Felix E. Aeschlimann (Hrsg.): Das Evangelium Gottes
Felix E. Aeschlimann (Hrsg.) Das Evangelium Gottes Nicht toter Buchstabe, sondern Worte, die Leben schaffen Paperback, ca. 250 S., Betanien Verlag 04.05.2020
Felix E. Aeschlimann (Hrsg.)
Das Evangelium Gottes
Nicht toter Buchstabe, sondern Worte, die Leben schaffen
Paperback, ca. 250 S., Betanien Verlag 04.05.2020
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Felix</strong> E. <strong>Aeschlimann</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />
<strong>Felix</strong> <strong>Aeschlimann</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />
<strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong><br />
Nicht toter Buchstabe, sondern Worte, die Leben schaffen<br />
<strong>Das</strong><br />
Nicht toter Buchstabe,<br />
sondern Worte,<br />
EvangElium<br />
die Leben schaffen<br />
gottEs
<strong>Felix</strong> E. <strong>Aeschlimann</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />
DAS<br />
Nicht toter Buchstabe,<br />
EVANGELIUM<br />
sondern Worte, die Leben schaffen<br />
GOTTES
1. Auflage 2020<br />
© 2020 by Seminar für biblische Theologie, Beatenberg, www.sbt.education<br />
Herausgebender Verlag: Betanien Verlag 2020<br />
Imkerweg 38 · 32832 Augustdorf<br />
www.betanien.de · info@betanien.de<br />
Gesamtredaktion: <strong>Felix</strong> E. <strong>Aeschlimann</strong><br />
Cover: Sara Pieper<br />
Coverfoto: unsplash.com<br />
Satz: Betanien Verlag<br />
Druck: Druckhaus Nord, Neustadt a. d. Aisch<br />
ISBN 978-3-945716-56-4
Inhalt<br />
Dank 6<br />
Widmung 6<br />
Vorwort des Herausgebers 7<br />
Autoren und Kurzbeschreibung der Beiträge 10<br />
1 <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> auf der Grundlage von Sola Scriptura 13<br />
2 <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> oder menschliche „Erlösungs“-Versuche 41<br />
3 <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> als Zusammenfassung von Gnade<br />
allein, Christus allein und Glauben allein 61<br />
4 <strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> im Alten Testament 89<br />
5 <strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> und die Bündnisse <strong>Gottes</strong> 107<br />
6 <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> in der Missionsgeschichte 123<br />
7 <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> bei den Puritanern 141<br />
8 <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> in der Dienstpraxis als Gemeindepastor 155<br />
9 <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> in Krankheit und Leiden 169<br />
10 <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> – Veränderung von innen nach aussen 183<br />
11 <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> in unserer Sprache 193<br />
12 <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> im Leben mit Jesus 209<br />
13 <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> in der Geschichte des sbt Beatenberg 215
Dank<br />
Wir danken Theo Wüst und Caroline Leuenberger herzlich für die vielen<br />
Stunden kritischer Durchsicht der vorliegenden Beiträge. Sie haben<br />
manche Unebenheiten ausgebessert und das Lesen flüssiger gestaltet.<br />
Widmung<br />
<strong>Das</strong> vorliegende Buch widmen wir in grosser Dankbarkeit allen unseren<br />
ehemaligen und gegenwärtigen Studierenden sowie den vielen<br />
Unterstützern des sbt Beatenberg. Es ist ein Privileg, junge und auch<br />
ältere Menschen ausbilden zu dürfen, denen Gott das Wunder seines<br />
<strong>Evangelium</strong>s in ihren Herzen aufstrahlen liess. Ihr Eifer und ihre Begeisterung,<br />
die Liebe des Christus zu erkennen, die alle Erkenntnis übersteigt,<br />
beindrucken immer wieder neu. Viele Freunde theologischer<br />
Ausbildung (und darunter sind auch viele Absolventen unserer Schule),<br />
die uns mit ihren Gebeten und Finanzen unterstützen, ermöglichen<br />
ein solches Studium. Es ist daher ein grosses Vorrecht, so viele Gönner<br />
hinter sich zu wissen.
Vorwort des Herausgebers<br />
<strong>Das</strong> Seminar für biblische Theologie (vormals Bibelschule Beatenberg)<br />
feiert sein 75-jähriges Bestehen. Bei diesem Ereignis schauen wir nicht<br />
nur zurück. Wir fragen uns auch, wie künftige Generationen uns beurteilen<br />
werden. Werden sie den Kopf schütteln: „Wie konnten die<br />
nur!?“ Werden sie uns vorwerfen, das <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> so sehr verwässert<br />
zu haben, dass da kaum mehr etwas von <strong>Gottes</strong> Gnade und<br />
Christus zu spüren war?<br />
Eines scheint mir sicher: Unsere Nachfahren werden über bestimmte<br />
Ausdrucksformen unseres Glaubens lächeln, wie wir das über<br />
den für uns teilweise skurril wirkenden Frömmigkeitsstil unserer Vorfahren<br />
tun. So wie uns heute gewisse Lieder der Vergangenheit musikalisch<br />
wie inhaltlich peinlich berühren, werden sie mit Sicherheit<br />
über unsere textlich simplen, theologisch einseitigen und künstlerisch<br />
wenig anspruchsvollen Worship-Songs spotten. Vielleicht werden ihre<br />
<strong>Gottes</strong>dienste weniger frei und spontan ablaufen, sondern sich wieder<br />
vermehrt an einer recht strengen Liturgie orientieren. Womöglich<br />
werden emotionale und unterhaltende Elemente im <strong>Gottes</strong>dienst eine<br />
kleinere Rolle spielen als heute. Stattdessen wird die Predigt ins Zentrum<br />
gerückt, die länger als 10 Minuten dauert, theologisch durchdacht<br />
ist und sich eng am Wort <strong>Gottes</strong> orientiert. Denkbar ist auch, dass uns<br />
nächste Generationen für Weichlinge halten, die sich aus reiner Bequemlichkeit<br />
und dem Streben nach Ansehen in der Welt auf Kompromisse<br />
in der Jesusnachfolge und Evangelisation einliessen und sich in<br />
ethisch-moralischen Fragen am Zeitgeist orientierten, weil man auch<br />
als Christ en vogue sein wollte.<br />
Wenn wir die Vergangenheit beurteilen, sollten wir das stets mit<br />
einer demütigen und anerkennenden Haltung gegenüber der Leistung<br />
und Hingabe unserer Vorfahren tun, dabei aber auch auf Schwächen<br />
und Fehler hinweisen, aus denen wir für die Zukunft lernen können.<br />
<strong>Das</strong> vorliegende Buch handelt vom <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong>. Es geht also<br />
nicht um gute Nachrichten über Menschen und deren hervorragende<br />
Leistungen, sondern um <strong>Gottes</strong> gute Nachricht für Menschen. Sobald<br />
wir unseren Blick abwenden vom staunenswerten gnädigen Wirken<br />
<strong>Gottes</strong> zur Rettung sündiger Menschen und stattdessen auf die angebliche<br />
Genialität von Menschen schauen, kommt es zur unangebrachten<br />
Verherrlichung von Menschen oder noch schlimmer zum Menschen-
8<br />
<strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong><br />
kult. Diese verschobene Perspektive kann mitunter zu abstrusen Ideen<br />
führen. So schlug mir ein Ehemaliger aus der Gründerzeit des sbt vor,<br />
wir sollten zu Ehren der Mitgründerin, Frau Dr. Getrud Wasserzug, im<br />
Park des sbt einen Schrein errichten, denn nur so könne Gott uns reich<br />
segnen. Da halte ich es lieber mit Paulus: „Es sei aber fern von mir,<br />
mich zu rühmen als allein des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus“<br />
(Gal 6,14).<br />
Wir blicken nicht mit Verachtung auf unsere Vorgänger zurück,<br />
aber auch nicht mit verklärtem Blick, der Fehler und Menschliches ausblendet.<br />
Wir schauen vielmehr dankbar zurück auf Gott, der in seiner<br />
Gnade schwache und fehlerhafte Menschen befähigte, das <strong>Evangelium</strong><br />
<strong>Gottes</strong> einer gefallenen Welt zu bringen. Nur so konnte die Arbeit Segensspuren<br />
hinterlassen – weltweit.<br />
Vieles hat sich in den letzten 75 Jahren verändert. Formen, Methoden,<br />
Didaktik und Ausbildungskonzepte mussten der Zeit angepasst<br />
werden. Anders liesse sich die heutige Generation kaum wirkungsvoll<br />
ausbilden. Akademisch haben die theologischen Ausbildungsstätten<br />
in Europa in den letzten Jahrzehnten stark aufgerüstet, auch das sbt.<br />
Die schulischen Anforderungen an Studierende sind gestiegen. Theologisch<br />
orientieren wir uns an einer Theologie, das ist mittlerweile kein<br />
Geheimnis mehr, die bewusst das Erbe der evangelischen Reformation<br />
hochhält. Unser Fokus richtet sich nicht wie in der zweiten Hälfte<br />
des letzten Jahrhunderts auf das Weltgeschehen im Nahen Osten, von<br />
dem spekulative Prognosen für die Zukunft der Welt abgeleitet wurden.<br />
Vielmehr richten wir unseren Blick auf Christus, den Retter und<br />
Hirten Israels, dem Volk <strong>Gottes</strong> als den Gläubigen aller Zeiten. Damit<br />
steht am sbt nichts anderes als das einfache, aber überaus wirkungsvolle<br />
<strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> im Zentrum von Lehre und Verkündigung.<br />
Theologische Systeme stehen immer in der Gefahr einer gewissen<br />
Engführung der gesamtbiblischen Aussagen. Hier gilt es auf der Hut<br />
zu sein und auch in Zukunft dem Motto der Reformatoren zu folgen:<br />
„ecclesia reformata semper reformanda“ (die reformierte Kirche reformiert<br />
sich ständig). Wobei an dieser Stelle zu bemerken ist, dass die<br />
Reformatoren damit sicher nicht die fortlaufende theologische Anpassung<br />
bis zur Unkenntlichkeit der Kirche an den Zeitgeist vor Augen hatten,<br />
sondern die ständige Neuausrichtung am Wort <strong>Gottes</strong> anhand des<br />
Prinzips „sola scriptura“ (allein die Schrift). Diese Reformation führt<br />
zu einer ständigen Umkehr zum Zentrum des <strong>Evangelium</strong>s <strong>Gottes</strong>: zur<br />
wundervollen Rettung von Sündern durch Gnade allein, Christus allein<br />
und Glauben allein. Es bleibt leider eine Tatsache, dass dieses Bekenntnis<br />
auch im 21. Jahrhundert von allen Seiten unter Beschuss steht.
