Mörderische Zahlenspur - Blick ins Buch
Ein RWG-Krimi von Angelika Guder-Späth und Antje Haugg Beschreibung zum Buch: Schlimme Dinge geschehen in dem malerischen Städtchen Arzberg im Fichtelgebirge. Tanja und ihre Freundinnen werden unfreiwillig Zeugen von Folter und Mord ihrer Festbekanntschaft Micha. Dadurch geraten die drei selbst in Lebensgefahr, sie verstricken sich in einem Netz aus geheimen Bruderschaften, Uranschmuggel und internationalen Machtspielen. Die Schülerinnen des Bayreuther Richard-Wagner-Gymnasiums ahnen nicht, dass ihre Verfolger einst selbst hier zur Schule gingen. Während Lena und Lisa auf eigene Faust zu ermitteln versuchen, geht es Tanja plötzlich zunehmend schlecht. Doch was fehlt ihr, und wer versucht sie zu vergiften? KHK Doris Lech, die im Mordfall Micha ebenfalls ermittelt, ahnt, dass die Wurzeln des Bösen bis weit ins Bayreuth der achtziger Jahre zurückreichen.
Ein RWG-Krimi
von Angelika Guder-Späth und Antje Haugg
Beschreibung zum Buch:
Schlimme Dinge geschehen in dem malerischen Städtchen Arzberg im Fichtelgebirge. Tanja und ihre Freundinnen werden unfreiwillig Zeugen von Folter und Mord ihrer Festbekanntschaft Micha. Dadurch geraten die drei selbst in Lebensgefahr, sie verstricken sich in einem Netz aus geheimen Bruderschaften, Uranschmuggel und internationalen Machtspielen. Die Schülerinnen des Bayreuther Richard-Wagner-Gymnasiums ahnen nicht, dass ihre Verfolger einst selbst hier zur Schule gingen.
Während Lena und Lisa auf eigene Faust zu ermitteln versuchen, geht es Tanja plötzlich zunehmend schlecht. Doch was fehlt ihr, und wer versucht sie zu vergiften?
KHK Doris Lech, die im Mordfall Micha ebenfalls ermittelt, ahnt, dass die Wurzeln des Bösen bis weit ins Bayreuth der achtziger Jahre zurückreichen.
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© ELVEA 2020
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Autoren: Angelika Guder-Späth, Antje Haugg
Covergestaltung/Grafik: ELVEA
Layout: Uwe Köhl
Projektleitung
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ISBN: 978-3-946751-85-4
Angelika Guder-Späth
Antje Haugg
Mörderische
Zahlenspur
RWG
KRIMI
Das ist die einzige Kunst, die wir in der heutigen
Zeit beherrschen müssen. Furchtlos die Dinge
betrachten, furchtlos das Richtige tun.
(Dürrenmatt, Romulus der Große)
Rosafarbnes Frühlingswetter
(Goethe)
Lisa öffnete mühsam die Augen und versuchte sich zu
orientieren. Ohne Zweifel, sie lag in ihrem Bett in ihrem
Zimmer, was sie zugleich beruhigte und verwirrte.
Kaum hatte sie die Lider geöffnet, so folgten sie dem
unwiderstehlichen Drang sich wieder zu schließen. Als
sie sie wenige Minuten später wieder öffnete, fühlte sie
einen brennenden Schmerz im Kopf, der wahrscheinlich
nur eine Ursache haben konnte. Eines der letzten Biere
musste nicht mehr gut gewesen sein, obwohl sie diesen
Gedanken sogleich wieder verwarf. Sie war am letzten
Abend auf dem Maisels Weißbierfest in Bayreuth gewesen
und sicherlich war dort ein Bier wie das andere.
Die letzten vertrugen sich nur nicht mit all ihren Vorgängern.
Das musste es sein. Und außerdem war es den
ganzen Tag und auch die ganze Nacht hindurch tropisch
warm gewesen, so dass man natürlich sehr viel Durst
bekam und diesen schnellstens bekämpfen musste. Ein
Teufelskreis, dessen Auswirkungen Lisa nun zu spüren
bekam. Unsicher stand sie auf und versuchte sich in dem
großen Spiegel an ihrer Tür wiederzuerkennen, was ihr
mit einigen Mühen auch gelang. Mit dem Blick auf ihr
Gesicht setzte auch zugleich die Erinnerung an den
gestrigen Abend ein und ein Lächeln huschte über ihr
Gesicht, verbunden mit dem Gefühl einer leichten Verliebtheit.
Am Spiegelrand steckte ein Zettel im Spiegelrahmen,
der eigentlich an die Hausaufgabe im Fach
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Deutsch erinnern sollte. Sie ließ ihren Blick auf die Zeilen
des Gedichts gleiten und begann es zu überfliegen.
Bei den Versen von Goethes ›Willkommen und Abschied‹,
das Teil eines Gedichtvergleichs werden sollte,
›Ein rosafarbnes Frühlingswetter lag auf dem lieblichen
Gesicht, und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter, ich hofft
es, ich verdient es nicht‹ stellte sich unweigerlich ein
Bild in ihrem Kopf ein. Ein fröhlicher und gut aussehender
Junge saß ihr gegenüber und lachte sie verschmitzt
aus funkelnden Augenschlitzen an. Seine Zähne waren
makellos und die ganze Erscheinung wirkte unwiderstehlich
anziehend auf sie. Dass er am ganzen Körper
tätowiert war, fand sie zwar zunächst etwas störend, sein
Charme wog diesen kleinen Mangel aber tausendfach
auf. Noch in Gedanken an ihn versunken, bemerkte sie,
dass ihr Handy schon eine ganze Weile neben ihr surrte.
»Hi Lisa, hier ist Lena. Na, wie geht es dir nach gestern
Abend? Gut, dass deine Schwester Lotte dich eingefangen
und nach Hause gebracht hat, du hattest ja ganz
schön geladen. Hast du dir eigentlich die Handynummer
von Micha geben lassen. Meine Güte, habt ihr die Welt
um euch herum eigentlich noch mitgekriegt? Und wieso
war er dann plötzlich weg?«
Lenas Redeschwall ging noch eine ganze Weile so
weiter, doch Lisa hörte nur noch mit einem Ohr zu, vergaß
aber nicht gelegentlich ein »Ja« oder »ach so« einzuflechten,
während sie Lenas Informationen ordnete. Ihre
Schwester Lotte hatte sie also heim nach Emtmannsberg
gebracht. Gut, dass sie eine so klar strukturierte und
zupackende Schwester hatte, die sich gestern mal einen
freien Abend von ihrer kleinen Tochter erkämpft hatte.
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Wobei nicht der Säugling das Problem war, sondern die
reiferen Tanten, die sich allesamt gestern ebenfalls auf
dem Fest mit ihren Tinderbekanntschaften verabredet
hatten. Zum Glück hatte sich die Mutter ihrer Freundin
Sarah bereiterklärt, auf die Kleine aufzupassen. Sarahs
Mutter war Lotte noch immer zu großem Dank verpflichtet,
da Lotte in ihrer Funktion als Kriminalbeamtin
vor ihrer Babypause Sarah vor einem großen Unglück
bewahrt hatte. Lisa merkte, wie ihre Gedanken abschweiften
und bemühte sich, Lenas Worten wieder zu
folgen. Ja, Michas Handynummer hatte sie tatsächlich
nicht, was ihr gerade schmerzlich auffiel, aber er war ja
ein Bekannter von Tanja gewesen, die seit dem Halbjahr
in ihrer Jahrgangsstufe war, nachdem sie mit ihren Eltern
von der Stadt Arzberg nach Bayreuth gezogen war.
Weshalb Micha so plötzlich weg musste? Das hatte sie
sich auch schon gefragt, konnte sich aber auch keinen
Reim darauf machen. Sobald sie wieder etwas zusammenhängender
denken konnte, würde sie Tanja anrufen.
Lena erzählte dann noch eine Menge über ihre Freunde
aus ihrer Stufe und beendete endlich das Gespräch.
Während sich Lisa restaurierte, überlegte sie, wie sie
möglichst unauffällig an Michas Telefonnummer über
Tanja kommen konnte. Sie sollte ja schließlich nicht
sofort merken, dass ihr der Typ so gut gefallen hatte.
Auch wollte sie mehr über ihn erfahren. Eigentlich hatten
sie sich nur von Beginn ihres Treffens an ein einziges
Wortduell geliefert und dabei heftig geflirtet und rumgemacht.
Mit einer Tasse Kaffee bewaffnet ging Lisa in
den Garten, »Rosafarbnes Frühlingswetter – ganz schön
abgefahren dieser alte Goethe! Aber er hat Recht!«,
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murmelte Lisa, während sie die frische Luft einzog und
auf die noch blühenden Fliederbüsche schaute, die sie
in rosa bis zu tiefen lila Nuancen aus dem weitläufigen
Garten anschauten. Möglichst unverfänglich wollte sie
jetzt mit Tanja plaudern und dann wie zufällig auf
Micha zu sprechen kommen. Lisa tippte auf Tanjas
Nummer und sie war nach dem ersten Ton dran.
»Hi Tanja, du erzähl mir mal was über Micha, der
hat mir nämlich krass gut gefallen«, flötete Lisa in ihr
Handy. Nein, weder ihr noch ihrer Schwester oder ihren
Brüdern war es gegeben auch nur ansatzweise um den
heißen Brei herum zu plaudern. Schon in dem Moment,
in dem sie die Worte aussprach, hätte sie sich für ihre
Plumpheit prügeln können. Noch dösiger geht es wohl
kaum.
»Na, der hat dir gefallen, wie unschwer zu übersehen
war. Was weiß ich über Micha? Er kommt aus irgendeinem
Örtchen in der Nähe von Arzberg und ist mit mir
in die Grundschule gegangen. Seine Eltern haben sich
dann getrennt und seine Mutter ist mit ihm zu ihrem
neuen Freund nach Tschechien gezogen. Armer Micha,
er wollte nicht in das fremde Land mit der fremden
Sprache. Ich hätte ihn auch niemals wiedererkannt,
wenn er mich nicht angesprochen hätte. Er hat nur gesagt,
dass er jetzt wieder da ist und wohl auch wieder in
dem Haus seiner Großeltern in dem Örtchen bei Arzberg
wohnt und dass die Großeltern nicht mehr leben. Was er
aber beruflich macht, das weiß ich nicht und der Abend
war ja auch viel zu witzig, um sich noch über solche
ernsten Dinge wie die Arbeit zu unterhalten. Nein, seine
Handynummer habe ich auch nicht, aber wenn er will,
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schafft er es schon Kontakt mit uns aufzunehmen. Dass
er plötzlich mit dem komischen Typen, der an den Tisch
kam, wegging, habe ich auch nicht verstanden, zumal
die beiden eigentlich nicht miteinander gesprochen
haben. Gehst du gleich mit zum Maisels Fun Run? Mia
läuft doch mit, wir könnten sie anfeuern«, fragte Tanja.
Natürlich wollte Lisa mit zum Fun Run gehen, vielleicht
würde sie da Micha zufällig wiedersehen, und so
verabredeten sie sich und Lotte war auch schnell überzeugt
davon, sie in die Stadt zu fahren. Die Stimmung
war ungemein ausgelassen, doch so sehr ihre Augen
über das Meer der Menschen, die die Läufer anfeuerten,
kreisten, Micha fand sie nicht.
Dafür fand Oliver, oder »der Tupfer«, wie seine Freunde
ihn nannten, Tanja. Oliver war der Typ gewesen, mit
dem Micha so schnell verschwunden war. Wiedergesehen
hatten sich Tanja und Oli im Lamperium, einer der
Bayreuther In-Kneipen. Tanja hatte den ungemein
attraktiven Typen mit den verwegenen grün-grauen
Augen sofort wiedererkannt und auch Oliver wusste
sofort, wo er sie hinstecken sollte. Lena war in ihrer
unbekümmerten Art lange nicht aufgefallen, dass da was
zwischen Tanja und Oli zu laufen begann, während Lisa
nur Ausschau nach Micha hielt. Doch die Typen, die
sich in seinem Dunstkreis befanden, gefielen Lisa überhaupt
nicht. Alles an ihnen empfand sie als unangenehm.
Die Art, wie sie sich kleideten, diese Mischung aus
billig angeberisch, militärisch streng und pseudocool
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widerstrebte ihr, ebenso wie ihre Sprache und Wortwahl,
die man, wie sie im Pädagogik-Unterricht gelernt
hatte, nur als restringierten Code bezeichnen konnte, und
ihr aggressiv-eintöniger Musikgeschmack. Tanja schien
das alles nicht zu stören und Lena befand sich gerade
in ihrer Flower-Power-Toleranz-Phase. Sie nahm die
Jungs gerne als Beispiele für ihre psychologischen
Analyseversuche. Und eine schwere Kindheit konnte
man jedem von ihnen auch ohne weitere Kenntnis ihrer
Geschichte problemlos bescheinigen. Lisa hätte am
liebsten den Kontakt zu Tanja und Lena reduziert, aber
das konnte und wollte sie nicht. Sie drei waren in fast
allen Kursen zusammen und spielten gemeinsam Theater
im Profilfach. Außerdem fühlte sich Lisa ohne ihre
Freundin Anna ziemlich allein. Nicht, dass sie in ihrer
großen Familie mit ihrer Schwester, den drei Brüdern,
den Eltern, Großeltern und den gefühlt Dutzenden von
Tanten und auch Onkeln irgendwie einsam zu nennen
war, nein was ihr fehlte, waren richtig gute gleichaltrige
Freunde. Anna war ihre engste Vertraute gewesen und
sie war mit ihren Eltern nach dem Mord an ihrer
Schwester Tina, den Lisas Kripo-Schwester Lotte mit
ihrer Chefin, Frau Doris Lech, schnell aufklären konnte,
von Bayreuth weg nach Apolda in Sachsen-Anhalt gezogen,
wo Tinas Vater Verwandte hatte. Anna fehlte ihr
sehr! Doch mit Tanja hatte sie nun jemanden gefunden,
der wieder etwas mehr Power in ihr Leben brachte.
