Glaubensvorbilder_Leseprobe
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GLAUBENSVORBILDER<br />
GLAUBENSVORBILDER<br />
Glaubens-<br />
vorbilder<br />
1<br />
C. H. Spurgeon<br />
• GLAUBENSVORBILDER •<br />
•<br />
2<br />
•<br />
M. Luther<br />
3<br />
•<br />
A. Carmichael<br />
• GLAUBENSVORBILDER<br />
•<br />
4<br />
•<br />
J. H. Taylor<br />
LESEPROBE
Charles Spurgeon<br />
Der Fürst der Prediger<br />
1<br />
C. H. Spurgeon<br />
• GLAUBENSVORBILDER •<br />
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Christian Timothy George
Charles Spurgeon war ein<br />
einfacher Bauernjunge und<br />
wurde später einer der bekanntesten<br />
Prediger der Welt.<br />
Er mischte sich unter Adlige<br />
und Bettler, um seinen Auftrag<br />
von Gott, nämlich Menschen<br />
das Evangelium zu predigen,<br />
auszuführen. Voller Eifer, mit<br />
Liebe und Klarheit predigte er,<br />
um die Herzen von Arm und<br />
Reich, von Groß und Klein<br />
gleichermaßen mit der Frohen<br />
Botschaft zu erreichen. Man<br />
sagt, dass sogar die Königin<br />
kam, um dem »Fürsten der<br />
Prediger« zuzuhören. Aber<br />
Charles größte Aufmerksamkeit<br />
galt dem König aller<br />
Könige, Jesus Christus. – Für<br />
Ihn lebte er. Ihm diente er.<br />
Die Geschichte wird Charles<br />
Haddon Spurgeon für immer<br />
als »Fürsten der Prediger«<br />
kennen.
Vater der Waisen<br />
Metropolitan Tabernacle,<br />
London – Sonntagmorgen, 1877<br />
7<br />
Charles war dreiundvierzig Jahre alt. Seine Augen blickten weiser als<br />
zuvor, sein Gesicht war gezeichnet vom stürmischen Wetter des Lebens.<br />
Zwanzig Jahre waren vergangen seit dem tragischen Vorfall in der<br />
Surrey Gardens Music Hall, doch die Erinnerung daran war immer noch<br />
frisch in Spurgeons Gedanken. Er hatte sich von diesem tragischen Unglück<br />
nie ganz erholen können. Jedes Mal, wenn eine größere Menschenmenge<br />
zusammenkam, klopfte sein Puls heftig, seine Beine zitterten und<br />
waren wie gelähmt.<br />
Charles stand vor seiner Gemeinde. »Unser Bibeltext an diesem Morgen<br />
ist im Alten Testament zu finden, in dem Buch von Habakuk. ›O<br />
Herr, belebe Dein Werk!‹ Als die Katastrophe in der Surrey Gardens Music<br />
Hall geschah, sank ich in eine tiefe Krise. Es war der tiefste Punkt meines<br />
Lebens. Wochenlang blieb ich in Isolation und fand keinen Gefallen an<br />
Speise, Schlaf oder an der Schrift.«<br />
Susannah schloss ihre Augen. Diese Erinnerung schlug sie nieder.<br />
Das Unglück hatte ihren Ehemann emotional so übermannt, dass sie daran<br />
zweifelte, ob er jemals wiederhergestellt werden könnte.<br />
»Doch eines Tages«, fuhr Charles fort, »als ich durch meinen Garten<br />
schritt, kam mir dieser Text in den Sinn: ›O Herr, belebe Dein Werk!‹ Es traf<br />
mich wie eine Ladung schwerer Ziegelsteine – Predigen ist nicht mein<br />
4
VATER DER WAISEN<br />
Werk, Predigen ist Gottes Werk! Gott hat mich zu dieser Pflicht berufen.<br />
Gott liefert die Hilfsmittel für diese Arbeit. Als ich dann im Schatten<br />
eines Baumes saß, erhob ich meinen Kopf zum Himmel und betete: ›O<br />
Gott, belebe Dein Werk! Nur Du kannst es tun; ich bin viel zu schwach.<br />
Nur Du kannst die Splitter meines zerbrochenen Lebens zusammenfügen.<br />
Nur du kannst meine Niedergeschlagenheit vertreiben.‹«<br />
Charles hielt inne. Er schaute in die Augen der Versammelten. Vielen<br />
von ihnen stand die Angst vor Tragödien im Gesicht geschrieben.<br />
»Vielleicht sitzt du heute Morgen hier«, sprach er gütig, »und ringst um<br />
Kraft zum Überleben. Gemeinsam mit David wanderst du durchs Tal<br />
der Todesschatten. Ich habe eine frohe Botschaft für dich, liebe Seele.<br />
Jesus Christus hat die größte Freude daran, Niedergeschlagene aufzurichten.<br />
Wenn Gott in dir ein Werk beginnt, dann ist Er fähig, gewillt<br />
und kompetent, es zu vollenden. Gott zeichnet nie einen Entwurf für ein<br />
Projekt, das Er nicht imstande wäre auszuführen! Liebe Seele, bete doch<br />
darum, dass Gott Sein Werk in deinem Leben beleben möge!«<br />
Charles schloss den Gottesdienst mit einem Lied und Gebet ab. Er<br />
ging zurück in sein Arbeitszimmer, das sich in der Kirche befand, und<br />
betete, dass der Heilige Geist seine Worte gebrauchen möge, um seine<br />
Gemeinde zu ermutigen.<br />
Da klopfte es an der Tür. »Herein«, sagte Charles.<br />
Ein Diakon trat ein. »Pastor Spurgeon, du hast einen Besucher. Er<br />
wohnte heute Morgen dem Gottesdienst bei und verlangt dich zu sprechen.<br />
Ich fragte nach seinem Namen, doch er wies meine Frage ab. Soll<br />
ich ihn fortschicken?«<br />
Charles klappte das Buch zu, in welchem er gelesen hatte. »Unser<br />
Heiland hat niemals Menschen fortgeschickt«, sagte er. »Auch wir sollten<br />
das nicht tun. Bringe ihn herein!«<br />
Der Fremde schritt durch die Tür. Er war groß und adrett gekleidet.<br />
Seine glänzenden Schuhe verrieten etwas von seinem Status; sein Hut<br />
war vom Feinsten in London. Irgendwas an ihm wirkte sehr vertraut.<br />
Der Fremde trat ins Zimmer, schloss die Tür und verriegelte sie.<br />
»Was machen Sie da?«, erkundigte sich Charles und stand auf.<br />
Der Fremde antwortete nicht. Schritt für Schritt kam er auf den Tisch<br />
zu, an dem Charles stand. Der Hut auf seinem Kopf hinderte Charles<br />
daran, ihm in die Augen sehen zu können.<br />
»Wer ist dieser Eindringling?«, wunderte sich Charles.<br />
5
CHARLES H. SPURGEON<br />
Spannung erfüllte den Raum. »Kennen wir uns, Sir?«, fragte Charles.<br />
Es kam keine Antwort.<br />
»Möchten Sie mir etwas antun?!«<br />
Mit der Gewandtheit eines Athleten sprang der Fremde in Aktion und<br />
setzte seine Faust fest unter Charles‘ Brustkorb. Charles krümmte sich<br />
unter dem Hieb, verblüfft über den plötzlichen Angriff. Doch irgendwie<br />
war er nicht zu sehr überrascht. Der Stoß war ihm irgendwie vertraut.<br />
»Henry? Bist du es?«<br />
Der Fremde brach in schallendes Gelächter aus und zog seinen Hut<br />
ab.<br />
»Wie in alten Zeiten, was, Charles?«, sagte er und half seinem Freund<br />
auf.<br />
Ja, es war wie in alten Zeiten. Zu sehr wie in alten Zeiten. »Es ist weitaus<br />
einfacher, einen alten dicken Mann zu schlagen, als einen jungen<br />
dicken Mann«, antwortete Charles. »Jetzt gibt es mehr Angriffsfläche an<br />
mir, um zu boxen.«<br />
Henry umarmte Charles fest und schaute sich ihn genau an. »Das<br />
Leben hat von dir seinen Tribut gefordert, alter Freund.«<br />
»Die Jahre waren gütiger mit dir«, antwortete Charles.<br />
Henry sah sich im Pastorenzimmer um. »Du hast ein ziemlich gutes<br />
Predigtamt hier«, sagte er. »Ich wusste immer, dass Gott dir das Verlangen<br />
deines Herzens erfüllen würde. Als ich dich heute Morgen predigen<br />
hörte, erinnerte ich mich an deine erste Predigt in Teversham – das ist so<br />
lange her! Weißt du noch, wie aufgeregt du warst?«<br />
Charles erinnerte sich. »Ich habe gute Erinnerungen an jene Tage,<br />
jene ersten Früchte meines Predigtdienstes – die dunklen, weiten Felder,<br />
die langen, schmutzigen Wege, die grüne Landschaft von Cambridge.«<br />
»Deine Predigt war wirklich gut«, sagte Henry. »Du hast immer noch<br />
denselben Funken, an den ich mich erinnere. Wie hat Gott dich zu dieser<br />
Gemeinde in London gebracht?«<br />
Charles zog einen Stuhl heran für Henry. »Als ich nach London zog,<br />
war ich der Pastor der New Park Street Baptist Church. Letztendlich kamen<br />
so viele Leute, dass wir gezwungen waren, eine andere Kirche zu<br />
bauen. Der Bau des Metropolitan Tabernacle begann 1859. Es war ein<br />
kostspieliges Projekt. Durch Gottes Gnade haben wir es finanzieren können,<br />
ohne in Schulden zu versinken. Aber genug von mir, Henry. Wie<br />
hast du die letzten siebenundzwanzig Jahre verlebt?«<br />
6
VATER DER WAISEN<br />
»Ich verließ Cambridge, kurz nachdem du Pastor in Waterbeach wurdest.<br />
Ich wollte Jura studieren; also zog ich nach London, um meinem<br />
Abschluss nachzugehen.«<br />
»Was ist denn mit jenem Mädchen passiert? Das, mit dem du dich<br />
heimlich getroffen hast –«, fragte Charles. »Hast du es geheiratet?«<br />
Henry lächelte. »Nein, ich habe jemand anderes getroffen – aber das<br />
ist eine lange Geschichte.«<br />
»Erzähl mir die Kurzfassung!«, bat Charles, gespannt zu erfahren, in<br />
wen sich Henry verliebt hatte.<br />
Henry gab nach. »Ich habe dir sehr dafür zu danken – du hast einmal<br />
eine junge Frau ermutigt, den Gottesdienst zu besuchen und Die Pilgerreise<br />
zu lesen …«<br />
»Mary?«, rief Charles aus. »Sie hatte das röteste Haar, das ich je gesehen<br />
habe – und unzählige Sommersprossen!« Charles war sprachlos.<br />
»Sie hat zwar mit sehr geringem Bildungsniveau angefangen – doch<br />
nun ist es eine ganz andere Geschichte. Sie ist eine hingegebene Christin.<br />
Es hat nicht lange gedauert, bis ich sie gefragt habe, ob sie mich heiraten<br />
wolle!«<br />
Charles schüttelte seinen Kopf in freudiger Fassungslosigkeit.<br />
»Was ist mit dir, Charles? Wen hast du geheiratet?«<br />
Charles nahm einen Bilderrahmen vom Tisch und reichte ihn Henry.<br />
»Ihr Name ist Susannah. Sie ist die allererstaunlichste und talentierteste,<br />
hilfreichste Frau der Welt! Sie ist ein Juwel unter den Frauen!«<br />
Henry zog ein kleines Päckchen aus seiner Tasche und reichte es<br />
Charles. »Das ist für dich«, sagte er. »Als ich Mary erzählte, dass ich<br />
hierherkommen würde, um dich predigen zu hören, da bestand sie darauf,<br />
dass ich dir das geben sollte.«<br />
Charles löste die Schleife und riss die Verpackung auf. »Sie sagte, du<br />
würdest es mögen.«<br />
Charles grinste. Er mochte es in der Tat. Die Inschrift lautete: »Für<br />
Charles, den Mann, der mich zum Lesen angeregt hatte. Danke, dass Sie<br />
das Ende geheim gehalten haben. Mary«<br />
Charles legte das Exemplar der Pilgerreise auf seinen Tisch. »Was<br />
macht Mary zurzeit?«<br />
Henry war sehr stolz auf sie. »Sie ist Lehrerin.«<br />
»Lehrerin?«, fragte Charles. »Was unterrichtet sie denn?«<br />
