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RA 05/2020 - Entscheidung des Monats

Die Bekämpfung der Corona-Pandemie ist mit massiven Eingriffen in die Freiheitsgrundrechte verbunden. Es überrascht daher nicht, dass über die Verwaltungs- und Verfassungsgerichte eine Flut an Eilanträge hereinbricht. Aus der Vielzahl der gerichtlichen Entscheidungen sticht der nachfolgend dargestellte Beschluss des VGH München hervor, weil er sich nicht auf eine bloße Folgenabwägung beschränkt, sondern die grundrechtsbeschränkenden Vorschriften einer genaueren rechtlichen Prüfung unterzieht.

Die Bekämpfung der Corona-Pandemie ist mit massiven Eingriffen in die Freiheitsgrundrechte verbunden. Es überrascht daher nicht, dass über die Verwaltungs- und Verfassungsgerichte eine Flut an Eilanträge hereinbricht.
Aus der Vielzahl der gerichtlichen Entscheidungen sticht der nachfolgend dargestellte Beschluss des VGH München hervor, weil er sich nicht auf eine bloße Folgenabwägung beschränkt, sondern die grundrechtsbeschränkenden Vorschriften einer genaueren rechtlichen Prüfung unterzieht.

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<strong>05</strong>/<strong>2020</strong><br />

ENTSCHEIDUNGDESMONATS<br />

ÖFFENTLICHESRECHT<br />

Corona-Pandemie:<br />

KontaktverbotundAbstandsgebot


WISSEN was<br />

geprüft wird<br />

Für Studierende & Referendare<br />

EXAMENSTREFFER<br />

aus der <strong>RA</strong> und den Crashkursskripten<br />

Für einen schnellen Überblick der Examenstreffer aus <strong>RA</strong> und Crashkursskript (CK)<br />

unsere aktuelle Aufstellung für Sie:<br />

EXAMENSTREFFER ZIVILRECHT<br />

September 2019 1. Ex., ZR I BW <strong>RA</strong> 11/14, 573, CK ZivR, Az: 13 U 30/14, XIII ZR 99/14<br />

August 2019 1. Ex., ZR III, I HE, TH <strong>RA</strong> 01/19, 4, CK ZivR, Az: VIII ZR 66/17<br />

August 2019 1. Ex., ZR II TH <strong>RA</strong> 06/16, 286, <strong>RA</strong> 03/16, 125<br />

August 2019 1. Ex., ZR I SN, LSA, HE, NRW CK ArbR, 50, CK ZivR, 141<br />

Juni 2019 2. Ex., ZR II HE, NRW <strong>RA</strong> 08/15, 425, CK GesR, Az: 10 S 27/15<br />

Mai 2019 2. Ex., ZR II HE CK ZivR, Az: VIII ZR 330/11<br />

Mai 2019 2. Ex., ZR I HE <strong>RA</strong> 11/17, 564, CK ZivR, Az: 13 U 222/16<br />

Oktober 2018 1. Ex., ZR I HE, NRW <strong>RA</strong> 09/18, 460, CK ZivR, Az: VIII ZR 185/14, VIII ZR 214/13, VIII ZR 302/07<br />

Oktober 2018 2. Ex., ZR I RP <strong>RA</strong> 03/16, 117<br />

Oktober 2018 2. Ex., ZR III RP <strong>RA</strong> 09/16, 454, <strong>RA</strong> 01/18, 17, CK ZivR, Az: IX ZR 3<strong>05</strong>/16<br />

EXAMENSTREFFER ÖFFENTLICHES RECHT<br />

Feb/März <strong>2020</strong> 1. Ex., ÖR I NRW, RP, HE <strong>RA</strong>-Telegramm 01/17, CK NRW / RP / HE, 1 BvR 458/10<br />

Feb/März <strong>2020</strong> 1. Ex., ÖR I NRW, RP, HE <strong>RA</strong> 03/18, 146, CK NRW / RP / HE, Az.: Az.: 3 EO 544/17<br />