Vorwort des Herausgebers<br />
9<br />
Gnade verkommt zu einem billigen Begriff, der fast alles bedeutet,<br />
aber kaum, was die biblischen Autoren berichten. Christus wird mehr<br />
und mehr auch in evangelikalen Kreisen zum gewöhnlichen Menschen<br />
degradiert, zum liebevollen Vorbild eines perfekten Lebens, dem es<br />
nachzueifern gilt. Glauben pervertiert zum evangelischen Gehorsam,<br />
zur menschlichen Leistung. Er beinhaltet nicht mehr das absolute Vertrauen<br />
auf Christus und das, was er für uns geleistet hat. <strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong><br />
<strong>Gottes</strong> verkommt so zur schlechten Nachricht des Versuchs der<br />
menschlichen Selbsterlösung.<br />
So sehen wir es als unseren Auftrag, eine nächste Generation mit<br />
dem alten Konzept der Gnade <strong>Gottes</strong> bekannt zu machen, die durch<br />
evangelikalen Aktivismus, Machbarkeitswahn, Methodengläubigkeit<br />
und viel Unterhaltung fast zugeschüttet wurde. Wenn wir uns dabei<br />
auf die Aussagen des unfehlbaren und irrtumslosen Wortes <strong>Gottes</strong><br />
stützen, knüpfen wir damit bei den Gründern der damaligen Bibelschule<br />
Beatenberg an, die zum aufkommenden Liberalismus und der<br />
damit verbundenen historisch-kritischen Exegese an den theologischen<br />
Fakultäten eine Ausbildungs-Alternative schufen. Mit einer biblisch<br />
begründeten Theologie wollen wir Menschen ausbilden, die das<br />
geistliche Leben der Gemeinden stärken und die Christen zur Mitte des<br />
<strong>Evangelium</strong>s führen. Und diese Mitte fragt nicht nach unseren Taten,<br />
sondern will erkennen, wer Jesus war und was er für uns getan hat.<br />
Auch wenn wir zumindest in eschatologischen Fragen nicht in allen<br />
Punkten mit unseren Vorgängern einig sind, so stimmen wir mit ihrer<br />
Überzeugung überein, dass das <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> im Zentrum unserer<br />
Verkündigung stehen muss und nicht die vielfältigen menschlichen<br />
Konzepte der Selbsterlösung. Wenn wir uns vom Wort <strong>Gottes</strong> kritisieren<br />
und reformieren lassen, statt dieses zu kritisieren, dann hat die<br />
Kirche Wirkkraft und Zukunft. Die Botschaft des <strong>Evangelium</strong>s <strong>Gottes</strong> ist<br />
daher eine ermutigende Nachricht, die zur Freude an Gott ansteckt –<br />
gestern genauso wie heute oder morgen. Davon berichtet dieses Buch<br />
zum 75-jährigen Jubiläum des sbt Beatenberg. Ich wünsche Ihnen, liebe<br />
Leserin, lieber Leser, ermutigende Impulse für das Verständnis von<br />
<strong>Gottes</strong> guter Nachricht der Rettung von Sündern.<br />
<strong>Felix</strong> <strong>Aeschlimann</strong>, April 2020
10<br />
<strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong><br />
Autoren und Kurzbeschreibung der<br />
Beiträge<br />
In Kapitel 1 geht <strong>Felix</strong> <strong>Aeschlimann</strong>, seit 2000 Dozent am sbt für Systematische<br />
Theologie und seit 2002 Direktor des sbt Beatenberg, der<br />
Frage nach, weshalb wir Christen glauben und überzeugt sind, dass uns<br />
allein die Bibel in objektiver Weise und wahr Gott offenbart.<br />
Menschliche Erlösungsversuche in Form von moralischen Appellen<br />
und Selbsttherapie stehen in scharfem Kontrast zur Gnadenlehre des<br />
<strong>Evangelium</strong>s. Wie Selbsterlösungskonzepte in der gegenwärtigen Verkündigung<br />
grassieren und zum Frust und Ausbrennen der Gläubigen<br />
führen, zeigt <strong>Felix</strong> <strong>Aeschlimann</strong> in Kapitel 2.<br />
Kaum eine Beschreibung fasst das <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> besser zusammen<br />
als das reformatorische „Gnade allein, Glauben allein, Christus<br />
allein“. Aber was genau bedeutet das? In Kapitel 3 beleuchtet <strong>Felix</strong><br />
<strong>Aeschlimann</strong> das Kernanliegen der Reformatoren im Kontrast zu Konzepten<br />
unserer Zeit.<br />
Finden wir das <strong>Evangelium</strong> erst im Neuen Testament? Herrschen im<br />
Alten Bund der Gesetzesgehorsam und im Neuen Bund die Gnade vor?<br />
Giancarlo Voellmy, von 2008 bis 2018 Dozent am sbt für Altes Testament<br />
und jetzt Pfarrer der evangelisch-reformierten Kirche in Linden,<br />
beschreibt in Kapitel 4, wie das <strong>Evangelium</strong> selbstverständlich auch im<br />
Alten Testament im Zentrum steht.<br />
Boris Giesbrecht, 2014 – 2018 Leiter des Jüngerschaftsprogramms am<br />
sbt und seit 2018 Dozent für Altes Testament zeigt in Kapitel 5 die Entwicklung<br />
und Bedeutung von <strong>Gottes</strong> <strong>Evangelium</strong> in den verschiedenen<br />
biblischen Bündnissen <strong>Gottes</strong> mit Menschen.<br />
Welche Wirkung das <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> durch die zweitausend Jahre<br />
alte Missionsgeschichte erzielte, beschreibt in Kapitel 6 Theo Wüst,<br />
von 1984 – 2018 Dozent am sbt Beatenberg für Griechisch, Neues Testament<br />
und Missionsgeschichte.