Weder Lena noch Tanja wollte sie verlieren und deshalb
ließ sie sich auch auf die verrückte Idee ein, mit den
beiden nach Arzberg zu fahren. Der Vorschlag kam von
Oli. An Pfingsten wurde in der Nähe der Stadt das
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›Zuckerhutfest‹ auf dem Kohlberg, auch Zuckerhut
genannt, gefeiert. Unter den Bäumen des Gipfels des
Zuckerhutes, bei der Waldenfelswarte neben der
Schutzhütte des Fichtelgebirgsvereins, fand jährlich ein
Familienfest statt. Oli und seine Kumpanen wollten erst
da feiern und dann zu einer kleinen Hütte an den
Feisnitzstaussee gehen. Dort, so sagten sie mit einem
blöden Kichern, gebe es dann tschechische Spezialitäten.
Lisa wollte sich gar nicht erst vorstellen, was sie
damit meinten, aber Tanja und Lena wiesen ihre Bedenken
zurück. Lisa fragte Tanja auch, wieso der Berg
›Zuckerhut‹ genannt werde und Tanja gab stolz ihr
Wissen aus dem HSU-Unterricht der 4. Klasse preis:
»Der Berg heißt so, weil über ihn mal eine Grenze
zwischen Preußen und Bayern verlief und an dieser
Grenze ein reger Zuckerschmuggel stattfand.«
Wieder lachten die Kumpels und Oli und dieses
Mal waren sie so erheitert, dass sie sich bei dem Wort
›Zuckerschmuggel‹ wie wild auf die Schenkel klopften.
Während Lena und Tanja höflich mitlachten, suchte Lisa
nach irgendeinem Vorwand, um nicht mitfahren zu
müssen.
»Was sagen deine Eltern eigentlich dazu, dass du
in Arzberg feiern willst?«, fragte Lisa Tanja in einem
ruhigen Moment.
»Mein Vater war zwar überhaupt nicht begeistert von
der Idee, aber meine Mutter meinte, dass wir dann mal
wieder ihre Tante besuchen könnten, dann also mal
jemand aus der Familie nach ihr geschaut hätte und sie
sich dann erst wieder zur Apfelernte bei ihr blicken
lassen müsste«, raunte Tanja ihr zu. Als Lisa zu Hause
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von dem bevorstehenden Trip erzählte, hoffte sie, dass
irgendwelche Einwände kämen. Aber ihre Familie war
alles andere als abgeneigt. Ihr Vater begann einen Vortrag
über den Zuckerhut und dessen Geschichte, den
Lisa ja schon kannte, und ihre Tanten würzten die Geschichtsstunde
mit vielen Anekdoten. Ihre Mutter freute
sich, dass Lisa nach dem Verlust ihrer Freundin Anna
wieder eine nette Clique gefunden hatte, und Lotte bemerkte,
dass sie dort aber selbst auf sich aufpassen
müsste, weil sie ja nicht dabei war, weil sie unbedingt
auf die Bergkirchweih nach Erlangen fahren müsste. Für
alle schien alles klar zu sein und so willigte Lisa letztlich
ein, mitzukommen. Vielleicht kam es da ja auch zu
einem Wiedersehen mit Micha.
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Der Tod gefürchtet oder ungefürchtet,
kommt unaufhaltsam
(Goethe, Ipigenie auf Tauris)
Missmutig fuhr Tanjas Vater die drei Mädchen zu der
Schwester seiner Frau nach Arzberg. Erinnerungen an
schöne und unbeschwerte, aber auch an einsame Jahre
stiegen in ihm auf. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass
Tanja auf einmal eine Affinität zu ihrer alten Heimat zu
haben schien. Es gab nur keinen ihr erklärbaren rationalen
Grund, weshalb es ihn so störte. Und er wollte auf
keinen Fall, dass Tanja Verdacht schöpfte oder, was
noch schlimmer war, sich in Gefahr begab.
Die ältere Dame freute sich erwartungsgemäß sehr
über den Besuch ihrer Nichte und der beiden Mädchen.
Lisa ließ angesichts der herzlichen Begrüßung ihre Vorbehalte
gegenüber dem Ausflug etwas fallen und fand
Gefallen an der lustigen und geistreichen Dame, die in
einem schmucken Häuschen in der Nähe eines kleinen
Parks wohnte. Sie versprach dem überraschend besorgten
Vater sich um die Mädchen zu kümmern. Nach
wenigen Minuten war er daraufhin verschwunden. Die
Mädchen machten sich mit der klassischen Teenagerbeflissenheit
fertig und Tante Heiderose, wie die Mädchen
sie sogleich nannten, lachte darüber, wie viel Schminke
es brauchte, um natürlich geschminkt auszusehen. Dann
zogen die drei los und die Tante gab ihnen als Auftrag
mit, sich super gut zu amüsieren und nicht vor dem
Morgengrauen nach Hause zu kommen. Den Schlüssel
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würde sie für sie unter den großen Marmorstein am
Eingang legen. Mit diesem Auftrag im Gepäck und dem
festen Vorsatz, diesem nachzukommen, zogen die
Mädchen los, liefen das kühle Röslau-Tal entlang und
dann durch den angenehmen Wald hoch zum Zuckerhut.
Schon von weiten war nicht zu überhören, dass dort ein
Fest stattfand. Die Mädchen fanden schnell Kontakt
und feierten ganz unbefangen mit einer ganzen Clique
von Jugendlichen. Die Stimmung, das Wetter und das
Bier waren wunderbar und Lisa fühlte sich rundherum
prima. Als es zu dämmern begann, war die Party nicht
mehr zu toppen. Da erschienen Oliver und seine Jungs.
Zielstrebig schritten sie auf Tanja und ihre Freundinnen
zu.
Alle Augen waren auf die Typen gerichtet, die in ihren
Outfits so gar nicht zu dem normalen Festpublikum
passten. Noch mit dem Blick auf die Gang gerichtet,
fragte Manu, einer der neuen Feier-Bekannten, ob Tanja
die Typen etwa kennen würde. Tanja nickte freudig und
im gleichen Tempo wie Oliver und die anderen auf sie
zu schritten, zogen sich die anderen Jugendlichen zurück.
Lisa wäre zu gerne mit den anderen gegangen,
doch sie traute sich nicht, ihre Freundinnen zu verlassen.
Die Stimmung wurde schlagartig eine Mischung aus
aggressiv und arrogant-ordinär. Wieder fragte sich Lisa,
was Lena und Tanja an den Typen so toll fanden. Als
die Feier auf dem Berg sich allmählich auflöste und die
Familien zusammenpackten, schlugen auch Oli und seine
Kumpels vor, sich in die Hütte zu begeben. Der Weg
durch den Wald hinunter in Richtung des Stausees war
noch einigermaßen gut zu erkennen, wurde aber mit
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jeder Minute dunkler und schmaler. Lisa wurde es
mulmig zu mute, sie lachte und scherzte aber tapfer mit.
An der Hütte angekommen, musste Lisa schlucken. Das
Innere der Hütte war vollständig versifft. So stellte sie
sich immer eine Messiewohnung vor. Auch der Geruch
war widerlich. Es roch nach Fäkalien, Bier und nach
Galle. Lisa wäre gerne wieder nach draußen gegangen,
aber einer der Typen stand breitbeinig und Kaugummi
katschend an der Tür und sie wagte sich nicht an ihm
vorbei. Während Tanja und Lena bereitwillig das Bier
tranken, das ihnen in gebrauchten Pappbechern unter die
Nase gehalten wurde, nippte Lisa nur ein bisschen davon,
tat aber so, als würde sie es in vollen Zügen hinunterstürzen.
Erstaunlicherweise spürte sie, wie die Augen
der Typen an ihnen hingen als warteten sie auf eine Reaktion
ihrerseits. Jemand drehte die fürchterliche Musik
auf und Lisa sah, wie sich Oliver aus dem Staub machte
und sie mit den Typen, die sich irgendwie noch vermehrt
hatten, zurückließ. Plötzlich merkte Lisa wie sie
die Menschen um sich herum sehr konturiert wahrnahm
und sie sehr nervös wurde. Sie versuchte auf das hirnlose
Gestammel ihres Gegenübers zu antworten, merkte aber
gleich, dass sie Wortfindungsstörungen hatte. Sie fühlte
sich hilflos und gleichzeitig stark. Tanja und Lena
plapperten in einer Tour und begannen völlig enthemmt
auf die Musik zu tanzen. Lisa schaute einen Moment
ganz klar und wach in die immer lüsterner werdenden
Augen der Typen und wusste in dem Moment, worauf
die ganze Veranstaltung hinauslief. Einer von dem Typen
sprach es dann wahrscheinlich unfreiwillig etwas zu laut
aus: Gangbang! Lisa wusste, dass sie jetzt, spätestens
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jetzt, unbedingt raus mussten. Nur wie? Und wie sollte
sie Tanja und Lena erklären, in welcher Gefahr sie sich
befanden? Sie tanzte sich an die beiden heran und raunte
ihnen zu, dass sie unbedingt hier weg müssten. Lena
schien plötzlich wach zu werden, während Tanja ganz
abgefahren war und sich ungeniert an allen möglichen
Stellen zu kratzen begann. Lisa erinnerte sich gelesen zu
haben, dass es nur eine chemische Substanz gab, die
dieses Kratzen bewirkte. ›Ist in dem Bier etwa …‹ weiter
konnte sie nicht denken, die Angst vor dem Kommenden
lähmte ihr Gehirn. Lena war es dann tatsächlich
auch, die zu den Typen sagte, sie müssten mal alle drei
in den Wald zum Pinkeln. Sie sollten alle schön auf sie
warten. In ihren dumpfen Köpfen ließen sie sie gehen,
nicht ohne sie dabei mit obszönen Sprüchen zu versorgen.
Draußen angekommen gaben sie vor, zu einer
Baumgruppe zu schlendern. Inzwischen hatte es zu regnen
angefangen, so dass sich die Tür der Hütte schnell
wieder nach ihnen schloss. Lisa packte die widerstrebende
Tanja und zu dritt liefen einen schmalen und
knorrigen Waldweg entlang. Allmählich wurde der Regen
immer stärker und so waren sie sehr beruhigt, dass
der Weg etwas breiter wurde. Zu ihrer Freude sahen sie
hinter einer Brücke über die Röslau einen Gasthof, der
an eine alte Mühle erinnerte, auftauchen. Doch wie sie
sehr schnell feststellen mussten, war der Gasthof natürlich
zu dieser späten Uhrzeit geschlossen. Unschlüssig
standen die Mädchen auf dem Parkplatz und überlegten,
ob sie hinauf auf die Straße laufen, oder ob sie lieber den
schmalen Weg an der Röslau entlang nehmen sollten.
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»Hast du auch nur wenig von dem Bier getrunken?«,
fragte Lena ihre Freundin Lisa, die immer noch unglaublich
nervös wirkte und sich fast schon kontinuierlich
umschaute und die Dunkelheit zu durchspähen versuchte.
»Ja, ich hatte Angst, was da wohl drinnen sein könnte«,
antwortete Lisa, doch dabei ließ sie es bewenden.
Auf der Straße, deren Asphalt bedrohlich grausilber
durch die Nässe schimmerte, näherte sich ein Auto langsam
der leichten Kurve, hinter der sich in einer Böschung
der Parkplatz befand. Noch konnten sie in der Biegung
nur die Lichter sehen, doch das Tempo, mit dem diese
scheinbar suchend der Straße folgten, verhieß nichts
Gutes. ›Wie das Gefieder einer Krähe glänzt die Straße‹,
schoss es Lisa in den Kopf, doch sie zwang sich nicht
abzuschweifen und sich ins Imaginäre zu verlieren,
sondern einen klaren Kopf zu bewahren.