Dezember 2019 1. Ex., ÖR I NRW <strong>RA</strong> 09/17, 477, CK NRW, Az: 1 BvR 2222/12, 10 C 4/15<br />

Dezember 2019 1. Ex., ÖR I NRW <strong>RA</strong> 12/17, 645, CK NRW, Az: 1 S 1470/17<br />

November 2019 1. Ex., ÖR I NRW CK NRW, Az: 8 CN 2/14, 4 B 504/16<br />

Oktober 2019 1. Ex., ÖR I HE <strong>RA</strong> 01/18, 29, CK HE, Az: 10 C 6.16<br />

Juni 2019 1. Ex., ÖR I HE, NRW CK HE/NRW, Az: 1 BvR 3080/09<br />

Oktober 2018 1. Ex., ÖR II BE, BR CK BE/BR, Az: 2 BvE 2/11<br />

Oktober 2018 1. Ex., ÖR II HE <strong>RA</strong> <strong>05</strong>/17, 251, CK HE, Az: 1 BvR 1314/12<br />

September 2018 1. Ex., ÖR I BW <strong>RA</strong> 12/15, 653, CK BW, Az: 1 BvR 857/15<br />

August 2018 1. Ex., ÖR I/II RP, TH, LSA <strong>RA</strong> 02/16, 85, CK RP/TH/LSA, Az: 11 ME 230/15<br />

EXAMENSTREFFER ST<strong>RA</strong>FRECHT<br />

Januar <strong>2020</strong> 2. Ex. SR NRW, HE <strong>RA</strong> 01/18, 48, <strong>RA</strong> 10/2019, 545, CK SR<br />

Oktober 2019 2. Ex., SR NRW, RP <strong>RA</strong> Telegramm 01/19, 6<br />

August 2019 1. Ex., SR NRW, HE, RP <strong>RA</strong> 11/17, 6<strong>05</strong>, <strong>RA</strong> 09/18, 493, CK SR, Az: BGH, 2 StR 130/17<br />

August 2019 1. Ex., SR HE, RP <strong>RA</strong> 04/17, 217, CK SR, Az: 4 RVs 159/16<br />

Juli 2019 2. Ex., SR HE, NRW, NDS <strong>RA</strong> 07/16, 385<br />

Mai 2019 2. Ex., SR HE, NRW <strong>RA</strong> Telegramm 08/18, 68<br />

März 2019 1. Ex., SR BY <strong>RA</strong> 01/17, 45<br />

Dezember 2018 2. Ex., SR BW, BE, NRW, SN, TH <strong>RA</strong> 04/17, 217, CK SR, Az: 4 RVs 159/16<br />

September 2018 1. Ex., SR BY <strong>RA</strong> 04/17, 217, CK SR BY, Az: 4 RVs 159/16<br />

September 2018 1. Ex., SR BY <strong>RA</strong> 10/16, 553, CK SR BY, Az: 5 StR 98/16<br />

Weitere Examenstreffer finden Sie<br />

auf unserer Homepage!<br />

Stand: Mai <strong>2020</strong><br />

verlag.jura-intensiv.de/kostenlose-lerninhalte


<strong>RA</strong> <strong>05</strong>/<strong>2020</strong><br />

Öffentliches Recht<br />

253<br />

ÖFFENTLICHES RECHT<br />

Problem: Corona-Pandemie: Kontaktverbot und<br />

Abstandsgebot<br />

Einordnung: Grundrechte/Staatsorganisationsrecht<br />

VGH München, Beschluss vom 30.03.<strong>2020</strong><br />

20 NE 20.632<br />

EINLEITUNG<br />

Die Bekämpfung der Corona-Pandemie ist mit massiven Eingriffen in die<br />

Freiheitsgrundrechte verbunden. Es überrascht daher nicht, dass über die<br />

Verwaltungs- und Verfassungsgerichte eine Flut an Eilanträge hereinbricht.<br />

Aus der Vielzahl der gerichtlichen <strong>Entscheidung</strong>en sticht der nachfolgend<br />

dargestellte Beschluss <strong>des</strong> VGH München hervor, weil er sich nicht auf eine<br />

bloße Folgenabwägung beschränkt, sondern die grundrechtsbeschränkenden<br />

Vorschriften einer genaueren rechtlichen Prüfung unterzieht.<br />

SACHVERHALT<br />

Der Freistaat Bayern hat am 24.3.<strong>2020</strong> die Verordnung über eine vorläufige<br />

Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie (CoronaV) erlassen.<br />

Auszug aus der Verordnung:<br />

„§ 1 Vorläufige Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie<br />

(1) Jeder wird angehalten, die physischen und sozialen Kontakte zu anderen<br />

Menschen außerhalb der Angehörigen <strong>des</strong> eigenen Hausstands auf ein<br />

absolut nötiges Minimum zu reduzieren. Wo immer möglich, ist ein Min<strong>des</strong>tabstand<br />

zwischen zwei Personen von 1,5 m einzuhalten.<br />

[…]<br />

(4) Das Verlassen der eigenen Wohnung ist nur bei Vorliegen triftiger Gründe<br />

erlaubt.<br />

(5) Triftige Gründe sind insbesondere:<br />

a) die Ausübung beruflicher Tätigkeiten,<br />

b) die Inanspruchnahme medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen<br />

[…]<br />

c) Versorgungsgänge für die Gegenstände <strong>des</strong> täglichen Bedarfs […]<br />

[…]<br />

LEITSÄTZE (DER REDAKTION)<br />

1. § 32 S. 1 i.V.m. § 28 I 1 IfSG genügen<br />

dem Bestimmtheitsgebot aus<br />

Art. 80 I 2 GG.<br />

2. Die Aufforderung, soziale Kontakte<br />

auf das absolut nötige Minimum zu<br />

reduzieren, ist keine Rechtspflicht,<br />

sondern lediglich ein Appell. Ausgestaltet<br />

als Rechtspflicht wäre ein<br />

Verbot jeglichen sozialen Kontakts<br />

rechtswidrig.<br />

3. Das Gebot, einen Min<strong>des</strong>tabstand<br />

von 1,5 m zu wahren, ist ebenfalls<br />

keine Rechtspflicht, sondern nur<br />

eine Empfehlung. Ausgestaltet als<br />

Rechtspflicht würde eine solche<br />

Pflicht gegen das Bestimmtheitsgebot<br />

verstoßen.<br />

4. Das Verlassen der eigenen Wohnung<br />

unter ein präventives Verbot<br />

mit Erlaubnisvorbehalt zu<br />

stellen wahrt das Verhältnismäßigkeitsprinzip.<br />

5. Der Verordnungsgeber hat für die<br />

Dauer der Gültigkeit der CoronaV<br />

ständig zu überwachen, ob deren<br />

Aufrechterhaltung noch erforderlich<br />

und angemessen ist.<br />

§ 2 Inkrafttreten, Außerkrafttreten<br />

Diese Verordnung tritt […] mit Ablauf <strong>des</strong> 3. April <strong>2020</strong> außer Kraft.“<br />

Mehrere Personen, die in Bayern wohnen, halten § 1 I, IV, V CoronaV für<br />

rechtswidrig, weil es an einer ausreichenden Rechtsgrundlage fehle und die<br />

Vorschriften nicht dem Bestimmtheitsgebot sowie dem Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />

genügen würden. Ist diese Rechtsauffassung zutreffend?<br />

LÖSUNG<br />

Die streitgegenständlichen Bestimmungen der CoronaV sind rechtmäßig,<br />

wenn sie auf einer wirksamen Rechtsgrundlage beruhen, die formell und<br />

materiell rechtmäßig angewendet wurde.<br />

Obersatz<br />

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254 Öffentliches Recht<br />