7
CHARLES H. SPURGEON<br />
»Wie du weißt, besteht in London hoher Bedarf im Dienst an den<br />
Kindern. Überall gibt es Waisenkinder.«<br />
Charles wusste das. Er liebte die Waisen von London sehr. »Es bricht<br />
mir das Herz, sie zu sehen«, sagte er. »Manchmal schleichen sie sich in<br />
den Gottesdienst – vor allem im Winter –, um sich aufzuwärmen. Sie<br />
kennen weder die Liebe ihrer Eltern, noch die Behaglichkeit eines Hauses.<br />
Viele fegen Schornsteine, um zu überleben, und oft sterben sie verfrüht<br />
wegen der elendigen Bedingungen. Wie lange arbeitet Mary schon<br />
unter Kindern?«<br />
»Jeden Samstag versammelt sie einige von ihnen und bringt ihnen<br />
Lesen und Schreiben bei. Das gibt ihnen etwas, wovon sie später leben<br />
können.«<br />
»Ich hätte es liebend gern, wenn unsere Gemeinde diese Waisen in<br />
gewisser Weise fördern könnte …«, seufzte Charles.<br />
Henry dachte nach. »Vielleicht wäre da etwas …«, sagte er. »Zurzeit<br />
arbeite ich mit einer Witwe namens Mrs. Hillyard, die gerade eine hohe<br />
Geldsumme geerbt hat. Sie möchte 20.000 Pfund in den Dienst für Gott<br />
spenden, doch sie weiß nicht, wo sie es einbringen soll. Sie fragte mich,<br />
ob ich von einer Not wisse, wofür sie ihre Spende beisteuern könnte.«<br />
Charles dachte einen Moment nach. »Wenn es jemanden in der Stadt<br />
gibt, der das Geld wirklich braucht, dann sind es die Waisenkinder.«<br />
Charles hatte eine Idee. »Was wäre, wenn wir ein Waisenhaus für sie<br />
bauen könnten?«<br />
»Ein Waisenhaus?«, fragte Henry.<br />
»Wir könnten das in der Nähe unserer Kirche errichten lassen. Es würde<br />
ihren physischen und emotionalen Bedürfnissen nachkommen; doch<br />
was das Wichtigste ist: Wir könnten ihnen die Bibel nahebringen und<br />
für sie eine christliche Umgebung schaffen, wo sie aufwachsen könnten.«<br />
In diesem Gedanken lag Enthusiasmus, und Henry wurde davon angesteckt.<br />
»Charles, ich möchte dir etwas erzählen: Als wir gemeinsam<br />
in Cambridge waren, verehrte ich dich als einen hervorragenden Bibelschüler.<br />
Du konntest die kompliziertesten theologischen Lehren in der<br />
einfachsten Sprache vermitteln, so dass sogar Leute wie ich sie verstehen<br />
konnten. Du hast die ewigen Wahrheiten für einfältige Köpfe umgeformt.<br />
Guter Rat für allerlei Leute – das Buch, das du mit Anfang zwanzig<br />
geschrieben hast – hat so eine Veränderung in mein Leben gebracht. Du<br />
hattest immer Mitleid gegenüber benachteiligten Menschen. Ein Waisen-<br />
8
VATER DER WAISEN<br />
haus wäre die natürliche Ausweitung deines Predigtamtes und Predigerherzens.<br />
Du wärest ein Vater für sie, Charles – der Vater, den sie nie<br />
gehabt haben!«<br />
Charles brauchte Zeit, um diese Idee auszubrüten. »Gott könnte dich<br />
heute genau aus diesem Grund hergeschickt haben«, antwortete er.<br />
Henry lächelte. »Du hast niemals an Zufälle geglaubt, stimmt’s?«<br />
Charles schüttelte den Kopf. »Bei Gott gibt es keine Zufälle. Lass uns<br />
mit Ihm über diese Idee sprechen, und wenn Er uns gestattet, das Waisenhaus<br />
zu bauen, dann werden wir es tun.«<br />
Henry reichte Charles eine Visitenkarte. »Falls du mir schreiben<br />
möchtest – hier ist meine Adresse.«<br />
Charles stand auf und begleitete Henry zur Tür. »Ich danke dir sehr<br />
fürs Vorbeikommen!«<br />
Thomas war zwölf Jahre alt. Es war nicht einfach, Sohn eines Predigers<br />
zu sein – besonders, wenn der Vater Charles Haddon Spurgeon war.<br />
Die Erwartungen waren extrem hoch. Wann immer er und sein Bruder<br />
Charles in Konflikte gerieten, erfuhr es die ganze Welt.<br />
»Papa, kommst du mit?«, fragte Thomas, als er in die Kutsche stieg.<br />
»Nein, ich mache einen Spaziergang, Jungs«, antwortete er. »Passt<br />
auf, dass ihr eure Mutter wohlbehalten nach Hause zurückbringt! Wir<br />
sehen uns später.« Charles küsste seine Frau zum Abschied und ging die<br />
Straße hinunter.<br />
»Hat Papa irgendwas?«, fragte Thomas.<br />
Susannah legte ihre Hand auf seine Schulter. »Deinem Vater geht es<br />
gut«, antwortete sie. »Er braucht nur etwas Zeit, allein mit dem Herrn.«<br />
Thomas war skeptisch.<br />
Die Pferde setzten die Kutsche mit einem Ruck in Bewegung. »Habe<br />
ich euch schon einmal erzählt, was euer Vater über diese Pferde sagte?«,<br />
fragte Susannah.<br />
Die Zwillinge schüttelten ihre Köpfe.<br />
»Wie ihr wisst«, begann sie, »liebt euer Vater diese Tiere. Jeden Sonntag<br />
ziehen sie uns treu und brav zur Kirche. Eines Tages kam ein Mann<br />
auf Papa zu und tadelte ihn dafür, dass er die Pferde an einem Sonntag,<br />
dem Tag des Herrn, so hart arbeiten ließ. Euer Vater hat kleinliche Kritik<br />
nie gemocht, und oft hat er seinen Humor eingesetzt, um die Angriffe<br />
umzuleiten. Als er die Beschwerde dieses Mannes hörte, sah Charles ihn<br />
9
CHARLES H. SPURGEON<br />
an und entgegnete: ›Diese Pferde fallen nicht in große Sünde, wenn sie<br />
mich jeden Sonntag zur Kirche ziehen. Weißt du, meine Pferde sind jüdisch;<br />
sie feiern ihren Sabbat am Samstag.‹«<br />
Thomas und sein Bruder brachen in schallendes Gelächter aus. »Hat<br />
Papa das wirklich gesagt?«, fragte Tom.<br />
»Jungs, wenn ihr nur die Hälfte von allem wüsstet, was euer Vater<br />
schon alles gesagt hat …« Susannah grinste.<br />
Charles schlenderte planlos durch die Straßen von London. Er hatte kein<br />
Ziel im Sinn – und er beeilte sich nicht. Er ging an kleinen Jungen vorbei,<br />
die Zeitungen verkauften und riefen: »Die Erfindung des Telefons verändert<br />
die Welt! Lesen Sie hier alles darüber!«<br />
Block für Block durchstreifte Charles. »Was würdest Du mich tun lassen<br />
bezüglich des Waisenhauses?«, betete er. »In dieser Stadt gibt es so<br />
viele Kinder, die Errettung brauchen.«<br />
Nachdem er die Themse überquert hatte, fühlte Charles einen<br />
schmerzenden Schlag in seinen Knien. Seine Knie waren nie sehr stark,<br />
wie die von Henry; doch in letzter Zeit bereiteten sie ihm oft entsetzliche<br />
Schmerzen. Charles setzte sich auf eine Bank.<br />
»Entschuldigen Sie, Sir, Sie können hier nicht sitzen!«<br />
Charles konnte nicht verstehen, wo die Stimme herkam.<br />
»Ich sagte, Sie können hier nicht sitzen!«<br />
»Und warum nicht?«, fragte Charles. »Dem Herrn gehört die Erde und<br />
was sie erfüllt.«<br />
Plötzlich erschien ein Kind hinter der Bank.<br />
»Sie können hier nicht sitzen, weil Sie die Banksteuer nicht gezahlt<br />
haben!«<br />
»Die Banksteuer?«, fragte Charles. »Ich habe noch nie von so einer<br />
Steuer gehört!«<br />
Das Kind beharrte darauf.<br />
»Wenn Sie auf meiner Bank sitzen möchten, dann müssen Sie Bankgebühren<br />
zahlen!«<br />
Charles war fasziniert. »Und was beträgt die Gebühr, junger Mann?«<br />
»Es kommt darauf an, wie lange Sie hier sitzen möchten.«<br />
»Verstehe«, sagte Charles. »Gut, dann lass mich sehen, wie viel Geld<br />
ich habe.« Er griff in seine Tasche und zog einige Pence heraus. »Wie<br />
lange darf ich dafür hier sitzen?«<br />
10
VATER DER WAISEN<br />
»Fünf Minuten«, antwortete das Kind, »und keine Sekunde länger!«<br />
Charles war beeindruckt von der Pfiffigkeit des Jungen.<br />
»Ich zahle diese Gebühr an dich unter einer Bedingung«, entgegnete<br />
er. Das Kind war Bedingungen nicht gewohnt.<br />
»Ich zahle dir dieses Geld, wenn du dich zu mir auf die Bank setzt.«<br />
Der Junge willigte ein. »Na gut«, sagte er und schnappte sich das<br />
Geld.<br />
»Also, wo wohnst du?«, fragte Charles.<br />
Keine Antwort.<br />
»Du brichst unsere Abmachung«, sagte Charles.<br />
»Sie haben nicht gesagt, dass ich Fragen beantworten muss, während<br />
ich mit Ihnen auf der Bank sitze«, erwiderte der Junge. »Fragen kosten<br />
Sie etwas zusätzlich, Mister.«<br />
Charles lächelte und griff in seine Tasche. »Ich bin bereit, für die Antworten<br />
zu zahlen«, sagte er und gab ihm noch einen Penny.<br />
»Ich bin ein Waisenkind«, antwortete er. »Ich fege Schornsteine.«<br />
»Wie heißt du?«, fragte Charles. Der Junge gab keine Antwort, bis<br />
Charles ihm eine weitere Münze zusteckte.<br />
Er hustete. »Mein Name ist Edward.«<br />
»Gut, Edward. Ich heiße Charles Spurgeon, und ich bin Pastor.«<br />
Charles hatte nicht mehr viele Münzen übrig; deshalb entschied er<br />
sich für die wichtigsten Fragen. »Bist du jemals in der Kirche gewesen?«<br />
»Einmal«, sagte Edward, »als ich noch klein war – bevor meine Eltern<br />
mich fortschickten.«<br />
»An was aus der Kirche erinnerst du dich noch?«<br />
Er hielt inne. »Dort sangen sie – wie Engel.«<br />
Charles schaute Edward an. Er schien zu reif für sein junges Alter.<br />
Seine Arme waren dünn und schmutzig. Seine Kleidung war schlicht,<br />
zerfleddert und ungewaschen. Seinen Augen fehlte die kindliche Lebensfreude<br />
– deren Funkeln ist längst verloschen. »Wie oft fegst du<br />
Schornsteine?«, fragte er.<br />
»Jeden Tag«, entgegnete er. »Obwohl, manchmal gibt unser Meister<br />
uns einen Tag frei. Aber an meinem freien Tag lerne ich eigentlich lesen!«<br />
»Und wer ist dein Lehrer?«<br />
Edward kannte ihren Namen nicht. »Sie hat langes rotes Haar«, antwortete<br />
er mit einem Husten.<br />
»Mary«, dachte Charles.<br />
11
CHARLES H. SPURGEON<br />
Charles konnte das Geräusch von Edwards Husten nicht ertragen.<br />
Er wusste, dass Schornsteinfeger einen hohen Anteil an Ruß einatmeten<br />
– oft fatale Mengen! »Edward«, sprach er, »wenn du alles in der Welt<br />
machen könntest, was würdest du tun?«<br />
Edward war nie zuvor nach so etwas gefragt worden.<br />
»Alles in der Welt?«, fragte er.<br />
»Alles«, sagte Charles. »Ganz egal, was es kosten würde.«<br />
Edward schaute in Charles Augen. Beinahe wäre eine Spur von Hoffnung<br />
durchgebrochen. »Ich wollte immer eine Sache …«, sagte er. »In<br />
der Nacht, wenn alle schlafen, dann träume ich davon.«<br />
»Wovon träumst du, Edward?«<br />
»Schiffe«, antwortete er. »Große, weiße, wunderschöne Schiffe, die<br />
im frischen, salzigen Meerwasser treiben. Ich würde eine riesige Besatzung<br />
