altar wirkt. An diesem
Altar müssen wir, die ins versprochene
Theater vorstoßen wollen,
unser Opfer darbringen. Erst wenn
wir den bestimmten Geldbetrag entrichtet
haben, dürfen wir bleiben und
können uns umschauen.
Wo sind wir hingeraten? Mit unserer
Eintrittskarte haben wir ein höchst
merkwürdiges Ambiente erkauft. Wir
fragen uns: Gehören die massiven
Rohre und der Block schon zum Bühnenbild?
Die Antwort ist, wie alles
hier, recht ungewöhnlich: Nein, wir
sind im ehemaligen Heizraum eines
städtischen Brausebads gelandet.
Nach dem Krieg gab es noch mehrere
solcher öffentlichen Brause- oder
Wannenbäder in Münchens Vorstädten.
Heute sind sie alle abgerissen.
Nur im Bad am ehemaligen Sozialamt
in Schwabing, das wir eben betreten
haben, haben sich Teile der imposanten
Heizanlage erhalten, weil vor
nunmehr fünfzig Jahren zwei junge
Theaterleute, die einen Spielort
10
suchten, sich bereit erklärt haben, die
zum Abbruch vorgesehene Badegruft
zu übernehmen und auf eigene Rechnung
in ein Kulturhaus umzuwandeln,
in dem man Theater spielen und Ausstellungen
zeigen kann.
Mit Hilfe von Freunden haben Philip
Arp und Anette Spola die alte Duschhalle,
in der es jahrzehntelang gedampft,
gespritzt und getropft hat, in
einen intimen Theaterraum umgebaut,
der den Besuchern nicht nur gute
Akustik, sondern auch beste Sicht auf
eine cinemascopebreite Bühne bietet.
Im Vorraum aber, dem ehemaligen
Heizraum, haben sie von dem einzigartigen
Monument der Münchner Sozialgeschichte
so viel stehen lassen,
dass man heute noch etwas begreift
von den Umständen, denen sich früher
einmal Leute unterziehen mussten,
die einfach nur duschen oder
baden wollten.
Dass an einem so ungewöhnlichen
Ort langweilige Leute zusammenkommen,
ist eigentlich ziemlich unwahrscheinlich.
Und dass hier ganz
gewöhnliches Theater gemacht wird,
ist schon fast undenkbar. Tatsächlich
hat sich im TamS ein höchst eigenwilliger
Theaterstil entwickelt, der vom
höchst eigenwilligen Gehäuse inspiriert
ist und den baulichen Besonderheiten
auch szenisch immer wieder
gerecht wird.
Damit war der Weg freigeschlagen für
eine Vielfalt von Theaterexperimenten:
Autoren konnten für die intime
Bühne dramaturgische Sonderformen
entwickeln, und Regisseure haben
hier anarchisch komische bis surreal
verträumte Versionen des Bühnenspiels
erprobt. In kaum einem der
vielen Kleintheater, die es in den
letzten fünfzig Jahren in Deutschland
gegeben hat, dürfte sich im Lauf der
Jahrzehnte so viel bewegt haben wie
im TamS in München-Schwabing.
Dass nach Philip Arps frühem Tod das
Niveau gehalten werden konnte, ist
vor allem Anette Spola zu verdanken,
der Partnerin, der Prinzipalin.
Sie verstand es, einen Kreis von
theaterhungrigen Leuten um sich
zu versammeln. Und ihr ist es zudem
gelungen, erratische Bühnengrößen
zu Soloauftritten zu animieren, bekannte
Literaten zu Lesungen einzuladen
und vielversprechende Musiker
zu Konzerten zu bitten.
Für viele Schauspieler aber ist das
TamS zum dauerhaften Ankerplatz,
ja zu einer Art Heimat geworden.
Man könnte den Namen „Theater am
Sozialamt“ darum in doppeltem Sinne
deuten: Das TamS ist nicht nur der
ehemaligen Zweigstelle des Münchner
Sozialamts direkt benachbart,
es fungierte häufig selber als eine Art
Sozialamt – und zwar für Theatermacher,
Schauspieler, Autoren und
Musiker, die sich bewähren wollten,
die viel zu bieten, aber wenig zu
beißen hatten.
11
Die Sonderstellung des TamS
innerhalb der Münchner Theaterszene
ist also nicht nur an dem
geheimnisvoll versteckten Bau
abzulesen, in dem gespielt wird,
und nicht nur am spezifischen
Aufführungsstil des Hauses,
der sich von den hochsubventionierten
kommunalen und staatlichen
Theatern wohltuend unterscheidet,
sondern auch an den
sozialen Impulsen, die von
diesem Gebäude im Hinterhof
immer wieder ausgegangen sind.
Kapitel
I
Valentinaden S. 16
Frühe Inszenierungen S. 30
Freies Theater der 70er Jahre in München S. 52
Historie S. 56
T
wie
THEATER
und wie man damit beginnt
Die wundersame Metamorphose eines Tröpferlbads
Valentinaden I II III
16
Valentinaden III, Die Originalsprengung 1974
17
Geschwisterliche Nähe von Tie
Rudolf Vogel
Ein Jahr nach Gründung des Theaters
brachte Philip Arp seinen ersten
„Valentinaden“-Abend heraus: Szenen,
Vorträge im Geiste Karl Valentins,
die er für sich und seine Partnerin
Anette Spola geschrieben hatte.
Das TamS war eines der ersten Szenetheater
in München. An die 40 weitere
sollten im Lauf der 70er Jahre
folgen. Eine Dekade der Aus- und
Aufbrüche – auch und gerade auf dem
Theater. Von Agitprop über Mitspielbis
zum Antitheater: Proklamationen,
Provokationen, Manifeste, Pamphlete
allenthalben. Dem hielt Philip Arp
seine Verlautbarung entgegen: „Hiermit
gebe ich nichts bekannt.“ Eine
Provokation, gewiss. Aber nicht nur:
Anders als viele seiner Zeitgenossen,
die mit oft großem Aktionismus die
Gesellschaft und die Welt verändern
wollten zugunsten der sogenannten
„kleinen Leute“, sahen Arp und Spola
sich – ohne eine Fahne zu hissen oder
ein Transparent zu entrollen – ganz
unaufgeregt-selbstverständlich an
deren Seite, wollten ihnen eine
Stimme geben.
Im Lauf der Jahre entstanden fünf
„Valentinaden“, die zum Gesicht des
TamS wurden und – darin waren sich
Publikum und Kritik einig – Philip
Arp als einzig legitimen Nachfolger
des großen Querdenkers auswiesen.
Wie kommt man zu einem Zwetschendatschi
in 10 000 Meter Höhe? Die Stewardess ist ratlos.
„Valentinaden I“, 1971
fsinn und Unsinn
Weil er eben nicht, wie so manch anderer,
der sich in der Nachfolge Valentins
sah, der Versuchung erlag
(erliegen konnte!), das Original zu
imitieren, gar zu überbieten, um einen
möglichst großen Beifall einzuheimsen.
Weil er wusste, dass Valentins
Szenen mit Schwank und Slapstick
nicht allzu viel zu tun haben, vielmehr:
grundiert sind durch Schwermut
und Melancholie.
Arps wie Valentins „Helden“ versuchen
unentwegt, die Welt und die
eigene Existenz zu begreifen und mit
Worten zu erklären. Immer tiefer verstricken
sie sich in ein endloses, hilfloses
Philosophieren, entdecken und
erleben das Absurde im sogenannten
Normalen, die Banalität im Erhabenen,
die nahezu geschwisterliche
Nähe von Tiefsinn und Unsinn.
19
„Arp und seine Partnerin Anette Spola“, so Benjamin Henrichs
in seiner Kritik des ersten „Valentinaden“-Abends, „spielen den
Unsinn, als sei er die pure Normalität – so entstehen Szenen von
leiser Alltäglichkeit, von effektloser Melancholie. Am schönsten
zeigt dies die erste Szene, wo Arp ganz traurig und verstört
auf der Bühne herumsteht, wo nur zaghafte Gesten seine Sätze
begleiten, wo sich plötzlich ganz unerwartet ein kleines, schütteres
Lächeln auf sein Gesicht wagt: da ist er ein zarter Grübler,
ein stiller Chaotiker. Arp spielt solche Momente so untheaterhaft,
so verblüffend unaufwendig, als sei er nur das Fragment,
der Schatten eines Schauspielers.“
Aber alle ihre Versuche, in Worten und Handlungen einen gangbaren Weg aus
dem Chaos in ihnen und um sie herum zu finden, erweisen sich von Beginn an
als aussichtslos. Was sie nicht daran hindert, immer wieder einen neuen Anlauf
zu machen.
In seinem Vortrag „Zerrissenheit“ wendet sich Arp höchst emotional an sein
Publikum.
„Fünfundzwanzig Jahre kämpfe ich nun vergebens für den zerrissenen Menschen.
Gegen die Presse, gegen Television, gegen die Regierung, gegen die
Bauern, gegen dick und dünn. Durch. In unzähligen Vorträgen kämpfe ich
vergeblich gegen meine Zuhörer.
Meine Damen und Herren! Ich kann nicht länger so fortfahren. Aber der zerrissene
Mensch wird einst auf Sie zurückfallen.“
Die realistische Aufzählung von Menschen und Institutionen, gegen die sich
sein Zorn richtet, könnte – das weiß Philip Arp – als Plattitüde wahrgenommen
und mit einverständigem Betroffenheitsgähnen quittiert werden. Dieser Gefahr
entgeht er allein schon durch die Komposition der Aneinanderreihung seiner
Aggressionsobjekte und -subjekte. Und durch eine allem Anschein nach
„spontane“ Grammatikkorrektur. „… gegen dick und dünn. Durch.“
Die Heiterkeit, die er auf diese Weise für den Moment erzeugt, ist verflogen,
wenn er zwei Sätze weiter den hoffnungsfroh-boshaften Schlusspunkt setzt:
„Aber der zerrissene Mensch wird einst auf Sie zurückfallen.“ Anders ausgedrückt:
„Ihr, die ihr für all diese Missstände verantwortlich seid, glaubt ja
nicht, dass ihr ungeschoren davonkommt.“
Eine wie auch immer realistische Darstellung war, wie schon gesagt, Arps
Sache nie. Mit Hitchcock hätte er postulieren können: „Wir gestatten es
der Realität nicht, ihr hässliches Haupt zu erheben.“ Arp war und blieb der
Sprachspieler und Sprachbastler. Auch wenn er gesellschaftliche Missstände
anprangerte, eingefahrene Verhaltens- und Reaktionsmuster aufs Korn nahm.
So ruft in einem Bergsteigerstück der Mann seiner Frau, auf dem Gipfel angekommen,
ergriffen zu: „Schau das silberne Band am Horizonte.“ Allein das
Dativ-e genügt Arp, das Gefühl der Erhabenheit, das der Ausruf vermitteln will,
als Klischee zu entlarven und dem Gelächter preiszugeben.
21
„Schau das silberne
Band am Horizonte.“
25
oben: Technikpläne von Philip Arp
links: Szene aus „Die Originalsprengung“, 1974
27
Philip Arp
München-Collagen
28
Des Sängers Fluch
bis Montag ganz
Arps persönliche Abrechnung mit Schulzeit und
nationalsozialistischen Indoktrinierungsmethoden:
sein Balladenabend „Des Sängers Fluch bis Montag ganz“.
Die Aufzeichnung des Bayerischen Fernsehens gilt als eine
der ersten ungeschnittenen, mit einer einzigen Kameraeinstellung
dokumentierten Theaterinszenierungen.
29
Melancholie und Poesie
Wolf Jahn
In den ersten Jahren entwickelte das TamS einen Dreiklang,
der bis heute nachhallt: das Zusammenspiel von
literarischem, politischem und absurdem Schauspiel.
Eine Bühne, ein Mini-Technik-Raum
und eine ebenso kleine Garderobe.
Ausreichend für den ersten großen
Wurf des jungen Theaters: die „Valentinaden.“
Diese Abende ganz im
Geiste Karl Valentins hatte Philip Arp
gleichsam im Vorbeigehen gefunden,
so wie sie ihn zusammen mit Partnerin
Anette Spola gefunden hatten.
Ein Glücksfall fast wie eine lebenslange
Bestimmung für das junge
Gesicht des TamS.
Der Hunger nach Theater war aber
noch lange nicht gestillt. Die beiden
Neuankömmlinge auf eigener Bühne
verlangte es nach mehr, mehr Spiel,
mehr Inhalte, mehr Vielfalt. Und sie
fanden, ohne zu suchen, ähnlich
Picassos Motto „Ich suche nicht,
ich finde!“. Da das TamS aber bereits
existierte, gab es auch viel, was sich
dort einfand: junge Schauspieler,
oft Laien, Künstler, Poeten, Musiker,
Handwerker, Grafiker. Und es gab
jede Menge an Stoff und Ideen, die
sich mehr unbewusst als bewusstreflektiert
in den Köpfen von Arp
und Spola niederschlugen. Aus diesem
kreativen Mix aus Finden und
Einfinden formte sich ein erstes
und zartes Erfinden, das dem TamS
weitere Charakterzüge verlieh.
Ein Blick auf Inszenierungen der
ersten 10 bis 15 Jahre verrät, wohin
die Reise ging: Mit Ronald D. Laings
„Liebst du mich“ (1982) oder
Osvaldo Dragúns „Argentinische
Straßengeschichten“ (1978) lag ein
Schwerpunkt auf Literatur. Ergänzt
wurde dieses Programm mit literarischen
Abenden. Zudem reifte mit
Peter Handkes „Quodlibet“ sowie
Stücken von Ernst Toller, Dario Fo
bis Athol Fugard ein Bewusstsein
für politische Zeitfragen heran. So
ergänzte literarisches und politisches
Theater das absurde, das mit den
„Valentinaden“ noch lange nicht
ausgeschöpft war.
Von Beginn an setzte man ganz auf
eine spielkonzentrierte Einfachheit.
Gleiches gilt für das Publikum. Es
sollte nicht belehrt, sondern geehrt
werden, indem es mitgestaltet und
weiterspinnt, was ihm da auf der
Bühne zuweilen als absurde Querdenkerei
serviert wird. Schließlich
werden die Inszenierungen nicht
nach klassischem Muster einstudiert,
sondern gemäß der Vermögen der
Akteure entwickelt. „Darum“, so
Anette Spola über ihre Regiearbeit,
„nenne ich mich Spielleiter. In mir
entdeckte ich eine Aufmerksamkeit
für die Persönlichkeiten auf der Bühne,
ihre Ausstrahlung, ihren Witz, und
konnte sie begleiten. So entstanden
wunderbar feine Aufführungen, die
durch die Spieler frisch, aber auch
voll von Melancholie und Poesie
erblühten.“
30
1970 –1979
Quodlibet
Peter Handke
Mit Handkes „Quodlibet“ feierte das TamS seinen
ersten großen Erfolg. Drei Monate ausverkauft.
Das Stück war Handkes Auseinandersetzung mit
dem politischen Aufbegehren der 68er gegen das
verkrustete Establishment. Teil der Inszenierung waren
zwei Leute des CIA, die die Stützen der Gesellschaft
auf der Bühne vor dem Publikum schützen sollten.
„Es ist hier etwas geschehen“, so Manfred Pfister,
„was in unserem Theater noch viel zu selten ist. …
Hier wurden die Zuschauer nicht mit einem autonomen
Fertigprodukt konfrontiert, es ging vielmehr
um einen erst durch die gemeinsame Bemühung von
Spielern und Zuschauern zu erarbeitenden dramatischen
Vorgang. Dies macht diese Aufführung
wichtiger als die glatten eingängigen Inszenierungen
der subventionierten Konsum-Theater.“
1970, Regie im Jargon der Zeit: Kollektivarbeit
32
33
Briefe an kleine Mädchen
Lewis Carroll
Denken vom Raum. Von Anfang an
bestimmten auch die räumlichen Möglichkeiten
des Theaters sein literarischpoetisches
Programm: Lewis Carrolls
„Briefe an kleine Mädchen“ (1970),
Kinderreime wie „Metzger wetz
mias Metzgermesser ...“ (1974),
„Keine Angst vor dem König“,
ein Stück für Kinder (1971),
„Ergötzlicher Abend“ mit Gedichten
von Friederike Kempner (1975).
Adlaudabilis chirographi fermentet
vix verecundus quadrupei, utcunque
adlaudabilis rures incredibiliter verecunde
insectat satis adfabilis quadrupei.
Lascivius catelli imputat adfabilis apparatus
bellis. Catelli aegre frugaliter
fermentet apparatus bellis. Cathedras
comiter agnascor fragilis concubine.
Fiducias circumgrediet agricolae. Incredibiliter
pretosius syrtes fermentet
vix quinquennalis cathedras. Verecundus
concubine verecunde deciperet
oratori, semper saburre corrumperet
adfabilis agricolae. Apparatus bellis
agnascor tremulus saburre.
Saetosus ossifragi imputat Caesar,
quamquam quadrupei fortiter fermentet
adlaudabilis agricolae, quod satis
perspicax cathedras frugaliter circumgrediet
oratori, ut parsimonia saburre
praemuniet ossifragi, iam Augustus
corrumperet Caesar. Vix tremulus chirographi
praemuniet verecundus matrimonii,
quamquam pessimus
quinquennalis concubine conubium
santet saburre, utcunque lascivius syrtes
circumgrediet verecundus appara
tus bellis. Tremulus cathedras neglegenter
miscere verecundus suis, ut
saetosus matrimonii iocari incredibiliter
adfabilis zothecas. Parsimonia saburre
lucide miscere umbraculi.
Aquae Sulis comiter amputat agricolae.
Quinquennalis cathedras optimus
infeliciter praemuniet apparatus bellis.
Quadrupei corrumperet utilitas
matrimonii, utcunque pessimus adlaudabilis
concubine neglegenter agnascor
rures. Saetosus chirographi
conubium santet quinquennalis cathedras,
ut lascivius agricolae deciperet
plane utilitas suis. Aegre verecundus
chirographi imputat Medusa.
Aquae Sulis frugaliter fermentet tremulus
agricolae, semper gulosus matrimonii
senesceret perspicax
concubine, utcunque ossifragi miscere
verecundus catelli, ut lascivius umbraculi
vocificat oratori, utcunque catelli
amputat oratori, iam plane
pretosius ossifragi divinus conubium
santet parsimonia.
ACTION THEATRE LONDON
36
Zur programmatischen Vielfalt des jungen Theaters zählte ebenso die Einladung an internationale Theatergruppen,
unter ihnen das Londoner Action Theatre mit Arne Nannestad und Doraine Green. Die neapolitanische Gruppe Perhaps,
die britische TNT, die Schweizer Clowns Pic und Pello. Auch dies eine Tradition, die sich bis heute fortsetzt.
König Ludwig wir lieben Dich
1972, Koproduktion Action Theatre/TamS, Regie: Arne Nannestad
37
GEHALTSERHÖHUNG
Georges Perec
„Gehaltserhöhung“ nach
dem Text von Georges Perec
„Über die Kunst seinen Chef
anzusprechen und ihn um
eine Gehaltserhöhung zu bitten“.
Uraufgeführt 1972 unter
der Regie von Anette Spola,
nachgespielt in der Folgezeit
auf zahlreichen Bühnen.
38
39
Masse Mensch
Ernst Toller
40
DIE Lederköpfe
Georg Kaiser
Wiederbelebung des expressionistischen Theaters mit Zeitbezug: Ernst Tollers „Masse Mensch“, 1979,
und Georg Kaisers „Die Lederköpfe“, 1974, mit dem jungen, noch unbekannten Schauspieler
Herbert Fritsch zusammen mit Rolf Patzer und Bettina Hallwachs.
41
Aussagen nach einer Verhaftung aufgrund des Ge
Athol Fugard
setzes gegen die Unsittlichkeit 1976, Regie: Rudolf Vogel
Die Insel
Athol Fugard
Mit den Stücken von Athol Fugard begann die Auseinandersetzung mit der
Apartheidpolitik in Südafrika.
Seite 42/43: „Aussagen nach einer Verhaftung aufgrund des Gesetzes gegen
die Unsittlichkeit“, 1976, Regie: Rudolf Vogel
oben: „Die Insel“, 1977, Regie: Jörn van Dyck
– Josef Bierbichler spielte hier in einer seiner ersten Rollen –,
rechts und Mitte: „Boesmann und Lena“, 1977, Regie: Jörn van Dyck,
„Master Harold“, 1986, Regie: Jörn van Dyck
– mit Günther Kaufmann, S. 165 –
44
Boesmann und Lena
Athol Fugard
45
ARGENTINISCHE STRAßENGESCHICHTEN
Osvaldo Dragún
1978, Regie: Anette Spola
46
Wußten Sie schon … daß im TamS-Theater zwei große Opern an einem Abend
gespielt werden?
Wußten Sie schon … daß es sich um eine Aufführung ohne Musik, jedoch mit
heiteren Noten handelt?
Wußten Sie schon … daß der große Opernabend im TamS eine unterhaltsame,
erheiternde Parodie ist, bei deren Rührszenen Sie mitweinen können?
Auszüge aus Philip Arps Handzettel zur Vorstellung
Mit „Mord am Nationaltheater“ wurden die Opern „Tiefland“ und „Fidelio“ (nur die Libretti, keine Musik) auf dem als Theke dienenden
Heizkessel im Theaterfoyer dargeboten. Als Untertitel hatte Arp den Zusatz „Umstürzlerisches Opernspektakel“ gewählt. Eine, SEINE
ironisch akzentuierte Kritik an den Berufsverboten und Radikalenerlassen jener Zeit. Denn wäre es mit rechten Dingen zugegangen, wäre
die Obrigkeit ihrer Kontrollfunktion gewissenhaft nachgekommen, hätte diese Aufführung verboten werden müssen, wie viele andere auch.
Nachzulesen im Programmheft, in dem noch weitere solcher staatsgefährdenden Musikwerke aufgeführt wurden.
1977, Regie: Philip Arp
Bavaria Loas
Philip Arp/Rudolf Vogel
Einladung zum Münchner Theaterfestival 1979:
ein sozialkritischer Bilderbogen von der
Gründung Münchens bis in die Gegenwart und
darüber hinaus, von Philip Arp und Rudolf Vogel,
Regie: Anette Spola
Adlaudabilis chirographi fermentet vix verecundus quadrupei, utcunque adlaudabilis
rures incredibiliter verecunde insectat satis adfabilis quadrupei.Saetosus quadrupei
insectat umbraculi, etiam catelli suffragarit syrtes. Fiducias aegre celeriter iocari saburre.
Aquae Sulis praemuniet Medusa, ut optimus tremulus suis imputat utilitas
51
Eins fehlt immer: Geld
Gabriella Lorenz
Die Autorin hat in den 70ern acht Jahre freies Theater in München
gemacht. Danach wurde sie Theaterkritikerin bei der Abendzeitung,
heute schreibt sie fürs Münchner Feuilleton.
War da mal was? Damals in den
1970er Jahren? Aufbruch, Revolution,
neue Gesellschaftskonzepte? 1968
protestierten Studenten gegen die
Notstandsgesetze und die Altnazis in
der Regierung. Bei einer Demo fiel
ich – zur Freude eines Polizisten – in
Ohnmacht. Direkt vor der Redaktion
der Abendzeitung, gegen die wir auch
protestierten. Später habe ich 35 Jahre
lang für die AZ als Theaterkritikerin
gearbeitet. Mit 19 wollte ich wie die
meisten Demonstranten anno 68/69
die Gesellschaft gerechter gestalten.