»Duck dich« flüsterte Lena ihr zu, als ob das Auto
Außenmikrofone hätte, und zog sie mit in die Böschung
hinter den Busch hinunter. Als Lisa so kauerte, bemerkte
sie, dass Lena die apathisch wirkende Tanja bereits in
diese Lage hineingezwungen hatte. Nun befand sich das
Auto auf ihrer Höhe und durch den Schleier des immer
dichter werdenden Regens erspähte Lisa, dass das
Beifahrerfenster tatsächlich herabgelassen wurde. ›Na, da
wird es ganz schön reinregnen‹, sinnierte sie und musste
sich ein aufkommendes, völlig deplatziertes Lachen
unterdrücken. Als der Wagen vorbeigeglitten war, registrierte
auch Lisa wieder, in welcher Lage sie sich
befanden und ihre Gedanken wurden erneut klar. Tanja
war inzwischen in einen nervösen Aktivismus gefallen
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und Lena und Lisa hatten alle Hände voll zu tun, sie
sicher auf dem schmalen Gehweg zwischen den Felsen
und der reißenden Röslau zu halten. In der Dunkelheit
tauchten auf der linken Seite des Weges nass schimmernde
gewaltige Felsen auf, die, wären die Mädchen
nicht in dieser Lage und das Wetter nicht so schlecht
gewesen, ihnen bestimmt gefallen hätten. Jetzt wirkte
das Tal, über das eine alte Eisenbahnbrücke führte, nur
abweisend und gespenstisch. Allmählich fühlte Lisa, wie
sich ihre Kleider mit Wasser vollgesogen hatten und
keinen Schutz vor den Wassermassen mehr boten, sie
also bis zur Haut nass war. Durch die Nässe hindurch
begann sie zu schwitzen und sie merkte, wie ihr etwas
schwindelig wurde. Auch Lena und Tanja sagten nichts
mehr, sondern kämpften nur noch gegen den immer
heftiger peitschenden Regen, der ihnen schräg ins Gesicht
stach, an. Lena sah die Höhle, oder genauer den
alten Bergwerksstollen zuerst.
»Lass uns hineingehen und uns warten, bis der Regen
etwas nachlässt«, meinte Lena zu den anderen, die ihr
nickend in das Innere des Stollens folgten.
Der erste Teil des Ganges war gerade und verwies mit
Hinweistafeln auf die Geschichte des Stollens, der schon
zur Zeit von Alexander von Humboldt von Bedeutung
war. Die Mädchen gingen den Weg entlang, durch ein
Eisentor hindurch in den hinteren Teil des Stollens, der
weniger breit ausgebaut war. Hier in einer Nische setzten
sie sich hin. Der prasselnde Regen war hier kaum noch
zu hören und machte Platz für eine Geräuschkulisse anderer
Art. Nicht weit von ihnen entfernt befand sich ein
breiterer Raum und hierin waren einige Menschen, die
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die Mädchen zunächst nur als Schatten wahrnehmen
konnten. Erst als sie sich etwas mehr an das fahle Licht,
das den Ort beleuchtete und noch einen Lichtstreif in
ihre Nische warf, gewöhnt hatten, konnten sie etwas
klarer erkennen, was sich da gerade vor ihren Augen
abspielte. An der hinteren Wand des Gewölbes saß ein
nahezu unbeweglicher Mensch, dessen Schattenriss das
Gewölbe in diesem Teil des Raumes auszufüllen schien.
In der Mitte des Platzes saß oder kauerte ein männliches
Wesen, das immer wieder von den zwei Männern, die
neben ihm aufgerichtet standen, attackiert wurde. Vor
ihm stand ein Wesen, das im Gegensatz zu den anderen
eine Haube wie die des Ku-Klux-Klans über den Kopf
gezogen hatte. Die ganze Szenerie erinnerte stark an
eine mittelalterliche Gerichtsszene – oder – und dieser
Gedanke, einmal gedacht, nahm immer mehr Raum in
Lisa Gedanken ein – an eine Hinrichtung. Nachdem die
Situation im Gehirn verortet war, fand Lisa Raum, dem
Gesagten zuzuhören.
»Da wolltest du wohl dein eigenes Ding drehen?«
blaffte den Delinquenten der Mann rechts vor ihm an.
»Nein, ich –«, weiter kam er nicht, da sich ihm von
links eine Faust in den Magen bohrte. Nur noch kraftlos
stöhnte er. ›Wie lange mag das schon so gehen?‹, fragte
sich Lisa und merkte, wie sich ihr Magen anfühlte, als
ob sie gerade geschlagen worden sei. In einem Anfall
von Mut, der bestimmt nur mit der Beimischung in dem
Bier zu tun gehabt haben konnte, das sie in der Hütte
getrunken hatte, wollte sie aufstehen und gegen die
Ungerechtigkeit, einen Wehrlosen zu schlagen, zu protestieren.
Lena schien dies bemerkt zu haben und sie
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wagte es, kurz ihren Kopf zu bewegen, um Lisa einen
Blick zukommen zu lassen. Tanja schien die ganze Situation
durch sich hindurch zu lassen, so unberührt starrten
ihre Augen auf das Tribunal, das wenige Meter vor
ihnen stattfand. Nach der kleinen Pause des Stöhnens
setzten die Peiniger ihre Inquisition fort.
»Oder wolltest du uns verpfeifen? Du weißt, dass du
dem Meister Treue und absolute Verschwiegenheit und
Gehorsam geschworen hast? Raus damit, was hattest
du vor?«, zischte der Wortführer auf der linken Seite
wieder.
Dieses Mal schwieg der Gepeinigte. Das ahnungsvolle
Schweigen durchmaß den Raum. Plötzlich trat der Verkleidete
einen Schritt nach vorne und ließ hinter sich ein
glühendes Feuer in einer Schale erkennen. Langsam und
gewichtig begann er zu reden:
»Du hast versucht, dich gegen deinen Meister aufzulehnen,
du wolltest dem Bund den Rücken kehren, du
hast gegen die Dogmen des Bundes verstoßen und das
Gebot der Verschwiegenheit verletzt. Du hast dem gegenüber
nichts zu deiner Verteidigung gesagt.«
Die Worte erfüllten den Platz und ließen in ihrem Widerhall
keinen Zweifel darüber zu, dass hier ein Urteil
gesprochen wurde, dass schon viele Menschen in vielen
Jahrhunderten zu Opfern gemacht hatte und dem unerbittlich
eine Konsequenz folgen musste. Lisa, Lena und
Tanja waren atemlos und völlig gebannt vor Entsetzen.
Inzwischen hatte der Mann sich wieder umgedreht und
etwas in die Hand genommen, was Lisa sofort erkannte.
Während der Vermummte sich mit dem Gerät über dem
Feuertopf zu schaffen machte, zogen die Männer fast
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schon fürsorglich dem Verurteilten die Jacke aus. Dieser
ließ alles apathisch über sich ergehen, als wäre jeder
Lebenswille schon aus ihm gewichen oder herausgeprügelt
worden. Als der Vermummte einen Schritt zur Seite
trat, sah man, dass er einen Eisenstab in Hand hielt, an
dessen Spitze ein Stab glühend glänzte. Der Schattenriss
des Feuers ließ das Eisenstück groß wirken. Für einen
Augenblick zauberte die Farbe des Eisens einen warmen,
fast heimeligen Schimmer an das Gewölbe. Dann drehte
der Vermummte sich zu dem Delinquenten, hielt in der
Bewegung einen Augenblick inne und wandte sich der
unbeweglich in seiner Ecke thronenden Gestalt zu. Diese
nickte bedeutungsvoll und das Eisen ging präzise auf
dem Oberarm des Verurteilten nieder. Es zischte leise
und kurz roch man den Geruch von verbranntem
Fleisch. Lisa kannte diesen Geruch und ihr war klar, was
da eben geschehen war. Die Peiniger, die den Geschändeten
bei der Prozedur festgehalten hatten, lachten leise,
wurde aber mit einem einzigen Blick auf den Meister
zur Ruhe gebracht. Einer von ihnen holte sodann einen
Trichter und der andere eine Flasche mit einer durchsichtigen
Flüssigkeit. Gewaltsam wurde der Trichter
dem Mann in den Mund gestoßen und unerbittlich musste
er die Flüssigkeit schlucken. Während er bei dem Brennen
keinen Widerstand geleistet hatte, versuchte er sich
jetzt heftig zu wehren, doch seine Versuche wurden im
Keim erstickt. Er verschluckte sich, röchelte und jede
Sekunde war offensichtlich eine unvorstellbare Qual für
ihn. Als er nur noch röchelte, gebot der Meister mit einer
Handbewegung Einhalt. Lisa, Lena und Tanja waren
jede zu einem anderen Zeitpunkt kurz davor, aufzu-
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springen und dem Mann zu helfen, doch ihr Instinkt
gebot ihnen, sich komplett ruhig zu verhalten. Auch
hatte Lisa kurz erwogen, eine WhatsApp zu schreiben,
aber an wen? Gänzlich duckten sie sich, als die Folterer
den Mann direkt nur durch die schmale Verkleidung des
Stollengangs geschützt an ihnen vorbei schleiften. Trotz
aller Angst schaute Lisa ihn sich an und im immer
schwächer werdenden Licht im Stollen erkannte sie ihn.
Es war Micha.
Auch der Vermummte und der Meister verließen den
Stollen und folgten der Prozession. Ihre Stimmen verloren
sich im Geräusch des Regens, den die drei erst
jetzt wieder wahrnahmen. Lena konnte als erste wieder
klar denken.
»Wir müssen raus – das Gitter«, wisperte sie.
Nun riss sich auch Lisa wieder aus ihrer Starre. Natürlich,
einer der Männer oder alle würden in den Raum
zurückkommen und ihre Hinterlassenschaften wieder
mitnehmen und dann unweigerlich auf sie stoßen. Während
des Tribunals waren alle so konzentriert gewesen,
dass sie sie nicht bemerkt hatten, aber jetzt, wo die Angespanntheit
der Situation vorbei war, würde ihr dürftiges
Versteck ihnen keinen Schutz mehr bieten.
»Klar müssen wir raus, aber wann«, flüsterte Lisa.
»Jetzt!«, flüsterte Lena zurück und gemeinsam nahmen
sie Tanja ins Schlepptau, die immer noch fast teilnahmslos
alles mit sich machen ließ.
Draußen angekommen merkten sie, dass der Regen
zwar etwas nachgelassen hatte, trotzdem aber noch die
bestimmende Geräuschkulisse der Nacht war. Durch den
Regenschleier hindurch sahen sie, dass die Männer sich
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mit Micha zum Ufer der Röslau begeben hatten und
gerade dabei waren, die Böschung hinunter zu gehen.
Der Weg oberhalb des Flusses war schmal und so mussten
sie fast hinter ihrem Rücken an ihnen vorbeilaufen.
Trotzdem war ihnen klar, dass sie genau diesen Weg
wagen mussten. Zurück durch das Tal zu laufen, wie sie
gekommen waren, war noch gefährlicher, weil sie es
bestimmt nicht mit den durchtrainierten Typen, die zu
allem fähig waren, aufnehmen konnten und die Schlucht
kein Entrinnen bot. Mit angehaltenem Atmen gingen sie
möglichst geräuschlos an ihnen vorbei, der matschige
Weg dämpfte zudem den Laut ihrer Schritte. Nun waren
sie vorbei, wussten aber die Feinde im Rücken, was auch
nicht viel angenehmer war. Umschauen, das spürten sie,
durften sie sich nicht. Nur nach vorne mussten sie
schauen und laufen. In dem Regennebel nahmen sie an
der Böschung auf der linken Seite des Weges ein altes
Gebäude wahr. Es sah aus wie eine alte Villa, deren
Fenster aber vernagelt waren. Auch der Zaun um das
Gebäude ließ keine Lücke frei, durch die sie hätten in
den Garten dringen können. An das Gebäude angebaut
war eine alte Firma, die bestimmt schon das ganze letzte
Jahrhundert hier gestanden hatte. Aus einem der Fenster
stahl sich ein Lichtschein in die Dunkelheit der Nacht
hinaus. Die Mädchen nickten einander zu und drückten
sich vorsichtig durch das kaum geöffnete Tor in den
Vorhof des Gebäudes hinein. Vor ihnen lag eine eiserne
Tür, die sich aber erstaunlich leicht und zu ihrer Erleichterung
auch leise öffnen ließ. In der Fabrik selbst gingen
sie durch einen hohen Raum, in dem Fässer und Kisten
mit verschiedenen Nägeln säuberlich aufgereiht standen.
23
Sie folgten dem lauten Geräusch, das aus einem hinteren
Raum kam. Dort sahen sie im warmen Licht einer uralten
Lampe einen Mann stehen, der sich an einer großen
und eisernen Maschine zu schaffen machte. Mit einem
gleichmäßigen »Tong« spuckte die Maschine in einem
festen Rhythmus einen Nagel nach dem nächsten aus.
Obwohl die Verlockung groß war, zu dem Mann hinzugehen
und ihm alles zu erzählen, zog Lena Lisa in einen
Nebenraum, der als Rückwand die Felswand hatte, und
in dem Fässer unterschiedlicher Höhe mit Nägeln standen.
Gut abgeschirmt durch die Fässer versteckten sich
die drei mit dem Rücken zur Wand. «Lass uns kurz die
Lage hier peilen, bevor wir zu dem Mann gehen«, flüsterte
Lena in das gleichförmige Geräusch der Maschine
hinein. Lisa nickte und auch sie atmete erst einmal tief
durch. Auf dem Weg zur Fabrik konnte sie nicht umhin,
einen Blick zur Röslau zu werfen. Und im Schatten der
Böschungsbäume der gegenüberliegenden Flussseite
hatte sie etwas unförmiges Dunkles treiben gesehen.