haben. Und sie alle würden meine Anweisungen befolgen.«<br />
»Ah. Und wie würdest du so ein Schiff nennen?«, fragte Charles.<br />
Edward hatte keinen Namen im Kopf. »Müssen alle Schiffe einen Namen<br />
haben?«<br />
»Nun, gute Schiffe haben Namen«, entgegnete Charles. »Ein Schiff<br />
ohne Namen ist wie ein Hund ohne Halsband – es könnte jedem gehören.<br />
Also Edward, wie würdest du dein Schiff nennen?«<br />
Edward durchsuchte in seinem Kopf alle Wörter, die er kannte, bis er<br />
das perfekte gefunden hatte. »Freiheit! – Es würde riesige, weiße, offene<br />
Segel haben, die es ins blaue Unbekannte wehen würden – weg von<br />
Schornsteinen, Städten und Ruß.« Edward lächelte bei dem Gedanken.<br />
»Und es würde nur eine Regel auf meinem Schiff geben: Niemand würde<br />
jemals husten dürfen.«<br />
Charles brach das Herz, doch er erzwang sich ein Lächeln. »Ein Schiff<br />
wie dieses würde sehr weit kommen«, sprach er. »Besonders, wenn du<br />
der Kapitän wärest.«<br />
Edward glaubte das auch.<br />
»Ich möchte, dass du etwas für mich tust«, sagte Charles, als er in seine<br />
Aktentasche griff. Er kritzelte eine kurze Notiz auf einen Schmierzettel<br />
und verschloss ihn in einem Kuvert. »Würdest du einen Botengang<br />
für mich machen, Edward?«<br />
»Mister, das wird Sie etwas kosten!«<br />
Charles hatte das erwartet. »Oh, dies ist ein sehr wichtiger Botengang«,<br />
beteuerte er. »Ich bin bereit, den Höchstpreis zu zahlen!«<br />
12
VATER DER WAISEN<br />
Charles entnahm seiner Tasche einen ordentlichen Schein und reichte<br />
ihn Edward, der ihn flott in seine Tasche steckte. »Wenn du die Straße hinunterläufst,<br />
findest du einen Laden«, sagte er. »Oberhalb der Tür hängt<br />
ein großes blaues Schild. Kennst du den Laden?«<br />
»Ja, den kenne ich.«<br />
Charles gab Edward den Umschlag. »Gib dies dem Angestellten hinter<br />
dem Schalter – er ist mein Freund.«<br />
Edward sprang von der Bank. »Ihre Nachricht wird schneller als der<br />
Blitz zugestellt!« Der Junge war überwältigt von dem Auftrag. Nie im<br />
Leben hatte ihm jemand so viel Geld gezahlt. Er rannte die Straße hinunter,<br />
so schnell ihn seine kleinen Füße tragen konnten. Charles sah ihn<br />
hinter der Abbiegung verschwinden.<br />
Charles‘ Knie hatten sich erholt, sodass er wieder aufstehen konnte.<br />
Edward kam ganz außer Atem und erschöpft beim Laden an. Er öffnete<br />
die Tür und ging hinein. Tatsächlich stand ein Angestellter hinter<br />
dem Tresen, wie Charles gesagt hatte. Edward sauste auf ihn zu und<br />
händigte ihm das Kuvert aus. »Dies ist für Sie, Sir.«<br />
»Von wem kommt es?«, fragte der Angestellte.<br />
»Das ist von Mr. Spurgeon.«<br />
Der Name allein brachte ein Lächeln ins Gesicht des Angestellten.<br />
»Danke sehr, mein Junge«, sagte er und tätschelte seinen Kopf. Edward<br />
hielt seinen Auftrag für erfüllt, drehte sich um und rannte zur<br />
Tür.<br />
»Komm zurück!«, schrie der Angestellte. Er lief ihm nach.<br />
Edward war entsetzt. »Bin ich in Gefahr? Vielleicht zahlt Mr. Spurgeon<br />
mir jetzt die Banksteuer heim, die ich ihm berechnet habe.« Er blieb<br />
wie angewurzelt stehen, und der Angestellte zerrte ihn zurück in den<br />
Laden.<br />
»Warte hier, junger Bursche«, sagte der Angestellte. »Und wage es ja<br />
nicht wegzulaufen!« Edward wartete.<br />
Der Angestellte verschwand hinterm Schalter. Minuten verstrichen,<br />
und die Stille wurde qualvoll für Edwards Ohren. Er überlegte, ob er<br />
weglaufen sollte. »Wenn ich jetzt gehe, wird mich niemand einfangen.«<br />
Doch bevor er seinen Fluchtplan durchdacht hatte, kam der Angestellte<br />
mit einem außergewöhnlichen Gegenstand in den Händen zurück.<br />
Edward betrachtete es genauer. Es war weiß, geschwungen und<br />
hatte einen Mast – ein Schiff!<br />
13
CHARLES H. SPURGEON<br />
Edward war sprachlos. Er heftete seine Augen auf das wunderschöne<br />
Schiff. Es sah allemal seetauglich aus. »Warte einen Moment«, dachte<br />
Edward. Er schaute sich im Laden um. »Das ist kein gewöhnliches Kaufhaus.«<br />
Plüschtiere kleideten die Wände aus – Drachen, Tiger, Elefanten.<br />
Burgen, Süßwaren und Comics waren in den Gangreihen verteilt. Kleine<br />
Autos und fahrende Züge füllten den Fußboden. »Das ist ein Spielwarenladen.«<br />
Der Angestellte setzte das Modellschiff auf die Theke. »Gemäß diesem<br />
Brief«, sagte er nun, indem er die Worte erneut las, »gehört dieses<br />
Schiff dir.«<br />
Edwards Augen öffneten sich riesengroß, als er mit seiner Hand an<br />
der Backbordseite des hölzernen Schiffes entlangfuhr.<br />
»Es ist eins unserer allerfeinsten«, fuhr der Angestellte stolz fort.<br />
Edward griff nach dem Steuerrad des Kapitäns und drehte am Ruder.<br />
Es schwang sich von einer Seite auf die andere. »Es ist ausgezeichnet«,<br />
rief er.<br />
»Nun, fast ausgezeichnet …«, sagte der Angestellte, als er den letzten<br />
Satz der Notiz las. Spurgeons Handschrift war schwer zu entziffern.<br />
»Ah, natürlich«, ergänzte er und griff in eine Schublade unterhalb der<br />
Theke. Er zog einen dünnen Malpinsel heraus und tunkte ihn in ein Fass<br />
mit schwarzer Tinte. Mit ruhiger Hand malte er ein Wort auf eine Schiffseite.<br />
»So, das dürfte reichen.«<br />
Edward wartete, bis die Tinte getrocknet war. Es kam ihm vor wie<br />
eine Ewigkeit. Endlich drehte der Angestellte das Schiff um. Obwohl er<br />
kaum lesen konnte, fuhr Edward mit seinen Augen die geschwungenen<br />
Buchstaben entlang. Es waren die schönsten Buchstaben, die er jemals<br />
gesehen hatte – es waren seine Buchstaben! Er sprach das Wort in seinem<br />
Kopf vor, bevor es ihm über die Lippen huschte – Freiheit!<br />
Charles wachte schweißgebadet und zitternd auf. Das Kissen unter seinem<br />
Nacken war nass von Schweiß.<br />
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Susannah, die von seiner ruckartigen<br />
Bewegung geweckt wurde. »Wieder ein Albtraum?«<br />
Charles nickte. »Es war entsetzlich«, flüsterte er. »Hunderte von Waisenkindern<br />
rannten – und fielen an Klippen hinunter. Ihre Gesichter waren<br />
schwarz von Ruß, und – und sie starben alle!«<br />
Inzwischen wusste Susannah genau, wie sie ihren Mann nach einem<br />
14
VATER DER WAISEN<br />
Albtraum beruhigen konnte; sie war geübt darin. Sie schlang ihre Arme<br />
um ihn und hielt ihn fest an sich gedrückt. »Es war nicht real«, erinnerte<br />
sie ihn.<br />
Charles dachte an Edward. »Susie, ich habe heute ein Kind getroffen,<br />
einen Waisenjungen.«<br />
»Du hast schon viele Waisenkinder getroffen«, erwiderte sie.<br />
»Ja, aber dieses Mal war es anders. Es war, als wenn Gott ihn mir<br />
aus einem gewissen Grund geschickt hätte. Ich denke, wir können ihnen<br />
helfen, Susie.«<br />
»Wie?«, fragte sie.<br />
Charles wusste, wie. »Ich bin sofort wieder zurück«, sagte er und<br />
sprang aus dem Bett.<br />
In seinem Arbeitszimmer suchte Charles krampfhaft nach einem<br />
Blatt Papier. Er fand eines; das Licht der Laterne flackerte Schatten darauf.<br />
Charles blinzelte, als er schrieb:<br />
Lieber Henry,<br />
ich grüße dich im Namen unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus. Mir<br />
wurde klar, dass wir das Waisenhaus eröffnen sollen. Teile Mrs. Hillyard<br />
mit, dass ich sie gerne treffen würde, um die Projektdetails mit ihr zu besprechen<br />
(Johannes 14,18).<br />
Gott segne dich,<br />
C. H. Spurgeon<br />
Charles faltete den Brief zusammen und ging zurück ins Bett. Er schlüpfte<br />
unter die Decke. »Wir können sie retten«, sagte er.<br />
»Wie?«<br />
»Als ich ein Junge war«, flüsterte Charles, »lag auf dem Kaminsims<br />
meiner Großmutter eine Flasche, in der ein ausgewachsener Apfel steckte.<br />
Als ich den Apfel betrachtete, konnte ich nicht verstehen, wie er in die<br />
Flasche hineingekommen war. Der Flaschenhals war viel zu schmal, als<br />
dass der große Apfel da hindurchgerutscht sein könnte.«<br />
Susannahs Augen wurden schwer, und sie konnte sich nicht konzentrieren;<br />
doch sie zwang ihre Ohren dazu, aufmerksam zu sein.<br />
»Ich habe stunden- und tagelang gegrübelt und versucht, das Problem<br />
zu lösen. Eines Tages, es war im nächsten Sommer, sah ich durch<br />
15
CHARLES H. SPURGEON<br />
Zufall unter einem Ast ein anderes Fläschchen hängen. In dieser Flasche<br />
wuchs ein kleiner Apfel, der durch den Flaschenhals gesteckt worden<br />
war, als er noch hindurchpasste. Aus war es mit dem großen Geheimnis.«<br />
Susannah schloss die Augen, und ihr Atem wurde immer regelmäßiger.<br />
»Nichts in dieser Welt konnte den Apfel verletzen oder beschädigen,<br />
weil er in der Glaswand geschützt war.« Charles hielt inne. Er selbst<br />
wurde auch wieder schläfrig. »Wenn wir die Waisen schützen können,<br />
solange sie jung sind«, murmelte er, »dann könnten sie überleben.«<br />
Susannah antwortete nicht – sie war eingeschlafen. »O Herr, belebe<br />
Dein Werk in dieser Stadt!«, betete Charles und folgte ihr ins Land der<br />
Träume.<br />
16
GLAUBENSVORBILDER<br />
Martin Luther<br />
Das Feuer der Reformation<br />
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Christian Timothy George
Kennst du ihn, den Reformator,<br />
Familienvater und Liederdichter,<br />
den Bibelübersetzer und<br />
redegewandten Prediger? Wer<br />
war er? Warum wurde er verfolgt?<br />
Was hatte er entdeckt?<br />
Warum nennt man ihn Reformator,<br />
und was geschah vor<br />
500 Jahren?<br />
Die bekannte Autorin schildert<br />
in diesem Buch das eindrückliche<br />
Leben von Martin Luther,<br />
seine Suche nach Gott, seine<br />
Gefangennahme und Entführung<br />
zur Wartburg, die Übersetzung<br />
der Bibel und vor allem<br />
die Entdeckung der Wahrheit<br />
im Evangelium – einer Wahrheit,<br />
die sich wie ein Lauffeuer<br />
in der ganzen Welt verbreitete.<br />
Martin Luthers Hingabe im<br />
Kampf für die Wahrheit ist es<br />
wert, nachgeahmt zu werden.<br />
Diese Geschichte lässt sein<br />
Lebensbild vor den Augen der<br />
Kinder und Jugendlichen lebendig<br />
werden.