Und ich wollte Theater machen. Aber
nicht so dilettantisch wie beim Action-
Theater, das in der Studentenkneipe
Witwe Bolte eine Antigone im Gitterbett
wüten ließ. Auch das daraus entstandene
antiteater von Rainer Werner
Fassbinder schreckte mich ab. Bei
den Theaterwissenschaftlern fand ich
Anschluss an eine Studentengruppe,
die an der Uni ein Mittagstheater
betrieben hatte und sich jetzt neu
formierte. Unserer Finanzlage
gemäß nannten wir uns Theater in
der Kreide.
Für unsere erste Produktion „Beim
Arsch des Krebses“ suchten wir
1970 einen Spielort. Wir fragten bei
Anette Spola an, die mit Philip Arp
gerade das frühere Tröpferlbad (eine
öffentliche Dusch- und Badeanstalt)
in der Haimhauserstraße als Theater
am Sozialamt (das lag daneben) eröffnet
hatte. Für uns eine enttäuschende
Begegnung: Anette erbat Bedenkzeit,
schüttelte dann bedächtig den Kopf
und sagte nein. Heute, 50 Jahre später,
ist mir klar: Sie spürte, dass unsere
Inszenierung nicht in ihr
Programm passte. Sie und Arp hatten
ein Theaterkonzept, das sich jeder
Konvention verweigerte. Wir spielten
dann Gert Heidenreichs deftige
Ruzante-Bearbeitung im Modernen
Theater von Uta Emmer in der Hesseloherstraße.
Für freie Gruppen ohne feste Spielstätte
gab es kaum frei zugängliche
Aufführungsorte, auch noch keine
Zwischennutzungen, Miete zu zahlen
konnten wir uns nicht leisten. Aber
man konnte in privaten Theatern
gegen Einnahmenteilung gastieren.
1971 brachte das TiK die Uraufführung
seines Hausautors Gert Heidenreich,
„Aufstand der Kardinäle“, in
Alexeij Sagerers proT in der Isabellastraße
heraus. Zu denselben Produktionsbedingungen
wie im Jahr zuvor:
Alle schmissen die Sommerferien in
einen Topf, dazu so viel Geld, wie
jeder erübrigen konnte, und mit einem
Budget von weniger als 1000 Mark
wurde dann sechs Wochen im Kellertheater
geprobt. Nach zwei Wochen
52
Gabriella Lorenz und
Gerd Heidenreich
Spielzeit wurden die Einnahmen
gleichmäßig verteilt, wir waren ja ein
Kollektiv: Man ging vielleicht mit
34,87 Mark, im Glücksfall 134,87
nach Hause.
Mit freiem Theater ist kein Geld zu
verdienen, es funktioniert bis heute
nur durch Selbstausbeutung. Aber es
gab in München in den 70ern einige
private Theater mit festem Haus –
noch waren die Mieten erschwinglich.
Uta Emmers Modernes Theater
spezialisierte sich auf junge zeitgenössische
Dramatiker, darunter
Franz Xaver Kroetz. Es zog später in
die Hans-Sachs-Straße um und blieb
da lange, der Schwabinger Keller
wurde erst zur Kleinen Bühne München,
dann zum Theater Scaramouche.
In der Hohenzollernstraße
spielten Horst A. Reichel und seine
Frau Irmhild Wagner die Avantgarde
der 50er und 60er Jahre wie Sartres
„Geschlossene Gesellschaft“. Der
exzentrische Österreicher Kelle Riedl
und seine Frau Maddalena Kerrh
wagten an der Ecke Ludwig-/Von-der-
Tann-Straße verrückte Experimente
(in einer „Woyzeck“-Variation stand
53
oben: Modernes Theater,
„Blick zurück im Zorn“,
John Osborne, 1979/80
Mitte: Theater 44, „Delirium
zu zweit – auf unbegrenzte Zeit“,
Eugène Ionesco, 1978
unten: Pathos Transport Theater,
„The Agnes of Fortune“,
John Murdoch, 1983
ich erstmals auf einer Münchner
Bühne). Alexeij Sagerer verwirrte alle
mit seinem Prozessionstheater (proT).
Er bespielte als einer der Ersten neue
Räume wie die Alabamahalle mit
seinen „Maiandachten“.
Im Fuchsbau an der Ungererstraße
gründeten Gunnar Petersen und Beles
Adam das Studiotheater mit einer
Mischung aus modernen Klassikern
und Wagnissen. Einer ihrer Dauererfolge
wurde „Der kleine Prinz“,
Ronnie Janots Partner Max Tidof ist
heute ein Kinostar. Der Ex-Tänzer
George Froscher begann mit seinem
Freien Theater München (FTM) in
einem Zimmer in der Müllerstraße,
er und sein Partner Kurt Bildstein
waren später mit Froschers körperund
rhythmusbestimmten, streng
chorisch-choreographierten Inszenierungen
weltweit unterwegs und
gaben Workshops. Allmählich entstanden
neue Truppen und Orte
wie das Pathos Transport Theater
von Pierre Walter Politz und danach
Sylvia Panter mit einer tollen
„Johanna der Schlachthöfe“, Ute
Stammbergers ambitioniertes Comedia-Theater
brillierte mit einer furiosen
Gertrude-Stein-Inszenierung. Für
die freien Künstler öffnete die Stadt
die Dachauer Hallen, wo viele – wie
das ETA oder das Tape-Theater –
nebeneinander existierten. Mitte der
80er eröffneten Andreas Seyferth und
Margrit Carls in der Pasinger Fabrik
das Theater Viel Lärm um Nichts.
Das TiK wollte nicht das gefühlt
41. Kellertheater in Schwabing werden,
sondern sein sozialkritisches
Programm in die neue Trabantenstadt
Neuperlach tragen. Wir fanden dort
in den 70ern einen ausbaufähigen
Keller, die Stadt finanzierte großzügig
die Infrastruktur. Städtische Subvention
war für alle Theater knapp, aber
das Kulturreferat hatte für überzeugende
Konzepte offene Ohren und
Hände. Stephan Märki übernahm
das Teamtheater hinter dem Viktualienmarkt
und machte es u.a. mit
einer rasanten „Hamlet“-Kurzfassung
von Jochen Schölch zur Attraktion,
später entlockte er sogar der Eigentümer-Brauerei
Geld für einen Umbau.
Jochen Schölch gründete in den 90ern
das Metropoltheater in Freimann, das
gerade wieder mal zum besten freien
Theater Deutschlands gewählt wurde
und inzwischen auch vom Freistaat
subventioniert wird.
Das TiK gibt es nicht mehr, viele der
anderen auch nicht, erfolgreich gehalten
hat sich das literarisch geprägte
Teamtheater unter Petra Maria Grühn,
neu erblühen will gerade das Pathos
Theater auf dem Kreativquartier.
Das TamS jedoch ist seit dem Hippie-
Jahrzehnt ein Fixpunkt und eine
unverrückbare Adresse geblieben.
Die Trauerweide in dem verwunschenen
Hinterhöfchen steht symbolisch
für die stilistische, inhaltliche und
ästhetische Eigenheit des TamS.
Philip Arp war ein Erbe Karl Valentins,
dessen Denkweise er höchst
eigenständig weiterdachte. Diese
Liebe zum Verschrobenen, Skurrilen,
Absurden und Versponnenen hat
Anette Spola mit zartem Dickkopf
in ihrem Spielplan über 50 Jahre lang
bewahrt. Von den Ambitionen der
68er-Studenten ist nicht viel geblieben,
das TamS jedoch, das nie die
Revolution im Banner getragen hat,
ist ohne jede modische Anpassung
seiner subversiven Unterminierung
von Seh- und Verhaltensweisen
treu geblieben.
54
FTM – Freies Theater München,
„Schwarze Prozession“, 1978
55
Historie
1887: Bau des Feuerhauses
1888 bis 1898: Errichtung und Betrieb einer Elektrozentrale
1890: Das Dorf Schwabing wird von der Stadt München
eingemeindet
1899: Die Stadt München beschließt die Einrichtung
eines Brausebades
1905: Ein Totenkammerl vom Gisela-Kinderspital wird an
das Brausebad angebaut, später wurde dort die
Bademeisterwohnung eingerichtet
1969: Umbau als Theater
1970: Eröffnung des TamS Theaters
56
Gestern noch Gerätehaus und Wohnort der Feuerwehr,
heute Gebäude und Spielstätte des TamS:
Das Vorderhaus an der Haimhauserstraße
links:
Situationsplan 1888,
Lokalbaukommission
Stadt München
Plan oben und rechts:
Stadtarchiv München
57
Vor der Eingemeindung von Schwabing (1890) entstanden Pläne für ein neues Feuerhaus in
der ehemaligen Pfarr-Strasse, der heutigen Haimhauserstraße. Und noch vor der Errichtung
von Elektrozentrale und Tröpferlbad (Brausebad) im Hinterhaus wurde das Vorderhaus als
Feuerhaus entworfen. In ihm kamen Gerätschaften der Feuerwehr unter. 1913 wurde ein
Chauffeurzimmer eingerichtet. Heute lagern dort Theaterrequisiten. Das Vorderhaus wird von
Musikern und Schauspielern bewohnt. Und wo sich in den Garagen einst Spritzen und Wasserfässer
für die Feuerwehr befanden, wird im Winter wie im Sommer Theater gespielt.
Plan oben: Stadtarchiv München
58
Das ehemalige Tröpferlbad, 1969 vor dem Umbau
und danach in den 1970er Jahren
59
Nennen wir es doch Theater a
Rudolf Vogel über Anfänge und Alleinstellungsmerkmal des Theaters
Am 27. Januar 1970 eröffnete das
Theater am Sozialamt (TamS) mit
dem Stück „Die stummen Affen“ von
Fritz Herrmann. Ein veritabler Flop.
Fazit der AZ-Kritik:
„Die Eröffnung des neuen Theaters
war zugleich seine Beerdigung.“
So kann man sich täuschen.
Ein Jahr zuvor waren Anette Spola
und Philip Arp von einer erfolgreichen
Tournee durch Südamerika als
Pantomimenduo nach München
zurückgekehrt. Ihr Wunsch:
eine eigene Spielstätte.
Bei ihrer Suche entdeckten sie in
einem Schwabinger Hinterhof, Wand
an Wand mit dem dortigen Sozialamt,
ein seit langem nicht mehr genutztes
Tröpferlbad, das seinem endgültigen
Verfall entgegenbröselte. Nach eingehender
Besichtigung kamen Arp
und Spola zu der Überzeugung, den
geeigneten Ort für ihr Vorhaben gefunden
zu haben. Die Stadt München,
Eigentümerin der Immobilie, gab
grünes Licht, und die hoffnungsfrohen
Gründer gingen, unterstützt von
Freunden, ans Werk. Räumten den
Schutt weg, der sich bereits in beträchtlicher
Menge angesammelt
hatte, und machten sich an die architektonische
Umgestaltung: aus dem
Heizungsraum wurden Foyer und
Kasse, aus den Umkleidekabinen
und Duschen Zuschauerraum und
Bühne.
Das größte Problem – jeder und
jedem in ähnlicher Lage nur allzu
bekannt – war die Namensgebung.
Vorschläge wurden gemacht, hin
und her gewendet, akzeptiert und
wieder verworfen. Bis Philip sagte:
„Nennen wir es doch Theater am
Sozialamt.“ Allgemeine Zustimmung.
Einmal weil der Vorschlag durch
seine Einfachheit bestach. Zum anderen
weil er zwei weitere Vorzüge miteinander
verband. Einen praktischen:
Er erleichterte den erhofften Zuschauermassen
die Ortsfindung. Und einen
eher intellektuellen: Er weckte in
ihnen die Erwartung, in der neuen
Spielstätte Stücke mit sozialkritischer
Thematik sehen zu können, und
lockte sie damit auf die denkbar falscheste
Fährte. Eine Vorstellung, die
die Theatergründer mit anhaltend stiller
Freude erfüllte, da sich gewissermaßen
bereits im Gründungsakt ihr
Ansatz, Theater zu machen, verbarg:
das Publikum mit zweckentfremdendem
Spiel (wozu ganz wesentlich
auch das Verwirrspiel gehört) zu erfreuen
und nicht mit zweckgebundenen
Botschaften zu langweilen. In der
damaligen Zeit, wie man heute sagen
würde, ein „Alleinstellungsmerkmal“.
m Sozialamt
Roger Krötz,
Bildhauer und Erbauer des TamS
Links und unten: Umbau- und Renovierungsarbeiten am alten Tröpferlbad rund um die Uhr
61
rechts:
Das TamS-Büro unmittelbar
am Theatertrakt
unten:
Philip Arp gießt die Karl-
Valentin-Trauerweide ein Jahr
nach ihrer Pflanzung.
1972 wurde sie im Beisein
des damaligen Münchner
Oberbürgermeisters Georg
Kronawitter feierlich gepflanzt.
Es war die erste
öffentliche Pflanzung eines
Baums im urbanen Raum,
von Joseph Beuys dankbar
aufgenommen und zehn
Jahre später in Kassel
für die documenta 7 mit
seiner Aktion „7000 Eichen“
umgesetzt.
63
Wir steuern also auf die einzige Tür zu, die ins Innere zu führen
scheint, durchqueren den Windfang – und landen verdutzt in einem
technischen Denkmal. Vor uns erhebt sich ein Eisenmonstrum, das
dicke Rohre zur Decke hinaufschickt. Dieser Stahlkoloss schiebt
sich uns so breithüftig entgegen, dass er fast wie ein vorgerückter
Altar wirkt. An diesem Altar müssen wir, die ins versprochene
Theater vorstoßen wollen, unser Opfer darbringen. Erst wenn wir
den bestimmten Geldbetrag entrichtet haben, dürfen wir bleiben
und können uns umschauen.
Gottfried Knapp
Das TamS-Foyer
oben: Früher Entwurf zur Gestaltung von Architekt Adolf Schröter
links: Heute mit Kasse und Bar
nächste Seite: Im Mittelpunkt die alte Kesselanlage aus dem 19. Jahrhundert
oben rechts: Foyer als Bühne mit einer Szene aus „Mord am Nationaltheater“
65
Da kommt was durch die Wan
Lorenz Seib
Als das TamS einmal kurz vor
dem Abbruch stand.
TamS-Regisseur Seib erinnert
sich an Schrecken und
innig-zärtliche Gefühle
für eine Mauer.
Im Sommer 2017 überschlugen sich die Ereignisse.
Zuerst ließen Abrissarbeiten auf dem
benachbarten Grundstück des TamS nichts Gutes
erahnen. Auf Nachfrage sicherte der Bauherr
uns widerwillig zu, die alten Schuppen (wie er
das TamS bezeichnete) nicht anzutasten. Immerhin
standen die Gebäude Wand an Wand.
Es dauerte nicht allzu lange, dann klaffte ein
riesiges Loch in der Rückwand des Fundus.
Wir alarmierten die Polizei, das Baureferat,
das Kommunalreferat, die Presse und den Denkmalschutz.
Es half nichts: Die Mauer war so
beschädigt, dass sie abgerissen werden musste.
Als wir eine Woche später mit Dr. Körner von
der Denkmalschutzbehörde zu einer Begehung
im Hof standen, rief Edeltraud, unsere unermüdliche
Botschafterin zur Außenwelt, aus dem
Büro: „Kommen Sie schnell rein, da kommt was
durch die Wand!“ Und da lag auch schon ein
großer Brocken Putz auf dem Schreibtisch.
Nun war’s amtlich: Das TamS war ganz konkret
in seiner physischen Präsenz bedroht.
Edeltraud Prestele,
unentbehrlich für alle
Kontakte zur Außenwelt
Bis die Mauer wieder stand, dauerte es dann
doch zwei Jahre. Nun steht sie wieder, fast
schöner als zuvor. Ich hätte nie gedacht, dass
ich einmal eine so innige, ja fast zärtliche
Beziehung zu einer Mauer aufbauen würde.
Möge sie die nächsten 50 Jahre gut überstehen.
Ein Gutes hatte der ganze Wirbel:
Seit 15.1.2018 ist das Gebäude des TamS in
der Haimhauserstraße 13a denkmalgeschützt
und seit 16.10.2019 ist auch das Theater
Bestandteil des Baudenkmals.
68
d!
TamSisch
Das TamS ist ein Hort der Freundschaft,
im keuchenden Schwabing
ein Mikroklima zum Aufatmen.
Friedrich G. Scheuer
Von Beginn an begleitet
Künstler und Autor Friedrich
G. Scheuer das TamS Theater.
Der an der Akademie der
Bildenden Künste München
ausgebildete Künstler hatte
hier 1969 seine erste Einzelausstellung.
Seine Leidenschaft
für Kunst und Bild,
ihre philosophisch-theoretischen
Aspekte, findet ihren
Niederschlag in mehreren
Büchern.
rechts:
F. G. Scheuer liest aus
seinen Schriften im TamS.
Lauter Verrückte. Nicht alle. Fast alle.
Im Haus Haimhauserstraße 13a gehen
sie ein und aus. Dort leben sie ihre
Identität und verrücken die Realität.
Und das seit 50 Jahren.
Die Spola. Ein Glück amtlicher Verschlafenheit,
dass ihr Steckbrief nie
zur Fahndung ausgeschrieben stand.
Man hätte sie unmissverständlich
geschnappt, Verwechslung ausgeschlossen.
Es gibt keine Zweite,
keine wie sie.
Ich kann alles, was ich sag, mit Fug
und Recht behaupten. Ich habe alle
TamS-Produktionen gesehen, die
erste am 27.1.1970. Es war ein
lebensbegleitender Irrsinn und
gleichzeitig ein Prozess ästhetischer
Erkenntnis, ein schlüssiges Reifen
aufgrund der Darstellung unschlüssiger
Paradoxien theatralischer Kunst.
Das Paradoxe ist eine Verschwiegenheit
unserer Lebenswelt. Es passt
nicht ins Design erfolgreichen Fortschreitens.
Es irrlichtert. Das Paradoxe
hat einen Stammplatz im TamS,
dort, wo nicht linear gedacht wird,
sondern labyrinthisch, kreuz und quer
im existentiellen Raum. Das Paradoxe
und Unbestimmte (für die Gescheiten:
das „Nichtidentische“ des Th. W. A.),
das Mögliche jenseits des Wirklichen,
das sind die Gene im TamS-Genom.
Die Anette hat sie – auf Marienart –
vererbt an eine Meute Jüngerer, junger
Frauen und Männer, die Sinn und
Zweck unterscheiden und: die sich
kommentarlos mögen. Man muss es
nicht an die große Glocke hängen:
Zurück zum kulturellen Status des
TamS: Eigentlich gibt es keinen griffigen
Begriff für seine theatralische
Praxis. Bezeichnungen wie absurd,
irrational, märchenhaft, entrückt usw.
greifen zu kurz. Im TamS verschlägt
es die Sprache und schamlos schlägt
es aufs faulträge Gemüt. Es sind
Spiele alternativer Geister, die
das messbar Wirkliche spielend
verdrängen, es ersetzen, als sei das
Mögliche Ding, Stoff, Mensch zum
Anfassen. Die Spiele bestimmen das
Unbestimmte formal: Form als ästhetischer
Daseinsgrund ist die Stammzelle
für alle Ausdifferenzierungen ins
Politische, Soziale, ins Parodistische,
ins Gewitzte.
Bedeutungen streunen im Publikum.
Auf der Bühne geht es um Tatsachen:
Sprache, Stimme, raumgenaue Bewegung,
Bildlichkeit. Das Spiel ist die
Gestalt des Stücks. Das Spiel ist
Sache leibhaftigen Gespieltseins,
Sache ästhetischen Vollzugs. Man
sieht, hört, riecht und fühlt das artifizielle
Geschehen. Man sitzt auf Tuchfühlung
am Bühnenrand, intim dabei,
einem Ensemble applaudierend –
auch dies sehr TamSisch – einem
Ensemble ohne Rampensau.
Die Schauspieler spielen nicht Schau,
sie spielen Spielen. Das gibt’s.
Da sind sie wieder, Spolas Gene.
Natürlich gab es auch Einbrüche, Abstürze,
auch unverständliche Durchfälle.
Aber keine Spur von Resignation,
kein Selbstmitleid. Anettes
rotzfreche Vitalität blühte auf und im
Stillen: ausdauernde Besonnenheit.
70
Auch das muss mal gesagt sein:
Das TamS versetzt die sogenannte
Moderne. Es demonstriert die Untauglichkeit
von Begriffen wie progressiv,
konventionell, innovativ,
auch das Verdikt des Anachronismus
ist unbrauchbar, wenn die alte Schönheit
wiederaufersteht (neudeutsch:
diskursfähig wird) und der konventionelle
Naturschutz progressiv in die
Zukunft weist. Artenschutz fordern
kreuzbrave Bürger, die Zukunftspläne
haben und dicke Luft zum Pusten in
Tröten und Trillerpfeifen.
Artenschutz für Arps Weide. Sie
wächst, seit er sie am 29. März 1972
gepflanzt hat, wächst dickstämmig,
üppig verzweigt, dicht belaubt,
diskret versteckt die Nester der schrägen
Vögel des TamS. Man hört sie
zwitschern. Sie zwitschern harmonisch
und zwölftonig, pianissimo,
fortissimo, zwitschern von der Lust
mit der Kunst und von der Last,
von der Kunst zu leben, zwitschern
konfuse und konzise Konzepte ästhetischer
Praktiken, sie singen und
schwärmen und plärren sich in einen
Tumult bühnenreifer Sinnlichkeiten,
und plötzlich die Schnäbel gehalten,
um das Spiel kalt abzuschrecken im
analysierenden Zugriff. Sinnfragen
tauchen auf, Freiheiten sind gefragt
und die Postulate einer Ethik öffentlicher
Kunst. Gewissheiten zappeln,
aber Bühnenlust und Formlust spielen
Welt und Menschsein als theatralische
Realitäten, Wirklichkeiten schönster,
geistsatter Hirngespinste.
Und unüberhörbar die kantigen Töne,
wenn es darum geht, das TamS zu
schützen gegen die Übergriffe der
brutalen, kapitalgeilen Halsabschneider
in nächster Nachbarschaft.
Wenn nötig, ballt das TamS die Faust
und sticht seinen Stachel ins Fleisch
wirtschaftlicher Prosperität um
jeden Preis.
Die andere Welt, die Welt hinterm
Tor. Du öffnest es und stehst im Hof.
Die Weide, die Pflanzen, die Tische
und Stühle (kunstvoller Eigenbau),
die Fotoskulpturen, das Ganze eine
unsentimentale Heimstatt, fast ein
Sehnsuchtsort. Sehnsucht ersehnt
Besseres, Konfliktbefreites. TamSisch
betrachtet sind Konflikte Steilvorlagen
zum Krachenlassen oder
Gefühlsdusel zum Schmoren im
theatralischen Saft. Das bessere
Leben ist Spiel, spielend ein Anderssein
in Form bringen, eines, das
Phantasie und Freiheit ausformt als
ästhetische Existenz. Das ist die
artgerechte Substanz erwachsener
Kindsköpfe: Kunst-Substanz.
Ein halbes Jahrhundert spielt TamS
TamS, spielt an gegen Gewissheiten,
gegen Engstirniges und Eingefleischtes,
spielt sich und uns in eine Verrücktheit,
die alles, was recht ist,
mit dem Bad ausschüttet, das Kind
aber, den Bengel schwebender, irrlichternder
Möglichkeiten, nimmt es
an die Brust. Der Säugling saugt sich
voll, saugt den Sinn weisen Widersinns
und den Saft berauschender
Irrationalität, saugt eine Lebens- und
Kunstlust, die sogar den Tod erträgt.
Das TamS – wie eh und je – scheißt
auf die zweckstarren Normen einer
missverstandenen Normalität, und
ohne Brimborium erdet es die
schillerndsten Luftschlösser, bringt
Sinne und Verstand zum Dampfen
und spielt, spielt TamSisch, spielt,
was das Zeug hält, spielt auf Teufel
komm raus.