Autoren und Kurzbeschreibung der Beiträge<br />
11<br />
Stephan Oppliger, Lehrbeauftragter am sbt für Pädagogik und Sektenkunde,<br />
erklärt in Kapitel 7, wie die Puritaner das <strong>Evangelium</strong> verstanden,<br />
lebten und verkündigten und damit nicht nur die angelsächsische<br />
Welt prägten.<br />
Wie sieht die praktische Umsetzung des <strong>Evangelium</strong>s <strong>Gottes</strong> im Gemeindealltag,<br />
in der Predigt und Seelsorge aus? Samuel Sommer, Pfarrer<br />
in Oberburg und Vorstandsmitglied des sbt Beatenberg, gibt dazu<br />
in Kapitel 8 ermutigende Tipps aus der Praxis.<br />
Bedeutet das <strong>Evangelium</strong> stets glückliche und erfolgreiche Stunden in<br />
diesem irdischen Leben oder kann es auch anders kommen? Andreas<br />
Maul, seit 2008 Dozent am sbt für Neues Testament und Homiletik,<br />
gibt eine gut begründete biblische Antwort in Kapitel 9.<br />
Welche substanzielle Veränderung das persönliche Verstehen und Anwenden<br />
des <strong>Evangelium</strong>s im Leben mit sich bringt, beschreibt Nicole<br />
Baum, seit 2013 Leiterin des sbt-elearning und sbt-kids sowie Dozentin<br />
für Praktische Theologie, anhand ihrer eigenen Erfahrung in Kapitel 10.<br />
Urs Stingelin, seit 2018 Dozent am sbt für Griechisch, Historische<br />
Theologie und Neues Testament, geht in Kapitel 11 der spannenden<br />
Frage nach, wie <strong>Gottes</strong> <strong>Evangelium</strong> den Weg in unsere Sprache fand.<br />
Wie sich das <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> in der Jesusnachfolge anwenden lässt<br />
und Menschen nachhaltig verändert, beschreibt in Kapitel 12 Matthias<br />
Hagel, seit 2018 Leiter des sbt-Jüngerschaftsprogramms.<br />
Schließlich erzählen in Kapitel 13 Heinrich Kuhn, von 1962 – 2003 Dozent<br />
am sbt Beatenberg für Bibelkunde und von 2003 – 2013 Leiter des<br />
sbt-elearning, und Theo Wüst, wie <strong>Gottes</strong> gute Nachricht sich durch<br />
alle Höhen und Tiefen der sbt-Geschichte durchsetzte.
1<br />
<strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> auf der<br />
Grundlage von Sola Scriptura<br />
<strong>Felix</strong> <strong>Aeschlimann</strong><br />
„Ich verstehe ja, was du glaubst, aber ich möchte wissen, weshalb du<br />
glaubst!“ Gute Frage. Weshalb glauben wir an Gott? Aufgrund eines<br />
schönen Bauchgefühls? Weil unsere Ohren Gott reden hörten? Weil<br />
uns eine innere Stimme unmissverständlich aufforderte, Jesus nachzufolgen?<br />
Weil Jesus uns in einem Traum oder einer Vision erschienen<br />
ist? Weil uns die Liebe und das Vorbild von Christen überwältigten?<br />
Christen argumentieren meist mit höchst gefühlsbetonten Erlebnissen,<br />
wenn sie ihren Glauben an Gott begründen wollen. Der Grund,<br />
weshalb sie glauben, liegt vielfach in der persönlichen Erfahrung, in<br />
speziellen Erlebnissen mit Gott. Selten wird auf historische Ereignisse<br />
verwiesen, die uns die Bibel zuverlässig überliefert. Der Glauben wurde<br />
spätestens mit der Aufklärung zu einer subjektiven, also von persönlichen<br />
Gefühlen und Vorurteilen bestimmten Angelegenheit und<br />
hat nur noch wenig mit geschichtlichen Fakten zu tun. 1 Evangelische<br />
Christen nähern sich in dieser Hinsicht der katholischen Lehre, die sich<br />
nicht mit den Aussagen der Bibel begnügt, sondern den Glauben zusätzlich<br />
auf Beschlüsse von Konzilen sowie Erscheinungen und Wunderzeichen<br />
gründet.<br />
Einziger Massstab für Glauben und Leben: die Bibel<br />
Der erodierende Stellenwert der Bibel für Theologie und Gemeinde<br />
erschütterte vor 100 Jahren die protestantische und katholische Welt<br />
in ihren Grundfesten. Dogmen, die innerhalb der Kirche mehr oder<br />
weniger jahrhundertelang unangefochten waren, wurden auf breiter<br />
Front hinterfragt oder gar abgelehnt. So zum Beispiel die göttliche<br />
Inspiration der Bibel, die Realität von Wundern, die Gottheit und der<br />
1 Subjektiv meint eine vom Subjekt ausgehende Erkenntnis. <strong>Das</strong> Subjekt (der Kenner)<br />
reagiert nicht mehr auf die Objekte um sich herum; es entsteht eine Sicht der<br />
Realität, die selbst produziert wird. Sie ist relativistisch und falsch, weil sie von<br />
persönlichen Gefühlen, Interessen und Vorurteilen bestimmt wird.
14<br />
F. <strong>Aeschlimann</strong>: <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> …<br />
Sühnetod oder die leibliche Auferstehung von Jesus Christus. Papst<br />
Pius X. (1903 – 1914) versuchte im Jahr 1907 mit seiner Verurteilung<br />
der so genannten Modernisten einen theologischen Schutzwall um die<br />
römisch-katholische Kirche zu errichten. 2 Etwas später publizierten<br />
protestantische Theologen in den Jahren 1910 bis 1915 eine zwölfbändige<br />
Reihe über die Grundlagen des Christentums. Darin verteidigten<br />
sie unter anderem die Jungfrauengeburt, die Göttlichkeit von Jesus<br />
Christus, die Inspiration der Heiligen Schrift, den Sühnetod Jesu, die<br />
Rechtfertigung durch den Glauben oder die leibliche Auferstehung<br />
des Christus. Es war der Beginn der evangelikalen Bewegung, die aufgrund<br />
der im Vorwort erwähnten Begrifflichkeit „A new statement of<br />
the fundamentals of Christianity“ etwas verächtlich Fundamentalisten<br />
genannt wurden. 3 Ein Kampfbegriff, der leider vom eigentlichen Anliegen<br />
der Evangelikalen ablenkte. Diese wollten mit ihrer zwölfbändigen<br />
Publikation bloss verhindern, dass das <strong>Evangelium</strong> der Gnade <strong>Gottes</strong><br />
durch den Moralismus der liberalen und bibelkritischen Theologie<br />
weggeschwemmt wird.<br />
Auch Martin Luther ging es 400 Jahre vorher mit seinen 95 Thesen,<br />
die eine öffentliche Diskussion über den Zustand der damaligen römischen<br />
Kirche lancierten, nicht in erster Linie um den Ablasshandel, das<br />
Fegefeuer oder die Totenmesse. Vielmehr wollte er - wie die Evangelikalen<br />
Anfang des letzten Jahrhunderts - den eigentlichen Inhalt des<br />
<strong>Evangelium</strong>s herausstreichen: Sünder werden allein durch <strong>Gottes</strong> Gnade<br />
gerettet und nicht durch menschliche Genugtuung. Hätte er sich<br />
allerdings in seinen Überlegungen auf all die Traditionen und Lehrmeinungen<br />
der damaligen Kirche verlassen, wäre er zu widersprüchlichen<br />
Ergebnissen gelangt. Doch Luther vertrat konsequent die Ansicht, dass<br />
in letzter Instanz nur die Heilige Schrift Massstab und Richtschnur<br />
unseres christlichen Handelns und Denkens sein darf. Wo er andere<br />
Theologen mit der Schrift übereinstimmen sah (z.B. Augustinus), folgte<br />
er ihnen, andernfalls verwarf er deren Ansichten als schriftwidrig.<br />
Genau gleich handelten die anderen Reformatoren wie Zwingli oder<br />
Calvin. Die Grundlage der Reformation bildete daher das Prinzip Sola<br />
2 So im Dekret Lamentabili sane exitu vom 3. Juli 1907. URL: http://www.kathpedia.<br />
com/index.php?title=Lamentabili_sane_exitu [Stand: 20. März 2019] und in der<br />
Enzyklika Pascendi Dominici gregis vom 8. September 1907. URL: http://www.kathpedia.com/index.php?title=Pascendi_dominici_gregis_(Wortlaut)<br />
[Stand: 20.<br />
März 2019].<br />
3 Heute wird der Begriff primär für rückständige, antiintellektuelle und naive religiöse<br />
Fanatiker angewandt, obwohl die Autoren dieser Serie ironischerweise alles<br />
andere als das waren.