War es Micha gewesen?
»Meinst du, die Typen haben mitbekommen, dass wir
alles mit angesehen haben?«, fragte auf einmal Tanja,
die aus ihrer Apathie kurz zu erwachen schien.
»Ich glaube schon«, antwortete Lena, »sie werden zurückgehen
und sich fragen, weshalb es hinter der schmalen
Stollenwand in der Nische so nass ist. Und dann
werden sie den Boden ableuchten und in dem dünnen
Matsch der Nische das Profil von Tanjas Stiefeln sehen.
Vielleicht haben sie auch gespürt, dass da draußen etwas
an ihnen vorbeihuschte. Auch wir haben Schatten.«
24
»Dann sollten wir ganz schnell zu dem Mann da vorne
gehen und ihm sagen, dass er die Polizei anrufen soll«,
wisperte Tanja aufgeregt.
»Still und runter«, raunte Lisa, denn sie hatte in einem
Zwischenmoment zwischen den Geräuschen der Maschine
das Öffnen der Eisentür gehört. Energische Schritte
bewegten sich nun durch den ersten Raum durch in Richtung
der Maschine. Der Typ mit der schwarzen Jacke und
den Nieten an den Schuhen bewegte sich direkt auf den
Arbeiter zu. Die beiden schienen miteinander zu reden
und mit einem langanhaltenden Raunen kam die Maschine
zum Stillstand. Das Gespräch, das sie nun führten,
klang ganz unverfänglich und passte in seiner Normalität
gar nicht zu den grausamen Ereignissen dieser Nacht. Die
Stimmen waren unauffällig.
»Gut, dass du gut vorankommst, dann wird die Lieferung
ja ganz pünktlich fertig und kann weitergehen«,
mit diesen Worten durchschritten sie den Fabrikationsraum.
Am Hall ihrer Schritte konnte man erkennen, dass
sie nun in dem Teil des Gebäudes angekommen waren,
in dem sich die Mädchen versteckten. Die Schritte kamen
näher. Die Mädchen drückten sich lautlos immer dichter
an den Felsen heran. Inzwischen waren sie so eng beieinander,
dass sie das Herz der anderen schlagen hörten.
Der Instinkt gebot es ihnen, möglichst flach und leise zu
atmen. Direkt vor den Fässern und Kisten, hinter denen
sie sich verborgen hatten, blieben die beiden Männer
stehen. Durch einen Spalt zwischen den Fässern konnte
Lisa die Stiefelspitzen des einen Mannes erkennen. Sie
waren schwarz und mit Schlamm gedeckt. Ein wenig
nasses Gras hatte sich in etwas Metalllernen verfangen.
25
Der Geruch von nassem Brackwasser stieg ihr in die
Nase. Und zugleich drängte sich ihr eine Gewissheit auf.
Die dunkle Masse in dem Fluss war Micha gewesen.
All diese Gedanken erfüllten sie nur für einen Bruchteil
von Sekunden. Ein Deckel von einem Fass wurde
leicht angehoben und gleich wieder geschlossen.
»Also hier in den Fässern mit dem Bleiband?«, fragte
die zu der schwarzen Stiefelspitze gehörende Stimme
und der Gefragte schien als Antwort zu nicken. In Lisas
Kopf begann es zu surren. Ihre Nerven waren zum Zerreißen
gespannt. Irgendwann würde sie tiefer atmen
müssen. So ging es den anderen auch. Lena lag fast auf
Lisa und Tanja drängte sich so fest es ging in den kalten
Felsen hinein. Um auf dem unebenen Untergrund nicht
abzurutschen, hatte sie sich mit der linken Hand in einem
Fass abgestützt, dessen Deckel sie leicht verschoben
hatte. Erst hatte sie noch wahrgenommen, dass ihre
Hand auf vielen kleinen, aber spitzen Nägeln ruhte, die
überall in ihre Handfläche und auch unter ihre Fingernägel
drangen. Nach dem ersten Schreck hatte sie sich
wieder erholt und nun konnte sie die Hand nicht zurückziehen,
ohne eine Veränderung ihres Körpers zu riskieren,
die sich auch auf die anderen ausgewirkt hätte.
So verharrte sie.
»Sag mal, hast du irgendjemanden in die Fabrik
laufen sehen?«, fragte die ›Stiefelspitze‹. Als Antwort
kam nur ein »Nö«.
»Weißt du, auf dem Weg hierhin habe ich zwei oder
drei Wesen gesehen. Eines davon war wahrscheinlich
ein Mädchen, weil ich im Regen noch die langen, blonden
Locken erkennen konnte. An den Spuren auf dem
26
Wanderweg konnte man so ein dickes Profil erkennen,
das sich in Richtung der Fabrik bewegt hat. Kurz vor
dem Tor ist es dann ja befestigt, da konnte man nichts
mehr sehen, obgleich man ja die dreckigen Abdrücke
der Schuhe noch einige Meter weit sehen müsste«, sinnierte
der Mann. Die Mädchen konnten ihn riechen, so
nah war er ihnen. Er roch abgestanden, kalt und ein
wenig modrig süß. Lisa zersprang fast in dem Wunsch,
auch nur einmal tief atmen zu können und obwohl sich
alles in ihr danach sehnte, sich auch nur ein bisschen zu
bewegen, hieß ihr Instinkt ihr, in dieser Totenstarre zu
verharren. Sie fühlte Lenas Schläfe an ihrer Brust wild
pochen, und merkte, wie das Surren in ihrem Kopf diesen
fast ganz erfüllte. Sie war schon einmal ohnmächtig
geworden und wusste, dass sie kurz davor war, ihre Sinne
zu verlieren. Aber sie wusste vom letzten Mal auch, dass
sie dann die Kontrolle über sich verlieren und die anderen
in Gefahr bringen würde. So kämpfte sie gegen
das Surren an und versuchte sich nur auf das Gespräch
zu konzentrieren.
»Also, wenn du irgendjemanden siehst, melde dich
sofort bei mir. Man weiß ja nie, ob etwas nach außen
dringt«, sagte der Mann, wobei er etwas auf die Zehen
ging, wahrscheinlich um noch besser sehen zu können.
»Mache ich«, raunte der Arbeiter. Und nach einer
gefühlten Ewigkeit entfernten sich die Schritte wieder.
An dem energischen Auftreten der Füße konnte man
hören, dass er bei der Tür war, einmal kurz verhielt, die
Richtung wieder erneut zu ihnen wendete, dann aber
doch zur Eisentür ging, diese öffnete und schloss. Auch
die Maschine begann wieder in dem ihr eigenen Rhyth-
27
mus zu ächzen. Die Mädchen atmeten durch. Noch waren
sie viel zu angespannt, um auch nur einen Ton zu sagen.
Lisa war die erste, die sich wieder gefangen hatte.
»Ganz leise raus hier und erst mal bis zur Tür. Bleibt
dicht an der Wand. Ich gehe voraus, dann kommt Tanja
und du, Lena, schaust immer mal in Richtung des Arbeiters.
Los jetzt!«
Mit zitternden Knien begaben sich die drei aus ihrem
Versteck. Erst jetzt merkte Lisa, dass ihre Beine eingeschlafen
waren und ihr kaum gehorchten. Auch Tanja
torkelte bedenklich. An dem Tor angekommen, hielten
sie kurz inne und lauschten auf die Geräusche, die sie
vor dem Eisentor erwarteten. War dort ein Atmen zu
hören, das vielleicht zu dem Mann gehörte, der hinter
dem Tor auf sie wartete? Kurz glaubte Lisa ein rhythmisches
Atmen dort gehört zu haben, beschloss aber dann,
dass es sich um ihren eigenen Atem gehandelt haben
musste. Die Nerven waren zum Zerreißen gespannt,
jedes Geräusch schien sich in ihrem Gehirn zu potenzieren
und schwoll zu einem fast schmerzenden Gehämmer
an. Ganz vorsichtig öffnete Lisa das Tor, nicht wissend,
was sie dahinter erwarten würde. Standen da die Typen
aus der Höhle und machten mit ihnen das, was sie mit
Micha gemacht hatten? Lisa zwang sich das Kopfkino
zu verbannen und sich zu sammeln. Ihr gelang es, das
Tor leise zu öffnen. Der Lufthauch des frühen Morgens
erfüllte für einen Moment ihre Lunge und sie kam innerlich
kurz zur Ruhe. Auch den anderen Mädchen
schien dieser eine Atemzug unendlich gut zu tun. Dann
stieß Lisa das Tor vorsichtig weiter auf und spitzte nach
draußen. Es war niemand zu sehen. Vorsichtig öffnete
28
sie das Tor weiter und schlüpfte durch es hindurch und
in die Freiheit des Morgens hinein. Die beiden anderen
taten es ihr gleich. Doch kaum war auch Lena halb
durch das Tor hindurch geschlüpft, verstummte das Geräusch
der Maschine. Aus dem hinteren Teil der Fabrik
bewegten sich Schritte erst zögerlich, dann aber schneller
werdend in Richtung des Tores. Die Mädchen wurden
dessen gewahr und stürzten jetzt los über den Hof mit
den Kieselsteinen, der ihre Schritte unmissverständlich
an die Stille der ausgehenden Nacht und beginnenden
Tages weitergab. Vor ihnen war alles ruhig, nur hinter
ihnen hörten sie noch, wie das Tor wieder ins Schloss
fiel. Nach einer kurzen Strecke über den Kies an der
Röslau entlang, die ihnen unendlich weit erschien, erreichten
sie die Teerstraße, die den Berg hinauf zur Stadt
führte. Hier liefen sie vorsichtig und sich permanent
versichernd, dass sie nicht verfolgt oder beobachtet
wurden, durch die noch schlafende Stadt. Nur einmal
fuhr ein Auto verdächtig nah an ihnen vorbei. Schon
beim ersten Schlurfen der Reifen über den Asphalt hatten
sich die Mädchen hinter einer Hecke versteckt. Während
Lisa und Lenas Sinne geschärft wie die eines verfolgten
Tieres waren, schien Tanja wieder in ihre Apathie zu
fallen und sie mussten sie immer wieder unterhaken,
damit sie mit ihnen mitlief. Allmählich erschien ein
Morgenstreif am Himmel und die Augen konnten im
Dunst der regennassen Welt wieder Farben wahrzunehmen.
Die Vögel begannen vereinzelt erst, dann immer
stimmgewaltiger den Morgen zu begrüßen. Dass sie mit
diesem Konzert um sich herum das Haus der alten Dame
erreichten, erschien ihnen fast wie ein Wunder. Lisa
29
schloss die Haustür auf und die Mädchen huschten
hinein. Ohne ein Wort zu sagen, schlichen sie durch das
Haus zu ihrem Zimmer, fielen in das Bett und deckten
sich zu. Unter dem Schutz der wärmenden Decke kam
Lisa das Erlebte unwirklich und wie ein Traum vor.
Während die beiden anderen schliefen oder vorgaben zu
schlafen, fanden Lisas Gedanken keine Ruhe. Immer
wieder sah sie das menschliche Bündel im schwarzen
Wasser der Röslau, das schnell und willenlos vorbeitrieb,
ganz dem Spiel der Strömung ausgesetzt. Ach,
lieber Micha, ich hätte dich gerne anders wiedergesehen,
kreiste es ihr als Warteschleife durch den Kopf.
30
Griechenland der Antike
Wie an fast jedem Nachmittag spielte ich mit den kleinen
Kätzchen, die meine Mutter Theano vor einem hartherzigen
Bauern in Sicherheit gebracht hatte und seitdem in
unserem Haus duldete. Mein Vater Pythagoras war weit
weniger begeistert von dem unerwarteten Familienzuwachs,
auch mein Bruder Telauges verzog zuweilen genervt das
Gesicht, wenn er unerwartet von einem der Kleinen angesprungen
wurde, weil er unabsichtlich mit den Zehen
gewackelt hatte. Aber niemand hätte die Kätzchen vor die
Tür gesetzt, denn das hätte den Lehren meines Vaters und
seiner Schüler widersprochen. Für sie waren alle Lebewesen,
Menschen und Tiere, gleichwertig. Seelenwanderung
war das Stichwort, das sie predigten. Achtung vor dem
Leben an sich, vor anderen Lebewesen. Ob mein Vater
der Katze einen Tritt gäbe oder mir, das würde keinen
Unterschied machen. Daher gab es in unserem Haus auch
kein Fleisch zu essen, nur Obst, Gemüse, Eier und Milchprodukte.
Schon über die Eier gab es hin und wieder
Streit, weil mein Vater diese als werdendes Leben ansah.
Irgendwann trennte meine Mutter drei der Hühner von den
anderen ab und erklärte kategorisch, da der Hahn jetzt
keinen Zugang mehr zu ihnen hätte, könne man diese Eier
getrost essen. Ich weiß noch, wie verblüfft mein Vater sie
31
anstarrte, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach und
ihr zu dieser Idee gratulierte. Seitdem mäkelte niemand
mehr, wenn es Eier gab.