71
Kapitel
II
Hausautoren S. 74
Eberhard Kürn S. 100
Ausstellungen S. 118
Die Dienstleister S. 132
A
wie
AUF, HINTER
und vor der Bühne
Ein Bühnenbildner, treue Hausautoren
und viele Ausstellungen
Hausautoren
Groß- und hausartiges Theate
Wolf Jahn
Mit selbst geschriebenen Stücken prägte eine wachsende
Hausautorenschaft das tamsische Bühnengeschehen.
Heute ist sie fester Bestandteil des Theaters.
Früh schon gesellten sich dem jungen
TamS Theater Verwandte im Geiste
hinzu. Einige kamen wie gerufen,
andere wurden gerufen, weitere vom
Charme des Schwabinger „Welthinterhoftheaters“
(SZ) angelockt. So
entstand, was man einen Freundeskreis
nennt. Maßgeblich trug er zur
Verwandlung des TamS in ein lebendiges
Kulturbiotop bei.
Als programmprägend erwies sich
dieses Biotop durch zahlreiche Autoren,
die man gerne spielte. Sei es,
weil sie Stücke speziell für das TamS
schrieben oder aber Stücke in ihrem
Repertoire hatten, die dem TamS
geradezu auf den Leib geschrieben
waren. Das war bei Karl Valentin,
dem über allem schwebenden Hausgeist,
ungefragt der Fall. Aber auch
vom jüngeren Thomas Bernhard wurden
leidenschaftlich Stücke gespielt
und meisterlich auf der Bühne inszeniert,
als gäbe es das Wort improvisiert
nicht. Heute zählt er unwidersprochen
zum erweiterten Kreis der
Hausautoren.
In der Überzahl aber waren und sind
die mit maßgeschneiderten Stücken
beauftragten Hausautoren und -autorinnen.
Ähnlich dem ersten Hausherrn
Philip Arp belebten und beleben sie
mit ihrem Eigengeist die Bühne.
Fast von Anfang an mit dabei Rudolf
Vogel, bis heute aktiver Mitgestalter
des Theaters. Unter seiner Regie
formte er Inszenierungen, und mit
seiner Feder entstanden neue, unter
anderem die Politsatire „BONN-
BERLIN – Deutschland ein Altenheim“.
Wie Vogel zeigen und zeigten
auch andere „Interne“ ihr Talent für
mehrgleisiges Schaffen: Eberhard
Kürn als Bühnenbilder und Lorenz
Seib, überwiegend für Regie und
Dramaturgie verantwortlich, verfassten
Eigenes für Bühne und andere
Schauplätze. Oft steht auch die
multiple Autorenschaft des Ensembles
für Ideengebung und Gestaltung
des Bühnengeschehens.
Verstärkt in den vergangenen Jahren
ist mit Kabarettistin Maria Peschek,
mit Musik- und Theaterfrau Cornelie
Müller, der niederländischen Bühnenautorin
Judith Herzberg oder der
Dramatikerin Beate Faßnacht eine
wohltuende Mischung aus heitergroteskem,
nachdenklichem bis hin
zu ästhetisch-meditativem Theater
entstanden. Nachhaltig prägen sie das
aktuelle TamS-Geschehen, während
Inszenierungen moderner Theater-
76
r!
„Die Kunst des Schlafens“,
1998, Regie: Anette Spola
schreiber, ob von Max Frisch oder
Elfriede Jelinek, dem Programm
eine klassische Note geben. Zuvor
waren es Stücke des Schweizer
Schriftstellers Urs Widmer, allen
voran sein „Stan und Ollie“, die
die lange Tradition der Hausautoren
im TamS fortführten. Und mit ihr
noch eine weitere, unbeabsichtigte,
nichtsdestotrotz dominante: der Auftritt
des Paars auf der Bühne, das mit
von Blödelei, zugleich von Tiefsinn
und Hintersinn geprägten Dialogen
das Publikum in seinem Bann hält.
Philip Arp hatte sie mit den „Valentinaden“
initiiert, Maria Peschek hat
sie mit ihren „Charlie und Beppi“-
Episoden zur vorläufigen Krönung
geführt. Nicht nur sie sind Zeugen,
dass im TamS zwar Theater und nur
Theater gespielt, vor allem aber auch
geboren wird.
77
Urs Widmer
Stan und Ollie in Deutschland
Rudolf Vogel
1978 engagierten die Münchner Kammerspiele Philip Arp und Jörg Hube
für Urs Widmers 2-Personen-Stück „Nepal“. Die Idealbesetzung, befand Widmer
und schrieb den beiden Schauspielern ein neues Stück „auf den Leib“:
„Stan und Ollie in Deutschland“. Uraufgeführt ein Jahr später im TamS, in der Inszenierung des Autors.
Der liebe Gott kann es nicht mehr
hören, was Stan unentwegt auf der
Harfe spielt und Ollie auf der Trompete
(„Die Internationale“). Also verbannt
er sie auf die Erde. Wo sich
alsbald ein Gefühl wieder einstellt,
das in der Ewigkeit verloren gegangen
war: Hunger. Um den zu stillen,
fehlt ihnen allerdings das nötige
Kleingeld. Überhaupt fehlt ihnen
alles, was man auf Erden zum Leben
und Überleben braucht. Vor allem
eines, ohne das beziehungsweise ohne
den man in Deutschland nicht einmal
existiert: ein Ausweis.
Von einem Polizisten mit Maschinenpistole
im Anschlag aufgegriffen,
können sie sich der Verhaftung nur
durch die Flucht entziehen. Bei der
sich ihre himmlischen Attribute als
nicht unerhebliche Handicaps erweisen:
das ständige kräftezehrende
Flügelschlagen und die den Luftwiderstand
verstärkenden Heiligenscheine,
derer sie sich denn auch als
Erstes nach der gelungenen Flucht
entledigen.
Auf ihrem weiteren Weg begegnen sie
allerlei merkwürdigen Zeitgenossen.
Einem Jogger beispielsweise, der auf
die Frage, warum er immer so herumlaufe,
antwortet, er laufe nicht, er
jogge und er wundere sich: „Ja joggen
Sie denn nicht?“ Darauf Stan und
Ollie unisono: „Nein. Wir laufen
dafür viel.“
Was vielleicht nicht jede(r)
weiß: Das Stück „Stan und
Ollie in Deutschland“
mit den beiden herrlichen
Schauspielern Philip Arp und
Jörg Hube gibt es auch als
Hörspiel, ebenfalls in der
Regie von Urs Widmer,
man kann es im Internet
hören.
Barbara Wehr
78
Ollie (Jörg Hube) und Stan (Philip Arp), 1979, Autor und Regie: Urs Widmer
79
Den Schweizer Schriftsteller
Urs Widmer verband eine
lange Freundschaft mit dem
TamS, seinen Leitern und
Spielern.
„Wenn ich in München bin“,
schrieb er, „gehe ich in die
Haimhauserstraße und
schaue in den Hinterhof und
sehe jedes Mal mit Entzücken,
dass alles immer noch so ist,
wie es sein soll.
Und oft schaut die Chefin
gerade zum Fenster hinaus.
Anette blinzelt zur herrlichen
Sonne hinauf, und ich trete
aus dem Schatten der alten
Weide heraus, die ich als
junges Pflänzchen kennengelernt
habe. Ich grüße
die TamS-Wirtin artig.
Wir gehen ins Büro und
zählen die Einnahmen des
heutigen Abends.
Unsummen, schon wieder!
Von früher reden wir nie,
kaum je, allenfalls manchmal.
Noch gibt es eine Zukunft.“
In einer Grußadresse zum 35-jährigen
TamS-Jubiläum schrieb Widmer:
„Das TamS hat für mich eine ganz besondere
Rolle gespielt. Es steht nicht
ganz am Anfang meines Lebens als
Stückeschreiber, aber beinah. Ich
machte im TamS meine erste Regie,
mit einem Stück, das ich fürs TamS
geschrieben habe‚ Stan und Ollie in
Deutschland‘. Philip Arp spielte den
Stan (war Stan) und Jörg Hube den
Ollie (war Ollie) und Wolf Euba den
lieben Gott und den Teufel gleich
überzeugend. Ich versuchte, den unerschöpflichen
Einfällen der drei mit
möglichst eleganten Bewegungen
auszuweichen. Das Stück wurde ein
Knüller, und ich merkte, dass es
schön ist, einen Knüller geschrieben
zu haben. Also schrieb ich noch einen
Knüller, fürs TamS und, weil ich
gerade dabei war, auch für andere
Bühnen dieser Welt.
[...]
‚Alles klar‘ wurde der zweite TamS-
Knüller, dies vor allem, weil diesmal
Jörg Hube die Regie führte.
Ich kann getrost sagen, dass es die
beste Regie Hubes überhaupt war,
obwohl ich nie eine andere Regiearbeit
von ihm gesehen habe.“
80
Wolf Euba als Polizist (links) neben Ollie und Stan
81
rechts: Otto Grünmandl als lieber Gott
in „Alles klar“, 1988, Regie: Jörg Hube
Grünmandl, österreichischer Autor
und Kabarettist, gastierte mit vielen
seiner eigenen Stücke im TamS.
82
83
Maria Peschek
Charlie und Beppi
Rudolf Vogel
Maria Peschek,
bayerische Kabarettistin im
deutschsprachigen Raum.
Sie wurde mit dem Kabarettpreis
der Stadt München und
dem Ernst-Hoferichter-Preis
ausgezeichnet.
Von 2003 bis 2018 zog das TamS ein zunehmend wachsendes
Publikum in seinen Bann. Im Fokus der Aufmerksamkeit:
zwei Frauen auf graden und auf krummen Wegen.
„Ein Traumpaar!“, so das eindeutige Presselob für das ungewöhnliche
Duo. Erinnerungen an zwei Gschaftlhuberinnen
und an zwei, deren Mission Weltrettung hieß.
Einmal ein Stück fürs Theater schreiben
– diese Anregung von Anette
Spola nahm die Kabarettistin Maria
Peschek gern auf und ersann für sich
und die Spola das Existenz-Clowns-
Duo Beppi und Charlie. Charlie war
der Part der Resoluten, Vorwärtsdrängenden,
Entscheidungsfreudigen
zugedacht, Beppi der Part der Zögerlichen,
Nachdenklichen, Hinterfragenden.
Stärken und Schwächen
zugleich. Bei der Lösung der Aufgaben,
die sich beide stellten, wie in
ihrer persönlichen Beziehung, konnten
sie von Vorteil sein. Aber eben
auch von Nachteil. Für Irrungen und
Wirrungen war also reichlich gesorgt.
Im ersten Stück „Entschuldigung“
spielten Beppi und Charlie zwei
Gschaftlhuberinnen, die in einem
Büro der 50er Jahre gegen Bezahlung
„ungewöhnliche Lösungen für ungewöhnliche
Probleme“ versprachen.
Überflüssig zu erwähnen, dass keines
der Probleme einer Lösung zugeführt
werden konnte. Ungewöhnlich allenfalls
(nicht für den geübten TamS-
Besucher), dass Figuren, die sich
ebenfalls mit erheblichen Problemen
herumschlagen mussten, unter ihnen
Othello, König Lear und mehrere Johannen,
ganz selbstverständlich unter
den Ratsuchenden auftauchten.
Ratschläge für kleine Münze zu erteilen
konnte dem Duo auf Dauer natürlich
nicht genügen. Längst sahen sie
sich für weitaus Höheres ausersehen:
die Rettung der Welt. Der sie sich in
den folgenden sechs Stücken mit
nicht nachlassender Leidenschaft hingaben,
begleitet von einer stets wachsenden
Fangemeinde, die Wohl und
Wehe mit ihnen teilte.
Natürlich ist auch das Weltretten ein
Job, für den man sich bewerben muss.
Eine zusätzliche Hürde, die in
„Vorsicht Sturzgefahr“ behandelt
84
Anette Spola (vorne) und Maria Peschek zusammen mit Helmut Dauner in „Vorsicht Sturzgefahr“, 2018
Regie: Anette Spola und Ensemble
wird. Vielleicht gibt es ja, wenn
man alle Voraussetzungen erfüllt,
eine Prüfungszulassung, nach bestandener
Prüfung die Chance, ein Konzept
vorzulegen, und schließlich das
Vorstellungsgespräch, bei dem der
persönliche Eindruck entscheidet.
Wie stehen da die Chancen? Charlie
erinnert sich an Beppis Gesichtsausdruck
beim Butterbrotschmieren vor
einiger Zeit: „Damals hast du doch so
geschaut – hast du dir das G‘sicht
nicht gemerkt? So ein G‘sicht kann
man immer brauchen.“ Beppi erinnert
sich nicht.
„Ein Traumpaar ist geboren“, übertitelte
die tz ihre Kritik des ersten
Charlie-und-Beppi-Stücks. Der letzte
Satz: „Dieser hinreißend komische
Theaterabend reiht sich nahtlos ein in
die TamS-Sternstunden vergangener
Jahre. Tut mir leid, aber diese kleine
Hymne musste jetzt einfach sein.
Tschuldigung.“
Marsch! Vorwärts ins Theater! 2007, Regie: Anette Spola
Flieh mit mir 2004
Regie: Maria Peschek und Anette Spola
Beate Faßnacht
Zu allen Stücken von
Beate Faßnacht
entwarf und baute
Claudia Karpfinger
die Bühnenbilder.
2003 kam sie zum
TamS. Seitdem zählt
sie nicht nur wegen
ihrer zahlreichen
Bühnenbilder
zum kreativen Kern
des Theaters.
Sofort Heiraten 2009, Regie: Cornelius Gohlke
88
Als Bühnen- und Kostümbildnerin arbeitet Beate Faßnacht unter anderem für das Staatstheater Stuttgart, das Theater am Neumarkt in
Zürich sowie für das Schauspielhaus Zürich. Als Dramatikerin schrieb sie zahlreiche Stücke. Vier ihrer Stücke wurden im TamS gespielt,
davon zwei als Uraufführungen.
Der letzte Dreck 2019, Regie: Lorenz Seib
89
90
Obwohl 2016, Regie: Lorenz Seib
91
Judith Herzberg
Judith Herzberg, Lyrikerin
und Bühnenautorin, lebt
in Amsterdam.
Sie gilt als bedeutendste
niederländische Theaterautorin
der Gegenwart.
Für ihr Werk erhielt sie
zahlreiche Auszeichnungen,
2018 den wichtigsten
Literaturpreis der Niederlande,
den Prijs der Nederlandse
Letteren.
Erstaufführungen im TamS:
„Und/Oder“ (1990),
„Ein heller Kopf“ (1995),
„Seekrank im Schwimmbad“ (2016).
Judith Herzberg (links) zusammen
mit Anette Spola
92
Seekrank im Schwimmbad 2016, Regie: Lorenz Seib
93
Cornelie Müller
Überall ist heiteres Tun 2004
Cornelie Müller, Musikfrau, Theaterfrau und geheime Klangrätin.
Ihre Installationen aus Wort, Klang und Bild sind oft poetische Annäherungen an die Schicksale vergessener und verfolgter Frauen.
Waldrieserl 2001
95
Rudolf Vogel
Selten so gelacht
Soeben war die Wende vollzogen,
schon nahm die damalige Regierungskoalition
unter Kanzler Helmut Kohl
ein neues Ziel ins Visier: den Umzug
von der alten Hauptstadt in die neue.
Seine Theaterversion vollzog sich im
TamS als Uraufführung. Eine kurze
Zusammenfassung des Autors von
„BONNBERLIN – Deutschland ein
Altenheim“.
Der Vollender der Einheit und sein
Generalsekretär machen sich zu Fuß
auf den Weg in die neue Hauptstadt.
Der Kanzler auf hohen Kothurnen,
der Generalsekretär beladen mit drei
Koffern: dem Grundgesetzkoffer, dem
Orden- und Ehrenzeichenkoffer und
dem Saumagenkoffer.
Rudolf Vogel, von Anbeginn im TamS
mit dabei: als Autor, Dramaturg,
Regisseur, gelegentlich Schauspieler,
und Chronist. Aus seiner Feder stammen
u.a. „Die Eröffnung der neuen
Probebühne der Kammerspiele“, 1991,
„Die Kunst des Schlafens“, 1998,
„Himmel einfach bitte“, 1996.
„Mann bleib am Ball“, ein Beitrag
zur Fußball-WM 1974 und – ein Flop.
Am Technikpult Wolf Jahn.
Der Marsch durch das wiedervereinigte
Land erweist sich nicht gerade
als das reinste Sommervergnügen:
Die Kultur ist im Eimer, der Wald
stirbt, die Verfassung ist aufgeweicht,
Bauern protestieren, Kumpel streiken.
Dennoch: Im unerschütterlichen Bewusstsein
seiner historischen Bedeutung
meistert der Kanzler alle Widrigkeiten
und Fährnisse bravourös.
„BONNBERLIN – Deutschland ein
Altenheim“ hatte seine Premiere
am 25.1.1995. Armin Eichholz in
Die Welt: „Selten so gelacht“
96
BONNBERLIN – Deutschland ein Altenheim 1995, Regie: Anette Spola
Bundeskanzler:
Sie denken mit, Hintze. Das freut mich
preußisch
protestantisch
sozialistisch.
Schlimmer hätte es nicht kommen können.
Bringen Sie mir den Saumagenkoffer.
Stefan Rutz als Bundeskanzler Kohl auf Kothurnen und Axel Meinhard als Generalsekretär Hintze auf dem Weg in die neue Hauptstadt
97
Ins Sprungtuch wird nicht gesprungen
1984, Arp/Vogel, Regie: Philip Arp
Phantasie und Anarchie sind im TamS immer wieder aufs Neue eine glückliche
und fruchtbare Ehe eingegangen. Etwa in dem Hausbesetzerstück „Ins Sprungtuch
wird nicht gesprungen“, in dem Philip Arp und Otto Grünmandl die Hausbesetzer
spielten. Selbst als das Abbruchkommando bereits vor der Tür steht, weigern
sie sich, ihre Wohnung aufzugeben. Und als die Abrissbirne ihre Zimmerwand
durchschlägt, fangen sie sie ein, präparieren sie mit Dynamit und schicken sie
als scharf gemachte Waffe zurück.
98
99
Du hast keine Ausbildung, als
Rudolf Vogel
Wer immer seine Wurzeln im TamS schlägt: Auffällig ist, dass
viele ohne konkrete Karriereabsicht zum Theater kamen. Anfangs
bewegten sie oftmals nur Interesse, Neugier oder die Attraktion der
charmanten Hinterhofidylle. Als Paradebeispiel für das Entstehen,
Wachsen und Gedeihen des Theaters gilt bis heute Eberhard Kürn,
ingeniöser Bühnenbildner und einfallsreicher Ideengeber.
Eberhard Kürn war ein, war DAS
Beispiel für die Ensemblebildung und
-bindung des TamS. Während seiner
Schulzeit in München allabendlich
in den Theatern der Stadt unterwegs
„und deshalb“, schrieb er einmal,
„immer müde und zu spät zur Schule
gekommen. 1972 im TamS hängengeblieben,
hinter den Kulissen als
Techniker, Beleuchter und Handwerker.
Wurzeln geschlagen, hineingewachsen.“
In der Zusammenarbeit mit Philip Arp
entdeckte er seine Begabung fürs
Bühnenbild. Eine, wie sich sehr bald
herausstellen sollte, außergewöhnliche
Begabung. Kaum eine Kritik in
den folgenden Jahren und Jahrzehnten
in denen seine Ideen und deren
praktische Umsetzung nicht ausführlich
gewürdigt wurden. In einer
Inszenierung zum Beispiel sollte ein
motorisiertes Luftschiff völlig geräuschlos
durch den Raum schweben.
Kürn versteckte den summenden Generator
fernab der Bühne und löste
das Übertragungsproblem mittels
einer zwischengeschalteten Scheibenwischermaschine
eines Lkw.
Trotz – vielleicht auch wegen – der
Einschränkungen durch das „Handtuch
von Bühne“ (eine Lieblingscharakterisierung
der Kritik) und
– nicht zu vergessen – der geringen
finanziellen Mittel, die einem kleinen
Theater zur Verfügung stehen, gelang
es Kürn immer wieder, „das Unmögliche
möglich“ zu machen, wie es in
einer Besprechung hieß, eine Ästhetik
zu entwickeln, die, so die Süddeutsche
Zeitung, zum „unverwechselbaren
Markenzeichen des TamS“ wurde.
„Solange“, sagte er einmal in einem
Interview, „ich nicht drei Elefanten
durchlaufen lassen muss, ist alles
machbar.“
nutze sie!
Bühnenbildner
Eberhard Kürn
am Arbeitstisch
Folgende Seiten:
Bühnenbilder von
Eberhard Kürn
Anerkannt und gewürdigt nicht nur
in München. Bühnenbildaufträge in
Dessau, Kiew, Berlin (Ruedi Häusermanns
„Baden zusammen“ an der
Volksbühne). Im Auftrag des Goethe-
Instituts Bühnenbild-Workshops in
Pakistan und Indien. Enger Kontakt
mit Karl-Ernst Herrmann und seiner
Münchner Bühnenbild-Klasse.
1995 in einer Kritikerumfrage von
Theater heute als bester Nachwuchsbühnenbildner
nominiert.
Später stellten ihm die Münchner
Kammerspiele eine eigene Werkstatt
zur Verfügung mit der Aufgabe,
besonders knifflige Probleme zu
lösen, eben: das Unmögliche möglich
zu machen.
S. 226
203 Eberhard Kürn
Abbildungen vorangegangene Seiten
S. 102/103: „Eröffnung der neuen Probebühne“
von Rudolf Vogel, 1991, Regie: TamS-Team
S. 104/105: „Himmel einfach bitte“
von Rudolf Vogel, 1996, Regie: Anette Spola,
S. 106/107: „Geschichten aus dem Wienerwald“
von Ödön von Horváth, 1999, Regie: Gerd Lohmeyer
oben und rechts
„Ein heller Kopf“ von Judith Herzberg, 1995,
Regie: Anette Spola und Michael Greza
Abbildungen folgende Seiten
S. 112/113, 114/115: „er nicht als er“ von Elfriede Jelinek, 2000,
Regie: Gerd Lohmeyer und Ulrike Arnold
S. 116/117: „Die Blusen des Böhmen“ nach Texten
von Robert Gernhard, 1998, Regie: Gerd Lohmeyer
108
110
Thomas Bernhard
„Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“, mit Volker Prechtel und Alexander Duda, 1991, Regie: TamS-Team
111
114
Das Bühnenbild von
„er nicht als er“ war
eine der wichtigsten
Arbeiten von
Eberhard Kürn.
Für eine nicht vorhandene
Unterbühne
entwickelte er eine
raffiniert eingebaute
Hydraulik.
115
Für Eberhard Kürn
Eberhard Kürn starb 52jährig.
Er war Bühnenbildner. Das sagt
zu wenig. Man muß ihn erlebt haben:
Der Bühnenraum war sein Lebensraum.
Der physische Raum war ihm
Gedankenraum. Sein Handwerk,
ausdifferenziert bis ins Feinste,
war ihm eine Art Meditation.
Es ist ein Unterschied zwischen sich
etwas ausdenken und etwas ersinnen.
Eberhard ersann Bühnenräume und
Requisiten. Er verfertigte nicht, bewerkstelligte
nicht – er erwirkte.
Mit einfachsten Mitteln, schlicht handwerklich
verwandelte Eberhard Dinge
und Räume in einen Zustand bodenständiger
Schwerelosigkeit: wieder
eine jener Paradoxien der Rätselhaftigkeit
unserer Lebenswelt.
Eberhard brachte Verborgenes zur
Ansicht, löste Probleme der Technik,
der Versinnlichung stückgerechten
Denkens, ohne daß die Problemlast
das Spiel beschwerte.