Ein Kardinalsschiff<br />
3<br />
Martin war in der Nacht vor seinem ersten Schultag so aufgeregt,<br />
dass er kaum schlief. Während er sich auf seiner Strohmatratze neben<br />
seinen kleinen Brüdern drehte und wälzte, versuchte er, sich keine<br />
Sorgen wegen der Geschichten zu machen, die sein Kamerad ihm über<br />
den strengen Lehrer erzählt hatte. Martin gab sich Mühe, nicht an den<br />
langen, ermüdenden Weg zu denken. Einige Teile des Fußpfades zum<br />
Schulhaus hinauf waren sehr steil. Doch als er in den Schlaf sank, fand<br />
er endlich Trost in der Tatsache, dass einer der großen Jungen beauftragt<br />
worden war, ihn zu tragen, wenn er zu müde würde.<br />
Letzten Endes war es nur das eine steile Stück am Ende, wo Martin<br />
Hilfe brauchte: der lange Aufstieg, bevor der Schulhausturm aus der<br />
Ferne zu sehen war. Nikolaus hatte bemerkt, dass Martin müde und um<br />
einiges langsamer geworden war. Er hob den Jungen auf seine Schultern<br />
und lief schneller. »Wenn wir uns nicht beeilen, Martin, dann kommen<br />
wir zu spät; und wenn es etwas gibt, was der Lehrer hasst, dann<br />
ist es Unpünktlichkeit. Wir müssen jederzeit pünktlich sein. Der Lehrer<br />
schlägt diejenigen, die zu spät erscheinen.«<br />
Martin schluckte. Günthers Geschichten waren dann also wahr!<br />
Nikolaus lächelte seinen kleinen Schützling an und lachte. »Mach dir<br />
darüber keine Sorgen … Du wirst dich an die strenge Art des Lehrers<br />
gewöhnen, und du wirst lernen, ein guter Schüler zu sein. Disziplin ist<br />
nur ein Teil des Schülerdaseins, Martin. So, ich höre auf zu reden. Ich<br />
brauche meine Kraft, um die anderen Jungen einzuholen. Die sind uns<br />
nun schon ziemlich weit voraus.« Nikolaus machte dann größere und<br />
schnellere Schritte, und bald liefen sie schon neben den anderen Burschen<br />
her und waren nicht mehr weit von der Schulhaustür entfernt.<br />
Der kräftige junge Mann setzte Martin ab, sodass er das letzte Stück al-<br />
20
Ein Kardinalsschiff<br />
lein gehen konnte. Darüber war er froh; denn er wollte nicht aussehen<br />
wie ein kleiner Junge, der zur Schule getragen wird. Und als sie im Hof<br />
ankamen, begann gerade die Glocke im Turm zu läuten. Martin war erleichtert,<br />
an seinem ersten Schultag nicht zu spät gekommen zu sein.<br />
Das wäre kein guter Anfang gewesen!<br />
Als das Läuten der Glocke aufgehört hatte, waren alle Jungen, vom<br />
Kleinsten bis zum Größten, in einer Reihe aufgestellt; sie standen adrett<br />
und aufmerksam vor der Schultür. Alle Spielchen waren vorbei,<br />
alles Lachen verstummt. Der Lehrer stand vor ihnen. Er erwartete<br />
ausgezeichnetes Benehmen und fand es auch vor. Sein fester Blick<br />
war streng, sein Schnurrbart tadellos gepflegt. Seine Augen schienen<br />
direkt in die Köpfe der Schüler zu sehen. Zumindest war es das, woran<br />
Martin dachte, als er mit gemischten Gefühlen aus Furcht und Scheu<br />
zu ihm aufsah. Martin konnte sich vorstellen, dass der Lehrer spezielle<br />
Fähigkeiten hatte, um genau zu wissen, was man dachte, oder sogar was<br />
man in wenigen Augenblicken denken würde.<br />
Martin, der der Jüngste und Kleinste von allen war, stand ganz vorne<br />
in der Reihe. Weil er nie zuvor in der Schule gewesen war, bekam er von<br />
seinem Nachbarn einen Rippenstoß, nachdem der Lehrer »Eintreten«<br />
geschrien hatte. Es war Zeit für alle Jungs, hineinzumarschieren und auf<br />
dem Boden Platz zu nehmen. Martin eilte die Stufen zum Klassenraum<br />
hinauf, wo keine Stühle oder Tische zu finden waren. Der einzige Tisch<br />
war der des Lehrers, im hinteren Teil des Zimmers an der Wand, von wo<br />
aus er alles überblicken konnte, was hier vor sich ging. Martin setzte sich<br />
möglichst nah an den warmen Ofen und packte eifrig seine Schultasche<br />
aus.<br />
Es gab ziemlich viele Gesichter im Klassenzimmer, die Martin noch<br />
nicht kannte. Die Jungen kamen von vielen verschiedenen Höfen und<br />
Dörfern. Keine Mädchen waren dabei, weil sie zu Hause bei ihren Müttern<br />
blieben. Die einzige Bildung, die sie empfangen konnten, war: im<br />
Brotbacken, Nähen und in anderen Haushaltsfertigkeiten. Falls die Mütter<br />
lesen und schreiben konnten, dann konnten es die Töchter von ihnen<br />
lernen. Doch es waren nur die Jungen, die in der Schule unterrichtet<br />
wurden. Mädchen bekamen nicht viel von dieser Art Bildung mit.<br />
Martins Bericht über seinen ersten Schultag war ein bisschen verworren.<br />
Das einzige, worin er sich absolut sicher war, war die Tatsache, dass<br />
er sein Mittagessen genossen hatte – jedes einzelne Stückchen und je-<br />
21
MARTIN LUTHER<br />
den Biss davon. Sogar den Strunk des Apfels mitsamt Kerngehäuse und<br />
den Kernen verschwanden in seinem Mund. »Ich bin froh, dass ich auf<br />
deine Anweisungen gehört habe, Mutter«, sagte er bei seiner Ankunft<br />
zuhause. »Ich hätte mein Essen mehrere Male vor der Mittagszeit aufessen<br />
können! Schon an unserer Straßenecke hatte ich Hunger bekommen;<br />
aber ich hielt der Versuchung stand und genoss dann mein Mittagsmahl<br />
umso mehr, als die Essenszeit gekommen war.«<br />
Seine Mutter lächelte und beschloss, am folgenden Morgen ein wenig<br />
zusätzlichen Käse in seine Schultasche zu stecken. »Wir können darauf<br />
verzichten, bei seinem wachsenden Appetit.«<br />
»Günthers Geschichten über die Schläge könnten wahr sein«, dachte<br />
Martin bei sich selbst, als er diese Nacht zu Bett ging; »aber wenigstens<br />
hat mir niemand mein Mittagessen gestohlen.«<br />
Jedoch sollte Martin bald erleben, dass Günther sowohl über die Essensdiebe<br />
als auch über die Schläge die Wahrheit gesagt hatte.<br />
Ein Junge versuchte, ihm den Apfel aus der Hand zu reißen, und<br />
anschließend bekam Martin selbst den brennenden Schmerz durch die<br />
Rute des Lehrers zu spüren. Er litt so sehr auf dem Heimweg, dass Nikolaus<br />
ihn auf seine Schultern heben und den Hügel hinuntertragen<br />
musste, was unüblich war. Martin war gewöhnlich so erfreut darüber,<br />
nach Hause gehen zu können, dass der Rückweg kein großes Problem<br />
für ihn war. Doch jetzt wurde das Schluchzen des kleinen Jungen lauter<br />
und lauter, und die Wunden an seinen Händen nässten immer weiter.<br />
Nikolaus hob ihn behutsam hoch, mit einem tiefen Seufzer. Der kleine<br />
Martin tat ihm Leid, aber er wurde ihm auch ein wenig lästig. »Ich weiß,<br />
dass es schmerzt, Martin; aber jeder fühlt früher oder später die Schärfe<br />
von des Lehrers Rute.«<br />
»Aber es war nicht meine Schuld«, klagte Martin schniefend, als er<br />
sich zu rechtfertigen suchte.<br />
»Du kanntest die Latein-Deklinationen nicht«, erklärte ihm Nikolaus.<br />
»Der Lehrer hat sie mir nie beigebracht«, stieß Martin hervor.<br />
Während seine Mutter Salbe auf die roten Striemen auftrug, die in<br />
den weichen Händen ihres Jungen aufgeplatzt waren, murmelte sie<br />
kopfschüttelnd vor sich hin.<br />
Martin war sich nicht sicher warum – vielleicht dachte sie, dass er<br />
nicht gut genug gelernt habe. Der Gedanke kam ihm, seine Mutter zu<br />
fragen, ob er am nächsten Tag zu Hause bleiben könne; doch als er das<br />
22
Ein Kardinalsschiff<br />
tat, schüttelte sie den Kopf. Er wurde wie gewöhnlich am nächsten Morgen<br />
wieder zur Schule geschickt. Martin schlurfte zurück in den Klassenraum<br />
und strengte sich im Unterricht erneut an, ohne zu wissen, dass<br />
der erzürnte Blick und der Ärger seiner Mutter nicht ihm gegolten hatten.<br />
Sie hatte schon einen Plan, den sie so bald wie möglich umsetzen würde.<br />
Doch vorerst musste ihr kleiner Sohn hier in der Mansfelder Schule<br />
aushalten, bis er alt genug war, um von zu Hause wegzugehen und eine<br />
andere Schule zu besuchen.<br />
Als der Junge das 13. Lebensjahr erreicht hatte, nahte sich der von der<br />
Mutter ersehnte Augenblick.<br />
»Ich schicke ihn nicht mit einem jener herumziehenden Studenten<br />
los«, erklärte sie nachdrücklich. »Man hört entsetzliche Geschichten davon,<br />
wie sie ihre jungen Schützlinge behandeln. Wir müssen ihn auf eine<br />
höhere Schule schicken.«<br />
Hans Luther schaute seine Frau an und nickte zustimmend. »Aber<br />
es gibt keine bessere Schule in Mansfeld«, erklärte er. »Ich bin mit dir<br />
einverstanden, dass Martin große Fähigkeiten hat, und die Schule, die<br />
er zurzeit besucht, ist für ihn nicht gut genug. Was meinst du also, was<br />
wir tun sollten?«<br />
Margarethe legte ihren Plan mit einem Wort dar: »Magdeburg!«<br />
Die dortige Schule hatte einen guten Ruf.<br />
»Du weißt, dass sie in Magdeburg die Jungen trotzdem schlagen,<br />
wenn sie ihr Latein nicht können?«, erinnerte Martins Vater seine Frau.<br />
»Ja, aber wenigstens versuchen sie, ihnen das Latein beizubringen, so<br />
dass sie es können, bevor die Lehrer dies tun!«, erklärte Margarethe mit<br />
mürrischem Gesichtsausdruck.<br />
So wurde Martin nun aus dem kleinen Schulzimmer in Mansfeld<br />
ausgesondert, und er machte seine erste Reise in die größere deutsche<br />
Welt. Die dortige Schule war nicht leichter und letzten Endes bezüglich<br />
der Strafmaßnahmen nicht viel besser. Einige Monate später war Martin<br />
wieder in Mansfeld, um sich von einem schlimmen Fieberanfall zu erholen.<br />
Margarethe Luther war mehr als verärgert: Sie war wütend. »Ist es<br />
zu viel verlangt, jene angeblich so klugen und intelligenten Männer zu<br />