Ich tollte also durch unseren Garten, einen dünnen Ast
hinter mir her über den Boden ziehend. Es war immer wieder
aufs Neue herrlich, wie die Kätzchen lauerten, zitternd
bereit zum Sprung auf die Beute, dann den Ast knapp
verfehlten, weil ich natürlich aufgepasst und ihn rechtzeitig
weggezogen hatte. Meine Schwester Arignote saß auf
einer steinernen Bank, eine Näharbeit auf dem Schoß,
und lachte laut auf. Auch sie amüsierte sich immer wieder
köstlich über die Kätzchen.
»Sabos, du hast es gut! Du bist noch ein Kind und
kannst hier herumtollen wie ein kleiner Narr. Ich beneide
dich«, rief sie mir zu. Erstaunt hielt ich inne und starrte sie
verwirrt an.
»Aber mach doch einfach mit, Arignote. Keiner sieht
uns hier, nimm einfach den Ast und spiel mit den Kleinen.
Wer will es dir denn verbieten?«
Meine Schwester seufzte resigniert und schüttelte den
Kopf, sodass ihre Locken leicht wippten.
»Nein, Sabos. Das geht leider nicht. Schau, ich werde
bald heiraten und muss meine Aussteuer fertig nähen. Und
so wilde Spiele sind etwas für Kinder wie dich, aber nicht
für eine junge Frau. Was meinst du wohl, was Vater sagen
würde, wenn er das sähe? Oder Telauges? Oder gar mein
32
Verlobter Hippasos? Tollt ihr nur weiter, aber ich kann
euch nur zusehen.«
Vorschriften, gute Sitten, immer und immer ging es nur
darum. Ich ärgerte mich darüber, dass es nicht möglich sein
sollte, einfach das zu tun, wonach einem war. Aber ändern
konnte ich das System leider nicht.
»Wenn ich mal groß bin, dann werde ich meinen Kindern
erlauben, so zu leben und sich so zu verhalten, wie sie selbst
es wollen. Das verspreche ich dir, Arignote«, erklärte ich
feierlich. Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen, und sie
winkte mich zu sich, um mich in die Arme zu schließen.
»Das ist lieb von dir, Sabos. Vergiss es nur nicht. Und
jetzt spiel weiter, damit ich etwas zu lachen habe.«
Allzu lang dauerte ihre Freude jedoch nicht, denn eines
der Kätzchen entdeckte ihre Näharbeit und verfing sich mit
scharfen Krallen in dem zarten Stoff.
»Lässt du wohl los, du kleines Ungeheuer!«, schimpfte
Arignote und setzte den Winzling auf den Rasen. »Ich
gehe mal lieber ins Haus, bevor meine Arbeit sprichwörtlich
für die Katz ist«, erklärte sie, packte ihre Sachen zusammen
und verschwand in den Weiten des Säulengangs.
Ich selbst spielte noch eine Zeitlang mit den Kätzchen,
dann legte ich mich hinter der Hecke aus duftendem
Oleander in die Sonne. Ich mochte diesen Platz, hier
konnte ich geschützt und ungestört liegen, keiner entdeckte
mich, ich hatte meine Ruhe. In einigen Jahren, so überlegte
33
ich schwärmerisch, würde ich die Nachbarstochter Helena
heiraten und dann mit ihr gemeinsam hier liegen. Seit mir vor
ein paar Wochen aufgefallen war, dass ihre Brüste sich zu
formen begonnen hatten, ging Helena mir nicht mehr aus
dem Kopf – auch wenn ich mit meinen neun Jahren keinerlei
Vorstellung hatte, was denn wäre, wenn wir gemeinsam hier
liegen würden. Einmal hatte ich Telauges gefragt, wie das
denn wäre, verheiratet zu sein. Er musste es ja wissen, er
war mehr als zehn Jahre älter als ich und seit dem Frühjahr
ein verheirateter Mann. Aber er hatte nur rau gelacht und
gemeint, das werde ich schon herausfinden, wenn es so weit
wäre. Ich freute mich darauf es herauszufinden, zusammen
mit Helena. Meine Fantasien beschränkten sich auf zarte
Wangenküsse, so wie ich sie von meiner Mutter und meinen
Schwestern manchmal zum Abschied bekam.
Es dauerte nicht lange und die warmen Sonnenstrahlen
sorgten dafür, dass ich einschlief.
Als ich erwachte, dauerte es einen Moment, bis ich mich
zurechtfand. Es war schon fast gänzlich dunkel. Ich war mir
nicht sicher, ob die Kühle mich geweckt hatte oder das
Stimmengewirr, das von der anderen Seite des Oleanders
herüberklang. Ich konnte die Stimme meines Vaters erkennen,
ebenso die meiner Mutter und meines Bruders.
34
Aber daneben mussten noch etliche andere Menschen
anwesend sein. Neugierig lauschte ich, ohne einzelne Worte
oder gar Sätze erhaschen zu können.
Schließlich wurde es ruhig, und mein Vater begann zu
reden. Hielt er einen Vortrag? Worüber und wem? Mir
rauschte der Kopf. Da nur noch mein Vater sprach, konnte
ich jetzt auch jedes Wort verstehen. Na ja, besser gesagt:
hören, denn verstehen konnte ich nicht wirklich, was er da
erzählte.
»Alles ist Zahl«, erklärte er zum Beispiel. Wie sollte
das denn zugehen? Alles ist Zahl? Gut, ich bin eins, meine
Eltern zwei, meine Schwestern drei und die kleinen Kätzchen
sogar vier, sinnierte ich. Leider bekam ich durch meine
Überlegungen nicht mit, was mein Vater noch erzählte. Als
ich wieder zuhörte, rief er gerade leidenschaftlich, es könne
nicht angehen, dass niemand außer ihm selbst die kosmischen
Klänge hören könne. Kosmische Klänge? Was sollte
das sein? Sosehr ich auch lauschte, außer der Stimme
meines Vaters, dem aufgeregten Zirpen der Zikaden und
dem Heulen eines hungrigen Hundes konnte ich keine
Klänge hören, und was bedeutete überhaupt kosmisch?
Meinte Vater vielleicht komisch? Komische Klänge, die
gab es zu hören, wenn unsere afrikanische Sklavin in der
Küche sang – ebenso laut wie falsch. Jetzt sprach er
wieder davon, dass alles Zahl sein sollte. Von einer gött-
35
lichen Eins, der Vierheit Tetrakys, der vollkommenen
Zehn – mir schwirrte der Kopf.
»Wenn wir das Verhältnis der Zahlen zueinander und zu
allen Dingen verstehen, dann ist das der Schlüssel dazu,
die Welt zu beherrschen. Dann erst können wir alles verstehen,
erklären, beherrschen.«
Vater als Herrscher über die Welt? Ein großer König,
oder gar ein Gott wie Zeus? Der Gedanke gefiel mir. Das
würde Helena beeindrucken, da war ich mir sicher.
Was sonst noch gesprochen wurde an diesem Abend,
fand ich eher langweilig. Und so schlich ich mich unauffällig
zurück ins Haus, wo ich in mein Bett fiel und schnell wieder
einschlief.
Am nächsten Morgen richtete ich es so ein, dass ich Helena
über den Weg lief. Ich wusste genau, dass sie an jedem
Freitag zum Markt ging, um dort einzukaufen, begleitet und
behütet von der alten Sklavin Samira. Jeder in unserer
Straße kannte Samira, die fast täglich Streit mit unserem
ersten Haussklaven Deuterios hatte – natürlich hieß er
eigentlich ganz anders, aber Vater nannte ihn seit Ewigkeiten
nur Deuterios und fand das ziemlich komisch. Ich
fand das eher traurig. Die Vorstellung, man würde mich
nicht mehr Sabos nennen, hatte etwas Erschreckendes
36
für mich. Wäre ich dann noch ich selbst? War Deuterios
noch der, der er einmal gewesen war, bevor er am Sklavenmarkt
verkauft wurde? Wie mochte er sich dabei fühlen?
Einmal hatte ich ihn nach seinem richtigen Namen gefragt,
aber er hatte nur mit den Schultern gezuckt und gemurmelt:
»Deuterios, wie sonst?«
Wie auch immer, Samira stritt oft und lautstark mit ihm,
und die Worte, die sie ihm an den Kopf warf, waren in
einer unverständlichen fremden Sprache formuliert, aber
selbst wir Kinder ahnten, dass es unflätige Ausdrücke
waren, die wir auch in unserer eigenen Sprache weder
kannten noch kennen durften. Arignote war felsenfest
überzeugt davon, dass Samira unglücklich verliebt in
Deuterios war, er jedoch kein Interesse an ihr hatte. Daher
hätte sich diese Liebe in Hass und Verachtung gewandelt.
Ich hatte keine Ahnung, ob das stimmte, aber es war mir
auch egal. Wenn Deuterios nicht in der Nähe war, dann
war Samira ein ganz sanftmütiges Wesen, das alles machte,
was Helena wollte. Niemals hätte sie uns verraten, wenn wir
heimlich aus den Häusern schlichen, um hinaus in die
Felder zu laufen und dort zu spielen. Niemals hätte sie
auch nur mit einer Silbe erwähnt, dass Helena und ich uns
oft auf dem Markt trafen und miteinander plauderten.
Heute sollte der große Tag sein, hatte ich beim Aufwachen
beschlossen. Es reichte mir, im ganzen Haus nur
der Kleine zu sein, belächelt und Kind genannt zu werden.
37
Mein Bruder war bereits verheiratet, meine Schwester
verlobt – ich wollte es ihnen gleichtun! Heute würde ich
Helena fragen, ob sie meine Frau werden wollte. Und sie
würde ja sagen, davon war ich überzeugt.
Ich richtete es also ein, dass ich wie zufällig ihren Weg
kreuzte, zwischen Gemüsestand und Käseverkäufer.
»Guten Morgen, Helena«, grüßte ich forsch und blickte
ihr siegesgewiss ins Gesicht. Sie erwiderte meinen Blick
einen kurzen Moment zu lang, bevor sie die Augen niederschlug,
so wie es sich für ein Mädchen aus gutem Hause
gehörte.
»Komm mit an den Brunnen, ich möchte mit dir reden«,
erklärte ich in einen Ton, der keinen Widerspruch zuließ,
weder von Helena selbst noch von Samira. Während das
Mädchen mir langsam zum Brunnen folgte, blieb die
Sklavin im Schlagschatten eines Hauses stehen, unwillig
vor sich hin brummelnd.
»Helena, du bist das schönste Mädchen der ganzen
Stadt. Daher möchte ich dich heute bitten, meine Frau zu
werden, sobald wir alt genug sind. Ich werde alles tun, damit
du in Luxus leben kannst, und ich werde dir eines unserer
Kätzchen schenken, als Zeichen meiner Liebe zu dir.«
Ich holte tief Luft und sah meine Nachbarin gespannt
an. Doch, sie würde zustimmen. Davon war ich überzeugt.
Aber Helena begann zu lachen, zuerst leise und glucksend,
dann lauter und glockenhell.
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»Sabos, wie um alles in der Welt kommst du denn auf
diese Idee? Wir sind Kinder! Heiraten – das hat doch
noch Jahre Zeit!«
Ich wurde blass. Sollte sie mir eine Abfuhr erteilen
wollen? Schnell erklärte ich ihr:
»Helena, mag sein, dass wir noch Kinder sind. Aber ich
will nicht, dass irgendein anderer Kerl schneller ist als ich.
Meine Mutter sagt immer: Jung gefreit hat nie gereut. Ich
will mir nur sicher sein, dass du mich irgendwann heiraten
wirst, dieses Versprechen reicht mir schon aus.«
Doch wieder lachte sie, und diesmal hatte ich das ungute
Gefühl, sie würde mich auslachen.
»Du kannst mich doch nicht mal ernähren, dein Vater
nennt sich Philosoph und redet den ganzen Tag dummes
Zeug, anstatt anständig zu arbeiten. Wie willst du es dann
lernen? Schau meinen Vater an, ein reicher Kaufmann.
Unserer Familie steht die Welt offen, weil wir viel Geld
haben. Ist es das, was du willst? Unser Geld? Das könnte
ich sogar verstehen, aber dich heiraten und finanzieren würde
ich mit Sicherheit nicht.«
Jetzt wurde ich richtig wütend. Sie nahm mich nicht
ernst, sie wusste nicht, mit wem sie es zu tun hatte. In meiner
Empörung griff ich zum letzten Mittel, um die schöne
Helena zu überzeugen.
»Helena, du hast keine Ahnung, was du da redest. Mein
Vater und seine Freunde haben Wege gefunden, um die
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Welt beherrschen zu können. Ich bin also der Sohn des
künftigen Weltherrschers, der Erbe seines Wissens und
seiner Macht. Keiner in der ganzen Stadt kann dir ein
Leben bieten, wie du es an meiner Seite haben kannst!«
Ihr Lachen verstummte, sie starrte mich an, wortlos, forschend.
Schließlich warf sie den Kopf nach hinten und
ließ mich einfach stehen.
»Wir werden sehen, was mein Vater dazu sagen wird.
Komm, Samira!«
Da stand ich nun, abgeblitzt und abgefertigt wie ein
kleiner Schuljunge. Und mehr war ich ja tatsächlich nicht.