Es war, als hätten seine Bühnenbauten
Körpertemperatur.
Und dies über 30 Jahre lang im
kleinen, kargen TamS Theater am
Sozialamt: uns zur Freude, zur kritischen
Besinnung, zum Erkennen
ästhetischer Qualität. Dafür sollten
wir Eberhard danken, posthum,
und traurig uns erinnern:
wie er sich selbstvergessen verlor
und sich selbstgewiß gewann durch
seine wunderbare Arbeit als stiller,
bedächtiger, leidenschaftlicher
Bühnenraumbildner.
Nachruf von F. G. Scheuer
21. Februar 2007
Auf einer gerade einmal viereinhalb Meter tiefen Bühne ist jedes Bühnenbild eine Herausforderung, muss alles aufeinander abgestimmt sein, jeder Zentimeter
genauestens verplant werden. „Ich probiere so viel rum und aus“, sagte Kürn in einem Interview, „dass es immer irgendwie geht. Ich will mich nicht einschränken
lassen von den wenigen Möglichkeiten, die die Bühne hier bietet. Solange ich nicht drei Elefanten durchlaufen lassen muss, ist alles machbar.“
Die Galerie des Hauses
Wolf Jahn
Vor dem TamS war das TamS, genauer die TamS-Galerie.
Ihre Pforten öffnete sie bereits im September 1969, Monate
vor der ersten Theaterpremiere im darauffolgenden Jahr.
Metallfiguren im Hof
von Wolfgang Ellenrieder,
siehe auch Seiten 8/9
und 12/13
Auch wenn es die Galerie in ihrer ursprünglichen
Form als lichter Schauraum
oberhalb der Bühne schon lange
nicht mehr gibt. Dem Konzept der
Ausstellung ist das TamS bis heute
treu geblieben. Den Anfang aber
nahm die Galerie mit bekannten und
gefragten Größen ihrer Zeit. Ausstellungen
von Arnulf Rainer, dem Bildübermaler,
Ernst Fuchs, Vertreter der
Wiener Schule des Phantastischen
Realismus, sowie Otto Ritschl, einem
der Großen abstrakter Kunst in
Deutschland, waren zu sehen. Ebenso
Werke der Jungen, unter anderem von
Friedrich G. Scheuer, der hier 1969
seine erste Einzelausstellung hatte.
Seither zählt er zum engen Kreis des
Theaters, publiziert, malt, hält Vorträge
und unterzieht als geübter Bergsteiger
mit scharfer Nah- und
Fernsicht die Kunst und Phänomene
unserer Zeit einer treffsicheren Analyse.
Zu erwähnen sind schließlich
noch Ivan Steiger und Luis Murschetz,
beide Zeichner und Karikaturisten,
Letzterer auch Kinderbuchautor
(Der Maulwurf Grabowski).
Wie Scheuer zeigten auch sie Kostproben
ihres Schaffens in der TamS-
Galerie im Jahre 1969.
Nach der Kunst ist vor der Kunst. Zunächst
war es Philip Arp selbst, der
die Fortsetzung der Ausstellungen im
eigenen Haus garantierte. Auf die legendäre,
mit allerlei Neuerfindungen
ausgestattete Brezenausstellung von
1972 folgte die mit Komikkeramik.
(S. 126). Wie bereits auf der Bühne
bewies er auch mit diesen kunstvollen
Einfällen sein unnachahmliches Gespür
für die wundersame Belebung
alltäglicher Gegenstände und Nahrung.
Weitere Ausstellungen folgten,
von Malern, Objekt- und Installationskünstlern.
1979, anlässlich der
Aufführung von „Bavaria Loas“ beim
Münchner Theaterfestival, verwandelte
sich der Raum in ein Forschritts-
Lach-Kabinett – mit Crashtest-Dummy
und geschmortem Kassettenrekorder
der Brüder Frank und Bernd Gross.
Mehr als ein Jahrzehnt später reifte
die Idee, den Seestadel am nahe gelegenen
Kleinhesseloher See in einen
Sehstadel zu verwandeln. Es gab also
was zu sehen, auch außerhalb des
TamS. Und zwar eine Fotoausstellung
mit seltenen Einblicken von Bernard
Lesaing in die freie Münchner Theaterszene.
Zugleich erlebte das Publikum
im Sehstadel aber auch eine
ungewöhnliche Theaterinszenierung,
wie Rudolf Vogel zu berichten weiß
(S. 130). Überhaupt: Dem TamS war
das Münchner Außengelände mehrfach
Anlass, dort Kunst oder Kunstverwandtes
zu platzieren, besondere
Skulpturen etwa in Form eines eingefrorenen
Brunnens (1992, Abb. S. 187).
Doch zurück ins TamS und zu seiner
neuen Spielstätte, der Garage im Vorderhaus.
Seit 2012 steht sie für neue
118
120
Bühnenformate, etwa fürs Sommertheater
und Adventstürl offen. Aber
schon vorher wurde hier auch Kunst
gezeigt. Regelmäßig seit 2009 eröffnen
in der Garage Ausstellungen mit
Outsider Art, parallel zum inklusiven
Theaterfestival „Grenzgänger“.
S. 124
Buchobjekt von Künstler
Herbert Biller aus den
1990er Jahren.
Titel: „Der Spion, der aus
der Türe kam. Und in die
Kälte ging.“
Das handgemachte und
mit einem echten Türspion
ausgestattete Buch erzählt
die skurrile Geschichte
eines Kindes, das dank
des Türgucklochs
zur Welt kam.
Erste Einzelausstellung von F. G. Scheuer in der TamS-Galerie, 1969
Ausstellungen Grenzgänger
Regelmäßig seit 2009 eröffnen in
der Garage Ausstellungen mit
Outsider Art, parallel zum inklusiven
Theaterfestival „Grenzgänger“.
Organisiert werden sie vom
atelier hpca, einer Ateliergemeinschaft
von zwanzig Künstlern,
inklusive angeschlossener Galerie
und eigener Kunstsammlung.
Das Atelier betreut das Schaffen
der Außenseiterkünstler und vertritt
ihr Werk durch Ausstellungsprojekte
und Publikationen.
122
123
Zu einer besonderen, ganz im
Geiste Philip Arps ausgerichteten
Ausstellung kam es dann
2014, als sich die Garage in
das „Museum des verlorenen
Glücks“ verwandelte. Als Teil
von Lorenz Seibs Inszenierung
„Competition, Competition!
oder Zum Thema Utopie kommen
wir vielleicht später noch“
gab es besondere Glücksbringer
von Claudia Karpfinger und
Katharina Schmidt zu sehen.
Auf Anregung von Claudia
Lohmann, Autorin des Stücks,
hatten die beiden Bühnenund
Kostümbildnerinnen
neun ambivalente Preziosen
angefertigt. Exponat #2, Motto
„Glück gehabt“, präsentierte
„Die feste Zweierbeziehung“.
Seite an Seite stolzierte sie
auf kitschig schönem Frühstücksteller
und einem
Scherbenhaufen als Fundament.
Museum des verlorenen Glücks
Objekteauswahl (von oben nach unten)
Exponat #5
„Ausgeträumt: Die sichere Anstellung“
Exponat #7
„Hübsche Idee: Der freie Wettbewerb“
Exponat #2
„Glück gehabt: Die feste Zweierbeziehung“
125
Brezissimo!
Rudolf Vogel
Spiel mit Worten, Spiel mit
Objekten, Spiel mit Fiktion
und Realität – in zwei Ausstellungen
vereinte Philip Arp
die Möglichkeiten, seiner
Phantasie Ausdruck zu verleihen,
gewissermaßen in einem
Gesamtkunstwerk. Gedanken
zu Arps subversiven Brezenund
Keramikobjekten.
In der Brezenausstellung (1972) waren
„Brezen von Heute, Morgen und
Gestern“ zu sehen: die Breze zur Zeit
der Völkerwanderung (mit Rädchen
unten), die Völkerschlacht-Breze (mit
Leber- und Blutwurst), die Breze der
NSDAP, die Europa-Breze (zwei verkehrt
zusammengefügte Brezenteile)
sowie diverse erotische Kreationen.
In Person von Prof. Tivoli-Brücke
hielt Arp selbst die Eröffnungsrede.
„Meine Damen und Herren“, wendet
er sich ans Publikum, „es ist mir eigentlich
brezuwider, Ihnen hier genau
zu erbrezen, was jedem Glezen hier
brezten Endes sowieso nicht erst
brezelhart bewiesen werden muss.“
Und so führt er weiter aus, was er erst
kürzlich im Lokalteil der „Brezdeutschen
Breizung“ von „Sosein und
Brezein“, von „Brezentum und Brezismus,
ja sogar von Brezen-Buddhismus“
erfahren habe. Schnell kommt
er zum Ende, nur um festzustellen,
dass „noch lange nicht alles gesagt“
ist. Last, not least folgt eine Empfehlung
für seinen nächsten Vortrag,
„über die Kaisersemmel und ihre
Auswirkungen auf das deutsche
Kulturleben“.
Die Brezen konnte man ihrem eigentlichen
Zweck, dem Verzehr, problemlos
zuführen. Bei den Komikkeramikobjekten
(1973) war die Handhabung
schon schwieriger. Etwa die Bedienung
der Flugkanne: Sie „schwebt“,
laut Arp’scher Gebrauchsanleitung,
„über dem Kaffeetisch. Ein kleiner
Stups befördert sie an den Platz, wo
sie gerade gebraucht wird. Praktisch
vor allem bei großer Tafel.“ Oder
die „Innenhenkeltasse“. Beim Aufstellen
half sie, Platz zu sparen.
Der Henkel war bruchsicher, weil
innen angebracht. Daraus zu trinken
allerdings erforderte schon eine
gewisse Kunstfertigkeit.
126
202
Die Keramikobjekte – das Gleiche
gilt auch für die Brezen – lediglich
als komisch wahrzunehmen, als
Ausgeburt einer überbordenden,
kruden Phantasie zum Ergötzen
des Publikums, wäre zu kurz gedacht.
Mit den nach seinen Vorstellungen
hergestellten Artefakten artikuliert
Philip Arp zugleich in der für ihn
typischen subversiven Art seine
Kritik an den Denkmodellen und
Heilsversprechen seiner Zeit.
Im Fall der Innenhenkeltasse etwa
an den Segnungen der Rationalisierung,
die in den 70er Jahren nicht nur
von Marktliberalen propagiert wurde.
Und führt sie, weil letztlich doch
nicht praktikabel und gegen den
Menschen gerichtet, ad absurdum.
3 Objekte aus der Inszenierung
„Die Originalsprengung“
Ein Sehstadel, wie er leibt und
Rudolf Vogel
Über Bilder einer Über Ausstellung Bilder einer und Ausstellung ihre wundersame Erweckung zum Leben
ihre wundersame Erweckung zum
Leben. Rudolf Vogel führt mitten hinein
in den Sehstadel.
Wir wollen die Leute mit
Charme verführen. Dem
Zuschauer soll ein neuer Blick
aufs Theater eröffnet werden.
Er soll hinter die Kulissen
schauen, soll „den Arbeitsprozess“,
den Theater
darstellt, hautnah miterleben.
Der Zuschauer soll zum
Entdecker werden.
Anette Spola in
einem Interview
Anette Spola und Eberhard Kürn hatten
1995 für das Projekt den Seestadel
im Englischen Garten, einen alten
Bootsschuppen an der Ostseite des
Kleinhesseloher Sees, zu einer Ausstellungshalle
umfunktioniert.
Zu sehen waren 50 Bilder des französischen
Fotografen Bernard Lesaing.
Drei Jahre hatte er für ein Fotobuch
die Arbeit an Münchner Privattheatern
mit der Kamera begleitet.
Auf den ersten Blick also eine Fotoausstellung.
Bei näherem Hinsehen
und längerem Verweilen jedoch ein
theatrales Ereignis, in dem sich die
Besucher – verwundert zunächst,
irritiert, aber auch amüsiert und
zunehmend animiert – als Akteure
eines Schauspiels erlebten.
Während sie von Exponat zu Exponat
gingen, geschah um sie herum allerlei
Sonderbares. Auffällige Gäste mischten
sich unter die Betrachter: ein
erbittert streitendes Pärchen, zwei
schwule Polizisten, die sich heißblütig
und völlig ungeniert anmachten.
Ein Mann, der sich auf einer Bank
ausruhen will, bemerkt sehr bald
einen höchst unangenehmen Geruch.
Ein zweiter Mann, der neben ihm
Platz nimmt, riecht ihn ebenfalls,
mustert den Nachbarn mit äußerstem
Widerwillen und verlässt die Bank.
Des Rätsels Lösung: eine abgestellte
Tasche, vollgestopft mit Schweizer
Käse. Hin und wieder werden Gäste
von zwielichtigen Figuren in Trenchcoats
abgeführt. Ein Aufseher, eine Zigarre
im Mund, fordert rauchende Besucher
auf, das Rauchen einzustellen.
Trat man auf bestimmte Stellen im
Boden, schalteten sich Mikros ein,
die von der Decke baumelten. Gesprächsfetzen
waren hörbar, zum
Teil verzerrt. Orts- und Zeitangaben,
Beschreibungen von Zufahrtswegen
und Parkmöglichkeiten … Wurde
da ein Banküberfall geplant oder
eine Hochzeitsfeier?
130
lebt
An den Querseiten des Stadels hatte
Eberhard Kürn durch Gaze-Leinwände
zwei Räume abgeteilt. Das
Theater wurde auf diese Weise transparent,
gab den Blick frei auf den
Fundus, wo sich Berge von Kostümen
und Requisiten türmten. Immer wieder
fanden sich Schauspielerinnen
und Schauspieler ein, bereiteten sich
auf ihre Auftritte vor, wechselten die
Kostüme, memorierten, schminkten
sich, probierten Haltungen – Lesaings
Bilder erwachten vor den Augen der
Betrachter gewissermaßen zum
Leben. Es war ein Spiel in und mit
dem Theater, seinen Grenzen und
Entgrenzungen, Verzauberungen und
Ernüchterungen. Von Beginn an gehört
es zur DNA des TamS und seinen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Die Dienstleister
Knapp am finanziellen Ruin vo
Rudolf Vogel
Dienstleistungsgesellschaft – ein Wort, das herumspukte, als
die Furcht vor Rationalisierung und dem Verlust traditioneller
Arbeitsplätze um sich griff. Nur keine Angst, hieß es beschwichtigend.
Denn nun kommt sie, die neue Gesellschaft,
und wir alle werden zu Dienstleistern. Vorbildlich wurde sie
im TamS anno 1993 in Szene gesetzt. Eberhard Kürn lieferte
die Idee, Anette Spola führte Regie.
Wie lässt sich das kulturelle Angebot,
das Tag für Tag, Nacht für Nacht den
interessierten Münchner lockt und
fordert, auch nur annähernd bewältigen?
Was ist verzichtbar, was ein
„Kann“, was ein „Muss“ für sie oder
ihn, wollen sie im Kreis Gleichgesinnter
als kompetente Gesprächspartner
wahrgenommen werden? Und
was könnten sie mit den Stunden, die
sie in einer für ihren Geschmack völlig
langweiligen Vorstellung absitzen,
alles anfangen, erleben, genießen,
erledigen? … Fragen, die bereits vor
30 Jahren den Kulturkonsumenten
beschäftigten und quälten.
Mit seinem Stück „Die Dienstleister –
oder: Die Errettung des Publikums
vor dem Theater“ gab das TamS darauf
eine allseits zufriedenstellende,
letztendlich gültige Antwort: In knapp
zwei Stunden wurden die Highlights
aus sämtlichen Münchner Theaterproduktionen
(an großen wie an kleinen
Häusern) in videogerechter Kurzfassung
dargeboten. Ein elektronisches
Laufband über dem Vorhang teilte
den Zuschauern die Zeitersparnis mit.
Dazu Börsennotierungen, der Wetterbericht,
Verkehrsaufkommen, Lottozahlen.
Unter das Publikum mischten
sich Anwälte, Frisörinnen, eine
Sprecherzieherin, Steuerberater,
Schuhputzer, Diätberaterinnen, ein
Beichtvater, Anlageberater, Zahnärzte,
Tourismusexperten und boten
ihre Dienste an, die Abend für Abend
gerne in Anspruch genommen wurden.
Auf einer Rampe quer durch den
Zuschauerraum zeigte eine Modenschau
die neuesten Kreationen. Eine
Jazzband marschierte ein und sorgte
zusätzlich für Stimmung.
„Ein beherzt kabarettistischer Theaterabend“,
urteilte Der Spiegel, „der
den Zuschauerraum zum kleinen Horrorladen
der spätkapitalistischen Service-Gesellschaft
umfunktioniert.
Parallel zum Konsumterror im Parkett
servieren die Künstler ein Potpourri
aus Höhepunkten des Münchner
Theaterlebens: gerade genug, um
mitreden zu können beim Party-
Smalltalk.“
Das TamS hätte dieses Stück monatelang
vor ausverkauftem Haus spielen
können und sich damit – auf der
Bühne waren mehr gagenberechtigte
Akteure zu sehen als Zuschauer im
Publikum – mit absoluter Sicherheit
in den finanziellen Ruin gespielt. Eine
Erfolgsstory, die so auch nur im TamS
möglich gewesen wäre.
134
rbei
„Unter das Publikum mischten sich Anwälte, Frisörinnen, eine Sprecherzieherin, Steuerberater,
Schuhputzer, Diätberaterinnen, ein Beichtvater, Anlageberater, Zahnärzte, Tourismusexperten und
boten ihre Dienste an, die Abend für Abend gerne in Anspruch genommen wurden.“
135
Mein erstes Mal
Maria Peschek
Erinnerungen von Autorin
und Schauspielerin
Maria Peschek an ihren
denkwürdigen und
turbulenten TamS-Einstand –
eine Fetzengaudi und ein
großartiges Theaterereignis.
Wenn ich an die „Dienstleister“, das erste
TamS’sche Theaterstückl, in dem ich mitspielte,
denke, ist mir ein Zitat aus meiner
Polt-Rede noch präsent: „Welcher Deutsche
kann sich noch einen Deutschen
leisten.“ Und ich sehe mich als einen der
Väter von „Romeo und Julia“ mit Volker
Prechtel oder alternierend mit Aurelio
Ferrara in einem erbitterten Schwertkampf,
um mich dann sterbend auf dem
Boden zu wälzen.
Vermutlich habe ich diese Idee als Herausforderung
angenommen: die Zuschauerblicke
auf mich zu ziehen, egal was im
Zuschauerraum grad für eine Dienstleistung
stattfindet.
Schauspieler überschätzen sich ja gern.
Ich erinnere mich an hektische, turbulente
Umzüge im Foyer und in der Winzgarde-
Anette Spola hatte mich mit der Frage
„Kannst du den Polt nachmachen?“ zur
Mitarbeit an einem Theaterabend geködert.
Aus allen möglichen Münchner
Erfolgsstücken, die zurzeit angesagt
waren, sollten Ausschnitte oder Szenen
gezeigt werden. Auch aus der Inszenierung
„Tschurangrati“, damals der Renner
an den Kammerspielen. Bekanntlich ein
Polt-Stück, womit sich Anettes Anfrage
geklärt hatte.
Während die Schauspieler auf der Bühne
agierten, sollten parallel dazu im Publikum
Dienstleistungen angeboten werden.
Als Schauspieler(in) wünscht man sich in
der Regel ein Publikum, das gefesselt und
gebannt den Blick zur Bühne richtet und
nicht durch irgendwelche Aktionen im
Zuschauerraum abgelenkt wird. Man neigt
schon dazu, die Husterer und Räusperer,
die Handtaschenkramer und Bonbonauspapierler
zu fürchten. Nicht zu vergessen
die Zuspätkommer mit ihrem tollpatschigen
Gerumpel und ihrem geflüsterten
Entschuldigungsgezischel. Solche Störungen
aber bewusst mit zu inszenieren,
quasi zur Kunstform zu erheben, ist
eigentlich eine schauspielerfeindliche
Angelegenheit.
robe und abenteuerliche Bühnenumbauereien.
Das Spektakulärste war ein von
Eberhard Kürn ersonnener Laufsteg für
eine Modenschau, der plötzlich im Zuschauerraum
eingerichtet war und –
Simsalabim – ebenso schnell wieder
verschwand.
Sicherlich waren die Proben anstrengend
und mühsam. Und sicherlich mussten
viele Probleme bewältigt und zwischenzeitliche
Verzweiflung aus dem Weg geräumt
werden. Bestimmt wird das so
gewesen sein bei der Anzahl der Mitwirkenden:
dreißig Schauspieler und etwas
weniger an Dienstleistern. Doch davon
weiß ich nichts. Ich weiß nur von viel Gelächter
schon während der Proben. Und
wie sich aus dem Chaos eines zum anderen
fügte, sodass am Ende für alle eine
Fetzengaudi und ein großartiges Theaterereignis
herauskamen.
Maria Peschek mit Aurelio Ferrara in einem erbitterten Schwertkampf in „Romeo und Julia“
Kapitel
III
Die Spola S. 140
Weltstadttheater S. 144
Gesichter eines Theaters S. 162
TamS und sein Publikum S. 176
M
wie
MANCHE
mögen's TamS. Ein Kommen und ein Gehen
Wer kam, wer blieb, wer anfing
Die Spola
Rudolf Vogel
1981 inszenierte Philip Arp am TamS
Karl Valentins „Firmling“. Er spielte
den Vater, Anette Spola den Bepperl.
Nein, sie spielte ihn nicht, sie war der
Bepperl. Und das Erstaunliche war
nicht, dass sie, bereits in den Vierzigern,
den Bepperl „so glaubhaft verkörperte“,
wie es in der Kritik hieß,
das Erstaunliche war, dass niemand
im Publikum darüber erstaunt war.
Das im „Firmling“ leitmotivisch wiederkehrende
Lied „Schön ist die Jugend,
sie kommt nicht mehr“ schien
in seiner zweiten, melancholischen
Aussage für Anette als Darstellerin
und als Person außer Kraft gesetzt.
Das gilt (für mich) bis heute.
Jung bleiben heißt ja nichts anderes
als: neugierig bleiben, anarchisch, experimentierfreudig.
Heißt, die Freude
am Spiel, die Lust am Spielen nicht
zu verlieren. Eine Gabe, die Anette in
besonders reichem Maß zuteilwurde
und die das gemeinsame Ausdenken,
Erarbeiten und Proben so anregend,
mitunter auch so anstrengend macht.
„Im Spiel“, hat sie einmal geschrieben,
„darf ich über zensierte Abmachungen
hinausgehen, ich muss es
sogar. Im Spiel darf ich das Lebendigsein
erfahren. Im Spiel darf ich alles.“
Darf ich also auch – wie ein Kind –
ein Gebäude, das ich gestern errichtet
habe, heute wieder einreißen und neu
zusammensetzen. Das ist naturgemäß
nicht jedermanns Sache. Schon gar
nicht, wenn dieser Jedermann ein
Schauspieler ist, der bereits bei der
ersten Leseprobe wissen möchte,
durch welche Tür er bei der Premiere
auftreten soll. Seines Bleibens am
TamS war denn auch nie sehr lange.
Spontaneität, Freiheit zuzulassen, ja
zu fordern, ohne den großen Bogen
aus dem Blick zu verlieren …
die Authentizität des begabten Amateurs
mit der Darstellungskunst des
erfahrenen Profis zu verbinden ...
die Balance zwischen bewusstem
Unfertiglassen und akribischer Arbeit
am Detail zu finden – in diesem
Spannungsfeld bewegt sich Anette
Spola als Regisseurin und als Schauspielerin
mit intuitiver Sicherheit.