<strong>RA</strong> <strong>05</strong>/<strong>2020</strong><br />

§ 32 S. 1 i.V.m. § 28 I 1 IfSG<br />

BGBl. <strong>2020</strong> I, S. 587<br />

Problem: Art. 80 I 2 GG<br />

Art. 80 I 2 GG ist Ausfluss der<br />

Wesentlichkeitstheorie<br />

Nicht maximale Bestimmtheit, sondern<br />

nur hinreichende Bestimmtheit<br />

Subsumtion<br />

Vgl. BT-Drucks 8/2468 S. 27 f.<br />

Wortlaut <strong>des</strong> maßgeblichen § 28 I 1<br />

Halbsatz 2 IfSG<br />

Beeinträchtigte Grundrechte:<br />

Art. 2 II, 8, 11 I GG<br />

I. Rechtsgrundlage für die CoronaV<br />

Rechtsgrundlage für die CoronaV ist § 32 S. 1 i.V.m. § 28 I 1 Infektionsschutzgesetz<br />

(IfSG) in der Fassung durch das „Gesetz zum Schutz der<br />

Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vom<br />

27.3.<strong>2020</strong>. Fraglich ist jedoch, ob diese Normen dem Bestimmtheitsgebot<br />

aus Art. 80 I 2 GG genügen.<br />

„[41] Nach Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG müssen Gesetze, die zum Erlass von<br />

Rechtsverordnungen ermächtigen, Inhalt, Zweck und Ausmaß der<br />

erteilten Ermächtigung bestimmen. Danach soll sich das Parlament seiner<br />

Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft nicht dadurch entäußern<br />

können, dass es einen Teil der Gesetzgebungsmacht der Exekutive überträgt,<br />

ohne die Grenzen dieser Kompetenzen bedacht und diese nach<br />

Tendenz und Programm so genau umrissen zu haben, dass der Bürger<br />

schon aus der gesetzlichen Ermächtigung erkennen und vorhersehen<br />

kann, was ihm gegenüber zulässig sein soll und welchen möglichen Inhalt<br />

die aufgrund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können.<br />

[42] Die Ermächtigungsnorm muss in ihrem Wortlaut nicht so genau<br />

wie irgend möglich gefasst sein; sie hat von Verfassungs wegen nur<br />

hinreichend bestimmt zu sein. Dazu genügt es, dass sich die gesetzlichen<br />

Vorgaben mit Hilfe allgemeiner Auslegungsregeln erschließen<br />

lassen, insbesondere aus dem Zweck, dem Sinnzusammenhang und der<br />

Entstehungsgeschichte der Norm.<br />

[45] Nach diesen Maßstäben ist ein Verstoß <strong>des</strong> § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1<br />

Satz 1 IfSG gegen das Bestimmtheitsgebot aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG nicht<br />

festzustellen.<br />

[46] Auch wenn die Befugnisnorm <strong>des</strong> § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG, auf die die<br />

Verordnungsermächtigung nach § 32 Satz 1 IfSG (u.a.) Bezug nimmt,<br />

zumin<strong>des</strong>t in ihrem ersten Halbsatz als offene Generalklausel ausgestaltet<br />

ist und dies nach den Gesetzgebungsmaterialien zur insoweit<br />

wortgleichen Vorgängerregelung <strong>des</strong> § 34 Bun<strong>des</strong>-Seuchengesetz auch<br />

explizit sein sollte, hat der parlamentarische Gesetzgeber jedenfalls mit<br />

der Neufassung <strong>des</strong> § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG zum 28. März <strong>2020</strong> durch<br />

Einfügung <strong>des</strong> zweiten Halbsatzes „sie kann insbesondere Personen<br />

verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter<br />

bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder<br />

öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten“<br />

die Ermächtigungsgrenzen jedenfalls nunmehr insoweit hinreichend<br />

bestimmt gefasst, dass § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG […] keine - mit Art. 80 Abs. 1<br />

Satz 2 GG unvereinbare - Globalermächtigung für die Verordnungsgeber<br />

enthält, dass aber allgemeine Ausgangs- und Betretungsverbote - die in<br />

besonders erheblichem Maß in die Grundrechte der Betroffenen aus Art. 2<br />

Abs. 2 GG, Art. 8 GG und Art. 11 Abs. 1 GG eingreifen - von der Befugnis<br />

umfasst sein können. Inhalt, Zweck und Ausmaß der vom Gesetzgeber<br />

erteilten Verordnungsermächtigung sind daher als hinreichend bestimmt<br />

anzusehen.“<br />

Somit beruhen die streitgegenständlichen Regelungen der CoronaV auf<br />

einer wirksamen Rechtsgrundlage.<br />

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<strong>RA</strong> <strong>05</strong>/<strong>2020</strong><br />