Ein kleiner dummer Junge, der den ersten Liebeskummer
seines Lebens spürte, gepaart mit der Scham, Geheimnisse
aus dem Vortrag des Pythagoras an Außenstehende
ausgeplaudert zu haben.
Wenige Tage später trafen sich die Schüler meines
Vaters zu ihrer wöchentlichen Runde, wie immer dienstags,
in einer leerstehenden Scheune am Stadtrand. Ich wusste
nicht, worum es dort ging, was geredet wurde, wie nah ihre
Weltherrschaft schon gekommen war. Ich durfte nie mitgehen,
wenn Vater und Telauges sich nach dem Abendessen
verabschiedeten. An diesem Abend jedoch sollte
es anders kommen. Hippasos, der Verlobte meiner
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Schwester, war am Nachmittag gekommen und zum Essen
geblieben. Ich mochte ihn nicht besonders, er war ein
wortkarger und humorloser Mann, und es war mir schleierhaft,
was Arignote an ihm fand. Wie auch immer, er wollte
heute Nacht noch in See stechen, um Geschäftsfreunde
in Italien aufzusuchen. Korrekt, wie er war, war er zu einem
Abschiedsbesuch bei seiner Verlobten angetreten. Als
er nach dem Abendessen aufbrach, vergoss Arignote ein
paar Tränen, bei denen mich der Verdacht beschlich,
dass sie nur aus Pflichtbewusstsein geweint wurden. War
meine Schwester am Ende doch nicht so verliebt in
Hippasos, wie sie immer tat? Helenas Worte geisterten
durch meinen Kopf. Was, wenn Arignote diesen Kerl nur
heiraten sollte, um gut versorgt zu sein? Immerhin hatte
Hippasos einige große Weinberge und eine gut gehende
Weinhandlung mit Verbindungen in mehrere ferne Länder.
Ich beschloss, Arignote bei Gelegenheit zu fragen. Sie
würde mir schon die Wahrheit sagen – immerhin war sie ja
meine Schwester.
Wie auch immer: An diesem Abend machten mein Vater
und mein Bruder keine Anstalten sich zu verabschieden.
Als ich Telauges darauf ansprach, zuckte er nur mit den
Schultern.
»Ach, weißt du – wir dachten, dass Hippasos noch
länger bleiben würde. Daher hat Vater uns für heute ent-
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schuldigt. Einmal werden sie schon ohne uns auskommen,
schätze ich.«
»Aber ihr könntet ja jetzt noch hin, Hippasos ist doch
schon gegangen?«
»Kind, wie würde das denn aussehen? Zuerst absagen,
dann doch kommen? Die Leute würden den Respekt vor
Vater verlieren, wenn es aussähe, als wüsste er nicht, was
er will. Wir bleiben heute zuhause. Oder hattest du vor,
heimlich länger aufzubleiben, wenn Vater unterwegs ist?
Das wird heute wohl nichts, mein Lieber«, lachte Telauges
und zwinkerte mir zu.
Als ob ich so etwas vorgehabt hätte! Na ja, vielleicht
ab und zu. Aber heute war ich einfach nur verwundert
gewesen, weil die beiden nicht fortgegangen waren.
Ich hatte noch ein wenig mit den Kätzchen herumgealbert,
aber es dauerte nicht lange, bis meine Mutter mich ins
Bett schickte. Obwohl es mich ärgerte, dass ich ständig
wie ein kleines Kind behandelt wurde, zog es mir doch
schnell die Augen zu und ich fiel in einen tiefen, traumlosen
Schlaf – der nicht allzu lange dauern sollte.
Es war noch nicht Mitternacht, als ich hochschreckte.
Glocken läuteten, und ich konnte Schreie hören. Verwirrt
sprang ich auf und sauste aus meinem Zimmer. Vater wollte
gerade das Haus verlassen, meine Mutter und meine
Schwester hingen an seinen Armen, weinend und krei-
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schend, und versuchten ihn zurückzuhalten. Schließlich
gelang es ihm, sie abzuschütteln, er brüllte sie an:
»Versteht ihr denn nicht, dass ich hin muss? Wie könnte
ich sie im Stich lassen?«
Mit diesen Worten eilte er davon, Mutter und Arignote
blieben zurück, verzweifelt, sich gegenseitig stützend.
Langsam näherte ich mich den beiden Frauen.
»Was ist passiert?«, fragte ich leise. Doch ich bekam keine
Antwort. Entweder hörten sie mich gar nicht oder sie
wollten mir nicht antworten. Verängstigt schlich ich in die
Küche, wo die Sklavinnen um Deuterios versammelt waren,
mit großen angstvoll aufgerissenen Augen, keiner sprach
ein Wort.
»Deuterios, was ist passiert?«, wollte ich wissen. Auch er
wollte mir nicht antworten, aber von ihm ließ ich mich nicht
abspeisen. Energisch forderte ich eine Antwort. »Deuterios,
ich verlange, dass du mir auf der Stelle Auskunft gibst.
Hast du deine Stellung mir gegenüber vergessen?«, fuhr ich
den Sklaven an. Er seufzte tief, bevor er mir sagte, was
passiert war.
»Die Scheune. Der Versammlungsort. Es brennt dort.
Und alle sind drin, alle außer deinem Vater und deinem
Bruder. Man versucht zu löschen, aber wie soll man das
schaffen? Alle Männer sind dort, aber die Scheune ist so
weit weg vom Brunnen. Es sieht schlecht aus.«
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Mehr sagte er nicht, und das war auch nicht nötig. Ich
schlich davon, zu meiner Mutter, und drängte mich an sie,
schweigend und Schutz suchend.
Wir saßen bis zum frühen Morgen, wie verängstigte
Tiere waren wir zusammengerückt. Endlich kam mein Vater
zurück. Ich erschrak: Innerhalb einer Nacht war er ein alter,
gebrochener Mann geworden.
Wir blickten ihm angstvoll entgegen, doch er schüttelte
nur den Kopf. Deuterios bedeutete einer Sklavin, eine
Schüssel mit Wasser und ein Tuch zu bringen, damit Vater
sich Gesicht und Hände waschen konnte, was er mit langsamen,
kraftlosen Bewegungen tat.
Schließlich schaute er hoch und murmelte: »Sie sind alle
tot. Das Scheunentor war verschlossen. Von außen. Ich
weiß nicht, was passiert ist, aber es war Mord. Man hat
das Tor verriegelt und die Scheune angezündet.«
Mutter schlug die Hände vor den Mund, Arignote
schrie unterdrückt auf.
»Ich bin schuld. Der Anschlag hat mir gegolten, und ausgerechnet
gestern war ich nicht dort. All diese Menschen
sind wegen mir gestorben«, schluchzte Vater.
Noch nie zuvor hatte ich gesehen, dass ein Mann weinte.
Erschrocken starrte ich meinen Vater an, und plötzlich
stieg die Erinnerung an Helena in mir hoch. Ihr hatte ich
verraten, dass mein Vater die Weltherrschaft anstrebte.
Was, wenn sie ihren Eltern davon erzählt hatte? Was, wenn
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diese Angst um ihre Stellung hatten? Was, wenn es meine
Schuld war, dass die Versammlung ein solches Ende genommen
hatte?
Ich hatte meinen Vater verraten, hatte all diese Leute
verraten, die jetzt tot und verbrannt am anderen Ende der
Stadt unter verkohlten Balken lagen. Und Helena hatte
mich verraten. Mich und meine Liebe zu ihr.
Einen gequälten Schrei unterdrückend stürzte ich davon,
in mein Zimmer.
Eine Woche war vergangen. 83 Leichen hatte man gezählt,
Männer und Frauen, die man nicht mehr erkennen konnte.
Ich konnte kaum noch schlafen, und wenn ich doch für kurze
Zeit in einen unruhigen Schlaf fiel, dann träumte ich von
der brennenden Scheune, von Todesschreien und stinkendem
verbranntem Fleisch. Ich konnte meinem Vater
nicht mehr in die Augen sehen, aber das war auch nicht
nötig, denn er saß meist mit gesenktem Kopf in irgendeiner
Ecke, er aß fast nichts, er redete nicht. Was hatte ich getan!
Doch plötzlich kam es noch schlimmer. Ein junger Mann,
der wohl in unregelmäßigen Abständen den Vorträgen
meines Vaters gelauscht hatte, wurde bezichtigt, die Gemeinschaft
verraten zu haben. Ich erfuhr davon erst, als
45
Telauges mit blitzenden Augen hereinstürmte und sich
groß und breit vor Vater aufbaute.
»Vater, steh auf und komm mit mir! Der Mord an unseren
Freunden ist gerächt. Du erinnerst die an Alkinoos?
Er hat uns verraten, für einen Beutel Silber. Aber er
musste dafür büßen. Vor zwei Stunden haben sie ihn aufgeknüpft.«
Mein Vater blickte hoch, aber die Energie, die aus
Telauges‘ Augen blitzte, sprang nicht auf ihn über. Vielmehr
schüttelte er resigniert den Kopf.
»Noch mehr Tote. Wohin soll all das noch führen?«,
fragte er leise. Niemand antwortete.
Ich war mehr als entsetzt über die Worte meines Bruders.
Alkinoos? Ich kannte den Mann nicht, aber ich war mir
sicher, dass er unschuldig war. Sie hatten den Falschen
erwischt. Mich hätten sie aufhängen sollen, nicht diesen
Menschen, den ich nicht kannte und nie kennenlernen würde.
Wie um Himmels Willen sollte ich mit dieser Schuld weiterleben?
Es war Helena gewesen, die geplaudert hatte, davon
war ich überzeugt. Und sie hätte nichts gewusst, wenn ich
meinen Mund gehalten hätte.
Zwei, drei Stunden wälzte ich mich auf meinem Bett,
dann war mein Entschluss gefasst. Ich stand auf und schlich
mich aus dem Haus. Es war Markttag, ich wusste, wo ich
Helena und Samira finden konnte. Tatsächlich traf ich die
beiden, bereits auf dem Heimweg. Samira schleppte schwer
46
an den Einkäufen, Helena lief beschwingt vor ihr her, bis ich
ihr in den Weg trat.
»Helena, ich muss dir etwas zeigen. Etwas sehr Wichtiges.
Komm mit. Und du, Samira, wartest hier auf uns.
Es wird nicht lange dauern.«
Mit diesen Worten nahm ich die verwirrte Helena an der
Hand und zog sie mit mir. Mechanisch setzte ich einen Fuß
vor den anderen, bis wir an der Steilküste angekommen
waren. Ich warf einen Blick über die Schulter zurück, aber
Samira war uns nicht gefolgt. Auch sonst war weit und breit
kein Mensch zu entdecken. Und selbst wenn – es wäre mir
egal gewesen.
»Was ist denn nur so wichtig, dass du mich hierherschleppst?«,
wollte Helena wissen. Leiser Unmut klang in
ihrer Stimme mit. Ich versuchte ein Lächeln.
»Hier unten, Helena. Da unten liegt es. Du musst ganz
nach vorne. Keine Angst, ich halte dich. Sieh nur her!«
Das Mädchen folgte mir zögernd bis an den Rand der
Klippe und blickte schaudernd nach unten.
»Wo denn? Und was denn? Ich kann nichts sehen«,
flüsterte sie ängstlich. Ich drückte ihre Hand, die ich festhielt.
Dann sprang ich, ohne sie loszulassen.
47
Dasein ist Pflicht, und wär's ein Augenblick
(Goethe,Faust II)
Das erste Geräusch aus der realen Welt, das Lisa wieder
wahrnahm, war das Klappern von Tellern und Besteck.
Nach den Schrecken der Nacht kam ihr dieses Geräusch,
das einherging mit dem unschuldigen Gezwitscher der
Vögel und dem Versuch der Tante : »It´s my Life«, das
aus dem Radio klang, wie ein Konzert aus einer anderen
Welt vor, in der sie bis zum gestrigen Tag mit großer
Selbstverständlichkeit gewandelt war und in die zurückzufinden
ihr nun unglaublich schwer fiel. Sich vergewissernd,
dass es die anderen beiden auch wirklich geschafft
hatten, mit ihr in Sicherheit zu gelangen, schaute
sie zu ihnen hinüber. Lena schien auch gerade erwacht
zu sein und blinzelte zu ihr herüber. Nur Tanja verhielt
sich merkwürdig. Mal schloss sie die Augen, dann starrte
sie wieder regungslos in die Luft. Ihr Körper schien versteinert
zu sein, so wenig nahm er an den Bewegungen
der anderen, die sich schwer aus dem Bett herausquälten,
teil.
Lena konnte als erste wieder heiser sprechen. »Wir
erzählen der Tante nichts«, krächzte sie leise, auch ihre
Stimme hatte offensichtlich gelitten, »und schau bloß,
dass Tanja sich nicht verplappert. Sie ist unberechenbar.«
Lisa nickte. Sie wäre sowieso nicht in der Lage gewesen,
irgendetwas zu erzählen, zu sehr schwirrten die
Erlebnisse noch in ihrem Kopf umher. Die Tante hatte
48
den Frühstückstisch draußen gedeckt, denn der Tag hatte
sich so entwickelt, wie er am Morgen begonnen hatte.
