Das Vermächtnisder FährtenleserinChristina LeitingerErinnerungen aneine lebenskundigeweise Frau und ihreGabe, die richtigenWege zu gehen6
Bei einem gewöhnlichen Spaziergangim Wald wandern wir meistens aufbekannten Wegen, auf gut beschriebenenWanderrouten. Deren Schilder weisenuns an jeder Weggabelung die richtigeRichtung und verschaffen uns mitDauer, Länge und sogar Einkehrmöglichkeiteinen guten Überblick, was uns aufunserer Strecke so erwartet.Was aber, wenn wir uns mal abseits vonvertrauten oder beschriebenen Wegenbewegen. Wenn wir die Neugier verspüren,mal unbekanntes Territorium zu betretenund erkunden? Was hilft mir dabei,mich nicht zu verlaufen oder im Dickichtzu verirren?Wäre ich doch ein Jäger, kommt mir daimmer wieder in den Sinn. Dann wüssteich, wie man die richtige Fährte erkennt,auf was zu achten ist, wie Orientierung inscheinbar dichtem Unterholz möglich ist.Ich hätte die Wachsamkeit, diesen achtsamenBlick für scheinbare Kleinigkeiten,die sonst für das ungeschulte Auge unsichtbarbleiben. Daschärft sich meineAufmerksamkeit undich nehme bis dahinUnsichtbares wahr: DieWetterseite der Bäume,die mir Orientierungin der Himmelsrichtunggibt. Fraßspurenan Gehölz oderSträuchern. Vogelstimmen,die mirOrientierung geben, den Raum um michherum beschreiben. Buschwerk und bestimmtePflanzen, die Aufschluss überden Untergrund und die Beschaffenheitmeines Umfelds geben.Mit all diesem Wissensschatz werde ichzur Fährensucherin und entdecke nichtnur meine Umwelt mit ganz neuen Augen,sondern ich sehe auf einmal eineFülle von Spuren, die hier hinterlassenwurden: Die Spuren eines Rehs, Wetzspurenvon einem Fuchs, Wühlspuren vonWildschweinen… für all das ist mein Blickauf einmal sensibilisiert – und ich binSpurensucherin und zugleich Fährtenleseringeworden.Solche guten Fähren- oder Spurenlesergibt es übrigens auch im Leben. Ja, ichkenne so eine besondere Frau, die ich alsgute Spurenleserin bezeichnen möchte.Sie war eine unglaublichgute Fährtensucherinvon tragfähigen Lebensfährten,und sie hat darüberhinaus Spuren gelegt,die bis in mein Leben heutehereinreichen; aber derReihe nach:Das Leben besteht einerseitsaus Gegebenheiten und andererseitsaus Entscheidungen, mit diesen Gegebenheitenumzugehen. Es besteht also,wenn man so will, einerseits aus verschiedenenSpuren und Wegeoptionenund andererseits aus Entscheidungen,gewissen Fährten zu folgen und anderelinks liegen zu lassen. In eben diesemSinne war diese Frau, vonder ich erzählen möchte,eine wunderbare Spurenleserin:ich erzähle euch vonmeiner Großmutter Maria.Ein Beispiel aus ihremLeben: Es war zur Zeit desZweiten Weltkriegs. Ihr Bruderwar in Frankreich inKriegsgefangenschaft geraten und niemandkonnte Auskunft darüber geben,wie es um ihn bestellt war. War er verletzt?Musste er leiden? Wie sollte esweiter gehen? Würde er irgendwann freikommen oder vielleicht vorher hingerichtetwerden? Meine Großmutterwusste nichts von seinem Verbleib undseinem Schicksal, nur dass da eine SpurRichtung Frankreich führte. Und dann tatsie, was keiner erwartet hatte und auchkeiner erwarten konnte, sie machte sichauf den Weg, dieser Fährte zu folgen undzog los nach Frankreich: sie als Deutsche,sie als alleinreisende Frau in den Wirrendes Krieges, sie als Einzelperson auf demWeg zu feindlichen Militärs. Die Fährte,der sie folgte, wäre wohl für die meistenvon uns als nicht sinnvoll erachtet undniemals verfolgt worden. Diese Spur hättenwir wohl links liegengelassen und wären anderenFährten gefolgt:vielleicht der Fährte diein Richtung Erhalt deseigenen Bauernhofs gezeigthätte, die Fährte,die mit dem Argumentdes Wohles der Kinderfür ein Daheimbleibenplädiert hätte, vielleichtdie Fährte, die einenBrief an die Behörden hätte schreibenlassen und um Auskunft über ihren Brudernachgesucht hätte. Ja, es waren vieleFährten, die sich damals vor ihrem Lebenswegausgebreitet hatten. Sie hatsich für die Fährte entschieden, die einegefährliche Reise bedeutete. Und, um eskurz zu machen: Ja, sie hat ihren Brudernach Hause geholt.Das Leben bestehteinerseits ausGegebenheiten undandererseits ausEntscheidungen,mit diesenGegebenheitenumzugehen.Immer wieder, wenn ich über diese Geschichtenachdenke, bewundere ich denMut und die Courage einer, nach außenhinso einfachen und doch so praktischenFrau. Was hat sie wohl bewogen,diese Entscheidung zu treffen? Wiekonnte sie die richtige Spur finden, diezu diesem glücklichen Ende geführt hatte,für das es erstmal wenig Erfolgsaussichtenund erst recht keinerlei Garantiegab?Natürlich kommen mir da Bilderihres Lebens, wie meine Oma immer war,in den Sinn:Aktives Anpacken, statt passivenNichthandeln à darübermusste sie nie groß nachdenken.7