Öffentliches Recht<br />

255<br />

II. Formelle Rechtmäßigkeit der CoronaV<br />

In formeller Hinsicht bestehen keine Bedenken an der Rechtmäßigkeit der<br />

CoronaV.<br />

III. Materielle Rechtmäßigkeit der CoronaV<br />

Hinsichtlich der materiellen Rechtmäßigkeit ist zwischen den umstrittenen<br />

Bestimmungen der CoronaV zu differenzieren.<br />

1. § 1 I CoronaV<br />

Die in § 1 I CoronaV enthaltenen Gebote, die sozialen Kontakte zu reduzieren<br />

und einen Min<strong>des</strong>tabstand einzuhalten, könnten gegen das aus Art. 20 III GG<br />

folgende Bestimmtheitsgebot verstoßen.<br />

Unproblematisch<br />

Problem: Bestimmtheitsgebot,<br />

Art. 20 III GG<br />

„[50] Hinsichtlich der Aussage <strong>des</strong> § 1 Abs. 1 Satz 1 CoronaV „Jeder wird<br />

angehalten, die physischen und sozialen Kontakte zu anderen Menschen<br />

außerhalb der Angehörigen <strong>des</strong> eigenen Hausstands auf ein absolut<br />

nötiges Minimum zu reduzieren.“ hat auch der Antragsgegner in seiner<br />

Antragserwiderung selbst vorgetragen, dass es sich hierbei lediglich um<br />

einen programmatischen Appell im Sinne einer Präambel handele, die<br />

dem regelnden Teil der Verordnung vorangestellt sei. Dieser Auffassung<br />

tritt der Senat bei. Schon dem Wortlaut „wird angehalten“ lässt sich mit<br />

hinreichender Deutlichkeit entnehmen, dass der Antragsgegner hiermit<br />

kein zwingen<strong>des</strong> und ggf. durchsetzbares Gebot erlassen wollte.<br />

Insofern kommt es auch nicht mehr darauf an, dass für die in § 1 Abs. 1<br />

Satz 1 CoronaV angesprochene generelle Reduzierung nicht nur physischer,<br />

sondern auch allgemein „sozialer“ - dem Wortlaut nach also<br />

offenbar auch nicht-physischer - Kontakte außerhalb <strong>des</strong> eigenen<br />

Hausstands keine infektionsrechtliche oder anderweitige Rechtfertigung<br />

erkennbar ist.<br />

[51] Auch im Hinblick auf § 1 Abs. 1 Satz 2 CoronaV „Wo immer möglich,<br />

ist ein Min<strong>des</strong>tabstand zwischen zwei Personen von 1,5 m einzuhalten.“<br />

ist aus dem Wortlaut und dem systematischen Zusammenhang mit<br />

Satz 1 der Norm zu folgern, dass der angeregte Min<strong>des</strong>tabstand zwischen<br />

zwei Personen lediglich einer - wenn auch nachdrücklichen und<br />

dringlichen - Empfehlung entspricht. Auch wenn der insoweit ambivalente<br />

Normtext teilweise ein Rechtsgebot nahelegt („ist … einzuhalten“),<br />

überwiegt insgesamt der appellative Charakter <strong>des</strong><br />

Satzes so weit, dass im Ergebnis nicht mehr von einer vollziehbaren<br />

Regelung auszugehen ist. Selbst wenn es überhaupt möglich sein<br />

sollte, einen räumlichen Abstand zwischen zwei Personen zentimetergenau<br />

zu definieren, ohne wenigstens die jeweils maßgeblichen<br />

Messpunkte vorzugeben, ergibt sich aus der ausdrücklichen<br />

Einschränkung <strong>des</strong> Verordnungsgebers, der Min<strong>des</strong>tabstand sei<br />

nur „wo immer möglich“ einzuhalten, dass die Einhaltung und<br />

Kontrolle <strong>des</strong> Abstands im Einzelfall letztlich den Normadressaten<br />