Die Sonne schien von dem fast wolkenlosen Himmel
und der Flieder blühte mit dem Jasmin und den ersten
Pfingstrosen um die Wette. Lisa musste ein paar Mal die
Augen zusammenkneifen, als sie in den Morgen und auf
die Terrasse trat. So schrill hatte sie die Farben den
Blumen noch nie wahrgenommen und unwillkürlich
kam ihr wieder Goethes Gedicht »Willkommen und
Abschied« in den Sinn.
»Rosafarbnes Frühlingswetter …«, stammelte Lisa
etwas zu laut. »Was für gebildete Freundinnen unsere
Tanja doch hat, die statt »guten Morgen« zu sagen, erst
mal den guten alten Goethe zitieren«, flötete die Tante
Lisa entgegen, die etwas ungläubig von Lena angeschaut
wurde. Lisa lächelte nur verlegen.
»Ach Kinder, ich hoffe, ihr hattet auch einen schönen
Abend. Eigentlich wollte ich ja zu Hause bleiben und
eine Séance legen, dann aber hat eine Freundin angerufen
und gefragt, ob ich mit zu einer Garagenparty gehen
möchte, die einige Freunde veranstalten. Sie wollten
spontan feiern, weil sie ihre Kinder samt Enkel endlich
beim Zuckerhutfest los sind, und sie mal ohne deren
Ermahnungen auf ihren Blutdruck zu achten oder nach
dem ganzen Tablettencocktail ja keinen Alkohol zu
trinken, so richtig feiern können. Und das haben wir
dann auch gemacht. Wir haben ›Highway to hell‹ geschmettert
und Helenes ›Atemlos‹ und das waren wir
dann oft auch. Als es so furchtbar geregnet hat, haben
wir im Regen getanzt, bis wir auf die Haut nass waren.
49
Da konnte man Rudis Fettpölsterchen richtig wackeln
sehen«, kicherte das Tantchen.
»Kopfkino aus«, kiekste Lena, die sich einen Kaffee
eingeschenkt hatte, den sie jetzt herausprustete. Die
Tante lachte herzhaft, wischte den Kaffee von ihrer
Bluse und der Tischdecke und schien sich nicht im Geringsten
daran zu stören, dass nun Flecken ihre Tischdecke
zierten.
»Ich bin dann kurz vor euch nach Hause gekommen
und habe noch schnell ein paar Aperol Spritz für uns
gemischt, quasi als Gute-Nacht-Trunk, aber ihr wart ja
so schnell im Bett. Nun, verkommen wollte ich sie dann
auch nicht lassen …«
Lisa war es immer mehr ein Rätsel, weshalb Tanjas
Vater die Besuche bei der alten Dame mied, etwas
Herzerfrischenderes als sie mit ihren kleinen, wachen
Augen, aus denen so viel Lebensfreude strahlte, konnte
sie sich kaum vorstellen.
»Was habt ihr denn so erlebt und wo wart ihr während
des schlimmen Regens?«, wollte sie nun wissen.
Lena antwortete zum Glück wie aus der Pistole geschossen,
wahrscheinlich hatte sie sich die Worte schon
die ganze Zeit zurechtgelegt:
»Wir waren auf dem Berg und haben ganz nette Jugendliche
aus der Stadt kennengelernt. Als es zu regnen
begann, haben wir in einer Scheune und dann auch im
Regen gefeiert. Unter Marks nassen T-Shirt war aber
nur sein wohlgeformter Six-Pack zu sehen. Ansonsten
war es wie bei euch – auch ›Atemlos‹.
Die beiden kicherten und Lisa gleich mit. Damit war
das Thema beendet. Von dem wunderbaren Frühstück
50
brachten aber weder Lisa noch Lena viel herunter, was
Lisa sehr wunderte, weil sie normalerweise ein Morgenwolf
war. Kaum war Tanja auf der Bildfläche erschienen,
kam auch schon ihr Vater angefahren, nahm die
Mädchen mürrisch wieder in Empfang und drängte auch
gleich auf den Aufbruch. Die Tante verabschiedete sich
wortreich von den Mädchen und nahm ihnen das Versprechen
ab, bald wiederzukommen. Als der Wagen
losgefahren war, schaute sich Lisa noch einmal um. Die
Tante hatte bereits wieder Besuch von einigen älteren
Herrschaften bekommen, mit denen sie scherzend im
Garten verschwand. Nein, um die Zukunft der alten
Dame musste man sich keine Sorgen machen – anders
als um ihre eigene und der anderen beiden Mädchen.
51
Bayreuth, September 1984:
»He, wer zum Geier seid denn ihr? Und was
macht ihr in unserem Kollegstufenzimmer?«
Heike, die gerade mit ihrer Freundin Angela
hereinkam, blieb überrascht in der Tür stehen
und starrte auf die fünf Jungs, die sich auf
dem alten Sofa fläzten, als gehörten sie zum
Inventar des RWG. Sie sahen nicht so aus, als
würden sie sich durch zwei Mädchen der
Oberstufe einschüchtern lassen. Und prompt
begannen sie breit zu grinsen. Einer von ihnen,
ein Blondschopf mit verstrubbelten Haaren,
rief übermütig:
»Geier? Welcher Geier? Geier Sturzflug!«
Und sofort grölten sie gemeinsam los: »Jetzt
wird wieder in die Hände gespuckt – wir steigern
das Bruttosozialprodukt!«
Wider Willen mussten die Mädchen lachen.
»Jetzt mal ernsthaft, wer seid ihr und warum
seid ihr hier? Wartet mal – ich hab euch schon
mal gesehen. Auf unserer Schuldisco war das,
oder? Habt ihr ans RWG gewechselt?«
Die Besucher begannen zu lachen. »Um
Himmels Willen – nein! Obwohl, bei so vielen
Mädels könnt man sich das schon überlegen.
Aber nein. Wir sind hier, weil unsere Ex-
Mathelehrerin, die Meier, jetzt bei euch an
52
der Schule ist. Und die hat so ein schulübergreifendes
Projekt angeleiert für die Oberstufe.
Gemeinsam forschen oder so ähnlich will sie es
nennen. Und da hat sie uns eingeladen, ob wir
Lust hätten mitzumachen. Soll heut Nachmittag
losgehen. Macht ihr da auch mit?«
Heike und Angela wechselten einen kurzen
Blick. Ja, jetzt, wo sie das hörten, fiel ihnen
wieder ein, dass am schwarzen Brett für die
K12/K13 irgendwas zu dem Thema hing.
»Mal sehen. Jedenfalls ist das nicht hier,
sondern im Physiksaal, wenn mich nicht alles
täuscht. Dann seid ihr also vom GMG?«
GMG, das war das Graf-Münster-Gymnasium.
Und RWG stand für Richard-Wagner-
Gymnasium, ehemalige höhere-Töchter-Schule
und erst seit kurzem auch für Jungen offen.
Deren Zahl allerdings hielt sich in überschaubarem
Rahmen, und so wurde das RWG nach
wie vor von vielen Bayreuthern respektlos
›Besenstall‹ genannt. Und gerade in der Oberstufe
waren die Mädchen noch weitgehend
unter sich.
Der Blondschopf grinste wieder breit und
spottete: »Ja, waschechte Ochsenranch‘ler«,
worauf er die Ellbogen seiner Kameraden zu
spüren bekam.
»So ist‘s recht, nur immer her mit den alten
Sprüchen und Klischees«, grummelte einer der
Jungs, einen Kopf größer als der Rest, mit
53
einem fisseligen schwarzen Vollbart und langen
Haaren geschmückt. Der olivgrüne Parka
fütterte indes jedes Klischee wesentlich drastischer
als der flapsige Spruch mit der Ochsenranch
– das GMG war die frühere Oberrealschule,
abgekürzt OR (Sprich: O-ERR) und von
spottlustigen Bayreuthern schnell abgewandelt
in Ochsenranch, ein Spitzname, der sich hartnäckig
hielt. Dass die OR schon seit beinahe
zwanzig Jahren nicht mehr OR hieß, tat nichts
zur Sache. Manche Dinge halten in Bayreuth
für die Ewigkeit, so wie auch das Bilka-
Kaufhaus beim Hertie in der Kanalstraße für
viele Bayreuther immer noch das Kaufhaus
Loher war.
»Also, Mädels, was ist jetzt mit euch? Seid
ihr dabei? Wird bestimmt interessant. Und
wenn nicht, abspringen kann man ja immer
noch. Ist ja freiwillig. Habt ihr eigentlich auch
Namen?«, wollte der Schwarze wissen.
Heike spürte, wie ihr eine leichte Röte in die
Wangen schoss, und sie ärgerte sich darüber,
ohne etwas dagegen tun zu können. Es war
Angela, die sich und ihre Freundin vorstellte.
»Und ihr, wie heißt ihr, Cowboys? Also du
heißt Che Guevara, das ist schon mal klar –
aber der Rest von euch?«
Angela hatte immer so eine unbeschwerte
und flapsige Art, worum sie von Heike beneidet
wurde. Die hätte sich nie getraut, so
54
mit den Jungs zu reden.
Es stellte sich heraus, dass der Schwarze
nicht Che hieß, sondern Frank. Der Blondschopf
lachte Heike fröhlich an und erklärte,
sein Name sei Bernd. Die anderen drei Jungs
interessierten Heike nicht die Bohne, also
rauschten deren Namen regelrecht an ihr
vorbei – Ulrich, Andreas und Stefan. Nebensächlich.
Heike kannte ihre Freundin Angela
lange und gut genug um zu wissen, dass sich
die beiden nicht ins Gehege kommen würden.
Angela hatte nur Augen für ›Che‹ und Heike
war fasziniert von dem Wikinger Bernd. Ein
Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es Zeit wurde
in den Physiksaal zu gehen. Hoffentlich war
ein Platz in der Nähe von Bernd frei. Energisch
stand Heike auf und trieb die anderen
an. Tatsächlich kamen sie keinen Augenblick
zu früh, denn Frau Meier sperrte gerade die
Tür auf, als sie in den Gang kamen. Am Fenster
gegenüber des Physiksaals stand ein einzelner
Junge und starrte verloren durch die
Gegend. Als er sie kommen sah, nickte er ihnen
kurz zu und schlich dann hinter dem Pulk in
den Saal hinein, um sich gleich neben der Tür
in die erste Reihe zu setzen.
›Streber‹, fuhr es Heike durch den Kopf.
Wer das wohl war? Den Kerl hatte sie jedenfalls
noch auf keiner Schuldisco gesehen.
55
Frau Meier blickte wohlwollend über ihr
Pult in die Runde. Obwohl erst acht Jugendliche
versammelt waren, sah sie aus, als würde
sie gleich vor einem überfüllten Hörsaal eine
Vorlesung halten wollen.
»Na, warten wir noch ein paar Minuten, es
kommen bestimmt noch Nachzügler. Ihr habt
doch fleißig Werbung gemacht, oder?«, scherzte
sie und öffnete die Tür zum Gang wieder, die
der Einzelgänger hinter sich geschlossen hatte.
Tatsächlich hörte man außen energische
Schritte, und Heike wie Angela wussten sofort,
zu wem dieses Klapp-Klapp gehörte: Susanne.
Heike seufzte innerlich auf. Warum musste
diese biblische Plage aber auch überall auftauchen,
wo man sie nicht brauchen konnte?
Susanne war immer und überall tonangebend,
und wer bei ihr in Ungnade gefallen war, sah
kein Land. Sie konnte einem das Leben zur
Hölle machen, ohne dass irgendwer das bemerkte
und etwas dagegen unternahm. Susanne
war schlicht und ergreifend ein Biest.
Dummerweise ein sehr gut aussehendes und
auch nicht auf den Kopf gefallenes Biest. Eigentlich
war es ja klar gewesen, dass sie sich so
ein Zusatzangebot wie dieses hier nicht entgehen
lassen würde. Trotzdem hatte Heike gehofft
… Und wenn es jetzt ganz dumm lief,
dann würde Susanne ihre Krallen ebenfalls
nach dem Wikinger ausstrecken. Und Heike
56
würde folglich in Ungnade fallen – und Bernd
verlieren, bevor sie überhaupt eine Chance bekommen
hatte. Heikes Laune verschlechterte
sich zusehends, als Susanne den Blick kurz
über die anwesenden Schüler wandern ließ,
bevor sie zielstrebig den letzten Platz in unmittelbarer
Nähe der Jungs für sich beanspruchte.
Jetzt seufzte Heike deutlich hörbar.
Das war‘s dann wohl. Wäre ja auch zu schön
gewesen. Angela warf ihr einen unauffälligen
Blick zu und verdrehte genervt die Augen.
Frau war sich einig.
Dann jedoch wurden sie abgelenkt, denn
durch die immer noch geöffnete Tür kam diesmal
eine ganze Gruppe Jugendlicher, ein bunt
gemischter Haufen von Jungs und Mädchen,
unbekümmert durcheinander plappernd. Ohne
sich groß um die Anwesenden zu kümmern
suchten sie sich freie Plätze und machten es
sich gemütlich. Ein Mädchen packte eine Packung
Butterkekse aus und ließ sie ungeniert
herumwandern, einer der Jungs legte seine
Zigarettenschachtel offen auf den Tisch. Na
prima! Da konnte man dann ja wohl auch
stricken, dachte sich Heike und holte ihren
halb fertigen Norwegerpulli aus der Tasche.