Viele, die in den ersten 50 TamS-
Jahren bereit waren, sich auf dieses
immer wieder neue Abenteuer einzulassen,
haben ihr viel zu verdanken.
Der dies schreibt, weiß das selbst
am besten.
140
203 Anette spola
Fünfzig Jahre Anette Spola
Also doch erst fü̈nfzig.
Irgendwann hieß es mal achtzig.
Aber das hat sowieso keiner geglaubt.
Die und achtzig.
Und dafü̈r so ein Tam Tam.
Das TamS, also Anette, gibt’s seit fü̈nfzig Jahren.
Was davor war, weiß ich nicht.
Ob es sie da auch schon gegeben hat.
Ohne TamS halt.
Aber das wäre dann ja eh nicht so wichtig.
Also fü̈r mich nicht.
Mich interessiert nur das TamS.
Und das auch nicht wirklich seit fü̈nfzig Jahren.
Da war ich ja erst acht.
Da wusste ich noch gar nicht, was ein TamS ist.
Heute weiß ich’s zwar,
aber erschrecken tu ich trotzdem jedes Mal.
Weil’s halt so verdammt klein ist.
Jedes Mal wenn ich reinkomme, denke ich:
Scheiße, so klein hatte ich’s gar nicht in Erinnerung.
Und wenn ich dann rausgehe, denk’ ich jedes Mal: So groß!
Dass die sich immer wieder an meine Texte rantrauen,
ehrt mich, und freut mich, und ermutigt mich,
ewig weiterzuschreiben. Also was heißt ewig.
Noch fü̈nfzig Jahr halt oder so.
Wenn das TamS mal wahnsinnig viel Geld kriegt,
von einem Spender oder Lotto oder irgend sowas,
dann sollen die als Erstes die Schauspieler-Garderobe vergrößern!
Die finde ich wirklich eine Zumutung.
Fü̈r die Schauspieler und -innen.
Ein Wunder, dass die sich nicht schlagen. Obwohl.
Zum Sichschlagen ist da drin gar kein Platz.
Nicht mal ein eigenes Klo haben die. Das muss man
sich mal vorstellen. Da scheißt man sich fast in die Hose
vor Aufregung, und um ebendas zu vermeiden,
muss Mann und Frau voll verkleidet durchs Foyer
latschen und sich blöd anquatschen lassen oder
so tun, als wär man gar nicht da.
Aber mich geht’s ja nix an. Solange die meine Texte sprechen …
142
eine Hommage
an die Prinzipalin von TamS-Autorin Beate Faßnacht
Eine Heizung wäre auch nicht schlecht. Also wenn das
mit dem Spender oder dem Lotto was wird.
Während der Proben ist es nämlich – je nach Jahreszeit –
arschkalt. Bei den Vorstellungen geht’s eigentlich.
So gesehen …
Das TamS ist klein. Aber es sind ziemlich viele.
Mit Lorenz Seib hat die Spola genau den Richtigen gefunden.
Vor allem für mich. Also für meine Texte, meine ich.
Da ist sie eh gut drin. Im Die-Richtigen-Finden.
Richtig schlechte Schauspieler hab’ ich im TamS
eigentlich noch nie gesehen.
Eine schlechte Ausstattung erst recht nicht.
Was das TamS sich da für eine Crew aufgebaut hat ...
da müssten viele Theaternasen sie drum beneiden.
Also solche, die vielleicht größere Künstler-Garderoben haben
oder sogar eigene Künstler-Toiletten.
So wie im TamS wird es nie irgendwo sein.
Für mich nicht und für sonst auch niemanden.
Ich bin froh ums TamS.
Gut, dass es so klein ist. Es nimmt einem die Angst.
Wenn’s schiefgeht, kriegen es grad mal siebzig Nasen mit.
Ansonsten brummt die Bude und es ist immer
ziemlich schnell ausverkauft. Wie gesagt: siebzig Nasen halt.
Wegen mir kann’s noch lange so weitergehen.
Vor fünfzig Jahren war ich acht.
Ich erinnere mich an schlaflose Nächte,
weil eine innere Stimme damals immer wieder
zu mir gesprochen hat:
„Sei wachsam, Beate! In München passiert grad was ganz
Besonderes. Da entsteht ein winzig kleines Theater,
so klein wie du ungefähr.
Aber dort kommst du,
wenn du mal groß bist, vielleicht noch mal ganz groß raus.
Die Stimme sollte recht behalten.
In tiefer Dankbarkeit für all die Liebe und Treue und
das Vertrauen, das ich im TamS erfahren durfte.
Vom Spaß mal ganz abgesehen.
Herzlichst
Beate Faßnacht
143
Weltstadtprogramm mit Loka
kolorit
Klänge, Wut und Riesenblödsi
Wolf Jahn
Im Süden beheimatet, im Herzen weltoffen.
Wo sich Lästern über Gott und die Welt ausgeht.
Mit Autoren, die wissen, wie und worüber man spricht.
Von Handke bis Polt.
Vielleicht zählt es zu den Eigenarten
nicht nur des bayerischen, sondern
allgemein des deutschen Sprachraums
im Süden, dass in ihm ein besonderer
Humus für Spielwitz im Ernsten wie
im Komischen gedeiht. Und ein ebensolcher
für Experimentelles und
Schwellenthemen. Auffallend ist, dass
dem TamS mit Thomas Bernhard und
Peter Handke, den Österreichern,
Ruedi Häusermann, dem Schweizer,
den Bayern Karl Valentin, Gerhard
Polt und Anton Prestele sowie dem
Franken Fitzgerald Kusz ein gewisses
südliches Flair zu eigen ist. Von anderen
Südfrüchten, von Philip Arp bis
Urs Widmer ist an dieser Stelle gar
nicht zu reden.
Doch sei jeglichem Protest umgehend
stattgegeben. Ein Heimatstadl ist das
TamS deswegen nicht. Wohl aber gibt
es Heimatklänge, wenngleich verfremdete,
laute, sanfte und aufmüpfige
gemischt mit klassischen Tönen
und Obertönen, konterkariert mit
Alltagsgeräuschen und getragen von
praktizierter Kenntnis internationalzeitgenössischer
Musik. Auf ihre
persönliche und voneinander sehr
unterschiedliche Weise repräsentieren
diese Bandbreite Ruedi Häusermann
und Anton Prestele. Dem Ersten war
das TamS Sprungbrett in seine anschließende
Karriere von Basel
über Wien bis Berlin. Und es war
ihm Bühne für seine theatralen,
poetischen, zugleich von subtilschweizerischer
Ironie getragenen
Improvisationen. Den Zweiten bereicherte
es um eine weitere Spielstätte
nach etlichen Ehrungen und Aktivitäten
als Komponist, Regisseur und
Interpret, von Graz bis zur Nordsee.
Für das TamS inszenierte und komponierte
er vieles, 2012 etwa „Birnbaum
so blau Juchhe“, ein Musikschauspiel,
inklusive Geigen und DJ.
Und seit 2017 leitet er nicht nur
musikalisch das Theater Apropos.
Was den südlichen und deutschen
Sprachraum auszeichnet, gründet in
seiner lustvollen Zuspitzung von
146
nn
Der österreichische Kabarettist,
Schauspieler und „Meister des höheren
Blödsinns“ Otto Grünmandl
wirkte in zahlreichen Stücken des
TamS mit. Zusammen mit Philip Arp
oder mit eigenem Soloprogramm
sorgte er für heitere Sternstunden
des Theaters.
Gegensätzen, seiner metaphernreichen
Alltagssprache und seinem Mut zur
Schimpftirade. Ob Polts „Kinderdämmerung“,
das Vorurteile der Erwachsenen
ins Kindsein projiziert, oder ob
Kusz in „Höchste Eisenbahn“ zwei
ältere Schwestern zum Schlagabtausch
bittet: Das sprichwörtliche
Blatt vor dem Mund verwandelt sich
hier in entwaffnende Komik, in sarkastisch-schonungslose
Abrechnung
oder in kalkuliert blinde Wut, wie sie
auch für Thomas Bernhards und Peter
Handkes Stücke bezeichnend sind.
Länger schon als Bernhard ist Karl
Valentin tot. Was aber nicht heißt,
dass man ihn nicht modern spielen
kann, wie 1996 in „Weltuntergang–
Riesenblödsinn“ mit zeitgemäßen
Versionen einiger seiner bekanntesten
Stücke. Darin erlebte Valentins Buchbinder
Wanninger seine unerwartete
Umwandlung in den arabischen Arun
Al-Wanning. Seiner telefonischen
Verstrickung ins behördliche
Unwesen hat das wenig genutzt.
Auch Al-Wanning scheitert an modern-paradoxer
Kundenabfertigung
am Telefon.
„Nicht auf Brettl-Niveau“, urteilte
der Bayerische Rundfunk über diesen
„Riesenblödsinn“, werden bekannte
Valentin-Texte „getrimmt, sondern
das Hintergründige wird nach außen
gekehrt – ganz wie der Autor es
immer gemeint hat.“ Und ganz so,
wie auch das TamS mit seinem
„Weltstadtprogramm“ alles Heimatliche
stets zurück auf Psyche und
Un-Sinn des modernen Lebens führt.
147
Ruedi Häusermann
Beginn einer Karriere:
Bevor der Schweizer
Ruedi Häusermann große
Erfolge auf europäischen
Bühnen feierte, startete er
im TamS mit „Baden zusammen“.
Eine Musikcollage
aus Geräuschen,
Klängen rund um das
Wasser, von der Blubbersprache
der Karpfen bis
zum Gurgeln ablaufenden
Wassers.
148
Und noch ein besonderes Erlebnis möchte ich nennen: das Stück
„Baden zusammen“ von Ruedi Häusermann. Es wurde ebenfalls im
TamS uraufgeführt (1991). Ich habe noch eine Tonbandkassette, die
man für ein paar Mark erwerben konnte. Auf ihr sind Wassertropfen,
ungewöhnliche Geräusche und ein merkwürdiger Gesang zu hören,
der von zwei französisch sprechenden Katzen stammen könnte.
Barbara Wehr
149
Anton Prestele
150
Birnbaum so blau Juchhe 2012, Regie: Anton Prestele
2012 entwickelte Anton Prestele für das TamS die Musiktheater-Komposition „Birnbaum so blau Juchhe“.
Das bekannte Volkslied diente ihm als Vorlage für eine groteske Ballade über den Lebenszyklus von der Wiege bis zur Bahre.
151
Thomas Bernhard
Ausgewandert
Schon sein Vater, ein Bäckergeselle aus dem
Mölltal, der mit meinem Vater in die Schule
gegangen ist, war in seinem Leben mindestens
zwanzigmal aus Kärnten in die Steiermark
ausgewandert und immer wieder aus
der Steiermark nach Kärnten zurückgekehrt,
bis er endlich in Kärnten seine Ruhe gefunden
hat, in Arndorf bei Sankt Veit an der
Glan, wo er sich in der alten Schmiede, die
sein letztes Quartier gewesen war, aus Heimweh
nach der Steiermark, an einem eisernen
Haken erhängt hat, ohne, wie ihm damals
und noch lange nach seinem Tod vorgeworfen
worden war, an seine Frau und an seine
Kinder zu denken.
Aus: Thomas Bernhard Der Stimmenimitator
152
Vom Schlimmsten das Beste 2011, Regie: Lorenz Seib
mit Sophie Wendt und Lorenz Claussen
153
Peter Handke
154
Untertagblues
2007, Regie: Burchard Dabinnus
mit Jörg Hube, Sarah Camp und dem Musiker Ardhi Engl
Tiraden gegen Politik, Mitmenschen und Wirtschaft, Wut gegen Rollkofferfahren
und alles, was sich bewegt.
Anette Spola: „Für mich kam nur Jörg Hube für die Besetzung in ‚Untertagblues‘
in Frage, ohne mit seiner Zusage rechnen zu können. Aber Überraschung.
Aus Freundschaft und großem Interesse an dem Stück kam sie. Es war Hubes
letzte große Rolle. Ich bin ihm bis heute dankbar.“
155
Karl Valentin
Weltuntergang – Riesenblödsinn
1996, Regie: Anette Spola und Gerd Lohmeyer
Ungewohnte Perspektive auf Valentin: Dieser Geniestreich gelang Bühnenbildner Eberhard Kürn mit seiner
Verlagerung von Valentins Stücken in die Wüste. Der vertraut kleinbürgerlichen Umgebung entkleidet,
wurden seine Figuren in ihren tragischen wie komischen Dimensionen neu erfahrbar.
156
157
Fitzgerald Kusz
Sooch halt wos
1986, Regie: Gerd Potyka
Streitgespräche auf Fränkisch mit
Elisabeth Welz und Dieter Augustin
158
Gerhard Polt
Gerhard Polt, Lorenz Claussen, Ruedi Häusermann (v.l.n.r.)
Kinderdämmerung
1995, Regie: Anette Spola
Szene mit Gerd Bumeder (links) und Stefan Rutz
159
Großes kleines Haus
Michael Wachsmann
Das alte Brausebad im Hinterhof der Haimhauserstraße wird nicht gewusst haben, wie ihm geschieht – und was –, als es
vor 50 Jahren gefunden wurde, ohne dass es einer gesucht hätte.
Daraufhin wurde es von den Findern heimgesucht: mit einem blitzartigen Überfall. Es erlebte Hordenangriffe mit blanker
Faust und Spitzhacke, erlitt Hammerschläge, Bohrungen, Nagelungen, woraus schwere innere Verletzungen an Fundament
und Wänden bis hinauf zum Oberstübchen resultierten, die mit Beton-, Blech-, Holz-, Wasser- und Elektroleitungsimplantaten
glücklich (mehr oder weniger) kaschiert wurden.
Von außen merkte man ihm davon nicht viel an: Was sich da abgespielt hatte, war ja keine Schönheits-OP, sondern
schöpferischer Entkernungsvandalismus. Aber drinnen war es nun ein Theater.
Nun brauchte das Kind noch einen Namen.
So unbekümmert Gründungsvater und -mutter beim Haus-Innenabriss-und-Ausbau vorgingen, so unbesorgt hielten sie es
auch mit der Taufe. Es waren ja schwer programmatische Zeiten damals, und neue Gruppen schwenkten, um Gehör und
Zuschauer und Publizität zu finden, Fahnen, auf denen „Kollektiv“ oder „Action“ oder „Anti“ zu lesen war: raus aus
dem Hörsaal, raus auf die Straße. Wie legitimiert, wie positioniert man sich da, wenn man nicht aus dem Elfenbeinturm
kommt, sondern längst schon von der Straße, weil man da Theater gemacht hat?
Man schaut sich um im Viertel. Und wird fündig. Ums Eck ist eine Behördenzweigstelle der Stadt; nach der nennt man
das Theater, nicht ohne List. So trägt man das Soziale im Namen, auch wenn’s ein eher geographisches Bekenntnis ist,
und erhebt sich damit über jeden Verdacht, gesellschaftlich womöglich nicht relevant zu sein.
So ist diese Frage, die soziale, ein für alle Mal abgehakt: Für Relevanz war im Namen gesorgt, da konnte das Schifflein selber
unter dem Schutz der ja nicht einmal ganz falschen Flagge – schließlich lag man, wenn einem auch am Sozialen nicht viel lag,
immerhin doch am Sozialamt – kreuz und quer in der Welt der Wörter, Zeichen und Töne herumfahren, wie es der Wind blies,
und wie es Arp und Spola gefiel. Und einfiel.
Und eingefallen ist ihnen viel.
Relevant war das nie. Eigensinnig und eigen immer, oft vollendet geglückt, wenn es den selbstgesetzten eng begrenzten
Raum- und Bühnenrahmen mit Spiel, Sprache, Bild, Licht und Musik vollkommen zu erfüllen vermochte, wenn sich Poesie,
Witz und Geist mit einfach raffinierten, phantastisch erdachten und ingeniös konstruierten Bühnenraumwundern kreuzten.
Und auch im Scheitern – ja, das gab es freilich ebenfalls, das kann Kleinbooten genauso zustoßen wie Großtankern –
scheiterte das TamS immer tamsisch, also nie falsch tönend, oder blöd, oder routiniert.
Und selbst dann oftmals noch: besser als der Besuch.
160
Wozu noch bemerkt werden muss: Die Reiz-, die Ärgerschwelle des Betrachters liegt hier deutlich höher, als wenn man künstlerischen
Katastrophen an den großen Häusern beiwohnt. Und zwar nicht, weil es hier einen herablassend gewährten
Mitleidsbonus zu verteilen gäbe: Nein, denn der selbstgestellte Anspruch ist, egal in welchem Rahmen, hier wie dort immer
absolut. Sondern weil man in Oper wie Schauspiel oft vor Geld den Geist nicht sieht: Da wird aus dem Vollen geschöpft, in
die Vollen gegangen und geschmissen mit allem, was man hat, und das ist sehr viel. Wenn der künstlerische Ertrag dann sehr
wenig ist, regt sich über der Diskrepanz schnell Zorn und Verzweiflung. Da ist einem im Misslingensfalle dann Kongruenz der
Mittel und des Ertrags bedeutend lieber.
Wie wichtig, wie gut, dass es Subventionen gibt, für die Großen (zu?) viel („Die Ausstattung der Theater ist in Deutschland
glücklicherweise nach wie vor so gut, dass man auf das zahlende Publikum nicht angewiesen ist“, sprach ein Großregisseur),
für die Kleinen (immer zu) wenig: materieller Ausdruck eines (kleinen) kommunalen (oder staatlichen) kulturellen schlechten
Gewissens. Es erleichtert sich, indem es honoriert, was es selbst (sich) nicht leisten kann, nicht will und auch nicht muss:
den Wert, der im Unverwertbaren liegt.
Aber Subvention schafft nicht Geist.
Für den muss ein Haus schon selber sorgen (selbst wenn seine Bestuhlung aus einem der – ehemals – ersten Schauspielhäuser
des Landes stammt).
Und dies Haus hat einen: Der von Philip Arp ist es, der dort herumspukt.
Und Anette Spola ist es, Münchens, Bayerns, Deutschlands, der Welt (?) längstgediente Prinzipalin, die ihn mit Liebe, Verstand,
Herz und ohne Sentimentalitäten leichthändig und schwer arbeitend beschwört.
Deswegen gibt es das TamS immer noch. Das nennen wir tätigen Denkmalschutz, auch wenn das Haus inzwischen sowieso
unter Denkmalschutz steht.
Und es heißt immer noch so, auch wenn es längst kein Sozialamt mehr gibt, an dem es liegen könnte. Das wiederum liegt
daran, dass das Kürzel von Anbeginn an nichts als eine Schutzbehauptung war. Hinter dem Schutz dieser Behauptung nämlich
versteckte sich die wahre Bedeutung dieser vier Buchstaben. Sie ist ganz einfach, und sie blieb Programm:
T heater
A rp
M it
S pola
Und für die Zukunft: Mit S eib
Und S eele
Gesichter eines Theaters
Wolf Jahn
50 Jahre TamS. Aber wie viele Gesichter?
Ein Versuch, die Skizze eines TamS-Porträts mit einigen
Porträts seiner zahllosen Gesichter zu zeichnen.
Vom Theater, im Besonderen vom
dramatischen heißt es, es habe zwei
Gesichter, ein ernstes und ein lachendes.
Das erste gehört der Muse Melpomene,
das zweite ihrer Schwester
Thalia. Beide zählen ebenso zum
festen Inventar des TamS. Deutlich
erkennt man sie der Prinzipalin
Anette Spola auf ihrem ganz dem
Theater gewidmeten Porträt zugeordnet
(S. 141). Es sind Masken, hinter
denen sich unendlich viele Gesichter
verbergen. Von einer solch schier unendlichen
Zahl an Gesichtern, Individuen,
Schicksalen, von ihren unterschiedlichsten
Gaben und Fähigkeiten
erzählt auch die fünfzigjährige Geschichte
des TamS plus die Zeit seiner
Vorgeschichte. Aber wie es unmöglich
ist, alle Namen zu kennen und
zu nennen, zu erinnern, schließlich
korrekt zu schreiben, so ist es ebenso
unmöglich, sie alle im Bilde zu
zeigen. Wie gut, dass es die beiden
Masken gibt. Sie sind die Einzigen,
die alle zeigen.
Von allen Gesichtern, den bekannten
wie unbekannten, ihren kleinen und
großen Geschichten, haben wir, das
TamS, einige ausgewählt. Weder von
Absicht noch von Beliebigkeit, jedoch
von Kriterien geleitet. Kriterien,
die einen kleinen Querschnitt erlauben.
So zeigen sich Gesichter, die bekannt
wurden oder bekannt waren, als
das TamS mit ihnen oder umgekehrt
sie mit ihm erste Kontakte aufnahmen.
Gesichter, die Spiel und Bild des
Theaters prägten und prägen, Gesichter,
die emsig hinter und vor den Kulissen
agieren, und solche, die wir in
guter Erinnerung behalten. Sie stehen
stellvertretend für alle anderen, die
hier nicht im Bilde auftauchen. Und
die uns verzeihen mögen, sie nicht
berücksichtigt zu haben. Aber nach
dem Jubiläum ist vor dem Jubiläum.
Spätestens dann klappt’s! Bestimmt!
162
163
Du musst nicht dramatisch spie
Friederike Frerichs
Wie viele andere spülte auch
Friederike Frerichs der Zufall
auf die Bühne des TamS.
Als 24-Jährige hatte die Tochter
einer Handwerkerfamilie
eine besondere Begegnung
mit Anette Spola und ihrem
Mann Philip Arp in einem
Münchner Buchgeschäft.
Heute lebt und arbeitet die
ehemalige Buchhändlerin als
erfolgreiche Schauspielerin
in Berlin.
… über ihre erste Begegnung mit
Anette Spola in der Buchhandlung
GIELOW, einem verrückten, vollgestopften
kleinen Laden in der
Theatiner-Passage
„Wir hatten ein großes Sortiment an
Theater- und Filmliteratur, Comics,
viel über Ballett, außerdem Pornos.
Alle Theater- und Filmleute kauften
dort ein: Tabori, Fassbinder, Syberberg
... Anette Spola und Philip Arp
gehörten ebenfalls zu unseren Kunden.
Bei einem ihrer Besuche hat
Anette mich dann überredet, mit
ins TamS zu kommen, zum Putzen.
Das habe ich dann gemacht.“
… über die freie Theaterszene im
München der 70er Jahre
„Man darf nicht vergessen, diese siebziger
Jahre, diese Nach-68er-Ära war
in München eine ganz spezielle, wilde
und unbürgerliche Zeit. Damals gab
es viel Sympathien für kleine Theater.
Die kleinen waren zu der Zeit auch
tausendmal besser als die großen
Theater. Experimentierfreudiger.
Mutiger. Frecher. Das, was heute die
Großen machen, haben damals kleine
Theater wie das TamS geschafft.“
… über Philip Arp als Lehrer und ihr
erstes Engagement als Schauspielerin
„Philip Arp wollte mich zum Spielen
animieren. Das habe ich zunächst
komplett verweigert. Dann musste ich
aber bei seiner Lewis-Carroll-Show
als Technikerin kurz auf die Bühne –
ich brachte ein weißes Kaninchen.
Bei diesem Auftritt hab ich Blut geleckt.
… Und im ersten oder zweiten
Jahr habe ich schon einen Soloabend
gemacht, über fünfzig Mal alleine
gespielt: Friederike Frerichs spielt
Friederike Kempner. Friederike
Kempner war eine Lyrikerin des
19. Jahrhunderts, die Gedichte voll
Pathos und unfreiwilliger Komik
fabriziert hat. Und der Arp hat einen
‚ergötzlichen Abend‘ über diese
Dame entwickelt. Und jeden Abend
hat er mir einen Zettel mit Kritik in
der Garderobe hinterlassen. … Er hat
mich richtiggehend erzogen. … Einen
Satz von ihm habe ich nie vergessen:
‚Du musst nicht dramatisch spielen,
du bist schon dramatisch.‘“
aus: Interview von Raphaela Bardutzky
166
len, du bist schon dramatisch
Friederike Frerichs in „Friederike Kempner. Ein ergötzlicher Abend“, 1975, Regie: Philip Arp
167
Was für ein gigantischer Ort!