überlassen bleiben muss. Ob die Wahrung eines Abstands von<br />

1,5 m im konkreten Fall „möglich“ und eine Unterschreitung damit<br />

ausnahmsweise zulässig ist, ergibt sich in dieser Allgemeinheit<br />

aus einer derart unbestimmten Vielzahl von physikalischen und<br />

normativen, evtl. auch sozialethischen Gegebenheiten, dass die<br />

genannte Einschränkung hier zum Verlust einer unmittelbaren<br />

Regelungswirkung führt. Die Vollziehung <strong>des</strong> Abstandsgebotes bedarf<br />

Reduzierung sozialer Kontakte<br />

Keine Rechtspflicht, sondern nur<br />

Appell<br />

Argument: Wortlaut<br />

„Fingerzeig“ <strong>des</strong> Gerichts: Verbot jeglichen<br />

Kontakts wäre rechtswidrig<br />

Wichtig: Auch das Abstandsgebot<br />

beinhaltet keine Rechtspflicht,<br />

sondern ist nur eine Empfehlung!<br />

Argument: Wortlaut („Wo immer<br />

möglich …“)<br />

Gewagtes Argument: Unbestimmtheit<br />

führt zur fehlenden Regelungswirkung<br />

• letztlich also verfassungskonforme<br />

Auslegung<br />

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256 Öffentliches Recht<br />

<strong>RA</strong> <strong>05</strong>/<strong>2020</strong><br />

<strong>des</strong>halb einer Konkretisierung im Einzelfall […] durch die zuständigen<br />

Vollzugsbeamten. Eine andere Auslegung dieser Regelung als stringentes<br />

Verbot mit einem Korrektiv durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />

(„wo immer möglich), wie vom Antragsgegner vertreten, würde aller<br />

Voraussicht nach dagegen den Boden der Normenklarheit verlassen.“<br />

Beinhaltet § 1 I CoronaV demnach keine rechtsverbindlichen Pflichten, muss<br />

die Norm auch nicht dem Bestimmtheitsgebot genügen und ist somit rechtlich<br />

nicht zu beanstanden.<br />

2. § 1 IV, V CoronaV<br />

§ 1 IV, V CoronaV könnte gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstoßen.<br />

Legitimes Ziel und Geeignetheit<br />

Maßgeblich: Feststellungen <strong>des</strong><br />

Robert-Koch-Instituts (zu <strong>des</strong>sen<br />

Aufgaben vgl. § 4 IfSG)<br />

Erforderlichkeit<br />

Milderes Mittel: Ausgang ist erlaubt,<br />

aber nur alleine oder mit Angehörigen<br />

Aber: Nicht gleich effektiv wie eine<br />

Ausgangsbeschränkung<br />

Entscheidend: Einschätzungsspielraum<br />

<strong>des</strong> Verordnungsgebers<br />

Regelung in anderen Bun<strong>des</strong>ländern<br />

ist unerheblich<br />

Angemessenheit<br />

Entscheidend: Ausnahmen nach<br />

§ 1 V CoronaV<br />

„[59] Die Eignung <strong>des</strong> mit der Verhängung eines präventiven Ausgangsverbots<br />

mit Erlaubnisvorbehalt zur Verfolgung <strong>des</strong> durch § 1 Abs. 1 IfSG<br />

vorgegebenen Ziels - Vorbeugung übertragbarer Krankheiten beim Menschen,<br />

frühzeitige Erkennung von Infektionen und Verhinderung ihrer<br />

Weiterverbreitung - ist nicht zweifelhaft. Nach den Feststellungen <strong>des</strong><br />

Robert-Koch-Instituts vom 26. März <strong>2020</strong> […], das nachdrücklich eine<br />