bitten, auf unseren Sohn aufzupassen? Sie hätten ihn richtig ernähren<br />
23
MARTIN LUTHER<br />
sollen; dann wäre er nicht erkrankt! Hat er es dort warm genug gehabt?<br />
Ich denke nicht!« Hans Luther schwieg, während seine Frau fortfuhr,<br />
über alle Professoren von Magdeburg zu schimpfen.<br />
Sobald seine Eltern von der Erkrankung ihres Jungen erfahren hatten,<br />
nahmen sie ihn nach Hause. Martin wurde nun mit guten, hausgemachten<br />
Suppen und Eintöpfen genährt. Seine Mutter wachte über<br />
ihn wie mit Argusaugen, beachtete gebührend jede Veränderung in Gesichtsfarbe<br />
oder Appetit und behandelte ihn mit Arznei und Umschlägen<br />
aus ihrer Hausapotheke.<br />
Eines Morgens fühlte sich Martin erheblich besser, tatsächlich gut genug,<br />
um ein Gespräch mit seiner Mutter über ein Gemälde zu führen,<br />
das er im Magdeburger Dom gesehen hatte.<br />
»Was war auf dem Bild zu sehen?«, fragte seine Mutter, die an seinem<br />
Bettrand saß.<br />
»Es war ein Schiff voller Kardinäle und Bischöfe und anderer Kirchenmänner.<br />
Der Papst war auch dabei, und zwar am Bug. Es waren<br />
keine normalen Bürger an Bord – nicht einmal ein König oder ein Fürst.<br />
Die Priester und Mönche hielten die Ruder, und sie segelten mit dem<br />
Schiff zum Himmel.«<br />
Ein Stirnrunzeln überflog Frau Luthers Gesicht; was dieses Bild darstellte,<br />
hörte sich nicht gut an. Martin fuhr fort: »Alle normalen Männer,<br />
nämlich diejenigen, die nicht Priester oder Mönche waren, schwammen<br />
im Wasser um das Schiff herum. Einige ertranken.«<br />
Margarethe atmete heftig ein. Der von Furcht und Sorge gequälte<br />
Blick im Gesicht ihres Sohnes beunruhigte sie.<br />
Martin erzählte weiter: »Die Mönche warfen den ertrinkenden Menschen<br />
Seile zu, um sie zu retten, damit sie auch in den Himmel kommen<br />
könnten.«<br />
Margarethe seufzte. »Was hat dein Vater dir darüber erzählt, wie<br />
man in den Himmel kommt?«<br />
Martin hielt inne und dachte nach. Als keine Antwort kam, erinnerte<br />
ihn seine Mutter.<br />
»In den Himmel kommt man durch …«<br />
»Ah! Ich weiß«, rief Martin aus, »In den Himmel kommt man durch<br />
Jesus!«<br />
»Richtig!« Frau Luther holte tief Luft. »Wenigstens hat mein Junge<br />
nicht alles Gute vergessen, was wir ihn gelehrt haben!«, rief sie aus, bevor<br />
24
Ein Kardinalsschiff<br />
sie fortfuhr, Martin an die Wahrheiten zu erinnern, die ihm beigebracht<br />
wurden. »Der Himmel gehört denen, deren Sünden vergeben sind. Sie<br />
kommen nicht dorthin, weil ein Mönch ihnen so ein albernes altes Seil<br />
zugeworfen hat. Jesus schenkt einem Sünder Seine Vergebung Ich kann<br />
nicht begreifen, was du in Magdeburg gelernt hast! Alles, was du nach<br />
Hause gebracht zu haben scheinst, sind abergläubische Geschichten und<br />
ein bisschen mehr von der lateinischen Grammatik.«<br />
Als sie ihre Hand auf Martins Stirn legte, stellte sie fest, dass das Fieber<br />
nachgelassen hatte und seine Augen heller und klarer waren als zuvor.<br />
Ihr Sohn war auf dem Weg der Besserung. »Wir behalten dich jetzt<br />
für ein paar Wochen zu Hause; aber wenn das nächste Schuljahr beginnt,<br />
wird es für dich Eisenach sein!«<br />
»Ihr schickt mich auf eine andere Schule?«, fragte Martin.<br />
»Ja, ich habe Verwandte dort. Du wirst nicht bei ihnen wohnen, aber<br />
es wird dennoch besser für dich sein. Falls du wieder erkrankst, können<br />
sie dir helfen. In der Zwischenzeit bleibst du im Wohnheim der Schule.«<br />
Martin war sich nicht so sicher, ob dieser Plan gut war, denn er hatte<br />
schon von der Schule in Eisenach gehört.<br />
»Müssen dort die Jungen nicht für ihr Abendessen singen?«, fragte<br />
er.<br />
Margarethe nickte. »Die Schule gibt den Jungen nicht genug zu essen;<br />
deshalb müssen sie für ihr Essen betteln und vor den Häusern singen,<br />
um ihren Hunger zu stillen. Dein Vater und ich werden helfen, so gut<br />
wir können. Unsere Finanzen sind nicht so groß. Deshalb wirst du mit<br />
den anderen Jungen singen müssen, um etwas zu Essen für dich zu bekommen.<br />
Doch es ist möglich, dass sich die Situation bald ändert. Dein<br />
Vater könnte eines Tages in den Stadtrat gelangen. Dann werden unsere<br />
Verhältnisse besser sein. Doch vorerst müssen wir alle unseren Gürtel<br />
enger schnallen. Du hast eine entzückende Singstimme, Martin. Ich bin<br />
sicher, dass dir das helfen wird.«<br />
Martin war darüber nicht sehr zuversichtlich.<br />
25
MARTIN LUTHER<br />
Amy Carmichael<br />
Retterin bei Nacht<br />
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26
Ein Kardinalsschiff<br />
Der beeindruckende Lebenslauf<br />
einer außergewöhnlichen irischen<br />
Indienmissionarin: Sie war in<br />
Japan, China, Ceylon und kam<br />
schließlich nach Indien. Es klingt<br />
nach einem Abenteuer, und tatsächlich<br />
ist es auch eine sehr spannende<br />
Geschichte, oft mit vielen<br />
Ängsten verbunden, dennoch mit<br />
einem festen Vertrauen auf Gott.<br />
Amy Carmichael ging als Missionarin<br />
nach Indien, angetrieben<br />
von tiefer Liebe und Glauben in<br />
Jesus Christus. Anfangs schien<br />
alles gut und fröhlich zuzugehen,<br />
doch bald erkannte Amy dort eine<br />
Welt von Kindesentführung, Folter<br />
und Zauberei. Aber sie erlebte<br />
auch erstaunliche Gebetserhörungen<br />
und wunderbare Befreiungen.<br />
Zahlreiche Tempelkinder, die als<br />
Opfergabe für hinduistische Götter<br />
preisgegeben wurden, entriss<br />
sie ihrem Verderben und sorgte<br />
für einen Zufluchtsort für sie.<br />
Amys Leben ist gekennzeichnet<br />
von bedingungslosem Gehorsam<br />
gegenüber dem einen Herrn –<br />
Jesus Christus!<br />
27
Gerettet<br />
2<br />
ilfe! Hilfe! Die Strömung hat uns erwischt! Sie ist zu stark für<br />
»Huns«, gellte Normans Stimme. Er packte sein Ruder noch fester<br />
an. Ebenso tat es sein Bruder Ernest. Deren Schwester Amy stand nur<br />
wie erstarrt auf der Stelle und fragte sich, was ihre Eltern sagen würden,<br />
wenn sie herausfänden, dass sie ungehorsam gewesen waren. Wie<br />
oft war es den Carmichael-Kindern schon gesagt worden: »Der Ozean<br />
ist gefährlich! Seid vorsichtig und fahrt auf keinen Fall selbst mit dem<br />
Boot hinaus!« Doch Amy, Norman und Ernest hatten einfach nicht darauf<br />
gehört, und nun wünschten sie sich, sie hätten es doch getan. Die<br />
dunkelgrünen Fluten der See hatten sie in ihren Fängen, und die Kinder<br />
wurden rasch aus der Sicherheit des Hafens hinausgezogen.<br />
Beide Jungen wussten, dass sie sich der Sandbank an der Zufahrt<br />
zum Meer näherten. Auf der anderen Seite lagen die offenen Wasser der<br />
Irischen See.<br />
»Halte dich so fest, wie du kannst, Amy!«, riefen die Jungen ihrer<br />
Schwester zu. Sie tat, was sie sagten. »Mache ich, mache ich. Wir sind<br />
hier auch früher schon mal gerudert, und es ging alles gut. Wir müssen<br />
irgendwie ein bisschen zu weit abgekommen sein. Es ist fast schon<br />
Abendzeit. Vielleicht verhält sich dann die Strömung anders«, antwortete<br />
Amy.<br />
Norman dachte angestrengt nach. »Amy, fang so laut wie möglich an<br />
zu singen! Jemand könnte uns dann hören. Ernest und ich müssen weiterrudern.<br />
Wir können vielleicht das Boot genügend abbremsen, um zu<br />
verhindern, dass wir aufs Meer hinaustreiben.« Amy begann zu singen.<br />
»Was immer ich tu, was immer ich bin,<br />
dennoch weiß ich, dass es Gottes Hand ist,<br />
die mich führt.«<br />
28
Gerettet<br />
Dieses Lied war das Erste, was ihr eingefallen war. Inzwischen hatten<br />
sich über ihnen dunkle Wolken gebildet. Wie klein wirkte ihr Boot auf<br />
den mächtigen Fluten der See!<br />
»Ich kann da vorn etwas sehen. Ich glaube, das ist ein Boot. Ja, es ist<br />
die Küstenwache! Hier rüber! Wir sind hier hinten! – Sie kommen! Wir<br />
sind gerettet!«, schrie Amy.<br />
Wie froh waren die drei, als sie an diesem Abend sicher nach Hause<br />
kamen. Eine erschöpfte Amy rollte sich zusammen, um es sich im Bett<br />
bequem zu machen. Sie liebte ihr altes Haus mit seinen grauen Steinmauern.<br />
Dem Raunen des Windes draußen zu lauschen, machte ihr<br />
Schlafzimmer erst recht gemütlich.<br />
Es dauerte jedoch nicht lange, bis die Kinder wieder in Schwierigkeiten<br />
waren. Ihr Vater war Miteigentümer der großen Kornmühle in ihrem<br />
Dorf an der Küste. Das bedeutete, dass ein großes Haus mit Garten für<br />
ihn erschwinglich geworden war. Da konnten Amy und ihre vier Brüder<br />
und zwei Schwestern so viel spielen, wie sie wollten. Sie liebte all die<br />
Blumen und Bäume; doch konnte sie es nicht lassen, mit einigen davon<br />
zu experimentieren. Eines Tages genossen sie einige reife Pflaumen vom<br />
Garten. »Lasst uns auch mal die Kerne essen!«, schlug Amy vor.<br />
»Hört auf! Ich sehe schon, was ihr machen wollt.« Die Kinder blickten<br />
auf. Ihr Kindermädchen Bessie stand an der Hintertür. »Wenn ihr<br />
die hinunterschluckt, dann wird ein Pflaumenbaum aus euren Köpfen<br />
wachsen, aus jedem Kern, den ihr gegessen habt!«<br />
»Das hört sich nicht gut an«, sagte einer.<br />
„Ich werde zwölf Kerne essen und schauen, ob ich morgen zwölf<br />
Bäume aus dem Kopf wachsen sehe«, verkündete Amy herausfordernd.<br />
Am nächsten Morgen fragte eine besorgte Bessie: »Geht’s dir gut, Amy?«<br />
»Nein, ich habe Magenschmerzen; es fühlt sich an, als würden in mir<br />
zwölf Pflaumenbäume wachsen.«<br />