Angela grinste und tat es ihr gleich, nur dass
es bei ihr ein ellenlanger kraus gestrickter
Schal war. Frau Meier zog kurz die Augenbrauen
hoch, aber dann erinnerte sie sich wohl
57
daran, dass sie hier ein freiwilliges Angebot
beaufsichtigte, und schluckte ihre spitze Bemerkung
hinunter.
»Alles ist Zahl«, fing sie also an, nachdem sie
die Türe vernehmlich geschlossen hatte. »Alles
ist Zahl – das sagte schon Pythagoras. Er war
überzeugt davon, dass man die Welt beherrschen
könnte, wenn man hinter das Geheimnis
der Zahlen und Algorithmen gelangt. Darauf
basierend wurden viele Dinge entwickelt:
Geheimbünde, Geheimsprachen, Vorgaben für
Malerei und Kunst wie der goldene Schnitt,
aber auch Grundbegriffe der Harmonielehre
in der Musik basieren auf Algorithmen. Und
nicht zuletzt viele Rechenregeln und jetzt,
ganz brandneu, auch Regeln zum Programmieren
von Computern. Haben Sie schon einmal
von Mandelbrotmengen gehört? Algorithmen
in Reinform. Fibonacci-Folgen: Algorithmen.
Kadenzen in der Musik: Algorithmen.
Morsealphabet, Strickmuster – Heike!«
Die schreckte hoch und wurde rot.
»Zeigen Sie uns doch mal, was Sie da stricken.
Ja, so ist es gut, hoch damit. Dieses Muster,
sehen Sie das mal alle genau an. Diese
Farbfolgen, das alles gehorcht mathematischen
Gesetzen. Und ohne es zu wissen ist unsere
Heike ein Mathegenie auf Pythagoras‘ Spuren,
wenn sie ihre bunten Fäden verarbeitet. Sie
sehen also: Unser Thema ist außerordentlich
58
vielfältig. Und ich möchte, dass sie sich diesem
Thema ebenso vielfältig annähern. Ich lasse
Ihnen da beinahe komplett freie Hand. Die
einzige Bedingung, die ich stelle, ist folgende:
Legen Sie mir bis Pfingsten etwas Greifbares
oder besser gesagt Lesbares vor zu dem Thema,
das Sie sich aussuchen. Wir treffen uns vierzehntägig
hier, ich bin anwesend und stehe
Ihnen für Fragen zur Verfügung. Wie oft und
in welchem Rahmen Sie sich darüber hinaus
noch mit unserem freiwilligen Seminar befassen,
das überlasse ich Ihnen. Aber wie gesagt:
ich möchte ein Ergebnis vorgelegt bekommen,
sonst kann ich Ihnen das Seminar nicht in
Ihrem Abizeugnis bestätigen. Und jetzt würde
ich vorschlagen, dass wir uns erst einmal alle
vorstellen, denn ich für meinen Teil kenne zumindest
noch nicht alle von Ihnen.«
Heike strickte weiter und hörte nur noch mit
halbem Ohr zu. Algorithmen! Worauf hatte sie
sich da nur eingelassen? Abgesehen davon,
dass sie nicht wusste, wie die Meier auf neue
Strickentwürfe als Seminararbeit reagieren
würde – Bernd würde sich dadurch mit Sicherheit
nicht beeindrucken lassen. Und Susanne
hatte bestimmt schon ein hochinteressantes
Thema parat, das sie entsprechend präsentieren
würde.
Bald schon schwirrten die Ideen durch den
Raum wie aufgescheuchte kleine Kolibris. Ein
59
Junge vom MWG, dem musischen Gymnasium,
Matthias hieß er wohl, schwärmte von der
Struktur in Richard Wagners Opern und wollte
untersuchen, welche Akkorde für besonders
wohlige Schauer unter den Zuhörern sorgten.
Eine Mitschülerin von ihm wollte herausfinden,
warum der goldene Schnitt für derart
gelungene Proportionen sorgte und wo er von
Natur aus vorkam. Manuela vom WWG, den
Klamotten nach eine Bio-Ökomaus, plante
einen Vergleich der Akkorde und Harmonien
verschiedener NDW-Hits von Falco, Trio und
Extrabreit. Heike runzelte überrascht die
Stirn. Outfit und Thema von Manuela passten
nicht so recht zusammen, sinnierte sie. Frank
erklärte großspurig, er wolle sich mit den
wichtigen Geheimbünden vom Mittelalter bis
heute auseinandersetzen, Bernd nickte zustimmend
und schlug vor, im Team zu arbeiten.
Er würde seinerseits die Zeit zwischen
Pythagoras und dem Mittelalter erforschen.
Zu Heikes Entsetzen rutschte Susanne sofort
ein Stück näher an die beiden Jungs heran und
wollte ebenfalls ins Team – nein: Sie bestimmte
das so. Heike biss sich auf die Lippen, bis es
schmerzte. Wie konnte man nur so sein wie
Susanne!
Aber überraschenderweise schüttelte Frank
jetzt energisch den Kopf und erklärte:
60
»Nichts gegen dich, aber wir sind ein optimales
Team zu zweit. Da passt kein Dritter
rein. Du musst dir was anderes suchen, sorry.«
Susanne blitzte ihn wütend und fassungslos
an, aber diesmal hatte sie keinen Erfolg mit
ihrer Art. Heike und Angela tauschten wieder
einen kurzen Blick und beugten sich tief über
ihre Stricksachen, damit niemand ihr Grinsen
bemerkte. Flüsternd tauschten die beiden ihre
Ideen aus und ließen dann die Katze aus dem
Sack. Sie wollten sich tatsächlich mit Strickmustern
befassen und die unterschiedliche
Wirkung vergleichen, je nachdem ob man
dasselbe Muster mehrfarbig oder mit rechten
/linken Maschen oder gar noch anderen Kombinationen
strickte. Susanne grinste nur hochmütig,
als sie das hörte, aber Frau Meier nickte
wohlwollend.
»Das ist dann ja sogar eine Umsetzung
des Themas in den Alltag, nicht nur reine
Forschung. Sehr schön, das gefällt mir gut«,
ermunterte sie die Mädchen.
Der Einzelgänger, dessen Name übrigens
Martin war, kam vom GCE, dem humanistischen
Gymnasium. Seltsamer Kauz, dachte
Heike bei sich. Sie kannte niemanden vom
GCE, die Schule hatte den Ruf, dass ihre Schüler
recht abgehoben wären. Viele Söhne und
Töchter von Ärzten und Professoren, halt
elitäres Volk. Martin wählte als Thema die
61
Entschlüsselung von Geheimsprachen und erklärte,
er könne da durchaus Unterstützung
gebrauchen, was Susanne wieder ein spöttisches
Grinsen entlockte, das Frau Meier nicht
entging.
»Susanne, du hast doch noch kein Thema
und wolltest unbedingt im Team arbeiten. Auf
geht‘s!«
Sie starrte die Lehrerin wütend an. »Auf
keinen Fall!«, fauchte sie und stützte die Ellbogen
kampflustig auf ihren Tisch.
»Ich denke doch – du willst doch dieses Seminar
im Abizeugnis stehen haben, oder nicht?
Dann mal los. Martin wird dich schon nicht
beißen.« Frau Meier hielt ihrem wütenden
Blick stand, bis es Susanne war, die wegschaute.
»Na also«, nickte sie und machte eine Kopfbewegung
zu dem freien Platz neben Martin
hin. Und während Susanne mit verkniffenem
Gesicht aufstand und den Platz wechselte,
musste sich Heike schon wieder auf die Lippen
beißen – diesmal allerdings, um nicht laut loszulachen.
62
Die Angelegenheiten unseres Lebens haben einen
gemeinsamen Gang, der sich nicht berechnen
lässt
(Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre)
Zum Glück waren jetzt Pfingstferien und Lisa konnte
sich etwas erholen. Allmählich wurde sie in sich ruhiger
und das Kribbeln am ganzen Körper ließ nach. Auch
hatte sie nicht mehr das Bedürfnis, ständig in weltverschwörerischer
Manier zu reden. Langsam konnte sie
auch wieder etwas essen. Ihre Veränderung war in ihrer
agilen Familie, in der die Ansprechpartner laufend
wechselten, niemandem aufgefallen. Anders war es bei
Lena. Mehr als einmal hatte ihre Mutter sie gefragt, was
mit ihr los sei. Es dauerte bis zum Dienstag, bis Lisa und
Lena sich zum ersten Mal wieder trafen. Sie wählten als
Treffpunkt eine Bank im Hofgarten aus. Gerne hätte
sich Lena mit Lisa im Dammwäldchen getroffen, aber
seit dem Mord an Tina, der Schwester ihrer einst besten
Freundin Anna, war dieser Ort tabu für sie. Lisa war
schon da, als Lena kam, immer noch dabei, sich häufig
umzudrehen.
»Wie geht es dir?«, fragte Lisa zuerst.
»Ach, ich weiß nicht. Irgendwie finde ich es cool,
dass mir die Welt im Augenblick so klar vorkommt, ich
kaum noch schlafen möchte und gar keinen Hunger
mehr habe. Schau mal, ich habe ganz schön abgenommen.
Siehst du den Typen dahinten, der sieht gut aus.
Komm, den machen wir mal an. Traust du dich nicht?
63
Ich habe überhaupt keine Angst davor ihn anzusprechen«,
plapperte Lena. Der Redeschwall ging noch etwas
weiter so.
Dann unterbrach sie Lisa: »Lena, du bist laufend wach,
siehst die Welt konturierter, hast keinen Hunger und auch
keine Angst mehr, weil in dem Bier, das du getrunken
hast, Crystal Meth war. Du hast ein bisschen mehr davon
abbekommen als ich, deshalb wirkt es bei dir auch stärker
als bei mir. Ich habe nachgelesen. Spätestens morgen
wird uns ein Katzenjammer ereilen und dann wollen wir
dieses Gefühl der Unbesiegbarkeit wieder erleben.«
»Ach Lisa«, flötete Lena, «komm sieh doch alles nicht
so schwarz. Ich überlege mir gerade, ob man sich nicht
einen kleinen Vorrat von dem Zeug anschaffen sollte. So
für den Notfall oder vor Prüfungen zum Lernen oder so.«
»Sag mal, spinnst du? Hast du dir mal die Typen im
Internet angeschaut, die das Zeug nehmen? Das frisst
Löcher ins Gehirn, die Zähne und Haare fallen dir aus
und du siehst bald ganz schön alt aus. Nein Lena, auch
wenn es noch so verlockend ist, das Zeug macht schnell
abhängig – und das mit der Ration für Notfälle glaubst
du doch selbst nicht«, sagte Lisa viel zu laut, denn sie
hörte die Worte in ihrem Kopf schrillen.
Lena schaute wie ein trotziges Kind, das die Ohren
auf Durchzug gestellt hat.
»Lena, versprich mir, dass du nicht versuchst an
dieses Höllenmittel heranzukommen, auch wenn deine
Gedanken in den nächsten Tagen nur noch darum
kreisen, wie du das schaffst. Was machst du morgen?«
»Ich fahre mit meinen Eltern zu meiner Großtante nach
Weimar. Von da aus wollen wir einen Ausflug nach
64
Apolda und nach Nebra zur Himmelscheibe machen«,
antwortete Lena immer noch patzig.
Gut, dachte sich Lisa, da ist sie rund um die Uhr bewacht.
Kurz stellte sich eine Gesprächspause ein, wobei
jeder von beiden wusste, dass diese und andere Fragen
zwischen den Bäumen schwebten.
Lisa schaffte es zuerst die Frage zu stellen: »Hast du
was von Tanja gehört? Ich habe ihr x-mal geschrieben,
aber sie geht nicht an ihr Handy.«
»Bei mir auch nicht, deshalb bin ich mal hingefahren,
aber ihre Eltern haben mich nicht zu ihr gelassen, weil
es ihr nicht gut geht und sie niemanden sehen will«,
antwortete Lena, wobei sie mit dem Stock Muster in den
Sand vor der Bank malte.
»Das habe ich mir schon gedacht. Ich habe gelesen,
dass manchmal auch Depressionen und Wahnvorstellungen
die Folge von dem Crystal sein können. Und
dass das ganz furchtbar sein muss. Meinst du, sie hat
alles kapiert, was sie gesehen hat? Sie war doch schon
am Samstag so neben sich. Lena, was machen wir? Wir
müssen Tanja fragen, was sie für richtig hält!«, raunte
Lisa fast heiser stotternd,
»Lena, sollen wir zur Polizei gehen?«
Damit war der Gedanke raus, der sie schon die ganze
Zeit über beschäftigt hatte.
»Ich frage Das Buch mich ist auch als schon eBook in und jeder Taschenbuch hellen Sekunde,
ob das wirklich geschehen im Buchhandel ist, was erhältlich. wir gesehen haben.
Vielleicht war das alles nur Fiktion. Wir können nicht
zur Polizei gehen. Am Ende machen die noch einen
Bluttest und dann sind wir dran«, schrillte Lena, wobei
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