Reduzierung von sozialen Kontakten mit dem Ziel der Vermeidung von<br />

Infektionen im privaten, beruflichen und öffentlichen Bereich sowie eine<br />

Reduzierung der Reisetätigkeit empfiehlt, ist diese Maßnahme geeignet,<br />

das Ziel <strong>des</strong> Verordnungsgebers, die Weiterverbreitung der übertragbaren<br />

Krankheit COVID-19 zu verhindern. […]<br />

[60] Im Blick auf die Erforderlichkeit der angegriffenen Regelungen kann<br />

der Senat zumin<strong>des</strong>t im Rahmen <strong>des</strong> Eilverfahrens nicht feststellen, dass<br />

andere zur Erreichung <strong>des</strong> Ziels der Verhinderung weiterer Infektionen<br />

mit COVID-19 möglicherweise ebenfalls geeignete Regelungsmodelle<br />

- wie insbesondere der bun<strong>des</strong>weit empfohlene Ansatz, den Aufenthalt<br />

im öffentlichen Raum nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt<br />

lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen <strong>des</strong> eigenen Hausstands<br />

zu gestatten […] - in ihrer Wirkung dem vom Antragsgegner gewählten<br />

Regelungsmodell eines präventiven Ausgangsverbots gleichkommen<br />

und daher als milderes Mittel in Betracht zu ziehen sind. In einer durch<br />

zahlreiche Unsicherheiten und sich ständig weiterentwickelnde<br />

fachliche Erkenntnisse geprägten epidemischen Lage wie der vorliegenden<br />

ist dem Verordnungsgeber jedenfalls im gegenwärtigen<br />

Zeitpunkt der Entwicklung eine Einschätzungsprärogative im<br />

Hinblick auf das gewählte Mittel einzuräumen, soweit und solange<br />

sich nicht andere Maßnahmen eindeutig als gleich geeignet und<br />

weniger belastend darstellen. Eine solche eindeutige Feststellung<br />

ist hier nicht möglich. Allein der Umstand, dass andere Verordnungsgeber<br />

bei vergleichbaren äußeren Umständen und Regelungszielen<br />

ein abweichen<strong>des</strong> Regelungsmodell gewählt haben, führt jedenfalls<br />

nicht dazu, dass die hier streitgegenständlichen Regelungen als unverhältnismäßig<br />

anzusehen wären.<br />

[61] Der im Wortlaut <strong>des</strong> § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG n.F. zum Ausdruck kommende<br />

und im verfassungsrechtlichen Übermaßverbot verankerte Grundsatz<br />

der Verhältnismäßigkeit wird durch die beim Vorliegen „triftiger Gründe“<br />

geltenden Ausnahmen vom Ausgangsverbot hinreichend gewahrt. Die<br />

in § 1 Abs. 5 CoronaV beispielhaft, d.h. nicht abschließend aufgezählten<br />

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<strong>RA</strong> <strong>05</strong>/<strong>2020</strong><br />

Öffentliches Recht<br />

257<br />

Gründe stellen sicher, dass der mit dem präventiven Ausgangsverbot<br />

verbundene schwerwiegende Eingriff (zumin<strong>des</strong>t) in die Rechte der<br />

Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 11 GG diese nicht übermäßig<br />

belastet.<br />

[62] Die Ausnahmetatbestände vom präventiven Ausgangsverbot<br />

sind auch hinreichend bestimmt. Aufgrund der beispielhaften<br />

Aufzählung triftiger Gründe in § 1 Abs. 5 CoronaV lässt sich mit hinreichender<br />

Deutlichkeit erkennen, dass triftige Gründe […] jedenfalls<br />

dann vorliegen, wenn unaufschiebbare gesundheitliche, private<br />

oder berufliche Belange von erheblichem Gewicht eine Ausnahme<br />

von Ausgangsverbot rechtfertigen.<br />

[63] Für die Verhältnismäßigkeit der angegriffenen Regelungen in zeitlicher<br />