Katharina Schmidt
und ihrer Assistentin die Bühne gebaut.
Das war 2007, bei der Produktion
‚Marsch! Vorwärts ins Theater!‘
Einem Stück von Maria Peschek.“
Seit mehr als zehn Jahren
kümmert sich Katharina
Schmidt um das Kostüm auf
der TamS-Bühne. Zusammen
mit Bühnenbildnerin Claudia
Karpfinger hat sich dort ein
erfolgreiches Duo etabliert.
… über ihre Anfänge im TamS
„Nach dem Abitur habe ich mich bei
Anette Spola für ein Praktikum vorgestellt.
Um auszuprobieren, ob
Bühne und Kostüm was für mich sein
könnten. Monate später habe ich dann
eine E-Mail bekommen, in der die
zwei entscheidenden Fragen standen:
Ob ich Bayerisch spreche und ob ich
mit einem Besen umgehen kann. …
Überhaupt putzen. Ich habe in diesem
ersten Praktikum einfach alles gemacht.
Geputzt, Kaffee gekocht, in
schlechtem Bayerisch souffliert, mit
Bühnenbildnerin Claudia Karpfinger
… über einen kurzen Ausflug zum
Staatstheater und ihre Rückkehr
ins TamS
„Im Anschluss habe ich noch am
Gärtnerplatz ein Praktikum gemacht.
Im Staatstheater. Wo ich nichts durfte.
Stattdessen saß ich in diesem großen
Saal und wusste im Hinterkopf, die
Claudia nagelt, schraubt, bohrt und
schwitzt jetzt allein auf der Bühne
und könnte meine zwei Händchen
schon brauchen. Da hab ich richtig
gemerkt, ich hab Lust auf die freie
Szene. Ich hab Lust, alles selbst herzustellen
und mich einzubringen.“
… über die wunderbare Zusammenarbeit
mit Claudia Karpfinger
„Claudia hat mich wirklich sehr, sehr
herzlich aufgenommen. Wir haben
uns gesehen und sofort gemocht. Sie
ist gelernte Innenarchitektin, Schreinerin
und hat langjährige Erfahrung
als Bühnenbildnerin. Inzwischen arbeiten
wir sogar häufig im Kollektiv.
Claudia verfügt über einen enormen
Ideenreichtum. Und dass ich, obwohl
ich bei ihr gelernt habe, jetzt auf Augenhöhe
mit ihr arbeiten kann, das
rechne ich ihr sehr hoch an.“
… über das TamS
„Als ich damals zum Vorstellungsgespräch
kam, bin ich zum ersten Mal
durch den Innenhof gelaufen, und ich
weiß noch, wie ich mir gedacht habe:
Wow, was für ein gigantischer Ort!
Da will ich mal wohnen! Witzigerweise
bin ich dann ja auch ins Vorderhaus
gezogen und dort acht Jahre
geblieben.“
… über die TamS-Familie
„Man kann da flügge werden und darf
auch weggehen und wieder nach
Hause kommen. Es ist auch alles sehr
menschlich. Am TamS wird viel
miteinander geredet und Rücksicht
genommen, zum Beispiel bei
Probenzeiten.“
… Wünsche für die TamS-Zukunft
„Dass es weitergeführt wird. Mit genauso
viel Energie. Für mein Gefühl
ist das ein Ort, der sehr belebt ist.
Wo viel ausprobiert wird. Der auch
einen Stadtteil prägt. Und ich würde
mir wünschen, dass das auch weiterhin
honoriert wird.“
aus: Interview von Raphaela Bardutzky
Ein Leben, wie es ein Traum fü
Lorenz Claussen
Als theaterbegeisterten
Studenten der Mathematik
zog es Lorenz Claussen
in den 70er Jahren
nach München.
Es war der Beginn einer
ungeplanten Karriere als
professioneller Schauspieler.
… über erste Kontakte
„Ein großer Zufall brachte mich ins
TamS, ausgerechnet zu einem Clownabend,
was mich eher skeptisch
machte. Aber den Clown im TamS,
den fand ich richtig klasse. Das war
Franz Josef Bogner. Am Ende des
Abends kündigte er einen fünftägigen
Workshop an, den ich unbedingt mitmachen
wollte, koste es, was es wolle.
Am letzten Tag hatten wir dann Leute
vom Theater im Publikum, unter anderem
Anette Spola und ihren Mann
Philip Arp. Eine Zeit später fand ich
dann eine Postkarte in meinem Briefkasten.
… Anette fragte, ob ich mitspielen
wolle im nächsten Stück,
einer Produktion für das Münchner
Theaterfestival. Es hieß ‚Bavaria
Loas‘. ‚Loas‘ ist bayerisch für
Muttersau. Natürlich wollte ich mitspielen,
obwohl ich mich gar nicht
beworben hatte.
Seitdem gehöre ich zum TamS. Nun
war ich jeden Abend im Theater und
hab dort alles gemacht: Technik,
Kasse, Inspizienz, auch kleinere Rollen
gespielt. Eine ausgefüllte und aufregende
Zeit.“
… und erste Erfahrungen
„Das TamS war sehr erfolgreich, weil
es nicht mit klassischen Theaterstrukturen
produzierte. Es gab einen
größeren Pool von Freunden, die alle
verschiedene Aufgaben übernahmen.
Manche haben nur Kostüme genäht,
andere Requisiten besorgt. Alles
Studenten oder Menschen, die ihre
Brötchen anderswo verdienten. Und
jeden Abend nach der Vorstellung
sind wir zusammengesessen. Das war
einfach ein Leben, wie es ein Traum
für mich war.“
… über seine jahrzehntelange Stadttheaterkarriere
als professioneller
Schauspieler mit Stationen in Reutlingen,
Tübingen, Krefeld, Mannheim,
Zürich und Aachen
„Am TamS habe ich Chris Burton
kennengelernt, er wurde Dramaturg
am Theater in der Tonne in Reutlingen.
Reutlingen hat mich dann 1981
engagiert. … Dann habe ich wieder
gekündigt. Ich wollte anderes Theater
machen. Nicht meine Welt. Am TamS
war alles viel freier.“
170
r mich war!
… über anhaltende Kontakte und
Engagements in München
„Als ich 1988 von Krefeld nach
Mannheim gewechselt bin, habe ich
im TamS eine Produktion unter der
Regie von Jörg Hube gemacht. ‚Alles
klar‘ von Urs Widmer. Überhaupt
habe ich immer versucht, den Kontakt
zu halten. Auch in Phasen, in denen
ich dort kaum gespielt habe, bin ich
oft zu Aufführungen gekommen.“
… über Theater mit Behinderten
„Anette Spola hat sich sehr für Menschen
mit Behinderung engagiert, u.a.
mit dem inklusiven Theater Apropos.
Dabei hat sie nie zwischen behinderten
Schauspielern und Profis unterschieden.
Bei Apropos gehört die
Einschränkung einfach dazu.
Leider betrifft mich das inzwischen
ebenfalls. Ich sitze heute im Rollstuhl.
Und es gibt nur wenige Theater,
die behinderten Schauspielern eine
Rolle anvertrauen. Das gilt genauso
für den Film. Umso mehr freut es
mich, dass ich 2020 bei der großen
Jubiläumsaufführung im TamS mitspielen
werde.“
aus: Interview von Raphaela Bardutzky
171
Mit einem Schneeglöckerl im
Charlotte von Bomhard
„Das TamS Theater ist mein
Jungbrunnen!“, versichert uns
Charlotte von Bomhard.
In jungen Jahren erlebte sie
Karl Valentin auf der Bühne,
Jahre später wechselte sie
selbst dorthin als Schauspielerin.
Noch ein paar Jährchen
später, mit jung
gebliebenen 73 Jahren,
tauchte sie ein in die Welt
des TamS und seiner Familie.
Erinnerungen der Grande
Dame an ihre Alterskarriere.
Wie hat die Geschichte eigentlich angefangen?
Als geborene Münchnerin habe ich
Karl Valentin glühend verehrt. Schon
mit 15 Jahren durfte ich ihn auf der
Kellerbühne des Hotels Wagner in der
Sonnenstraße erleben. Er spielte mit
Liesl Karlstadt zusammen „Die Orchesterprobe“.
Ich war begeistert.
Etwa 30 Jahre später habe ich zum
ersten Mal das TamS besucht, auf
Grund des Titels „Valentinaden“.
Voller Misstrauen gegen alle, die
sich mit dem Namen meines Idols
schmückten, nahm ich den Weg
in die Haimhauserstraße.
Und dann spielten Philip Arp und
Anette Spola die „Valentinaden I“.
Die Texte waren eigenständig, aber
so ganz im Geiste von Karl Valentin
verfasst. Ich war verzaubert und bin
es bis heute. Dieses Paar wurde wohl
von unbekannter Hand zusammengeführt.
Die Bühne hat auf sie
gewartet.
In diese Welt wollte ich eintauchen.
Aber es dauerte noch eine Weile.
Ich war ja erst einmal Zuschauer.
Mit der Zeit kam es hin und wieder zu
persönlichen Begegnungen mit Anette
und Philip. Was für ein Glücksgefühl,
als Philip einmal mit einem Schneeglöckerl
im Knopfloch die Bühne
betrat. Es war aus einem Sträußerl
von mir.
Jahrzehnte vorher war ich als
Schauspielerin unter Vertrag an den
Kammerspielen und am Münchner
Volkstheater. An der Otto Falckenberg
Schule unterrichtete ich Sprecherziehung.
links: Zum Verwechseln ähnlich: Charlotte von
Bomhards Alter Ego auf einer schrillen Postkarte.
Wie geschaffen für frohe Autogrammstunden mit
ihrem begeisterten Publikum.
rechts: Charlotte von Bomhard im Gespräch mit
Lorenz Seib
172
Knopfloch
Meine erste Rolle im TamS Theater
war Sabine Wetzstein, eine Sprecherzieherin
im Stück „Die Dienstleister“.
Begeistert machte das Publikum
die angesagten Übungen mit: „Dürft
ich dies üppige Mündchen züchtig dir
küssen?“ So startete ich mit 73 Jahren
meine Alterskarriere.
Es folgten Auftritte in der Garage, im
Foyer, auf der eisernen Treppe, im Höferl
und auf der Haimhauserstraße.
Aus Anlass des 35. Todestages von
Philip Arp spielten wir ein Stück mit
Arp-Texten.
Der Titel war „Die Affengruppe ist gar
nicht vorgekommen“.
Ich suchte mir den Vortrag „Gift“ aus.
„Gift! Meine Damen und Herren.
Uns allen ist nicht wohl bei
diesem Wort …“
Ich hatte Philips Stimme noch
im Ohr.
Dieser Auftritt war für mich der
bisherige Höhepunkt meiner
TamS-Laufbahn.
Toi toi toi liebes TamS, Gratulation!
173
Schützenswertes Biotop
In jeder Hinsicht ein schützenswertes
Biotop in unserer Theaterlandschaft.
Und daher zählt bekanntlich auch
die Stadt München zum treuesten
Freundeskreis des TamS.
Christian Ude
Münchner Oberbürgermeister 1993–2014
The same procedure as every year
Wie eine TamS-Produktion entsteht. Eine Szenenfolge von Rudolf Vogel
– von der Prinzipalin stark gekürzte und also verstümmelte Fassung.
1. Szene
Projektbesprechung im
TamS-Garten
Prinzipalin
Also, ich stelle mir eine
leere Bühne vor. Auf der die
Schauspieler – zu Anfang – hin
und her gehen, aufeinander
reagieren, wieder abgehen ...
Hausautor
Oder sitzen.
Prinzipalin
Weiß ich noch nicht. Eher
nicht.
2. Schauspielerin
Stumm oder mit Text?
Prinzipalin
Weiß ich auch noch nicht. Wir
probieren beides. Aber damit
sollten wir uns jetzt nicht
unnötig aufhalten. Wichtiger
ist die Grundkonzeption des
Abends. Und da hab ich von Anfang
an EINE Idee gehabt, von
der ihr mich auch nicht mehr
abbringen werdet: Das eigentliche
Stück, das die Zuschauer
nicht zu sehen bekommen, spielt
hinter der Bühne. Vermittelt
sich nur akustisch und auch
nur fragmentarisch.
1. Schauspieler kratzt sich am
Kopf und schaut verzweifelt
zum Hausautor
Prinzipalin
Das Problem ist: Wie verzahnen
wir die beiden Ebenen? Hat
einer eine Idee?
Schweigen
Hausautor
Auf jeden Fall sollte das
Geschehen hinter der Bühne
nicht eindeutig sein.
1. Schauspieler lacht bitter
Also: Kein Anfang, kein
Schluss, keine Geschichte,
kein Sinn. Die vier Säulen
des TamS. Allgemeine Heiterkeit
Seit fünfzehn Jahren tu
ich mir das jetzt an. ...
Könntet ihr nicht mal ein
richtiges Stück machen?
Mit viel Sex und Crime?
Hausautor
Gerd, ich schreibe dir eine
Sexszene, dass es deine Anwaltskollegen
aus dem Sessel
haut.
1. Schauspieler
Leere Versprechungen.
174
Preise
der Stadt München
Förderpreis für Literatur
– Philip Arp –
Schwabinger Kunstpreis
– Philip Arp –
Schwabinger Kunstpreis
– Anette Spola –
Ernst-Hoferichter-Preis
– TamS –
Die größten Flops – eine kleine Auswahl –
1. Die stummen Affen
2. Premierenfeier ohne Premiere
29 Zuschauer, davon 18 Freikarten
3. Das Echolot
14 Zuschauer bis zur Pause
4. Theaterlust und Anarchie I
5. Destroy Nestroy
30 000 DM allein für Requisiten
Letzter Satz der Premierenkritik: „Vor mir ein herrlicher
Biergarten und hinter mir diese gräßliche Kunst.“
Zwei weitere Vorstellungen, kein einziger Zuschauer
1997 wurden Anette Spola, Eberhard
Kürn und Rudolf Vogel mit dem
Ernst-Hoferichter-Preis der Stadt
München ausgezeichnet. Den Förderpreis
für Literatur und den Schwabinger
Kunstpreis hatten Anette Spola
und Philip Arp schon früher erhalten.
Laudatoren bei der Preisverleihung
waren Gerhard Polt und László Vajda,
Ethnologieprofessor und gebürtiger
Ungar.
Die Preisträger baten ihn, die Laudatio
in seiner Muttersprache zu halten
und als Textgrundlage die Betriebsanleitung
zum Gebrauch einer Waschmaschine
zu verwenden. Die Idee
gefiel dem Laudator und animierte
ihn zu einem gestenreichen, höchst
emotionalen Vortrag, in den er hin
und wieder das Wort „TamS“ einflocht,
was im Auditorium mit wohlwollendem
Kopfnicken und dezentem
Beifall bedacht wurde.
175
immer wieder Aufgaben während der Vorstellung:
Fleischpflanzerl braten und Salzkartoffeln
kochen wie bei „Stan und Ollie in Deutschland“,
den Garten in einen orientalischen Hinterhof
umgestalten und anderes.
Ewige Konstante in all den Jahren war und ist
von Beginn an das Kassenbrett. Da macht man
sich so seine Gedanken, wie viel Tausende (oder
sind’s gar Millionen?) darübergeflossen sein
mögen? Einmal in den vergangenen 50 Jahren
sollte das Brett gegen eine elegante Edelstahlvariante
ausgetauscht werden. Der gewaltige
Protest hat den Initiator dieser Idee völlig von
der falschen Seite erwischt. Das Brett aber hat’s
überstanden und tut bis heute seinen Dienst.
In einem Gedicht erinnert es sich an diese
dunkle Stunde ...
Musik und Kasse Stephanie Heyl
Mit der Geige hat alles angefangen: mein Leben im und mit dem TamS Theater.
Als klingendes Bühnenbild spielte ich 1978 bei den „Argentinischen Straßengeschichten“
von Osvaldo Dragún mit. Eine neue Welt tat sich da auf: musikalisch
dabei sein, wo Kunst entsteht. Seit dieser Zeit bin ich diesem Haus verbunden.
Einmal bin ich gegangen, der Liebe wegen. Nach 15 Jahren kam ich wieder zurück
und weiß ganz genau, ich gehe (sicher!) nicht mehr.
Nach meinem Einsatz als Straßengeigerin suchte ich andere Aufgaben: Telefondienst
und Büro am Nachmittag, später Abendkasse und Barbetrieb. Und das ist
inzwischen meine Welt an diesem Ort. Ich liebe diese Tätigkeit: Die Leute, die ins
Theater kommen, sind guter Stimmung, weil sie sich einen schönen Abend machen
wollen. Manche erzählen mir Geschichten oder werden bei Missfallen ihren Frust
und Ärger los. Andere kommen nur der Vorstellung wegen, um gleich danach
wieder heimzuhuschen. Inzwischen kenne ich viele beim Namen – eine Zuschauerin
hat bei jedem Theaterbesuch etwas Süßes für mich dabei. Ich verbringe anregende
Abende, aber auch schöne und stille Momente, etwa im Garten, während
der Sommervorstellungen. Dann zupfe ich Unkraut, lese oder sinniere einfach
vor mich hin. Je nach Produktion gibt es aber auch für mich als „Abendkasse“
Meist geht es rund an Bar und Abendkasse,
aber nicht immer. Bei „Morgen geht’s los, ich
bring die Axt mit“ betrugen die Abendeinnahmen
insgesamt 1,50 €. Die wenigen, obendrein
mit Freikarten bestückten Besucher waren nicht
auf Konsum eingestellt. So kam die einzige Einnahme
durch den Verkauf einer Tasse Pfefferminztee
zustande.
Eine Freundin besucht mich im Theater. Vor Beginn
der Vorstellung kommt sie mit einer Frau
ins Gespräch. Sie unterhalten sich prächtig und
freuen sich, dass ihre Plätze im Theater (zufällig)
nebeneinanderliegen. Nach der Vorstellung erfährt
meine Freundin, dass die Frau bei ihrem
Vater studiert hat. Später, als ihm die Begegnung
zu Ohren kommt, erinnert er sich gut an
die Frau. „Sie war“, verrät er seiner Tochter „die
größte Liebe meines Lebens.“ Ja und ein Theaterbesucher
kannte noch das alte Tröpferlbad,
das das TamS einst gewesen war. Er war als
Student hier noch duschen.
Die Geige ist aber nicht vergessen, beim
Sommertheater 2016 konnte ich meine beiden
Talente einbringen: Musik und Kasse ...
176
Zwei (Beinahe-)Katastrophen und ein Glücksfall
Gabriele Werbeck
Erste Szene: Premierenabend.
Wir haben gerade angefangen, als eine hochoffizielle, mit Blumensträußen
bewaffnete koreanische Delegation vor der Tür
steht, um der Künstlerin zur Vernissage zu gratulieren. Die zähen
Verhandlungen, bei denen ich erfolglos versuche, den Unterschied
zwischen Vernissage und Premiere zu erklären, gipfeln
in der Drohung, ich würde es bitter bereuen, wenn ich sie nicht
reinlasse. Was wissen die schon? Im Vergleich zu Anettes Reaktion,
wenn ich jemanden in eine Premiere platzen lasse, ist ein
lebenslanges Einreiseverbot nach Korea leicht zu verschmerzen.
Geschlagen zieht die Delegation schließlich ab und kehrt mit
einer Entschuldigung zur rauschenden Premierenfeier zurück.
Szene zwei: Bahnfahrt zurück nach München an einem Vorstellungstag
… Als ich nach jeder vorstellbaren Panne mit einer
guten Dreiviertelstunde Verspätung beim Theater ankomme,
erwartet mich draußen ein freundlich ausharrendes Publikum,
das meinen Sprint zum Technikpult mit Beifall quittiert, und drinnen
– εσαεί ευχαριστώ, ihr seid unglaublich. Im TamS gehören
Katastrophen irgendwie dazu, und manchmal machen sie
glücklich.
Selffulfilling Prophecy
Als ich vor fünfundzwanzig Jahren das erste Mal bei einer
Produktion am TamS dabei war, sprach Anette bei der
Premierenfeier die wunderbare Drohung
aus: „Dich lassen wir nimmer weg.“
Tja, was soll ich sagen – so isses.
Hier bin ich und hier bleibe ich.
Und wenn ihr mich (endlich)
mal wieder ein paar Kulissen
schieben lasst, dann dreh ich
mich auch um und geh raus
auf die Bühne. Versprochen.
links:
Passionierte Geigerin und
erprobt im Umgang mit
dem außergewöhnlichen
Publikum an Kasse und
Theke: Stephanie Heyl
oben:
Seit 25 Jahren in den Diensten des TamS:
Gabriele Werbeck im eng begrenzten Technikraum
nahe der Bühne, und ebenso nah immer am Publikum
Infokasten:
Technikraum zu den Anfängen des TamS
mit Gerhard Häusler am Lichtpult
177
Kapitel
IV
Wässerungen S. 180
Grenzgänger S. 196
Neue Formate S. 210
S
wie
SELBST
ERFINDUNG
Neue Formate, von Wässerungen,
Grenzgängern und TamS Garage
Wässerungen I II III
Rudolf Vogel
Über eine ungewöhnliche Theatertrilogie,
die „Wässerungen“ mitten im Herzen Münchens
Zu seinem 21-jährigen Gründungsjubiläum
1992 brachte das TamS
den Dreiteiler „Wässerungen“ heraus.
Vordergründig ein Bezug zur Geschichte
des Hauses als städtisches
Brausebad. Im Wesentlichen aber ein
Spiel mit Assoziationen und Bildern,
die durch fließendes, stehendes, tropfendes
Wasser hervorgerufen werden
und mannigfache Bezüge zu Literatur,
Musik, Philosophie und Kulinarik
ermöglichen.
Mit den „Wässerungen“ verließ
das TamS – getreu seiner Maxime
„Tradition und Innovation“ – zum
ersten Mal sein angestammtes
Domizil in der Haimhauserstraße
und dehnte seine Aktivitäten auf
ganz München aus.
Teil I: „Das letzte Ma(h)l“
Ort des Geschehens: das kurz zuvor
geschlossene städtische Wannen- und
Duschbad im Westend. Inszenierung:
Ruedi Häusermann, der in der zurückliegenden
Spielzeit seine Klanginstallation
„Baden zusammen“ für das
Theater entwickelt hatte.
Rund um einen Innenhof waren die
Kabinen mit den zu mietenden Wannen
und Duschen angeordnet. Im
Hof selbst saßen die Zuschauer bei
Kerzenschein und Tafelmusik an langen
Tischen und feierten bei einem
italienischen Menü in zehn Gängen
den Abschied von dem Hygienetempel.
Italienische Kellner servierten
die Köstlichkeiten und sangen dazu
neapolitanische Lieder.
Das eigentliche Geschehen spielte
sich in den Kabinen ab. Musiker
saßen hinter den Türen und spielten
ein Potpourri aus Wassermusiken.
Allerletzte Besucher duschten und
föhnten sich die Haare. Eine Dame
überkletterte die Wand einer Kabine,
in der ein Herr in der Wanne saß. Eine
ältere Münchnerin hatte sich wegen
des stadtbekannten Wohnungsmangels
in einer Nasszelle häuslich
eingerichtet und kommentierte lautstark
das Spektakel. Bademeisterin
Anneliese sang ein paar schräge
Schlager. Wer war Zuschauer, wer
Schauspieler?