… auf der Grundlage von Sola Scriptura<br />
15<br />
Scriptura (die Schrift allein). <strong>Das</strong> Bekenntnis von La Rochelle aus dem<br />
Jahr 1559, für die Reformierten ein wichtigstes Bekenntnis, bringt dieses<br />
Anliegen in Artikel 5 perfekt auf den Punkt:<br />
„Wir glauben, dass das in diesen Büchern enthaltene Wort von Gott<br />
ausgegangen ist, von dem es allein seine Vollmacht empfängt, und<br />
nicht von Menschen. Und in dem Mass, wie es die Richtschnur aller<br />
Wahrheit ist, alles enthaltend, was für den Dienst <strong>Gottes</strong> und unser<br />
Heil notwendig ist, ist es den Menschen nicht erlaubt, ja nicht einmal<br />
den Engeln, etwas hinzuzufügen, wegzunehmen oder zu verändern.<br />
Daraus folgt, dass weder Alter noch Brauchtum, weder Zahl noch<br />
Menschenweisheit, weder Gerichtsurteile noch Bestimmungen noch<br />
Erlasse noch Gebote, weder Konzile noch Erscheinungen noch Wunderzeichen<br />
dieser Heiligen Schrift entgegengehalten werden dürfen;<br />
sondern im Gegenteil: dass alle Dinge an ihr geprüft, ausgerichtet und<br />
verbessert werden müssen. Und demzufolge nehmen wir die drei<br />
Grundbekenntnisse an, nämlich das Apostolische, Nicänische und Athanasianische,<br />
weil sie dem Wort <strong>Gottes</strong> gemäss sind.“ 4<br />
Den Reformatoren genügten die Aussagen der Bibel, wenn es um Fragen<br />
des christlichen Lebens und Glaubens ging. Ganz anders sehen<br />
das katholische Theologen. Wenn Ratzinger, der frühere Papst Benedikt<br />
XVI., fragt: „Welchen Sinn hat es, von den ausreichenden Aussagen<br />
der Heiligen Schrift zu reden, wenn es doch so viele ausserbiblische<br />
Dogmen gibt?“ 5 , so weist er damit deutlich auf das Trennende<br />
zwischen evangelischen und katholischen Christen. Doch nicht selten<br />
kriege ich den Eindruck, es verhalte sich heute umgekehrt. Während<br />
die katholische Kirche ziemlich unverrückbar an ihren Bekenntnissen<br />
und Überlieferungen festhält (und davon gibt es einige hervorragende),<br />
verschwindet die Bibel als alleiniger Massstab für Leben und<br />
Glauben bei evangelischen Christen zunehmend. Wir könnten Ratzingers<br />
Frage ja auch so formulieren: Welchen Sinn hat es, von den<br />
ausreichenden Aussagen der Heiligen Schrift zu reden, wenn Christen<br />
diese Schrift kaum kennen? Sola Scriptura trägt in diesem Fall tatsächlich<br />
nicht viel zur christlichen Lebensführung bei. So fragte mich ein<br />
gestandener Christ nach einem Vortrag, was Jesus wohl zum Thema<br />
Ehescheidung gesagt hätte (wohlgemerkt, er formulierte die Frage in<br />
4 URL: https://www.kirchenbund.ch/de/themen/ref-credoch/rb-11-la-confession-dela-rochelle<br />
[Stand: 1. Februar 2019].<br />
5 Rahner (1965:29)
16<br />
F. <strong>Aeschlimann</strong>: <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> …<br />
der Möglichkeitsform). Dabei hatte Jesus sich so deutlich zu diesem<br />
Thema geäussert, dass seine Jünger der Meinung waren, es sei besser,<br />
nicht zu heiraten!<br />
Andererseits scheinen mittlerweile selbst viele evangelikale Christen<br />
der Meinung zu sein, die Texte der Bibel seien nicht ausreichend,<br />
es brauche Informationen darüber hinaus. Da ist zwar nicht die Rede<br />
von „ausserbiblischen Dogmen“, aber von Eindrücken, Visionen, neuen<br />
Erkenntnissen, Prophetien und Erleuchtungen, die teilweise völlig<br />
quer zur biblischen Lehre stehen und zur Gründung von schier unzähligen<br />
Denominationen und Splittergruppen geführt haben. Wir<br />
finden die Abkehr vom Sola-Scriptura-Prinzip aber nicht nur in konservativen<br />
Fraktionen, sondern auch auf der progressiv-liberalen Seite.<br />
Bei Christen also, die das Transzendente und Übernatürliche der<br />
Bibel eliminieren, indem sie entsprechende Abschnitte für Mythen<br />
erklären. Diese besitzen ihrer Meinung nach zwar moralisch wertvolle<br />
Inhalte, aber die „Erlösung“ wird letztendlich zu einem menschlichen<br />
Werk gemacht, weil nicht mehr Gott der Handelnde ist, sondern<br />
der moralisch handelnde Mensch. Vertreter beider Seiten bestätigen<br />
dennoch mit grosser Selbstverständlichkeit, dass sie am Grundsatz<br />
„die Bibel allein“ festhalten. Ja, sie verstehen sich sogar als die Hüter<br />
der Wahrheit und Beschützer der reformatorischen Idee. Sola Scriptura<br />
lässt sich offensichtlich von konservativen wie liberalen Christen<br />
mit einer eigenwilligen Hermeneutik unterlaufen, die sich mehr am<br />
Zeitgeist oder exzentrischen Ideen als an den biblischen Inhalten orientiert.<br />
Hundert Jahre nach der Entstehung der evangelikalen Bewegung<br />
stehen wir vor den gleichen Herausforderungen wie deren Gründer.<br />
Wer die Protestschriften „A new statement of the fundamentals of<br />
Christianity“ aus den Jahren 1910 bis 1915 oder auch das Dekret und<br />
die Enzyklika von Papst Pius X. aus dem Jahr 1907 liest, erlebt ein Déjà-vu.<br />
Was die Evangelikalen damals als Gefahr für das <strong>Evangelium</strong> sahen,<br />
macht sich hundert Jahre später in ihren eigenen Reihen breit.<br />
Auf einmal steht die Jungfrauengeburt, der Sühnetod, die göttliche Inspiration<br />
der Bibel oder sogar die leibliche Auferstehung des Christus<br />
zur Disposition.<br />
Was steht also auf dem Spiel? Nichts weniger als das <strong>Evangelium</strong><br />
<strong>Gottes</strong>. Aber lohnt es sich, die Wahrheit und Autorität der Bibel zu verteidigen?<br />
Sollten wir nicht vielmehr nach pragmatischeren Kriterien<br />
der christlichen Einheit suchen, als sie im Bekenntnis zur göttlichen Inspiration<br />
der Bibel und anderen grundlegenden Wahrheiten des christlichen<br />
Glaubens zu finden? Immerhin – so der allgemeine Tenor – steht
… auf der Grundlage von Sola Scriptura<br />
17<br />
ja nicht ein religiöses Buch im Zentrum unseres Glaubens, sondern<br />
eine Person: der dreieinige Gott.<br />
Doch die lange Erfahrung zeigt: Die Abkehr vom Bekenntnis der<br />
Wahrheit und Autorität der Bibel führt früher oder später immer zur<br />
Abkehr von Gott. Besitzt dessen Wort keine Autorität, gilt die Bibel<br />
bloss als Zeugnis frommer Menschen über deren subjektiven <strong>Gottes</strong>erlebnisse<br />
und religiösen Ansichten. So lässt sich mit diesem Wort<br />
schliesslich fast alles machen. Wir können es zurechtbiegen, bis es<br />
unseren persönlichen Vorlieben entspricht oder zu unserem Weltbild<br />
passt – mit einem entsprechend kaum erkennbaren <strong>Evangelium</strong>.<br />
Wo finden wir Wahrheit?<br />
Für die Reformatoren ist die Bibel „Richtschnur aller Wahrheit“. <strong>Das</strong><br />
ist in unserer Zeit eine provokative Aussage. Sie stösst auf heftigen Widerspruch.<br />
Doch auch vor 2000 Jahren galt es als vermessen, die Wahrheit<br />
zu kennen. Als der römische Prokurator Pilatus Jesus verhörte und<br />
wissen wollte, wessen Verbrechen ihn die Juden bezichtigten, gab ihm<br />
Jesus zur Antwort: „Dazu bin ich geboren, und dazu bin ich in die Welt<br />
gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus<br />
der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“ (Joh 18,37). Die skeptische<br />
Rückfrage des Prokurators spricht Bände: „Was ist Wahrheit?“ Pilatus<br />
als gebildeter Mann wusste, dass sich die grossen Denker der Welt seit<br />
Jahrhunderten mit der Frage nach der Wahrheit beschäftigten. Es war<br />
ihm auch bekannt, dass sie sich nicht einig waren, was Wahrheit, was<br />
Realität ist. Sicher kannte er die unterschiedlichen Ideen eines Sokrates,<br />
Platon oder Aristoteles. Vermutlich hielt er Jesus deshalb für anmassend.<br />
Behauptete dieser doch tatsächlich, Zeugnis für die Wahrheit<br />
abzulegen. Für Pilatus ist die Sache damit erledigt. Er hat keine<br />
weiteren Fragen mehr. Jemand, der die Wahrheit zu kennen glaubt,<br />
bleibt ihm suspekt.<br />
2000 Jahre später stellen die Menschen dieselbe skeptische und<br />
brisante Frage wie Pilatus: Was ist Wahrheit? Und dann behaupten<br />
Christen entschieden, die Wahrheit zu kennen. Damit meinen sie nicht<br />
nur, dass sie Jesus als den Inbegriff der Wahrheit kennen. Sie sind auch<br />
überzeugt, dass sie durch dessen Verkündigung Zugang zu objektiver<br />
Wahrheit haben, sie also wissen können, was Realität ist. 6 Damit setzen<br />
sie sich den Vorwurf aus, überheblich und zugleich naiv zu sein.<br />
6 Mit objektiv meinen wir, dass wir etwas subjektunabhängig, also sachlich und unabhängig<br />
von unseren Gefühlen und Vorurteilen erkennen.