Nicht, dass ihr dies eine Lektion erteilt hätte. Einige Tage später<br />
schaukelten Norman, Ernest und Amy an der Eingangspforte. Über<br />
ihnen wehten die hellgelben Blütenstände des Goldregenbaumes hin<br />
und her. »Bessie sagt nur unsinnige Sachen, um uns Angst einzujagen;<br />
da bin ich mir sicher. Sie sagte, wir würden sterben, wenn wir Goldregenschoten<br />
essen würden. Lasst uns zählen, wie viele wir essen können,<br />
bevor wir sterben«, sagte Amy. Wie üblich machten die anderen<br />
beiden mit.<br />
29
AMY CARMICHAEL<br />
Einige Minuten später begann es allen Dreien übel zu werden. Ernest,<br />
der Jüngste, wurde sehr blass. Er rannte ins Haus. »Mama, ich fühle<br />
mich so krank und irgendwie komisch. Ich glaube, das kommt daher,<br />
weil ich vom Goldregenbaum gegessen habe.«<br />
Frau Carmichael rannte erschrocken auf ihn zu. »Amy, Norman,<br />
kommt sofort ins Esszimmer!« Da stand auf einem Tablett das rosa Pulver,<br />
das sie alle kannten und fürchteten. Sie füllte drei Teetassen mit<br />
heißem Wasser und rührte das Pulver ein. Sie alle wussten genau, wie<br />
widerlich das schmecken würde.<br />
»Trinkt es komplett aus, bis auf den letzten Tropfen! Wir werden<br />
bald dieses Gift aus eurem Körper herausbekommen.« Ihre Mutter hatte<br />
Recht damit! Alle drei erbrachen sich mehrmals und waren sehr, sehr<br />
froh, dass ihre Strafe nur darin bestand, früher ins Bett zu gehen, ohne<br />
ihr Abendbrot gegessen zu haben.<br />
Am nächsten Morgen trat Amy nach draußen und atmete tief durch.<br />
»Ich fühle mich jetzt schon viel besser«, dachte sie, »auch wenn Mutter<br />
mir eine ordentliche Standpauke gehalten hat. Ich nehme an, ich habe<br />
das verdient; ich bin ja die Älteste. Doch wenn sie nur wüsste, wie viel<br />
frecher ich sein könnte, dann würde sie mich jetzt überhaupt nicht für<br />
frech gehalten haben.«<br />
Erst dann hörte sie auf einmal ein »Plop« in dem Eimer an der Tür.<br />
Sie schaute hinein und sah dort eine kleine Feldmaus. »Oh, ich kann<br />
dich nicht ertrinken lassen! – Oh nein! Da schellt die Glocke zum Gebet.<br />
Ich muss rechtzeitig da sein, sonst gibt es noch mehr Probleme!« Als sie<br />
das sagte, zog sie schnell die Maus aus dem Wasser und versteckte sie in<br />
ihrer Schürzentasche.<br />
Sie nahm am Tisch Platz, und der Vater begann zu beten. Nach dem<br />
Vaterunser, das sie alle gemeinsam beteten, las er ihnen eine biblische<br />
Geschichte vor. Als er gerade für die Familie und ihre Freunde zu beten<br />
begann, setzte ein quietschendes Geräusch ein. Alle drehten sich zu Amy<br />
um.<br />
»Sie wäre sonst ertrunken! Ich hoffte nur, dass sie leise sein würde.«<br />
Ihre jüngeren Brüder und Schwestern begannen zu kichern. Sie drehte<br />
sich um und rannte hinaus in den Garten, wo sie die Maus freiließ.<br />
»Es ist kein Wunder, dass die Hauslehrerinnen, die ich einstelle, um<br />
euch zu unterrichten, nicht sehr lange bleiben«, sagte der Vater zu seiner<br />
Familie, als die ganze Aufregung sich wieder gelegt hatte. »Diese<br />
30
Gerettet<br />
arme englische Frau aber hatte es nur sehr kurz ausgehalten. Ich erinnere<br />
mich, dass ihr alle gekommen seid, um sie zu verabschieden. Warum<br />
habt ihr das getan? Ich weiß, dass ihr sie nicht mochtet.«<br />
»Wir wollten sicher sein, dass sie auch wirklich geht«, erklärte Amy.<br />
Amys Vater lachte. »Was für spitzbübische Kinder ihr doch seid!«<br />
Eines Morgens hatte Amys Vater interessante Neuigkeiten. »Wir bekommen<br />
einen neuen Nachbarn«, erzählte er ihnen. »Er ist Missionar in<br />
Indien, aber er und seine Familie nehmen sich für ein Jahr Urlaub. Ich<br />
bin sicher, dass er euch viele faszinierende Geschichten erzählen wird;<br />
benehmt euch deshalb gut, wenn er hier ist!«<br />
Die Eltern empfanden es als ein Glück, dass Amy ihren schlimmsten<br />
Streich noch zu einer Zeit ausführte, bevor die neuen Nachbarn eingezogen<br />
waren. Sie wusste, dass ihre Brüder, genau wie sie, eine ganz bestimmte<br />
Stelle im Sinn hatten, wo sie hinaufzuklettern wünschten – das<br />
Dach. Sie entschlossen sich, vom Dachfenster im Badezimmer aus hochzusteigen.<br />
Dieses Dachfenster befand sich genau über der Badewanne<br />
und war ziemlich schmal. Amy musste jedem ihrer Brüder einen starken<br />
Schubs durchs Fenster geben, bevor sie sich selbst durchquetschte.<br />
Nacheinander glitten sie das Schieferdach hinunter, bis sie zur Dachrinne<br />
gelangten.<br />
»Was für eine Aussicht!«, rief Amy aus, als sie auf das Meer hinausschaute.<br />
Bodenlos tiefes blaues Wasser glitzerte im Sonnenschein. Die<br />
Irische See war ein beachtlicher Anblick – besonders vom Dachgipfel<br />
aus.<br />
Alle drei marschierten dann um das Dach herum – lachend und kichernd.<br />
Dieses Spiel machte riesigen Spaß, fanden sie. Als sie die Hausfront<br />
erreichten, schauten sie wieder hinunter. Welchen Ausblick sie aus<br />
diesem Blickwinkel wohl bekommen würden?, fragten sie sich. Es war<br />
ein Anblick, den niemand von ihnen erwartet hatte. Amy rang nach Luft.<br />
Und genauso auch – ihre Eltern!<br />
»Bleibt da stehen, wo ihr seid!«, schrie ihr Vater gellend. »Ich komme<br />
hoch zum Badezimmer und hole euch.« Minuten später waren Amy und<br />
ihre Brüder wieder durch die Dachluke geklettert und hörten sich schon<br />
die nächste Standpauke an.<br />
Eigensinnig, tollkühn, wild – Amy hatte all diese Beschreibungen von<br />
ihrer Person gehört. Jetzt, wo sie sich auf den großen Sessel im Zimmer<br />
ihrer Mutter setzte, überdachte sie einige ihrer vergangenen »Helden-<br />
31
AMY CARMICHAEL<br />
taten«. »Ich bin sehr eigensinnig gewesen, aber es tut mir nicht wirklich<br />
leid; ich genieße es, spannende Dinge zu erleben.«<br />
Doch Amy begriff nicht, dass wegen dieser Dinge, obwohl sie reizvoll<br />
für sie waren, eine Person des Hauses sehr besorgt war. Ihre Mutter saß<br />
vor dem Spiegel ihrer Frisierkommode und setzte sich gerade einen Hut<br />
auf.<br />
»Was machst du da?«, fragte Amy sie.<br />
»Ich mache mich fertig zum Ausgehen«, war die leise Antwort ihrer<br />
Mutter.<br />
Amy schaute auf das Spiegelbild ihrer Mutter und sah die müde, gekränkt<br />
aussehende Miene auf ihrem Gesicht. »Bin ich etwa die Ursache<br />
für diese Miene auf ihrem Gesicht?« Amy überlegte, und als sie dann ein<br />
weiteres Mal in die traurigen Augen ihrer Mutter blickte, hielt sie den<br />
Atem an. »Was habe ich getan?!« Schluchzend rannte Amy quer durchs<br />
Zimmer und warf sich in die Arme ihrer Mutter.<br />
»Es tut mir wirklich leid. Ich kann es nicht ertragen, dich zu kränken.<br />
Ich möchte gut sein.«<br />
Amys Mutter beugte sich vor, um ihre kleine stürmische Tochter zu<br />
umarmen.<br />
»Beruhige dich jetzt. Es ist in Ordnung. Ich weiß, dass du es gut<br />
meinst. Ich wünschte nur, du würdest besser aufpassen. Ich habe jetzt<br />
schon viel zu viele graue Haare!« Amys Mutter lachte, als sie ein weiteres<br />
Mal in den Spiegel schaute.<br />
Amy schniefte leise und lächelte unter Tränen. »Ich will mit allen<br />
diesen dummen Abenteuern und unsinnigen Reibereien aufhören«, versprach<br />
sie sich. – Doch natürlich gab Amy nicht alle ihre alten Manieren<br />
mit einem Mal auf. Dennoch begann sie ihrer Mutter mit den jüngeren<br />
Kindern zu helfen und bemühte sich, ihr durch besseres Benehmen einiges<br />
an Leid zu ersparen – meistens jedenfalls. Um einiges von ihrem<br />
maßlosen Energievorrat loszuwerden, ritt Amy oft auf dem Pony aus. Sie<br />
liebte es, über die festen Sandflächen des nahegelegenen Strandes zu galoppieren,<br />
während ihr dichtes braunes Haar hinter ihr auf und ab wehte.<br />
Wenn das Pony plötzlich erschrak, konnte sie es besänftigen, indem<br />
sie ihm leise ins Ohr sang. Als sie jedoch eines Tages auf der Hauptstraße<br />
ausritt, gelang dieser kleine Trick von Amy nicht. Das Pony bäumte<br />
sich auf, bockte und warf schlussendlich seine junge Reiterin geradlinig<br />
gegen die Seite einer Mauer. Amys Körper wurde dagegengeschmettert<br />
32
Gerettet<br />
und lag dann schwer verletzt auf dem Boden, während das Pony am<br />
Horizont verschwand. Amy war sich kaum des leisen Flüsterns der besorgten<br />
Ärzte bewusst, die gekommen waren, um sie zu behandeln. »Sie<br />
wird für einige Wochen im Bett bleiben müssen«, war die Diagnose. »Das<br />
ist ein ernster Unfall.« Doch als die Verletzungen geheilt waren und das<br />
junge Mädchen wieder gesund war, da ritt sie bald wieder aus.<br />
Und eines Tages, als Amy von einem weiteren energiegeladenen Ponyausritt<br />
zurückkam, bekam sie zufällig den Plan ihrer Eltern für ihre<br />
Zukunft mit.<br />
»Amy wird bald schon zwölf Jahre alt sein«, sagte ihr Vater nickend.<br />
»Sie ist durchaus alt genug, um ins Internat zu gehen, und England ist<br />
nicht so weit entfernt. Ich glaube, das ist genau das, was unser kleines<br />
Mädchen braucht.«<br />
Amy war fasziniert. »Eine Internatsschule könnte lustig werden«,<br />
dachte sie bei sich. Als sie jedoch im Jahr 1879 schließlich dort ankam,<br />
merkte Amy, dass sie eigentlich großes Heimweh hatte – sehr großes<br />
Heimweh sogar.<br />
»Ich möchte nach Hause!«, schluchzte sie eines Nachts in ihr Kissen<br />
im Wohnheim. »Ich will zurück zum Strand, zum Boot und zu meinem<br />
Pony und dem Goldregenbaum! Ich möchte aufs Dach klettern und mit<br />
meinen Brüdern spielen! Ich vermisse sie alle so sehr!«<br />