„Es gab keine Handlung“, schreibt
Häusermann in einem Werkskatalog,
„es ging um die Verzauberung in diesem
Raum, um eine Abschiednahme.“
Teil II: „München taut auf“
Ein Freilicht-Spektakel auf dem seit
Jahrzehnten bekanntesten Stiefkind
der Stadtplanung: dem Jakobsplatz.
180
Anlass: die Einweihung eines
Brunnens durch den bayerischen
Ministerpräsidenten.
Die Brunnenskulptur – ein monumentales
Gebilde mit Falten und Zacken,
schneeweiß, klassizistisch gestylt –
aus Eis, das während der Rede des
Ministerpräsidenten dahinschmolz.
Gewohnt detailverliebt beklagte der
MP (in Gestalt von Jörg Hube) all die
zerronnenen Hoffnungen und auf Eis
gelegten Pläne – nicht nur – der Landeshauptstadt,
sondern weit darüber
hinaus: der ganzen Republik.
„Deutschlands Zukunft“, rief er zum
Schluss der Menge zu, „liegt auf dem
Wasser.“ Ein München-Tourist aus
Norddeutschland, der zufällig in die
Festivität geraten war, ergriffen zu
dem neben ihm Stehenden: Er freue
sich, den bayerischen Ministerpräsidenten
einmal live erlebt zu haben.
Im Fernsehen sehe der allerdings
etwas anders aus.
Teil III: „Den Bach runter“
Spielstätte: der durch den Englischen
Garten fließende Eisbach. Ein Publikum
war nicht geladen. Es war einfach
da, gab sich auf den Wiesen
beiderseits des Baches seinen sommerlichen
Freizeitvergnügungen hin:
Sonnenbaden, Lesen, Musikhören,
Picknicken … Aber was waren das
für merkwürdige Dinge, die da plötzlich
den Bach herunterschwammen?
… Weißwürste mit Senf … altbayerische
Gerichte … Geweihe und Jägerhut
… ein ganzes Bett mit klingelndem
Wecker … ein Modell der Staatskanzlei,
aus der die Bayernhymne
erklang …
Eberhard Kürn hatte an die fünfzig
Objekte gebaut, schwimmtauglich gemacht
und am Einlauf des Eisbaches
in den Englischen Garten zu Wasser
gelassen.
Die Zuschauer drängten ans Ufer und
spekulierten, was wohl noch kommen
würde. Manche sprangen ins Wasser,
um den einen oder anderen Gegenstand
zu ergattern. Gleichzeitig wandelten
alte, dunkel gekleidete Damen
mit Filethandschuhen auf den Parkwegen.
Eine Gruppe von Businessleuten
diskutierte erregt über die
Nutzung des Monopteros als Spekulationsobjekt.
Ein kleines Kammerorchester
bezog Position und begann
mit seinem Konzert. Streng blickende
Männer in Polizeiuniformen musterten
die Flaneure, forderten gelegentlich
deren Ausweise …
181
Teil I:
„Das letzte Ma(h)l“
182
„
… Das eigentliche Geschehen spielte sich in
den Kabinen ab. Musiker saßen hinter den
Türen und spielten ein Potpourri aus Wassermusiken.
Allerletzte Besucher duschten und
föhnten sich die Haare. Eine Dame
überkletterte die Wand einer Kabine, in der ein
Herr
in der Wanne saß …
184
185
München taut auf
Catelli vocificat lascivius umbraculi,
et oratori imputat umbraculi. Syrtes
frugaliter vocificat satis parsimonia
matrimonii, etiam OpfParsimonia
agricolae spinosus adquireret Medusa,
quamquam utilitas saburre
agnascor quadrupei, semper Augustus
infeliciter miscere incredibiliter
lascivius zothecas, etiam
concubine comiter praemuniet umbraculi.
Pessimus parsimonia saburre
agnascor bellus apparatus
bellis, et adlaudabilis fiducias imputat
Octavius, iam suis divinus insectat
syrtes, utcunque catelli
celeriter corrumperet syrtes.
Quadrupei plane frugaliter mis
202
Teil II: „München taut auf“
Ein zu Eis erstarrter Brunnen
auf dem Jakobsplatz
und ein leicht aus dem
Konzept geratener bayerischer
Ministerpräsident
(Jörg Hube). „Deutschlands
Zukunft“, rief er
zum Schluss seiner Einweihungsansprache
der
Menge zu, „liegt auf dem
Wasser.“
187
Viele Zuschauer empfanden die Aktionen
als Ermunterung zum Mitmachen. Andere
fühlten sich in ihrem Freizeitvergnügen
gestört und alarmierten die
Polizei. Die rückte auch an in Form einer
Reiterstaffel, wurde sofort als Teil des
Spektakels begriffen und mit großem
Beifall bedacht als Lohn für die außerordentlich
gelungene, authentische Darbietung
eines Polizeieinsatzes.
„Bei dieser sommerlichen Vermischung
von Kunst und Leben“, resümierte
Renate Schtostack in der FAZ, „hob das
längst verloren geglaubte Schwabing
plötzlich den Kopf: kritisch, leicht verrückt,
zauberhaft. Da sah man, in Abwandlung
eines Schwabinger Mottos,
die Möglichkeit einer Kunst, die überall
anderswo unmöglich ist.“
S. 192
Teil III: „Den Bach runter“
rechts:
Seiner Substanz beraubt: Nur noch als Fassade treibt der Bayerische Landtag mit der Strömung des Eisbaches seinem Ende entgegen.
nächste Seite:
Blick in die Requisitenkammer mit den Objekten für „Wässerungen III“
202
203
Der Erfolg der „Wässerungen“ beflügelte
den Wunsch, die externen
Aktivitäten beträchtlich auszuweiten,
bis in den „politischen Raum“
hinein. Zum Beispiel durch eine
Unterwanderung des Bayerischen
Landtags mit dem Ziel, eine
öffentliche Sitzung zu einem
TamS-Happening umzufunktionieren.
Mit dem größten Bedauern –
allein die Beschäftigung mit der
berühmten Stoiber-Einlassung
über die Anbindung des Airports
an den Münchner Hauptbahnhof
war highlightverdächtig – musste
das TamS-Trio (Anette Spola,
Eberhard Kürn und der Schreiber
dieser Zeilen) von seinem Plan
Abschied nehmen. Die Realisierung
hätte das „kleine arme Theater“,
so die Lieblingscharakterisierung
der Münchner Theaterkritik
(87 Nennungen), in einem nicht
mehr verantwortbaren Maß
überfordert.
Also hieß es in der nachfolgenden
„Sehstadel“-Produktion wieder,
„kleinere Semmeln“ zu backen.
(S. 130)
Eberhard Kürn hatte an die fünfzig Objekte gebaut … und am Einlauf des Eisbaches in den Englischen Garten
zu Wasser gelassen. Die Zuschauer drängten ans Ufer und spekulierten, was wohl noch kommen würde.
Manche sprangen ins Wasser, um den einen oder anderen Gegenstand zu ergattern.
193
Im Sitzungssaal 110 des Landg
Gerd Bumeder
Der Münchner Anwalt und
erprobte Schauspieler des
TamS spinnt fort, was hier
einst begann, aber nie enden
sollte: Die Verlagerung des
Theaters bis hinein in
öffentliche Institutionen.
Gerd Bumeder (links) und
Ardhi Engl in „Hiermit gebe
ich nichts bekannt“, 2005,
Regie: Anette Spola
Warum nicht? Die Idee kam bei unseren
Proben zu „Kinderdämmerung“.
Das TamS hatte schon viele Spielstätten
außer Haus, im Tröpferlbad im
Westend, im Englischen Garten, aber
noch nie in einem Justizgebäude.
Der Vorsitzende Richter Turmayer
wunderte sich zwar, als zu Beginn der
Beweisaufnahme im Nachbarrechtsstreit
nicht nur der Anwalt der Klagepartei
und ich als Anwalt der
Beklagten erschienen waren.
Anwesend waren ebenso unüblich
viele Zuhörer, dort, wo sich höchstens
einmal eine Schulklasse im Rahmen
des Sozialkundeunterrichts einfand.
Oder ein Obdachloser zum Aufwärmen
die für solche Verhandlungen erforderliche
Öffentlichkeit herstellte.
Bester Stoff also fürs Theater.
Die Regie im Zuhörerraum hatte, wie
immer, Anette Spola. Ich selbst übernahm
die Rolle des anwaltlichen
Vertreters der Beklagten, und die Kollegen
Schauspieler waren als rechtsstaatlich
gewährleistete Öffentlichkeit
einer Zivilprozessverhandlung präsent.
Das alles ohne Text und ohne
Proben, versteht sich. Zunächst spielten
die Kollegen bei der Einführung
des Vorsitzenden Richters in den
Sach- und Streitstand nur die zurückhaltend
interessierten Zuhörer. Mit
beginnender und heftig werdender
Auseinandersetzung im Rahmen der
Parteienanhörung wurde aber auch
die Zuhörerbank engagierter und
parteiergreifender. Der arme Richter
Turmayer wusste nicht, wie ihm geschah.
Hinten auf der Zuhörerbank
stieg die Unruhe, während sich vorne
die streitenden und kaum von ihren
Anwälten gebremsten Nachbarinnen
immer heftiger angifteten. Obendrein
empörte sich die Zuhörerbank mit
„Hört! Hört!“, „Also sowas“ oder
„Unglaublich“. Als die Zeugenvernehmung
schließlich ergab, dass die
Aussagen einander höchst unglaubwürdig,
nämlich gegensätzlich gegenüberstanden,
war die Zuhörerbank
kaum noch zu bremsen. Mehrfach
musste der Richter eingreifen und zur
Ruhe mahnen. Schließlich mahnte er,
dass die Öffentlichkeit ausgeschlossen
werden müsse, wenn nicht bald Ruhe
herrsche.
194
erichts München II
Entzieht man aber dem Schauspieler
das Wort, dann greift er zur Pantomime;
fortan kommentierte die Zuhörerbank
schweigend, aber nicht
minder deutlich den Prozessverlauf
mit Kopfschütteln, Fingerzeigen und
Raumverlassen und Wiederkommen –
kurz, man spielte weiter, und der gute
Richter Turmayer wusste wieder
nicht, was sich da eigentlich abspielte.
Das Verbot des stummen
Spiels, der Pantomime, war in der
Zivilprozessordnung nicht vorgesehen
und ein Ordnungsruf nicht zulässig.
Ebenso wenig der Ausschluss der
Zuhörer bei lautlosem, wenn auch
pantomimisch eindeutigem parteiergreifendem
Verhalten.
Der Anwalt der Klägerin, durch die
vermeintliche Unterstützung der
Zuhörerbank angespornt, lief zur
Höchstform auf. Obwohl eher
zu sachlicher Argumentation neigend,
ließ er sich, vermeintlich von Volkes
Stimme unterstützt, zu lautstarken
und die Grenze der Beleidigung fast
erreichenden Plädoyers für den hühnermistfreien
Rasen seiner Mandantschaft
hinreißen; das konnte auch ich
mir auf Seiten der armen kleinhäuslerischen
Beklagten nicht bieten lassen.
So übertrug sich der auf der Zuhörerbank
entfachte Tumult auch in
die Reihe vor dem Richter und den
beiden Parteien und Parteienvertretern.
Das wiederum hatte zur Folge,
dass auch der sonst so zurückhaltende
Richter Turmayer notgedrungen die
Stimme erhob, um sich im allseitigen
Gewirr noch durchsetzen zu können.
Bald schon herrschte ein Tumult im
gesamten Gerichtssaal, in dem sich
schließlich auch noch die Zeugen
kommentierend einmischten. Und
auch der Sachverständige versuchte,
sich Gehör zu verschaffen, womit die
Inszenierung dieses Gerichtstages
unter der Regie von Anette Spola als
höchst erfolgreiche Aufführung zu
Ende ging. Bedauernd nur war festzustellen,
dass es leider keine Zuschauer
und auch keine für die Nachwelt
aufgezeichnete Dokumentation
gegeben hat.
Richter Turmayer, der Klägervertreter
und die Parteien haben nie erfahren,
dass sie an einer TamS-Inszenierung
unentgeltlich mitwirken durften.
Und wir Schauspieler mussten leider
auf den einzigen Lohn des genügsamen
Theatermenschen verzichten,
auf den Applaus.
195
Therapiefreier Raum und Rolls
Wie das TamS zur Bühne des inklusiven Theaters wurde
Wolf Jahn
Als das Wort Inklusion noch am
Reifen war, gab es die von ihm
Gemeinten schon immer, Menschen
mit Behinderung, körperlich, geistig
oder beides zusammen. Und es waren
sie selbst, die die Initiative zur Inklusion
ergriffen, nicht nur sprachlich.
Einer von ihnen: Dr. Peter Radtke.
Von Kind an an den Rollstuhl gebunden,
setzt er sich bis heute für die
Belange behinderter Menschen ein.
1981 war er selbst auf der Bühne, der
TamS-Bühne, mit seiner „Nachricht
vom Grottenolm“. In den Jahren
darauf engagierte ihn George Tabori
an den Münchner Kammerspielen.
Radtkes Nachricht wurde gehört, verbreitet
und weiter auf den Bühnen der
Republik verkündet. Mit dabei auch
das von Regisseur und Choreograph
Werner Geifrig geleitete Münchner
Crüppel Cabaret. 1983 hatte es seinen
ersten Auftritt im TamS. Auf dem
Programm seines ersten Stücks
„Soziallästig“ standen u.a. kosmetische
Integration, Rollstuhlmodenschau
und -ballett. So zog die
„Nachricht“ ihre Kreise …
Mit Peter Radtkes „Nachricht vom Grottenolm“ begann 1981
im TamS die Ära des inklusiven Theaters.
196
tuhlballett
Behinderte und nichtbehinderte Künstler tourten über zwei Jahrzehnte erfolgreich in vielen Ländern und Städten.
Seine Premiere feierte das Crüppel Cabaret 1983 im TamS.
197
THEATER APROPOS
Nachdem das neue Format erst einmal im Programm inkludiert war,
blieb das TamS ihm auch weiterhin treu. Nächste Station war das
Theater Apropos. 1998 wurde es auf Anregung von Prof. Dr. Hans
Lauter gemeinsam mit Ariadne, Verein zur Hilfe für Alterskranke
und seelisch Kranke, von Anette Spola und Rudolf Vogel aus der
Taufe gehoben. Die Idee: einen therapiefreien Raum zu schaffen, in
dem Patienten zusammen mit Ärzten und Therapeuten Theater spielen.
Durch die Bearbeitung von Stücken, literarischen Texten und Märchen
(Beispiele: Eugène Labiche, „Das Sparschwein“, Tankred Dorst,
„Kleiner Mann – was nun?“, „Die Bremer Stadtmusikanten“), bei
der die Spielerinnen und Spieler ihre ganz persönlichen Erfahrungen,
Ängste, Hoffnungen und Glücksmomente einbringen konnten, und
durch die Entwicklung eigener Produktionen erarbeiteten sie sich
im Lauf der Jahre eine Bühnenpräsenz, die es ihnen ermöglichte, gemeinsam
mit „gelernten“ Schauspielern in TamS-Stücken aufzutreten.
Wobei nicht selten sie erheblich mehr „absahnten“ als die Profis.
Seit 2014 leitet Anton Prestele das Theater Apropos, als Regisseur,
Komponist und Mitspieler. „Ein Therapie-Projekt? Nein, viel mehr.
Ein theatralisches Unternehmen, das lustvoll animiert zu Selbstäußerung
und Kreativität, zum Zuschauen und Mitmachen. Wer ist hier
wohl behandelte, wer behandelnde Person?“ (Münchner Merkur,
22. Februar 2000) Nicht weniger euphorisch, doch anders gefasst sind
die Erfahrungen der Spieler über die Zeit. Sie reichen von „besser als
jede Therapie“ bis hin zu Schwächen, die „plötzlich zu Stärken werden“.
S. 204
Das hat mich tief bewegt!
Ich habe gelernt von euch. Und ein bisschen beneide ich euch, meine Lieben.
Wie selbstverständlich ihr euch mitteilt – ich denke an eine Probe. Ihr alle kommt
von weit her, aus der Fremde, alt oder krank oder einfach nur müde, und man
kommt nach vielen Jahren nach Hause. Ihr seid einer oder zu zweit, zu dritt
nacheinander durch den leeren Zuschauerraum gegangen und habt euch
als heimgekommene Gruppe zusammengesetzt. Gewartet. Das war ein großes
„Schauspiel“, eine wahrhaftige Darstellung. Das hat mich tief bewegt.
Anette Spola
Kleiner Mann – was nun? 2009, Regie: Anette Spola und Rudolf Vogel
Hans Falladas Welterfolg hatte Dramatiker, Schriftsteller und Regisseur Tankred Dorst für die Bühne bearbeitet.
Nach dem Besuch der einstündigen Fassung in TamS lobte er das Ensemble. Gegenüber der über vierstündigen
Fassung von Luk Perceval in den Münchner Kammerspielen habe er keinen „Verlust an Substanz“ bemerkt.
199
200
Unterwegs nach Utopia. Ein Zwischenstop
2011, Regie: Anette Spola und Rudolf Vogel
Eine gemeinsam mit den Schauspielern entwickelte zeitgemäße Version des philosophischen Traktats „Utopia’von Thomas Morus
201
Valentin in Halifax 2016, Regie: Anton Prestele
Frei nach Karl Valentin inszenierte Anton Prestele sein zweites Stück für das Theater Apropos. Eine illustre Reisegesellschaft
überlebt mühelos Flugzeugabsturz und Durchschwimmen des Ozeans. Dabei dringt sie in besondere Tiefen, in seelische Tiefen vor.
rechts:
In „Ich bin Anders“ wird das Publikum mit Momentaufnahmen aus dem Leben der Akteure konfroniert, mit Erinnerungen,
die vom Aussterben der Kegelbahnen oder von geisterabwehrenden Kräften der Frittatensuppe erzählen.
202
Ich bin Anders 2019, Regie: Anton Prestele
203
Höhepunkt und Ergebnis der bisherigen Arbeit mit Künstlern
mit Behinderung ist das alljährliche, seit 2009 stattfindende
Festival „Grenzgänger“. Immer mit dabei
internationale und renommierte Gruppen, u.a. Die Tonne
Reutlingen, das Theater HORA Zürich sowie Thikwa aus
Berlin. Und immer mit im Programm begleitende Ausstellungen
des atelier hpca. Während knapp zwei Wochen
erwarten das Publikum dann aufregende, bezaubernde,
berührende, urkomische Szenen bis hin zu Slapsticks.
Inkludieren bedeutet hier immer eins: keinen Unterschied
zwischen dem Profi und seinem „eingeschränkten“ Mitspieler
machen. „Ich kann“, betont Anette Spola, „keinen
Unterschied entdecken zum gelernten Schauspieler. Ein
absolut professionelles Arbeiten, ohne Empfindlichkeiten,
ohne Launen, mit Disziplin und Genauigkeit. Und mit
großer gegenseitiger Toleranz.“
Enormous Room 2017
Gemeinsam entwickeln Tänzer und Tänzerinnen mit und ohne Behinderung die
Choreographien der 1995 gegründeten britischen Stopgap Dance Company.
Im Mittelpunkt von „Enormous Room“ stehen Vater und Tochter, die gemeinsam
den Verlust von Frau und Mutter bewältigen.
204
205
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Frida Kahlo 2014
Spieler mit unterschiedlichen – geistigen, körperlichen oder psychischen – Behinderungen bilden das Ensemble
des Reutlinger Theaters Die Tonne. Mehrfach gastierte es beim Grenzgänger-Festival, 2014 mit dem Stück „Frida Kahlo“.
Das Leben der mexikanischen Künstlerin und Ehefrau des Malers Diego Rivera war früh von einer Kinderlähmung,
später von den Folgen eines schweren Unfalls gezeichnet.
207
Zwillinge 2017
Das 1990 gegründete Berliner Theater Thikwa (hebräisch: Hoffnung) zählt zu den ältesten
inklusiven Theatern in Deutschland.
Muuh! 2015
Die Bergbauern-Tragikomödie„Muuh!“ des Passauer Theaters Brût
208
Sold! 2018
2013 formierte sich in Kapstadt die Unmute Dance Company. Ihre Choreographien setzen auf die Fähigkeiten
von Menschen mit Behinderungen, vorrangig auf Gebärden- und Zeichensprache von Gehörlosen.
209
Draußen vor der Tür
Wolf Jahn
Öffnung nach außen:
Sommers wie winters werden
Rollen getauscht und Orte
gewechselt. Was ist Theater?
Wo das Publikum, wo das
Spiel? Und wo ist der Unterschied?
Fragt sich auch
Charlotte von Bomhard
(Bild rechts) an der TamS
Garage in „Die Nachtigall
mit der Kettensäge“ (2015).
Hier hofft man nicht auf Einlass, sondern auf Überraschungen.
Eine simple Garage, früher Herberge
eines stolzen Feuerwehrfuhrparks, macht’s möglich.
Seit 2012 hat das TamS einen Stall,
pardon, eine Garage direkt an der
Haimhauserstraße für besondere Aufführungen
im Sommer wie im Winter.
Wird es kalt, kann es aber durchaus
vorkommen, dass sich die ehemalige
Garage der Schwabinger Feuerwehr
in einen Stall verwandelt. So war es
jedenfalls in den Jahren 2012–2017,
als sie einen Adventsschauplatz mit
Schaf, Esel und Ochs hergab. Draußen
vor der Garagentür stand das
Publikum in aller Dunkelheit, drinnen
wurde gejodelt, gemuht und gemäht,
gespielt und gesungen, dass einem
jeden das Herz aufging. Vor lauter
Adventseuphorie und aller Besinnlichkeit.
Und pünktlich zu jedem
Adventssonntag öffnete sich dann ein
weiteres Adventstürl. Ach ja, Nikolaus
war auch da, Adventskerzen
brannten und herzergreifende Dramen
spielten sich ab. Und alle lachten und
fanden’s komisch. Da versteh einer
Weihnachten und seine rührende
Stallgeschichte.
Im Sommer ist das natürlich ganz anders.
Jetzt, wo die Tage lang sind und
die Luft wohltemperiert, muss das Publikum
nicht mehr draußen vor der
Tür mit klappernden Zähnen und dem
letzten Rest an Glühwein ausharren.
Jetzt sitzt es gemütlich mittendrin im
Theaterspektakel, das in ihm wohlwollendes
Grunzen und Schmunzeln
erzeugt. Doch siehe da: Plötzlich geht
sie wieder auf, die Tür, und wir selbst
sitzen im „Stall“ und sehen auf die
Welt da draußen, die sich vor unseren
Augen abspielt. Hier ein Fußgänger,
dort Passanten und ganz nahe ein
Eisbär, der mitten aus dem Theatergeschehen
heraus seinen ersten
Schritt in die Wirklichkeit wagt.
So wird die Welt um uns zum reinen
Theater und wir als seine Zuschauer
zu ihrem Teil. Im TamS nennt man
das Sommertheater, das sein Publikum
außer in die Garage noch zu
anderen Schauplätzen führt. Michael
Wachsmann, ehemaliger Dramaturg
der Münchner Kammerspiele, schrieb
nach seinem Besuch von „Zwei spanische
Italiener und die Signora aus
Moskau“ begeistert: „Das Theater
ging dabei weiter, ohne dass wir
nachzahlen mussten. Hat man nämlich
einmal die Theaterbrille auf, verwandelt
sich die Wirklichkeit und mit
ihr jeder Ausschnitt, den das Betrachterauge
sich wählt, in eine Bühne …“
Foto eisbär
210
211
Adventstürl
212
Erst eins, dann zwei, dann drei … und immer steht das Publikum vor der Tür. Jahr um Jahr. Und schaut zu,
was für feine Überraschungen die Garage des Theaters vor und hinter ihrem „Adventstürl“ parat hat.