18<br />
F. <strong>Aeschlimann</strong>: <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> …<br />
Auch wenn Wahrheit ein dehnbarer Begriff geworden ist und viele<br />
der Meinung sind, sie dürfe niemals im absoluten Sinn verstanden<br />
werden, sondern verändere sich je nach Blickwinkel und Situation, so<br />
bleibt das Bedürfnis nach Wahrheit ungebrochen. Ständig wollen wir<br />
die Wahrheit erfahren. Angefangen bei simplen Dingen wie „Wann<br />
fährt der nächste Zug?“ über das ängstliche „Bringt mich das Flugzeug<br />
sicher von Zürich nach New York?“ bis zur existenziellen Frage: „Bin ich<br />
gesund oder leide ich an einer ernsthaften Krankheit?“<br />
Dabei begnügen wir uns nicht mit Wahrscheinlichkeiten als Antworten.<br />
Nein, wir wollen die Wahrheit wissen. Doch welche Bedingungen<br />
müssen erfüllt sein, damit wir von wahrem Wissen reden können?<br />
Platons Antwort lautete: „Wahrheit ist begründete Erkenntnis.“ 7<br />
Unser Wissen basiert seiner Meinung nach auf dem angeblich sicheren<br />
Grund dessen, was wir überprüfen, berechnen, logisch nachvollziehen<br />
und mit unseren Sinneskategorien wahrnehmen können. <strong>Das</strong><br />
scheint vernünftig. Tatsache ist jedoch, dass Wahrheit auf sicherem<br />
Grund stehen muss, also gut begründet sein muss – und zwar jede<br />
Wahrheit.<br />
Wenn ich zum Fenster meines Büros hinausblicke, sehe ich ein<br />
graues Auto auf dem Parkplatz stehen. Weil ich dieses Auto mit meinen<br />
eigenen Augen sehe, scheint mir die Existenz des grauen Autos gut<br />
begründet. Aber reicht das, um die Aussage als wahr zu deklarieren?<br />
Nein, denn selbstverständlich muss auch die Tatsache meiner Sehkraft<br />
wieder auf gutem Grund stehen. Wenn ich zum Beispiel farbenblind<br />
bin, stimmt die Aussage nicht. Ich muss also gute Gründe aufführen,<br />
dass ich nicht farbenblind bin. Und wenn mir das gelingt, muss ich begründen,<br />
dass ich das Auto tatsächlich sehe und ich dies nicht nur träume.<br />
Und so könnte man die Kette der Begründungen weiterführen, bis<br />
wir ziemlich sicher dort ankommen, wo eine sichere Begründung nicht<br />
mehr möglich ist. Wahrheit als begründete Erkenntnis zu bezeichnen,<br />
scheint mir daher schwierig, denn letztlich können wir nichts bis ins<br />
letzte Detail begründen.<br />
Wie viele Gründe müssen wir also auflisten, bis wir etwas als Wahrheit<br />
anerkennen? Oder anders gefragt: Wie viele Beweise brauchen<br />
wir, bis wir etwas glauben? Bei Dingen, die wir mit unseren fünf Sinnen<br />
wahrnehmen, scheint uns die Antwort recht einfach. Während ich diese<br />
Sätze schreibe, scheint es mir bewiesen, dass die Tastatur die Buchstaben<br />
in der richtigen Reihenfolge via Computer auf den Bildschirm<br />
7 Eine philosophisch verständlich geschriebene Abhandlung zu dieser Aussage findet<br />
sich in Law (2003:227-241).
… auf der Grundlage von Sola Scriptura<br />
19<br />
sendet. <strong>Das</strong> kann ich mit meinen Augen sehen. Dennoch, ich könnte<br />
dies ja auch nur träumen.<br />
Weit schwieriger stellt sich die Aufgabe nach Platons Theorie, wenn<br />
wir etwas über Dinge wissen wollen, die nicht vor unserer Nase liegen,<br />
die wir auch nicht mit unseren Augen sehen, mit unseren Ohren hören,<br />
mit unserer Zunge schmecken oder mit unserer Haut fühlen können.<br />
Wie können wir wissen, dass Gott existiert, Jesus von den Toten auferstanden<br />
ist, es einen Himmel und eine Hölle gibt? Was, wenn wir<br />
nicht wie Sokrates, der Lehrer Platons, frustriert schlussfolgern wollen:<br />
„Ich weiss, dass ich nichts weiss“? Wenn wir damit zugeben, dass wir<br />
kein über jeden Zweifel erhabenes Wissen besitzen, dann müssen wir<br />
darauf verzichten, alles zu begründen. So setzen wir uns natürlich der<br />
Gefahr aus, unter Umständen auch völlig vernunftwidrige Annahmen<br />
als Wissen gelten zu lassen. Dies geschieht in der Tat häufig und erklärt<br />
Phänomene wie wilde Behauptungen von Esoterikern oder blindes<br />
Vertrauen in Sektenführer.<br />
Was ist Wahrheit? Pilatus kapierte das Dilemma. Auf diese Frage<br />
gibt es keine einfache Antwort. Wir wollen stets alles gut begründet<br />
und mit unseren fünf Sinnen erfasst haben, damit wir es als Wahrheit<br />
anerkennen. Doch wir sollten bescheiden zugeben, dass wir unser Wissen<br />
masslos überschätzen. Wir behaupten, mit unseren Sinneskategorien<br />
und unserer Vernunft messen zu können, was Wahrheit ist. Eine<br />
Anmassung sondergleichen. Friedrich Nietzsche, nicht bekannt als ein<br />
gläubiger Christ, vertrat diesbezüglich eine äusserst pessimistische<br />
Sicht:<br />
„In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen<br />
flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn,<br />
auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste<br />
und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘: aber doch nur eine<br />
Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn,<br />
und die klugen Tiere mussten sterben. – So könnte jemand eine Fabel<br />
erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie<br />
kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig<br />
sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab<br />
Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist,<br />
wird sich nichts begeben haben. Denn es gibt für jenen Intellekt keine<br />
weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern<br />
menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so<br />
pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten. Könnten<br />
wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen,
20<br />
F. <strong>Aeschlimann</strong>: <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> …<br />
dass auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich<br />
das fliegende Zentrum dieser Welt fühlt.“ 8<br />
Wenn es Gott nicht gäbe, müssten wir Nietzsche zustimmen. In einer<br />
materialistisch-atheistischen Welt gäbe es für unseren Intellekt tatsächlich<br />
keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte.<br />
Doch Christen betrachten das Thema Wahrheit im Gegensatz<br />
zu Nietzsche optimistisch. Sie wissen: Da gibt es jemand, der uns von<br />
aussen her Wahrheit und Erkenntnis schenkt.<br />
Als Archimedes, der griechische Mathematiker, am Hebelgesetz arbeitete<br />
und eine entsprechende Maschine bauen liess, soll er gesagt<br />
haben: „Gebt mir einen Punkt ausserhalb der Erde, an dem ich stehen<br />
kann, und ich bewege die Erde.“ Ihm war klar: Wer immer die Erde bewegen<br />
möchte, braucht eine Basis, ein Fundament ausserhalb der Erde<br />
als Stützpunkt für seinen Hebel. Auf der Suche nach Wahrheit setzen<br />
Menschen auf Vernunft und Kenntnis, die sie aus der Erfahrung gewonnenen<br />
haben. Doch dieses Unterfangen gleicht dem Versuch, die Erde<br />
mit einem Hebel zu bewegen, ohne den Hebel ausserhalb der Erde aufzusetzen.<br />
Trotz aller Gewalt würden sich die Kräfte neutralisieren.<br />
Wer auf den Verstand als höchste Instanz der Erkenntnis setzt,<br />
bleibt bei seinem menschlichen Hirn stecken. Doch ist dieses selbst bei<br />
den intelligentesten Menschen sehr begrenzt und täuscht nur allzu oft.<br />
Alles was wir zu glauben wissen, ist das Produkt unseres eigenen<br />
Verstands, aber nicht unbedingt der realen Welt. 9 Existiert tatsächlich<br />
nur das, was wir verstehen können? Der Rationalismus führt zum<br />
menschlichen Verstand, aber nicht darüber hinaus. Dabei gibt es Dinge,<br />
die existieren, auch wenn wir sie nicht verstehen.<br />
Genau gleich verhält es sich mit jenen, die auf die Erfahrung setzen.<br />
Viele physikalische Gesetze kann man wissenschaftlich-mathematisch<br />
beweisen und auch ganz praktisch überprüfen. Aber wie ist das mit<br />
einem Wunder? Der Mensch bleibt bei seinem Erfahrungshorizont stehen.<br />
Er kommt nicht darüber hinaus. Es lässt sich aus der Erfahrung<br />
keine sichere Kenntnis zum Beispiel über die Zukunft gewinnen. Allein<br />
die Behauptung, alle Menschen seien sterblich, lässt sich empirisch<br />
nicht belegen, denn dazu müssten wir den Tod aller Menschen einschliesslich<br />