Hinsicht spricht, dass der Verordnungsgeber den Geltungszeitraum der<br />

Verordnung bis zum Ablauf <strong>des</strong> 3. April <strong>2020</strong> von vornherein vergleichsweise<br />

kurz befristet hat. Unabhängig davon trifft ihn […] im Hinblick auf<br />

das Gewicht der mit der Verordnung verbundenen Grundrechtseingriffe<br />

aber eine fortlaufende Evaluierungspflicht. Der Verordnungsgeber<br />

hat für die Dauer der Gültigkeit der angegriffenen Verordnung<br />

ständig zu überwachen, ob deren Aufrechterhaltung noch erforderlich<br />

und angemessen ist. Dabei dürften die Anforderungen an die<br />

Verhältnismäßigkeit umso strenger werden, je länger die Regelungen<br />

schon in Kraft sind. Sollte sich die Unverhältnismäßigkeit einzelner<br />

Regelungen herausstellen, wären diese auch vor Ablauf <strong>des</strong> befristeten<br />

Geltungszeitraums unverzüglich aufzuheben.“<br />

§ 1 V CoronaV hinreichend bestimmt<br />

Zeitliche Befristung der CoronaV<br />

spricht für Angemessenheit<br />

Wichtig: Verordnungsgeber hat die<br />

CoronaV fortdauernd zu überprüfen<br />

Je-<strong>des</strong>to-Formel: je länger die<br />

CoronaV gilt, <strong>des</strong>to strikter wirkt das<br />

Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />

Demnach sind die streitgegenständlichen Bestimmungen der CoronaV, soweit<br />

sie überhaupt Rechtspflichten beinhalten, rechtmäßig.<br />

FAZIT<br />

Die Corona-Pandemie und die mit ihrer Bekämpfung einhergehenden Eingriffe<br />

in die Grundrechte werden uns Juristen noch lange beschäftigen.<br />

Neben der Frage, ob die Grundrechtseingriffe gerechtfertigt sind, wird auch<br />

zu diskutieren sein, ob Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche (z.B.<br />

wegen Betriebsschließungen) geltend gemacht werden können. Mit Blick<br />

auf die Grundrechtseingriffe zeigt der Beschluss <strong>des</strong> VGH München zentrale<br />

Problemfelder auf (Bestimmtheitsgebot, Verhältnismäßigkeit). Entscheidend<br />

wird im Übrigen auch sein, wie lange der rechtliche „Ausnahmezustand“<br />

andauert. Der VGH betont völlig zu Recht, dass die Rechtfertigungsanforderungen<br />

steigen, je länger die Grundrechtseingriffe wirken.<br />

Prozessual lag der <strong>Entscheidung</strong> <strong>des</strong> VGH München ein Eilantrag nach<br />

§ 47 VI VwGO zugrunde, <strong>des</strong>sen Erfolgsaussichten sich in erster Linie an<br />

den Erfolgsaussichten <strong>des</strong> in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollverfahrens<br />

nach § 47 I, II VwGO orientieren. Folglich entspricht der<br />

Prüfungsaufbau <strong>des</strong> Verfahrens nach § 47 VI VwGO im Wesentlichen dem<br />

Prüfungsaufbau <strong>des</strong> Normenkontrollverfahrens nach § 47 I, II VwGO. Bei<br />

§ 47 VI VwGO ist „nur“ zusätzlich zu prüfen, ob die einstweilige Anordnung<br />

dringend geboten, die <strong>Entscheidung</strong> also eilbedürftig ist. Dabei ist wegen<br />

<strong>des</strong> Wortlauts („dringend“) ein strenger Maßstab anzulegen. Dringlich in<br />

diesem Sinne ist die <strong>Entscheidung</strong> vor allem, wenn die Schaffung irreparabler<br />

Zustände mit erheblicher Eingriffsintensität droht.<br />

Dazu Giesberts/Gayger/Weyand,<br />

NVwZ <strong>2020</strong>, 417, 420 f.<br />

§ 47 VI VwGO<br />

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 25.2.2015,<br />

4 VR 5.14, juris Rn 12<br />

Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 47,<br />

Rn 148, 154<br />

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