Sommertheater
Hildegard Steigerwald überrascht bei jeder Premierenfeier
mit köstlichen Eigenkreationen nach internationalen,
traditionellen Rezepten. Einer von zahlreichen Gründen
für den steten Run auf die Premierenkarten.
214
Zwei spanische Italiener und die Signora aus Moskau
2012, Regie: Anette Spola, Burchard Dabinnus und Lorenz Seib
215
Die Nachtigall mit der Kettensäge 2015, Regie: Anette Spola und Lorenz Seib
Eine rasante Fahrt quer durch die Örtlichkeiten des TamS. Stets dabei: der ominöse Mann mit der Kettensäge.
Seite 218/219:
Bühnenbild zur „Nachtigall“ von Claudia Karpfinger in der Garage
216
Ins Offene gedacht
Adrian Herrmann
Dem dramaturgischen Blick wird oftmals etwas Ethnologisches
nachgesagt. Das Beobachten des Fremden. Es sich nicht sofort
anzueignen, sondern mit einer liebevollen, wachen Distanz auf
eine andere, nicht eigene Welt zu schauen.
Wer den Beruf wirklich ernsthaft
ausübt, weiß natürlich, dass das gar
nicht geht. Objektive Beobachtung ist
eine schöne Idee, aber wer ernsthaft
glaubt, die anderen würden ihr Verhalten
nicht anpassen, wenn da auf
einmal jemand sitzt und glotzt, der
oder die da sonst nicht ist, der hat
weder von Ethnologie noch vom
Theater eine Ahnung. Es geht immer
viel mehr um den Blick des Sehenden
als um die, die da beobachtet werden.
Und doch blickt man natürlich auf
etwas. In diesem Falle auf das TamS
Theater und seine jüngere Vergangenheit
bis in die Gegenwart.
Als ich das TamS das erste Mal betrat,
war ich gerade am Beginn meines
Studiums. Dramaturgie hieß mein
Studiengang, aber „Irgendwas mit
Theater“ wäre wohl treffender gewesen.
Wenig Ahnung, aber viel
Meinung zeichnete diese Zeit aus.
Und das TamS, so meinte ich damals,
sei gar kein richtiges Theater. Dazu
„fehlte“ schlicht zu viel. Also sah ich
einen wunderbaren „Untertagblues“
von Peter Handke, den ich nicht zu
würdigen wusste, der sich erst lange
später unbewusst seine Bahn brach.
Danach vergingen Jahre, ein Studium
und ein Engagement am Theater (als
Dramaturg natürlich), bis ich wieder
ins TamS kam. Und plötzlich fragte
Lorenz Seib, ob ich nicht die Dramaturgie
übernehmen wolle bei seiner
nächsten Inszenierung. Es sei eine
Stückentwicklung. Er habe da auch
schon einen Titel: „Lässt sich die
Katastrophe noch potenzieren?
Ein halber Untergang“. Was sollte
also schiefgehen?
Knapp drei Wochen später probierten
wir. Madrigale und mehrstimmiger
barocker Gesang wechselten sich mit
Gedichten von van Hoddis und
Schnipseln von Adorno ab, dazwischen
viel improvisiertes Spiel und
ein Regisseur, der die ganze Zeit auf
der Bühne stand und den dritten
Spieler gab. Langsam dämmerte mir,
dass das hier nichts mit Stadttheater
zu tun hatte.
Aber es war kein Defizit, wie ich es
Jahre zuvor auszumachen meinte. Es
war eine Abwesenheit von etwas, die
ein Mehr schaffte. Die Gedankenräume
öffnete. Denn hier war keine
Angst im Raum, wenn ich kam. Ich
war nicht die Textpolizei, kein verlängerter
Arm der Intendanz, ich schaute
nicht, ob denn alle sich auch brav
überarbeiteten. Ich war einfach da
und sah zu. Und die auf der Bühne –
die fragten, was ich denn sähe. Ob
das eine Spannung habe. Ob es da
220
zu einer Szene vielleicht doch noch
einen Text brauche. Wieder benötigte
es eine Zeit, bis ich verstand – und
wieder verstand ich zunächst unbewusst:
Die Ansage von Lorenz zu Beginn,
er wolle keine Angst mehr auf
Produktionen, zu keinem Zeitpunkt,
wir würden das anders machen –
diese Ansage war wirklich so gemeint.
Sie sollte nicht die Schauspieler
zu etwas ermutigen, das dann von
außen doch wieder kritisiert würde,
sie meinte alle im Raum und das
Theater dazu. Dabei arbeiten hier, anders
als am Stadttheater, keine Menschen
in festen Arbeitsverhältnissen.
Hier wechseln treue Gäste sich ab von
Produktion zu Produktion.
Die Förderung geschieht lediglich auf
drei Jahre gesichert und ist projektbezogen.
Hier könnte also ein neoliberaler
Geist wehen, wie er Teile
der freien Szene in Deutschland
längst erfasst hat.
Es ist aber vielmehr eine Gegenbewegung,
die die aktuelle Arbeitsweise
am TamS bestimmt. Eine Gegenbewegung
zu einem optimierenden
Denken, das, weil es den Misserfolg
vermeiden möchte, gar nicht erst das
Risiko des Unbekannten sucht. Hier
wird untersucht und diskutiert, gelesen,
Ideen zu Ketten gesponnen und
wortwörtlich an die (Proben-)Wand
gepinnt. Meinungen haben ihren
In seiner „Brandstifterei“,
einer Bearbeitung von
Max Frischs „Biedermann
und die Brandstifter“, gelang
es Lorenz Seib und seinem
Team, den gelegentlich etwas
zähen und didaktischen
Text in reines Spiel aufzulösen
und ein mit artistischen
Leckerbissen gespicktes
Bewegungsspektakel
zu veranstalten.
2014, Regie: Lorenz Seib
festen Platz auf der Probe und können Teil des Stückes werden.
Eine so radikal offene Arbeitsweise bedingt – im Sinne einer
Dialektik von Form und Inhalt – eine eigene Ästhetik: Offen,
humorvoll, gegenwartsbezogen, augenzwinkernd, nie die Bühne
vergessend, auf der alles passiert. So könnte man vielleicht beschreiben,
was sich hier zeitigt. Egal ob Klassiker, Uraufführung,
Stückentwicklung oder – besser – Stückerfindung, alles wird in
diesen Sinne durchgesponnen und auf den TamS’schen Prüfstein
gelegt. Ehrfurcht ja, aber keine falsche. Kein aufgesetztes Regietheater,
aber auch kein bloßes Umsetzen von Text. Radikal eigenwillig
und eigenständig – so könnte man es vielleicht versuchen zu
fassen, wenn man müsste. Aber das ist auch wieder eine dieser
Geistesübungen, die zu kurz greifen (müssen). Denn eigentlich ist
es die Lust an der Anarchie, die in all diesem steckt, was hier geschieht.
Und so reicht der Geist des TamS von seinen Anfängen bis
heute. Er hat sich jung gehalten und ist immer noch aktuell, weil er
die Dinge so lange wendet, bis er die dritte – die nach Karl Valentin
komische Seite – an ihnen entdeckt. Und dabei so einiges andere
an ihnen ebenfalls zur Betrachtung kommt.
Aber Anarchie kann nur herrschen, wo man ihr Raum lässt. Wo
man Vertrauen hat, statt es zu behaupten. Wo der spielerische Missgriff
höher geschätzt wird als die sichere Routine. Das große Verdienst
all dieser Menschen hier, zuvorderst natürlich Anette Spola
und Lorenz Seib, ist es, neben so vielem anderen, dass sie diese
Form, diesen Geist suchen, ermöglichen und fördern. Und dass er
nun, so scheint es, längst das Haus beherrscht und alle befällt, die
hier wirken. Und der selbst Dramaturgen noch einmal ganz anders
denken und fühlen lässt auf jeder Probe und bei jeder Aufführung.
So hat sich längst ein Stamm gebildet von Menschen, die dem
Haus mehr Gesicht geben als manches Ensemble seinem Stadttheater.
Menschen, die eine wache Neugier haben. An dem, der
da schaut, aber auch an dem, was er sieht und fühlt. Und so geht
es vielleicht doch, das Eigene im Fremden und vice versa zu entdecken
und zu leben. Besonders hier.
Nachtrag: Die „Katastrophen“ wurden ein herrlicher Theaterabend.
Und sie wurden es zu einem Zeitpunkt – nämlich an der
Premiere –, als viele andere bereits angstvoll abgebrochen, geändert
und den sicheren Weg gewählt hätten. Aber Mut gehört dann
eben auch dazu, beim Anderssein.
222
Vielleicht lässt sich die Katastrophe ja noch potenzieren
2017, Lorenz Seib und Ensemble, Regie: Lorenz Seib
Wie wir lustvoll dem Untergang entgegensteuern. Und sich Katastrophen in Grotesken verwandeln.
223
Wartungsarbeiten
2014, Autor und Regie: Lorenz Seib
Ein musikalischer Theaterabend: Mal nicht auf Godot, sondern auf den nächsten Zug
warten. In „Wartungsarbeiten" tun dies die vier Musiker von der Express Brass Band.
225
Steuerberater, Taxifahrer und
Rudolf Vogel
von Seite 101
Nicht „hängengeblieben“, aber auf
ähnlich unorthodoxe Weise sind fast
alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
ans TamS geraten. Wer sich bewarb,
musste keine Fragen nach Abschlusszeugnissen,
Zertifikaten gleich welcher
Art befürchten. Musste keine
Auskunft darüber geben, wie viel
kostbare Lebenszeit er als dritter,
vierter, fünfter Dramaturg in staubigen
Kabuffs am Ende des Ganges verbracht
hatte. Zu wessen Füßen eines
Regiekünstlers er oder sie gesessen
hatte, Einfälle, Kürzungen, Änderungen
im Skript notierend, gelegentlich
als Souffleur oder Stichwortgeber eingesetzt
– nichts dergleichen. Anette
Spola stellte zwei einfache Fragen,
deren Beantwortung aber für den täglichen
Theaterbetrieb eine nicht zu
unterschätzende Bedeutung hatte und
hat: Kannst du einen Kurzschluss reparieren?
Und: Kannst du mit dem
Besen hantieren? Fiel die Antwort zufriedenstellend
aus, war dies – in aller
Regel – der Beginn einer langjährigen
Zusammenarbeit. Im Idealfall: einer
wunderbaren Freundschaft.
Diese (zugegeben etwas verkürzte)
Laufbahnbeschreibung galt und gilt –
wie schon gesagt – für alle Mitarbeiter
des TamS: Bühnen- und Kostümbildner,
Techniker, Inspizienten,
Schauspieler und Regisseure.
Auch für einen jungen Mann, Lorenz
Seib, der als theaterbegeisterter Schüler,
wie Jahrzehnte vor ihm Eberhard
Kürn, zum TamS kam. In der Tradition
ehrbarer Zünfte erlernte er bei
Kürn, inzwischen Meister, die Kunst
des Bühnenbaus, des Ton- und Lichteinrichtens,
des Herstellens von Requisiten
und Kulissen. Anschließend
ging er nach Berlin und machte eine
Ausbildung als Schauspieler und Puppenspieler.
Zurück in München, übernahm
er die Rolle des jüngsten
Managers in Suters „Business Class“.
2011 debütierte er mit seiner Inszenierung
von Thomas Bernhards „Vom
Schlimmsten das Beste“ als Regisseur.
Heute leitet er gemeinsam mit
Anette Spola das TamS.
226
ein Seemanns-Chor
links:
Lorenz Seib
unten:
Zusammen mit Anette Spola
Von Beginn an – auch dies ein TamS-
Spezifikum – hat Anette Spola die vor
allem in Deutschland gern vorgenommene
Grenzziehung zwischen Profis
und Laien aufgehoben und Frauen
und Männern ganz unterschiedlicher
Professionen die Mitarbeit ermöglicht.
So stießen Ärzte zum TamS,
Mathematiker, Taxifahrer, Obdachlose,
Wachmänner, Steuerberater, eine
Sprecherzieherin (Charlotte von
Bomhard, mit 99 die Grande Dame
des Ensembles), Stewardessen, Juristen
(der vorzügliche Gerd Bumeder,
überpünktlich bei den Proben, überpünktlich
bei Gericht), ein Seemanns-
Chor, ein bayerischer Meister im
Einradfahren, ein Schäfer (der zudem
den Dachboden als Winterquartier
nutzte), Akrobaten, Glücksspieler,
Frisörinnen … die Reihe
ließe sich fortsetzen. Sie alle kamen
und gingen und kamen wieder,
manche blieben.
Durch die gemeinsam entwickelten
Projekte für gelernte Schauspieler und
begabte Menschen, die andere, ungewohnte
Lebenswirklichkeiten einbringen
konnten, entstanden Theaterabende
von einem Reichtum und
einer Vielschichtigkeit, die mit einem
konventionellen Ansatz kaum möglich
gewesen wären: „Argentinische
Straßengeschichten“ zum Beispiel,
in denen der oben genannte Schäfer
eine stumme Rolle derart eindrucksvoll
spielte, dass er zum „Star“ des
Abends wurde … das Hausbesetzerstück
„Ins Sprungtuch wird nicht
gesprungen“ … „Die Eröffnung der
neuen Probebühne der Kammespiele“
… „Die Dienstleister“ … „Himmel
einfach bitte“ … „Sehstadel – Bilder
vom Theater“ … „BONNBERLIN –
Deutschland ein Altenheim“ …
die Sommertheater-Produktionen …
Die Philosophie der „asymmetrischen
Ensemblebildung“ galt auch und in
ganz besonderem Maße für das Theater
Apropos, ein Gemeinschaftsprojekt
von TamS und dem Klinikum
rechts der Isar, von dem zuvor ausführlich
die Rede war.
Natürlich blieb auch das TamS von
Misshelligkeiten nicht verschont.
Gegen Ende des ersten Jahres setzte
das Ensemble Anette Spola wegen
unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten
als Intendantin ab.
Ausfluss der an vielen Theatern diskutierten
und eingeforderten „kollektiven
Führung“. Die Spola holte
umgehend zum Gegenschlag aus, unterbrach
die Strom-, Wasser- und Gasversorgung
und stellte (es war Winter)
die Heizung ab. Die Revolte brach in
sich zusammen, und die Spola hatte
den Nachweis erbracht, alle Voraussetzungen
für die Leitung eines mittelständischen
Unternehmens zu
erfüllen. In einem Interview mit der
Abendzeitung zu den Vorkommnissen
an ihrem Theater sagte sie auf die
Frage, wo sie denn bei sich die
Schuld sehe: „Vielleicht war ich zu
wenig autoritär.“ Eine Logik, die sich
nur dem TamS-Kenner in ihrer tieferen
Bedeutung erschließt.
227
Die Affengruppe ist gar nicht vorgekommen
2017, Regie: Anette Spola und Lorenz Seib, Texte: Philip Arp
mit Burchard Dabinnus, Maria Peschek, Charlotte von Bomhard, Helmut Dauner, Axel Röhrle, Ines Honsel
Wenn der Theaterkosmos um sich selbst kreist und die Mittel der Inszenierung zum Inhalt werden,
dann ist Zeit für „Die Affengruppe ist gar nicht vorgekommen“.
229
Das Käthchen von Heilbronn hab ich mir anders vorgestellt
2017, Regie: Lorenz Seib
Kleists „Käthchen“ war 2011 das letzte Mal in München zu sehen. Dieter Dorns Abschiedsvorstellung am Residenztheater.
Aus Ehrfurcht vor Autor und Werk hatte Dorn kein einziges Wort gestrichen, vielmehr auch noch jedes Komma liebevoll inszeniert.
Ergebnis: eine Spieldauer von gefühlt sechs Stunden. Ein unvergessliches Erlebnis für alle, die dabei gewesen. Für nicht wenige
der Auslöser einer massiven, therapiebedürftigen Klassikerphobie.
Nicht so das TamS-„Käthchen“, fairnesshalber mit dem Untertitel „… hab ich mir anders vorgestellt“ versehen. Statt dreißig
eine Handvoll Schauspieler, statt einer kaum mehr überschaubaren Anzahl von Szenenwechseln ein karges, in sich verschiebbares
Globe-Theater-Podest. Spieldauer: gut eine Stunde. Kurz: eine geradezu beispielhafte Klassikerentstaubung, die des Kleistes Kern,
seine radikale Gefühlsversessenheit, umso deutlicher zum Ausdruck brachte.
230
232
Sie sinken, wir winken. Die Odyssee 2018, Regie: Lorenz Seib
Mit dem Stück „Sie sinken, wir winken“, einer Adaption der „Odyssee“, spiegelte Lorenz Seib das Heute im Damals.
Zugleich erbrachte er den Beweis, dass sich Peymanns Forderung an Thomas Bernhard, „den ganzen Shakespeare an einem Abend,
einschließlich der Sonette“, mühelos auf ein vergleichbares Kaliber der Weltliteratur übertragen und bewältigen lässt.
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Freunde
Kulturreferenten
Bühnenbildner
Schauspieler
Bürochefinnen
Zusch
Regisseure
Dan
Techniker
Fotografen
Bastler
Autoren
Filmer
Stammgäste
Telefonisten
Münchner Theatermuseum
Grantler
Dramaturgen
Studenten
Denkmalschützer
berittene Polizei
Publikum
Lichtgestalter
Praktikanten
Mäuse
Mit freundlicher Unterstützung von
Geräuschemacher
gefördert durch den Bezirksausschuss
Schwabing-Freimann
Puppenspieler
Claqueure
Spender
auer
Sänger
Redakteure
Team
Kostümbildner
ke
Hausperlen
Wichtigtuer
Gönner
Musiker
Förderer
Großmäuler
inklusive aller Innen, /innen, _innen, (innen) und *innen
Abrissunternehmen
Köchinnen
Putzfeen
Fans
Bardamen
Grafiker
Kritiker
Dick- und Dünnhäuter
Landratsamt
Impressum
Herausgeber
TamS Theater e.V.
Anette Spola
Haimhauserstraße 13a
80802 München
089 34 58 90
tams@tamstheater.de
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Redaktion
Wolf Jahn
Anette Spola
Rudolf Vogel
Grafische Gestaltung
Felicitas Rall-Wirtz
Korrektorat
Gabriele Werbeck
Recherche
Karin Platzer
Druck und Bindung
Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, Calbe (Saale)
1. Auflage 2020
Copyright © by ATHENA-Verlag
Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen
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Alle Rechte vorbehalten
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ISBN 978-3-7455-1085-0
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der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
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238
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David Baltzer 208. Hans Bergmann 40, 111. Bernd Böhner 129. Lorenz Claussen 50, 51.
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Arno Friedrich 164. Kraft Geer 6, Umschlag außen. Wolfgang Giesche 55. Jo Görsch 120/121.
Elena Gram 197. Wolf Jahn 7, 8, 9, 29, 120, 226. R. Klaffenböck 208. Eberhard Kürn 100/101,
102–109, 111–117. Ibab Kunkel 164, 165, Umschlag außen. Bernard Lesaing 62/63, 101, 130,
131, 135, 144/145, 148, 149, 163, 164, 165, 174, 182–193, Umschlag außen. Hilda Lobinger 84–88,
90, 91, 92/93, 94, 95, 136, 151–155, 164, 165, 171, 178/179, 194, 199, 200/201, 212/213, 214/215,
217, 221, 222–225, 228–233, Umschlag außen. Daniel Mayer 23, 156, 157, Umschlag außen.
Wolfgang Meier Weber 97, 132/133, 138/139, Umschlag außen. Ferdinant Neumüller 147, 164.
Isolde Ohlbaum 53. Oscar O’Ryan 208/209. Chris Parkes 204/205. Edeltraud Prestele 165, 214.
©Privat 6, 96, 164, 165, 196, 210, Umschlag innen vorne, Umschlag außen. Jo Prökel 134,
136/137, Umschlag außen. Felicitas Rall-Wirtz 8, 12/13, 64, 66/67, 68, 71, 122, 141–143, 161, 164,
165, 176, 177, 227, Umschlag innen hinten. Brigitta Rambeck 80, 92, 159, 164. Axel Röhrle 216.
Harald Rumpf 54. Adolf Schäfer 59. Peter Schinzler 28. Benjamin Schmidt 203.
Katharina Schmidt 125, 234/235, Umschlag außen. Karen Schultze 206, 207. Lorenz Seib 68/69,
164. Ernst Spycher 148. Stadtarchiv München 56, 57, 58, 59. Bernd Thomas 212.
Bianca Toledo 164. Claus-Michael Trapp 74/75, 164, 165. Jean-Marc Turmes 89, Umschlag außen.
Hannelore Voigt 6, 7, 14 –22, 24, 26, 31, 34/35, 37, 39, 41, 42 –49, 67, 72/73, 79, 80–83, 98, 99, 126,
127, 128–129, 164, 165, 167, 177, Umschlag außen. Ursel Wehrhahn 164. Gabriele Werbeck 173,
210, 211, 218/219. Alexander von Werz 164. Barbara Westernach 122, 123, 124/125, 168–169.
Trotz intensiver Recherchen konnte nicht in allen Fällen der fotografische Urheber zweifelsfrei
ermittelt werden. Wir bitten gegebenenfalls um Nachricht.
Autoren
Raphaela Bardutzky, Autorin und Dramaturgin. Charlotte von Bomhard, Schauspielerin.
Dr. Gerhard Bumeder, Anwalt. Beate Faßnacht, Bühnenbildnerin und Autorin.
Adrian Herrmann, Dramaturg. Stephanie Heyl, Archivarin. Dr. Wolf Jahn, Kunsthistoriker und
Journalist. Dr. Gottfried Knapp, Autor und Journalist. Gabriella Lorenz, Schauspielerin und
Journalistin. Maria Peschek, Autorin und Kabarettistin. Gerhard Polt, Autor und Kabarettist.
Friedrich G. Scheuer, Maler und Philosoph. Lorenz Seib, Regisseur und Puppenspieler.
Anette Spola, Schauspielerin und Spielleiterin. Rudolf Vogel, Autor.
Dr. Michael Wachsmann, Dramaturg und Übersetzer. Dr. Barbara Wehr, Sprachwissenschaftlerin.
Gabriele Werbeck, Übersetzerin und Inspizientin.
239
In 50 Jahren werden wir 100
www.tamstheater.de
Am 27. Januar 1970 feierte das Theater am Sozialamt – TamS – seine erste Premiere. Damit war der Grundstein
für eine beispiellose Karriere in der Münchner Theaterlandschaft gelegt. Nur wenige Spielstätten aus dieser
turbulenten Pionierzeit der Privattheater überlebten. Das Rezept für solch Überlebenskünste steckt in Improvisation
und Offenheit des TamS. Weder folgten sie dem Ruf nach politischer Agitation, noch dem permanenten Aufschrei
nach radikalem Gesellschaftsumbau. Stattdessen pflegte man die leisen bis komischen, die literarischen, satirischen,
absurden bis experimentierfreudigen Töne, von Münchens bekanntesten Komiker Karl Valentin über Philip Arp bis
zu Gerhard Polt. Und immer kam neues, zum Beispiel inklusives Theater hinzu. Heute steht das TamS noch immer
dort, wo es einst begann: versteckt in einem idyllischen Schwabinger Hinterhof im Gebäude eines ehemaligen Brausebads.
Seinen Ruf hat es sich über die ersten 50 Jahre verdient. Der Denkmalschutz sichert ihm Gebäude und
Spielstätte. Im vorliegenden, reich bebilderten Band sehen und lesen Sie warum.
ISBN 978-3-7455-1085-0