unseres eigenen erfahren haben. 10<br />
8 Friedrich Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, zitiert<br />
in Precht (2007:21).<br />
9 Vgl. Reymond (1998:112).<br />
10 Vgl. Reymond (1998:113).
… auf der Grundlage von Sola Scriptura<br />
21<br />
Wie immer wir es bei der Suche nach Wahrheit und sicherer Erkenntnis<br />
anstellen, wir kommen nicht über unseren Verstand und unsere<br />
Erfahrung hinaus. Wie beim Baron von Münchhausen bleibt der<br />
klägliche Versuch, uns an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen<br />
versuchen.<br />
Wenn wir wissen wollen, was Wirklichkeit, was Wahrheit ist, dann<br />
muss jemand von aussen kommen und uns diese offenbaren. Exakt<br />
dies war die Mission von Jesus. Dazu ist er in diese Welt gekommen.<br />
Und deshalb nennt man das Christentum eine Offenbarungsreligion.<br />
Alle Wahrheit kommt von Gott und führt zu Gott. Er offenbart uns diese<br />
Wahrheit zuerst einmal in seiner Schöpfung. Sie steht allen Menschen<br />
zur Verfügung und ermöglicht Forschung und Wissenschaft, das Erkennen<br />
von Naturgesetzen, mathematischen Regeln, psychologischen<br />
Mustern und vieles mehr. Doch <strong>Gottes</strong> eigentlichen Charakter und seinen<br />
Willen erfahren wir in seinem Wort, der Bibel. Nur dort lesen wir,<br />
wie er Menschen rettet, was ihm in Bezug auf das Leben der Menschen<br />
wichtig ist und welche Pläne er für die Zukunft hat. Wir brauchen also<br />
unbedingt ein ausserirdisches Fundament, wenn wir Wahrheit erkennen<br />
wollen. Astrophysiker scheinen dies intuitiv zu erfassen, wenn sie<br />
immer wieder davon reden, dass das Wissen über unsere Herkunft und<br />
unsere Bestimmung irgendwo da weit draussen im fernen Universum<br />
liegt und nicht auf unserer Erde zu finden ist.<br />
Gott sei Dank wurde uns die Bibel als „ausserirdischer Stützpunkt“<br />
für Kenntnis und Bedeutung gegeben. Wir müssen bei der Suche nach<br />
Wahrheit nicht bei uns haften bleiben, sondern erfahren sie von dem,<br />
der die Realität geschaffen hat und der der Inbegriff der Wahrheit ist.<br />
Ohne die Offenbarung <strong>Gottes</strong> könnten wir nur menschliche Wahrheit<br />
erkennen. Unsere grundlegenden Fragen blieben ungeklärt. Über unsere<br />
Herkunft, Bestimmung und Zukunft könnten wir nur spekulieren,<br />
ebenso über das Wesen <strong>Gottes</strong> sowie seine Pläne mit der Welt und<br />
den Menschen. Wo keine Gewissheit von Wahrheit vorhanden ist, da<br />
ist auch kein Vertrauen, also auch kein rechter Glaube möglich. Viele<br />
Christen zweifeln jedoch an der Mission des Christus als dem, der uns<br />
<strong>Gottes</strong> Wahrheit offenbart. Sie unterscheiden zwischen dem Jesus, zu<br />
dem sie eine persönliche Beziehung pflegen, und den Worten Jesu, die<br />
uns die Autoren des Neuen Testaments überliefern.<br />
Eine verhängnisvolle Unterscheidung: Christus ist nicht <strong>Gottes</strong> Wort<br />
„Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“, bezeugt<br />
Jesus dem römischen Prokurator Pilatus (Joh 18,37). Jesus setzt für
22<br />
F. <strong>Aeschlimann</strong>: <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> …<br />
das Erkennen von Wahrheit voraus, dass sich einer in der richtigen<br />
Beziehung zu Gott befindet. Wer die Seiten gewechselt hat - von der<br />
Lüge zur Wahrheit – und dem vertraut, der nicht von dieser Welt<br />
ist, dem wird die Wahrheit zugänglich. Sie kommt ihm von aussen<br />
zu (Joh 17,16-17). Wer zu Christus gehört, wächst also in Sachen<br />
Wahrheit quasi über sich selbst hinaus und bleibt nicht bei seinem<br />
begrenzten Erfahrungshorizont und Wissen stehen. „Heilige sie in<br />
der Wahrheit – dein Wort ist Wahrheit“, bittet Jesus seinen Vater für<br />
seine Nachfolger (Joh 17,17). Jesus ist das Mensch gewordene Wort<br />
<strong>Gottes</strong> (Joh 1,1.14). <strong>Gottes</strong> Offenbarung verkörpert sich in Christus.<br />
Was immer er sagt und tut, entspricht der Wahrheit. Wer immer sich<br />
nach diesem Wort richtet, wird für diese neue, durchaus „ausserirdische“<br />
Realität kompatibel gemacht. Was die Welt „weltlich“ macht,<br />
ist die Unterdrückung oder Verleugnung des offenbarten Wortes<br />
<strong>Gottes</strong> durch Christus. 11 Und genau dies geschieht, wenn wir zwischen<br />
Wort <strong>Gottes</strong> und Jesus unterscheiden. „Wir glauben nicht an<br />
ein Buch, sondern an eine Person. Christus ist eine Person und kein<br />
Buch. Christus ist wahr. Die Bibel irrt.“ So tönt es mittlerweile auch<br />
bei vielen Evangelikalen.<br />
Petrus fordert die Gläubigen auf: „Seid stets bereit, Rede und Antwort<br />
zu stehen, wenn jemand von euch Rechenschaft fordert über<br />
die Hoffnung, die in euch ist“ (1Petr 3,15). Welche Art von Hoffnung<br />
ist das? Irgendein undefinierbares Gefühl? Eine Hoffnung, die meiner<br />
Sehnsucht entspricht? Gar eine psychologische Selbstprojektion? Verlassen<br />
wir uns auf irgendwelche Mythen? Petrus entgegnet: „Denn<br />
nicht weil wir klug ausgedachten Mythen gefolgt sind, haben wir euch<br />
die Macht und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus kundgetan,<br />
sondern weil wir Augenzeugen seines majestätischen Wesens geworden<br />
sind“ (1Petr 1,16). Ähnliches schreiben auch die anderen Autoren<br />
des Neuen Testaments. Lukas erwähnt deshalb, dass er akribisch über<br />
das Leben Jesu geforscht und Augenzeugen interviewt hat, „damit du<br />
[Theophilus] die Zuverlässigkeit der Lehren erkennst, in denen du unterrichtet<br />
wurdest“ (Lk 1,4).<br />
Unser Glaube und unsere Hoffnung sind daher nicht irrational und<br />
unüberprüfbar, sondern gemäss den Autoren der Bibel sehr gut begründet.<br />
Diese Tatsache widerlegt auch die Behauptung vieler Christen,<br />
es spiele keine Rolle, was genau wir glaubten, solange wir einfach<br />
nur eifrig genug glaubten. In diesem Fall könnten wir aber genauso<br />
gut an das fliegende Spaghetti-Monster der Pastafaris glauben. <strong>Das</strong> ist<br />