Die ganze Woche im Internat war sehr schwer für Amy. Es verging<br />
kein einziger Tag, an dem sie Irland nicht vermisste. Doch von allen Tagen<br />
der Woche war der Sonntag der schwierigste.<br />
In Irland hatte ihre Großmutter jeden Sonntagmorgen einen Strauß<br />
süßduftender Blumen für sie gebunden.<br />
»Ich weiß noch, wie ich, als ich noch sehr klein war, diese Blumen in<br />
der Kirche gehalten habe. Sie waren das Einzige, was mich während des<br />
langen Gottesdienstes hatte still sitzen lassen.« Amy seufzte nochmals.<br />
»Ich finde überhaupt nicht, dass das Internat Spaß macht«, stöhnte sie.<br />
»Hier gibt es keine Jungen, und alle sind total streng! Ich vermisse es<br />
sogar, meiner Mutter zu helfen, den alten Menschen im Dorf eine Suppe<br />
anzubieten. Es ist witzig, dass es gerade die alltäglichen Dinge sind, die<br />
ich am meisten vermisse. Wie unsere Sonntagsspaziergänge mit Vater,<br />
und die Katze Daisy zu streicheln. Der einzige Unterricht hier, der ein<br />
bisschen gut ist, ist Biologie. Ich nehme an, das ist so, weil ich Blumen<br />
so sehr liebe.«<br />
33
AMY CARMICHAEL<br />
Zum Glück wusste Amys Mutter, wie sehr ihre Tochter Blumen<br />
liebte, und sie schickte Amy eine Schachtel voll bunter Chrysanthemen<br />
aus ihrem Gewächshaus, um sie aufzuheitern. Mit der Zeit fühlte Amy<br />
sich immer weniger einsam, lebte sich ein und wurde zu ihrer Überraschung<br />
bei den anderen Mädchen beliebt. In gewisser Weise war es das,<br />
was Amy regelrecht zu ihrem nächsten Streich verführte, was ihr somit<br />
auch einigen Ärger mit der Direktorin einhandelte.<br />
»Ich habe gehört, dass dieser Komet ein einmaliger Anblick sein<br />
soll. Jeder sollte sich den ansehen!«, sagte Amys Freundin Meg zu ihr.<br />
»Schade, dass er hier erst nach Mitternacht vorbeifliegen wird. Vielleicht<br />
wird uns die Direktorin erlauben, länger aufzubleiben, damit wir<br />
das sehen können. Frag sie mal, Amy! Du bist mutiger als jede von<br />
uns.«<br />
Fünf Minuten später war Amy aus dem Büro der Direktorin zurück.<br />
»Sie hat die Idee glattweg abgelehnt. Aber ich habe eine andere Idee.<br />
Wenn ich es arrangiere, alle in unserem Wohnheim rechtzeitig zu wecken,<br />
um es zu sehen, dann lasst uns doch dann auf den Dachboden<br />
steigen! Da werden wir durch das große Dachfenster sicher eine gute<br />
Aussicht haben!«<br />
»Das ist großartig!«, antwortete Meg. »Lasst uns das machen! Aber<br />
wie können wir es schaffen, wach zu bleiben?«<br />
»Also, hier ist mein Plan«, flüsterte Amy. »Ich habe alle diese Stücke<br />
Garn zurechtgeschnitten, und die werde ich an je einen eurer Zehen festbinden.«<br />
»An unseren Zehen?«, rief Meg aus.<br />
»Ja, hör zu, ich erzähl dir warum. Wenn ihr alle eingeschlafen seid,<br />
werde ich wach bleiben, und wenn es Zeit ist zum Aufstehen, um auf<br />
den Dachboden zu gehen, dann ziehe ich an allen Fäden; ihr werdet den<br />
Zug an eurem Zeh spüren und alle genau rechtzeitig für die Show aufwachen.«<br />
»Das ist eine geniale Idee, Amy!«, verkündete Meg. »Ich kann es<br />
kaum erwarten, das den anderen zu erzählen!«<br />
Als alle Mädchen mit ihren Baumwollfäden an ihren Zehen im Bett<br />
lagen, ließ Amy sich nieder, um zu warten, bis ›die Luft rein‹ sei. Sobald<br />
sie sich sicher war, dass die Lehrer alle schlafen gegangen sein mussten,<br />
zog sie an den Fäden und weckte den Schlafsaal. Rasch und leise trippelten<br />
alle Mädchen auf den Dachboden.<br />
34
Gerettet<br />
Doch als die Mädchen in diesen Raum traten, erlebten sie zwei<br />
Überraschungen. Als Erstes sahen sie den Glanz des Kometen am klaren<br />
Nachthimmel. Als Zweites entdeckten sie ihre Direktorin und vier<br />
Lehrer, die dort standen und sich ebenfalls den Kometen ansahen.<br />
Die Direktorin schnappte nach Luft und zählte dann rasch eins und<br />
eins zusammen. »Amy – morgen um 9 Uhr treffen wir uns in meinem<br />
Arbeitszimmer! Ich wage zu behaupten, dass du die Anführerin<br />
bist. Habe ich Recht? Alle von euch zurück ins Bett, aber schleunigst!«<br />
Amy seufzte und machte sich mit den anderen auf den Rückweg zum<br />
Schlafsaal. »Das ist ungerecht! Ich gerate immer in Schwierigkeiten«,<br />
murrte sie.<br />
Am nächsten Morgen verließ sie das Büro der Direktorin mit einem<br />
sehr beschämten Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Die Direktorin hatte<br />
Recht. Ich bin fast fünfzehn Jahre alt. Ich sollte in meinem Alter keine<br />
Probleme mehr verursachen. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, Gott zu<br />
bitten, dass Er mir hilft, erwachsen zu werden!«, dachte sie. Doch gerade<br />
nach ihrem fünfzehnten Geburtstag geschah etwas umso Besseres.<br />
Bei einer Veranstaltung, zu der Amy und einige Schulfreundinnen<br />
gegangen waren, sang die Versammlung ein Lied über die Liebe Jesu<br />
Christi. Es war eines von Amys Lieblingsliedern und auch das Lieblingslied<br />
ihrer Mutter.<br />
Amy ertappte sich dabei, wie sie über die Worte nachdachte und herauszufinden<br />
versuchte, was sie wirklich bedeuteten. »Ich habe immer<br />
gewusst, dass Jesus mich liebt; aber es war Mutter, die es für mich greifbar<br />
gemacht hat. Ich kann mich nicht immer auf den Glauben meiner<br />
Mutter stützen«, nahm Amy sich vor. »Ich habe nie wirklich darüber<br />
nachgedacht, auf welche Weise ich persönlich Jesus lieben sollte.«<br />
Mr. und Mrs. Carmichael waren begeistert, als sie einige Tage später<br />
einen Brief von Amy erhielten, der davon berichtete, wie sicher sie sich<br />
war, dass ihr vergeben worden war, »durch die Gnade des Guten Hirten«,<br />
wie sie hinzugefügt hatte.<br />
Amy meinte, dass dieses kleine Lied die beste Nachricht war, die sie<br />
jemals gehört hatte, und so war es auch … Doch später in diesem Jahr<br />
erhielt sie noch ein paar gute Neuigkeiten anderer Art. »Kein Internat<br />
mehr! Hurra!«, gellte ihr Ruf, während sie im Schlafsaal herumrannte<br />
und mit dem neuesten Brief ihrer Eltern in der Hand wedelte. »Ich gehe<br />
zurück nach Irland!«<br />
35
AMY CARMICHAEL<br />
Doch obwohl diese Nachricht für Amy gut war, war es für ihre Familie<br />
eine schlechte. Der Grund, warum Amy und ihre Brüder nach Hause<br />
kommen sollten, war, dass das Familienunternehmen schlecht lief. Bald<br />
würden sie nach Belfast ziehen müssen, wo ihr Vater ein kleineres Unternehmen<br />
gründete und die Kinder in die örtliche Schule gingen.<br />
Dann kam eines Morgens Amys Mutter mit erschreckenden Neuigkeiten<br />
in ihr Zimmer. »Was? Lungenentzündung?« Amy rang nach Luft.<br />
Ihre Mutter nickte. Ihr Gesicht war aschfahl, ihre Lippen fest verschlossen.<br />
»Vater hat eine Lungenentzündung!«<br />
»Manchmal genesen Menschen von einer Lungenentzündung«, tröstete<br />
Amy ihre Mutter. Doch im Laufe der folgenden Tage und Wochen<br />
wurde der Zustand von Amys Vater eher schlimmer als besser, und gerade<br />
als die Familie am meisten Hilfe brauchte, kam die finanzielle Katastrophe.<br />
Amy rannte in den Garten, um sich hinter dem Pflaumenbaum zu<br />
verstecken. »Wir sind ruiniert«, schluchzte sie. »Dieser Mann schuldet<br />
Vater sehr viel Geld, aber er kann oder möchte es nicht bezahlen! Doch<br />
Mutter soll mich nicht so weinen sehen«, schalt sie sich selbst.<br />
Dennoch weinte Amy an diesem Abend wieder in ihr Kissen. Die<br />
Lungenentzündung war nicht geheilt worden. Mr. Carmichael war gestorben.<br />
Nachdem die Beerdigung vorbei und der Sarg unter der dunkelbraunen<br />
irischen Erde begraben war, fand Amy ihr Leben ganz, ganz anders<br />
vor, als es einmal gewesen war. Zuvor war sie eins der Kinder gewesen.<br />
Nun war sie diejenige, an die ihre kleinen Brüder und Schwestern sich<br />
mit ihren Sorgen und Ängsten wandten.<br />
Wer aber hörte sich Amys Probleme an? Wer half ihr, wenn sie jeden<br />
Tag irgendwem in die Arme laufen und sie nie wieder loslassen wollte?<br />
Jeden Tag fand sie Worte in der Bibel, die ihr halfen, die Not zu bewältigen.<br />
»Gott ist ein Vater der Waisen.«<br />
Sie wusste das ganz sicher. Sie begann nun, erwachsen zu werden.<br />
Sie begann, Gott zu vertrauen.<br />
36
GLAUBENSVORBILDER<br />
AMY CARMICHAEL<br />
Hudson Taylor<br />
Ein Abenteuer beginnt<br />
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Catherine MacKenzie<br />
38
Gerettet<br />
Wer war Hudson Taylor? Was hat<br />
ihn geprägt, und warum ging er<br />
nach China? China war ein verschlossenes<br />
Land – doch genau<br />
dahin führt das große Abenteuer.<br />
Bereits mit 5 Jahren hatte Hudson<br />
den großen Wunsch, den Armen<br />
von Jesus zu erzählen. Schon als<br />
Kind war er oft krank und hatte<br />
ein sehr schlechtes Sehvermögen.<br />
Gott aber wählte gerade ihn<br />
für eine besondere Aufgabe. Im<br />
Alter von 21 Jahren verließ Hudson<br />
Taylor England und segelte<br />
nach China. Warum nahm er eine<br />
fünfmonatige Reise auf sich, um<br />
auf die andere Seite des Globus<br />
zu gelangen? Er tat es, um den<br />
Chinesen die frohe Botschaft von<br />
Jesus Christus zu erzählen. Diese<br />
Geschichte beschreibt Hudsons<br />
Kindheit und Jugend, sowie das<br />
Leben und Werk dieses großen<br />
Missionars. Hudson Taylor war<br />
ein Mann des Glaubens, der Gott<br />
vertraute, mit einer engen Beziehung<br />
zu Jesus Christus, aus<br />
dessen Gnade er lebte.<br />
39
Der Beginn des Abenteuers<br />
1<br />