11 Siehe Carson (1991:566).
… auf der Grundlage von Sola Scriptura<br />
23<br />
absurd. Vielmehr gilt: Wem wir vertrauen bzw. was wir glauben, ist von<br />
entscheidender Bedeutung.<br />
Beim christlichen Glauben geht es nicht einfach nur um die Person<br />
Jesus, sondern auch um ganz bestimmte Informationen über Jesus. An<br />
welche Person glauben wir, wenn spezifische Daten über Jesus nicht<br />
stimmen? Rettender Glaube hat nicht nur mit seiner Person zu tun,<br />
sondern auch mit den entsprechenden Fakten des <strong>Evangelium</strong>s insgesamt.<br />
Rettender Glaube bedingt deshalb, dass ich von <strong>Gottes</strong> Existenz<br />
überzeugt bin und weiss, was Sünde ist und dass diese mich von Gott<br />
trennt. Ich muss wissen, dass ich einen Retter brauche, der mich mit<br />
Gott versöhnt. Weiter muss ich verstehen, dass Jesus Christus als <strong>Gottes</strong><br />
Sohn auf diese Erde kam, an meiner Stelle den von Gott geforderten<br />
Gehorsam geleistet und an meiner Stelle die Strafe für die Sünde<br />
bezahlt hat. Ich muss wissen, dass Jesus tatsächlich von den Toten<br />
auferstanden ist und Tod und Teufel besiegt hat. Ohne diese Informationen<br />
ist es unmöglich, recht zu glauben. Doch viele Christen behaupten:<br />
„Wir glauben doch nicht an Buchstaben oder Wörter, sondern an<br />
Christus. Wir brauchen keine Lehre, um gerettet zu werden, sondern<br />
lediglich eine persönliche Beziehung zu Jesus.“ Sicher, ohne persönliche<br />
Beziehung zu Christus gibt es keine Erlösung, selbst wenn ich alles<br />
über Christus weiss. Dieses Wissen unterschiede sich nicht vom Wissen<br />
der Dämonen über Gott (Jak 2,19). Aber ich kann keine persönliche<br />
Beziehung zu Jesus pflegen, ohne dass ich gewisse Wahrheiten über<br />
ihn anerkenne, die für meine Rettung zwingend sind. Ich muss daher<br />
wissen, dass Jesus der ewige Sohn <strong>Gottes</strong> ist. Ich muss glauben, dass<br />
er tatsächlich für mich gestorben ist. Ich muss anerkennen, dass er tatsächlich<br />
von den Toten auferstanden ist. Wenn wir diese Fakten nicht<br />
kennen und glauben, dann glauben wir vielleicht an eine moralische<br />
Lehre oder eine Philosophie, aber nicht an den auferstandenen Herrn.<br />
Ich kann daher nicht einfach blind und ernsthaft irgendetwas glauben,<br />
Hauptsache, ich habe ein gutes Gefühl dabei. Ich brauche die richtigen<br />
Fakten über Jesus, um richtig glauben zu können. Diese Fakten finden<br />
wir in der einzigen zuverlässigen Quelle, die uns Christus offenbart: die<br />
Bibel. Wenn die Bibel nicht wahr ist, finden wir auch nie den wahren<br />
Christus. Wenn Jesus nicht der Christus der Bibel ist, dann beten wir<br />
möglicherweise nur einen Menschen an und warten vergeblich auf Erlösung.<br />
Deshalb können wir unmöglich Christus von der Bibel trennen.<br />
Die beiden bilden eine absolute Einheit, die unseren Glauben auf eine<br />
sichere Basis stellt.
24<br />
F. <strong>Aeschlimann</strong>: <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> …<br />
Absolut zuverlässige Überlieferung der Wahrheit<br />
Johannes beginnt sein <strong>Evangelium</strong> mit den merkwürdigen Worten:<br />
„Am Anfang war das Wort“. Tatsächlich, auf den ersten Seiten der Bibel<br />
finden wir Gott als den, der durch sein Reden Realitäten schafft. Überhaupt<br />
kriegt man beim Lesen der gesamten Bibel den Eindruck, dass<br />
Gott vor allem durch sein Wort handelt. Selbst geistliche Realitäten wie<br />
die neue Geburt, der Glaube oder die Heiligung vollzieht Gott durch<br />
sein lebendiges Wort (Jak 1,18; Röm 10,17; Eph 5,26). Die gegenwärtig<br />
populäre Reduzierung von Jesus Christus auf seine Person ist falsch.<br />
Uns steht Christus nicht mehr leiblich zur Seite, wohl aber sein Wort.<br />
Es ist sein Wort, das uns mitteilt, was er gesagt und getan hat. Wir<br />
besitzen in der Bibel eine autoritative, unfehlbare Schrift, die uns in<br />
objektiver Art und Weise Gott offenbart (Joh 8,47; 12,48).<br />
Sicher, der stumme Jesus von Nazareth, über den wir angeblich<br />
kaum etwas mit Sicherheit wissen, provoziert nicht. Ihm können wir all<br />
die Worte in den Mund legen, die wir hören möchten. Man hält zwar<br />
daran fest, dass Jesus gelebt hat, aber seine Predigten und auch seine<br />
Taten seien uns nur unzuverlässig überliefert worden. Den biblischen<br />
Berichten könne man daher nicht wirklich vertrauen. Besser legen wir<br />
diese auf den Prüfstand und entscheiden mit unserem Verstand oder<br />
rein intuitiv, was er gesagt und getan haben könnte.<br />
Doch wie in aller Welt wollen wir Jesus kennen, wenn nicht durch<br />
sein Wort? Und wenn dieses Wort uns nicht die Wahrheit sagt, mit<br />
welchem Recht reden wir denn davon, dass wir Jesus kennen? Wie<br />
wollen wir von Jesus reden, wenn wir keine gesicherte Kenntnis von<br />
ihm besitzen? Die Unterscheidung zwischen Person und Wort führt<br />
in den Fideismus, bei dem nicht der Glaubensinhalt, sondern nur der<br />
Glaube an sich entscheidend ist, also praktisch das reine Bauchgefühl.<br />
So entzieht man dem Glauben die sichere und objektive Grundlage<br />
und findet sich stattdessen in einem Labyrinth von Meinungen, Eindrücken<br />
und Visionen. Selbst wenn man „die Schrift allein“ noch bestätigt,<br />
so sollte doch klar sein, dass in diesem Fall nicht die Bibel spricht,<br />
sondern die eigenen Wunschvorstellungen. Es stimmt, nicht jeder Bibelkritiker<br />
ist auch ein <strong>Gottes</strong>leugner, aber wenn er der Heiligen Schrift<br />
nicht vertraut, muss er seinen Gott mit subjektiven Erfahrungen und<br />
Selbstprojektionen zusammenschustern. Er glaubt zwar an einen Gott,<br />
aber wer ist dieser Gott? Wie kann er ihn kennen lernen?<br />
Für mich gehört daher die Überzeugung, dass die Bibel <strong>Gottes</strong> irrtumsloses<br />
Wort ist, zu den nicht verhandelbaren Fundamenten des<br />
Glaubens. Können wir der Bibel nicht im Detail vertrauen, dann kön-
… auf der Grundlage von Sola Scriptura<br />
25<br />
nen wir ihr auch nicht in den hauptsächlichen Fragen glauben, denn<br />
das Ganze ist immer die Summe seiner Einzelteile (vgl. Ps 119,160; Joh<br />
17,17).<br />
So wenig wie wir einem fehlerhaften Navigationsgerät vertrauen,<br />
erwarten wir von einer fehlerhaften Bibel, dass sie uns sichere Antworten<br />
auf unsere Fragen liefert. Die Lehre von der Irrtumslosigkeit<br />
der Bibel ist im Wesen <strong>Gottes</strong> begründet. Wenn die Schriften der Bibel<br />
tatsächlich von Gott inspiriert sind, dann tragen sie dessen Charakter<br />
und sind wahr. Es sei denn, wir trennen Gott von seinem Wort. Aber<br />
dann dürfen wir nicht mehr von der Bibel als <strong>Gottes</strong> Wort sprechen. Sie<br />
enthielte in diesem Fall lediglich Berichte über subjektive <strong>Gottes</strong>erfahrungen<br />
von Menschen aus dem Vorderen Orient.<br />
Aber argumentieren wir hier nicht mit einem Zirkelschluss: Die<br />
Bibel ist <strong>Gottes</strong> Wort, weil sie uns bezeugt, dass sie <strong>Gottes</strong> Wort ist.<br />
Wenn die Bibel also von Gott kommt, dann ist sie <strong>Gottes</strong> Wort.<br />
Zugegeben, das ist ein klassischer Zirkelschluss. Doch gleiches gilt<br />
auch für die Behauptung: Es gibt keinen Gott. Woher meinen Atheisten<br />
das zu wissen? Weil sie Gott noch nie gesehen haben und sich auch<br />