Es gibt eine Redensart, die lautet: »Verrückte Hunde und Engländer<br />
gehen in der Mittagssonne spazieren.« Die drückende Hitze der Sonne<br />
in China jagt die meisten Fremden in den Schatten oder in ein kühles<br />
Bad – aber nicht alle.<br />
»Fremder Teufel! Fremder Teufel!« Diese Rufe erschollen überall<br />
auf der belebten chinesischen Straße, wo Menschenmengen aus hohen<br />
Häusern und verfallenen Hütten strömten. Verwahrloste Kinder hörten<br />
zu spielen auf, um herauszufinden, warum die Leute zusammenliefen.<br />
Einige starrten den Fremden furchtlos an, wie er da die Straße entlangging.<br />
Andere hatten Angst und versteckten sich hinter den Röcken ihrer<br />
Mütter oder älteren Schwestern.<br />
Prächtig geschmückte chinesische Tempel und hohe, starke Stadtmauern<br />
täuschten über die furchtbare Armut der meisten Bewohner<br />
Schanghais hinweg. Armut war für die meisten tägliche Realität.<br />
»Fremder Teufel!« Das Geschrei wurde lauter. »Seht ihn euch an mit<br />
seinem komischen gelben Haar und einer Haut, die wie Ziegenmilch<br />
aussieht! Schaut doch bloß seine Augen an, die so hell sind wie eine Blume!<br />
Es ist seltsam, so viele Farben an einer einzigen Person zu sehen.«<br />
Alte Omas und junge Frauen diskutierten mit großem Vergnügen über<br />
jeden Quadratzentimeter dieses sonderbaren Fremdlings. »Seht euch<br />
doch nur die komischen Knöpfe auf der Vorder- und auf der Rückseite<br />
seines Mantels an! Warum hat er sowohl vorne als auch hinten an seiner<br />
Kleidung Knöpfe?«<br />
Die Chinesen trugen nur einfache, locker sitzende Kleidung; aber dieser<br />
Fremde trug pompöses und aufwendig gemachtes Zeug, was keinen<br />
Sinn zu haben schien. Chinesische Männer trugen Zöpfe, die am Rücken<br />
herabhingen, und das übrige Haar war geschoren; doch der Fremde hatte<br />
überall auf dem Kopf Haare, so hell wie Stroh.<br />
40
Der Beginn des Abenteuers<br />
Junge Männer folgten dem gelbhaarigen Fremden mit einigen Schritten<br />
Abstand. Sie trugen große Körbe, die an langen Bambusstangen hingen.<br />
In den Körben lagen die unterschiedlichsten Dinge, die auf einem<br />
der vielen Märkte in Schanghai verkauft werden sollten. Ein Mann trug<br />
die Stange an einem Ende und ein anderer am anderen, und daran hing<br />
der große, schwere Korb, der in der Mitte hin und her schaukelte. Sie<br />
kicherten über den fremden Mann, und der fühlte sich verlegen und<br />
höchst unwohl. Er besah sich seine Kleidung und die der anderen Leute<br />
rings um ihn herum. Er stellte auch fest, dass sie ihn alle anstarrten. In<br />
der Hand trug er ein großes Buch und einige Blätter Papier. »Er will sicher<br />
zum großen Platz, wo man sich gewöhnlich versammelt«, sagte eine<br />
alte Großmutter. »Er muss uns etwas Wichtiges zu sagen haben.«<br />
Magere alte Hühner jagte man mit einem Tritt aus dem Weg, und<br />
Babys band man sich mit Tragetüchern auf den Rücken, während man<br />
dem bleichgesichtigen Fremden folgte.<br />
Die Frauen konnten auf ihren winzigen, gebundenen Füßen nur sehr<br />
schlecht gehen. Überall in China hatten die Eltern ihren Töchtern schon<br />
in sehr frühem Alter die Zehen mit festen Bandagen unter ihren Füßen<br />
festgebunden. Das behinderte das Wachstum der Füße. Man wollte damit<br />
erreichen, dass sie später winzige, zierliche Füße hätten, was die<br />
Chinesen sehr schätzten. Keine Frau mit großen Füßen durfte damit<br />
rechnen, einen Mann zu bekommen. Männer mochten große Füße nicht.<br />
Große Füße galten als unattraktiv. Außerdem war man sich sicher, dass<br />
einem eine Frau mit solch kleinen Füßen nicht davonlaufen konnte. Man<br />
holte sie ganz leicht wieder ein.<br />
Immer mehr Stimmen mischten sich in das allgemeine Gewirr.<br />
»Da kommt er, da kommt er, der ›fremde Teufel‹ mit seinen komischen<br />
Kleidern!« Männer, Frauen, Kinder, Hunde und auch ein oder<br />
zwei schreiende Esel trugen zum Chaos bei. Der junge Fremde räusperte<br />
sich verlegen. Er begriff sehr wohl, dass vor allem seine Kleidung die<br />
Menge so sehr belustigte. Die jungen Männer und Frauen, die Bauern<br />
und Kaufleute, die kleinen Kinder, ja selbst die Babys starrten ihn an.<br />
Ein Schweißtropfen fiel von seiner Nasenspitze. Mit einem weißen Taschentuch<br />
wischte er sich den Schweiß ab, was noch mehr Heiterkeit<br />
hervorrief.<br />
»Haha! Seht ihn nur an, er wischt sein Gesicht mit einer großen weißen<br />
Fahne ab! Die noch weißer ist als sein Gesicht!« Wieder hüstelte er<br />
41
HUDSON TAYLOR<br />
und betete flehentlich darum, dass die Leute doch nicht ihre Zeit damit<br />
verschwendeten, ihn auszulachen, sondern dass sie zuhörten, was Gott<br />
ihnen zu sagen hat.<br />
Als er zu sprechen begann, war die Menge überrascht: Diese schmalen<br />
rosafarbenen Lippen sprachen ein richtig gutes Chinesisch!<br />
»Mein Name ist Hudson Taylor, und ich habe eine sehr lange Reise<br />
gemacht, um euch von dem einen wahren Gott zu erzählen. Er ist es, der<br />
Himmel und Erde und auch euch gemacht hat! Und Er hat allen Menschen<br />
geboten, Ihn zu lieben und Ihm zu dienen; denn Er ist ein heiliger<br />
Gott, der die Sünde hasst. Ich sage euch die Wahrheit.«<br />
Ein chinesischer Kaufmann stand am Rand der Volksmenge. Auch<br />
er war neugierig, zu erfahren, was hier vor sich ging. »Er sagt, dass er<br />
uns die Wahrheit sagen will? Ich habe von diesen fremden Barbaren gehört.<br />
Sie kommen von weit her, weit entfernt vom Reich der Mitte; sie<br />
kommen von dort, wo die Wilden hausen. Sie haben nichts gelernt und<br />
kennen keine Manieren. Darum verstehe ich nicht, warum ihm hier all<br />
die Leute zuhören.« Der junge chinesische Kaufmann legte die Baumwolltücher<br />
nieder, die er an diesem Tag auf dem Markt verkaufen wollte,<br />
und hörte zu, was der Fremde zu sagen habe.<br />
Der erhob nun laut seine Stimme, damit man ihn trotz des Lärms<br />
ringsumher verstehen könne:<br />
»Der Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat und auch den riesigen<br />
Jangtse-Fluss, der bei uns vorbeifließt, will nicht, dass wir ohne<br />
Hoffnung seien. Er liebt uns und will uns unsere Sünden vergeben. Er<br />
will, dass wir zu Ihm zurückkehren und mit Ihm leben. Aber Gott muss<br />
die Sünden mit dem Tod bestrafen! Daher sandte Er Seinen Sohn, Jesus<br />
Christus. Der lebte bei uns auf der Erde; aber Er tat nie eine Sünde. Er<br />
war vollkommen. Er kam als kleines Kind auf die Erde. Er heilte die<br />
Kranken, machte, dass die Lahmen wieder gehen konnten, und erweckte<br />
Tote wieder zum Leben. Er führte ein vollkommenes Leben, anders als<br />
wir es tun; und dann starb Er an Stelle der Sünder, die an Ihn glauben.<br />
Unsere Bosheit fordert Gottes Zorn heraus, und wegen unserer Sünden<br />
haben wir den Tod verdient. Aber Jesus Christus starb, damit wir leben<br />
können, und nach drei Tagen kehrte Er ins Leben zurück! Der Tod hatte<br />
Ihn nicht besiegt.«<br />
Laute des Erstaunens und des Unglaubens waren überall zu hören.<br />
Der chinesische Kaufmann stand nachdenklich da und hielt die Hand<br />
42
Der Beginn des Abenteuers<br />
ans Kinn. Da war etwas Wahres dran. Das merkte er ganz deutlich. Keine<br />
andere Botschaft hatte ihn so ergriffen, wie es die Geschichte von Jesus<br />
tat. Der Kaufmann hatte es schon mit etlichen Religionen versucht,<br />
auch mit dem Buddhismus. Dieser Jesus Christus war anders.<br />
Der Fremde übertönte das allgemeine Gerede. »Wenn ihr Buße tut,<br />
Christus glaubt und vertraut, werdet ihr für immer bei Ihm leben. Wenn<br />
ihr aber nicht an Christus glaubt, werdet ihr nach eurem Tod dem ewigen<br />
Gericht entgegengehen!«<br />
Die Menge verwunderte sich über diese erstaunliche Rede. Einige<br />
lachten über diesen »eigenartigen Fremden« und über seine »törichte<br />
Geschichte«.<br />
Der chinesische Kaufmann nahm seine Baumwolltücher wieder auf<br />
und ging fort, ohne ein Wort zu sagen.<br />
Der junge Missionar Hudson Taylor seufzte, als er den Mann um die<br />
Ecke verschwinden sah. Der Kaufmann blickte noch einmal auf den<br />
schweren schwarzen Anzug zurück und auf das sandfarbene Haar und<br />
fragte sich dabei: »Wer mag dieser Hudson Taylor sein, und weshalb<br />
kommt er zu uns in diese Stadt?«<br />
43
Nehmt euch ihren<br />
Glauben zum Vorbild<br />
»Gedenkt eurer Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr<br />
Ende schaut an und folgt dem Beispiel ihres Glaubens!« (Hebräer 13,7)<br />
Der Schreiber des Hebräerbriefs fordert die Leser auf, an die<br />
geistlichen Lehrer zu gedenken. An die, die das Wort Gottes zu<br />
ihnen gepredigt und es gelehrt haben.<br />
»Gedenkt an sie – an ihr Predigen, ihr Beten, ihren Rat, ihr Vorbild.<br />
Strebt nach der Gnade des Glaubens, durch die sie so gut lebten und<br />
starben. Schaut das Ergebnis ihres Lebenswandels an. Verpflichtet<br />
euch, dem gleichen wahren Glauben zu folgen, in dem eure Lehrer euch<br />
unterwiesen haben.« (Matthew Henry)<br />
Wie dankbar können wir sein, dass in der Vergangenheit viele<br />
geistliche Vorbilder gewesen sind. Einige dieser Vorbilder sind<br />
in Vergessenheit geraten, andere kennen wir noch. Gewisse Prediger<br />
und Autoren sollten wir kennen, und dabei müssen wir ihr<br />
Leben anschauen – wie sie Gott bis ans Ende vertrauten – und<br />
uns ihren Glauben zum Vorbild nehmen.<br />
Tel: +49 2265 99749-22<br />
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