nicht vorstellen können, dass es einen Gott gibt. Also sagen ihnen Erfahrung<br />
und Verstand, dass es keinen Gott gibt. Auch hier beisst sich<br />
die Katze in ihren eigenen Schwanz. Wie Christen bei der Bibel bleiben,<br />
hängen Atheisten an ihrem menschlichen Verstand und ihren Erfahrungen.<br />
Christen glauben jedoch nicht aus einem reinen Willensakt und<br />
ohne intellektuelle Begründung an die Wahrheit der Bibel. Die Bibel<br />
wird nicht wahr, weil wir wollen, dass sie wahr ist. Unser Vertrauen auf<br />
<strong>Gottes</strong> Wort basiert auf objektiven Aussagen, die verstanden, begründet<br />
und überprüft werden können. Juden wie Christen verteidigten<br />
deshalb ihren Glauben stets mit historischen Fakten und nicht – wie<br />
heute leider oft üblich – mit ihrem Bauchgefühl oder ihren eigenen<br />
persönlichen, subjektiven Erlebnissen. Kein religiöses Buch ist dermassen<br />
mit präzisen und verifizierbaren geschichtlichen Gegebenheiten<br />
verbunden wie die Bibel. So verweisen die Autoren des Neuen Testaments<br />
stets auf die durch viele Augenzeugen bestätigte Auferstehung<br />
des Christus als sichere Grundlage des Glaubens. Der christliche<br />
Glauben ist nicht einfach ein Blindflug, ein Sprung ins Ungewisse, ein<br />
Vertrauen in absurde Geschichten. Der christliche Glauben besitzt<br />
unzählige externe Fakten, für die es viele zuverlässige Augenzeugen<br />
gibt und die sich historisch überprüfen lassen. Die Schriften des Alten<br />
und Neuen Testaments gehören zu den präzisesten überlieferten<br />
Dokumenten der Welt. Diese durchaus vertrauenswürdigen Schriften
26<br />
F. <strong>Aeschlimann</strong>: <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> …<br />
bezeugen, dass Jesus Christus kein Schwindler, sondern absolut glaubwürdig<br />
ist. Dieser absolut verlässliche Christus wiederum lehrte, dass<br />
die hebräische Bibel seinen Tod und seine Auferstehung Jahrhunderte<br />
im Voraus angekündigte, also <strong>Gottes</strong> Wahrheit ist (Mt 5,17-18; 22,29-<br />
32; Lk 24,44-48; Joh 17,9-19) und er als Sohn genauso die Wahrheit<br />
spricht und verkörpert wie sein himmlischer Vater (Joh 8,31-47). Weiter<br />
verspricht er seinen Jüngern, dass der Geist der Wahrheit ihn bezeugen<br />
wird (Joh 15,26). Und schliesslich bestätigt Jesus, dass auch<br />
seine Jünger ihn in Wahrheit bezeugen werden, weil sie von Anfang<br />
an als Augenzeugen bei ihm gewesen sind (Joh 15,27). Deshalb haben<br />
wir Christen gute Gründe, der Bibel als Wort <strong>Gottes</strong> zu vertrauen. <strong>Das</strong><br />
Christentum basiert auf überprüfbaren, nachvollziehbaren Fakten. <strong>Das</strong><br />
Zusammenspiel von menschlichen Autoren bzw. Zeugen <strong>Gottes</strong> und<br />
der Leitung des Heiligen Geistes bei der Entstehung der Bibel nennen<br />
wir Inspiration. Die Bibel ist gleichzeitig Menschenwort und <strong>Gottes</strong><br />
Wort. Deshalb kann Calvin schreiben, dass wir die Bibel so lesen sollen,<br />
als würden wir Gott direkt hören. 12<br />
Im Oktober 1978 verabschiedeten in Chicago mehr als 250 evangelikale<br />
Theologen angesichts der zunehmenden Skepsis innerhalb der<br />
evangelikalen Bewegung gegenüber dem Wahrheitsgehalt der Bibel<br />
ein Bekenntnis zur Irrtumslosigkeit der Bibel. R. C. Sproul, einer die<br />
Initianten der Chicago Erklärung zur biblischen Irrtumslosigkeit, fasst<br />
dieses Bekenntnis so zusammen: „Wir glauben, dass die Bibel irrtumslos<br />
ist, weil sie von Gott selbst stammt. Es ist undenkbar, anzunehmen,<br />
dass Gott fähig wäre, sich zu irren. Deshalb kann sein Wort keine Irrtümer<br />
enthalten. Wir können der Bibel vertrauen, weil wir Gott vertrauen<br />
können.“ 13 Doch der Vertrauensverlust in die biblischen Berichte<br />
nahm seither weiter zu.<br />
Subjektive Erlebnisse und „Offenbarungen“ als Ersatz von objektiver<br />
Wahrheit<br />
Am 1. März 2019 konnte man auf der Frontseite einer bekannten Zeitung<br />
lesen: „Mit Uriella starb das letzte Sprachrohr <strong>Gottes</strong>“. Wenn<br />
diese ironisch gemeinte Aussage zum Tod der Sektenführerin des<br />
Ordens „Fiat Lux“ stimmte, wäre das eine schlechte Nachricht für<br />
uns Menschen. Diese bedeutete nichts weniger als das Schweigen<br />
<strong>Gottes</strong>. Seit Erika Bertschinger, so Uriellas bürgerlicher Name, 1973<br />
12 Calvin (1988:1,7.1)<br />
13 Sproul (2009:Pos. 49-50)
… auf der Grundlage von Sola Scriptura<br />
27<br />
bei einem Reitunfall auf den Kopf fiel, behauptete sie, direkte Offenbarungen<br />
von Gott zu erhalten. Christen, besonders diejenigen aus<br />
der protestantischen Tradition, waren jedoch lange Zeit überzeugt,<br />
dass sie keine besonderen „Sprachrohre <strong>Gottes</strong>“ brauchen, um <strong>Gottes</strong><br />
Stimme zu vernehmen. Dazu genügte für sie das schlichte Lesen<br />
der Bibel. Doch diese für viele etwas zu sachliche und schon fast akademisch<br />
anmutende Art des Redens <strong>Gottes</strong> steht zunehmend unter<br />
Beschuss.<br />
Vor einiger Zeit erhielt ich Post eines Sympathisanten von Jakob<br />
Lorber, einem österreichischen Mystiker des 19. Jahrhunderts. Im<br />
Briefumschlag fand ich Auszüge aus Prophetien, die Gott Lorber angeblich<br />
direkt diktiert haben soll. Beim Durchstöbern der abstrusen Ideen<br />
und Theorien konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der<br />
gute Mann paranoid gewesen sein muss. Da lese ich zum Beispiel, dass<br />
weder Nord- noch Südpol jemals von Menschen erreicht werden können,<br />
die Vögel nur mit Hilfe von Wasserstoff fliegen und sich die Erde<br />
nur deshalb drehe, weil sie ihren schneckenförmigen Darm entleert.<br />
Aber auch dies: Vergewaltigung und Ehebruch seien keine Sünde, sofern<br />
dabei ein Kind gezeugt würde. Schwer vorstellbar, dass Menschen<br />
diesem Mann Glauben schenken. Und doch finden seine Lehren auch<br />
heute eifrige Jünger.<br />
Seit einigen Jahrzehnten herrscht in Sachen „unmittelbares Reden<br />
<strong>Gottes</strong>“ wieder Hochkonjunktur unter den Christen, was nicht selten<br />
zur Gründung von Sekten und Sondergruppen führte. Einige dieser<br />
vermeintlichen Prophetien <strong>Gottes</strong> hatten sogar tödliche Folgen. So<br />
begingen 900 Anhänger der Volkstempelbewegung am 18. November<br />
1978 im Urwald von Guyana Selbstmord oder ermordeten einander,<br />
weil Jim Jones, ihr Anführer, ihnen durch diese Tat den Eintritt ins Paradies<br />
versprochen hatte. Am 5. Oktober 1994 fand man auf einem<br />
Gehöft im Kanton Freiburg 23 verkohlte Leichen und praktisch gleichzeitig<br />
im Kanton Wallis 25 Leichen in den Trümmern eines verbrannten<br />
Chalets und in Kanada weitere 5 Tote nach einem Brand. Es stellte sich<br />
heraus, dass es sich um die Anhänger der Weltuntergangssekte „Orden<br />
der Sonnentempler“ handelte. Mit ihrem Massenselbstmord erhofften<br />
sie sich den Transit zu einem anderen Planeten, um so dem Weltuntergang<br />
zu entgehen. In einem Abschiedsschreiben stand: „Wir verlassen<br />
diese Erde ohne Bedauern, um in ganzer Klarheit und Freiheit eine<br />
neue Dimension der Wahrheit zu finden.“<br />
Nicht immer enden vermeintlich direkte Eingebungen <strong>Gottes</strong> so<br />
tragisch, aber sie verunsichern Menschen oder ziehen den christlichen<br />
Glauben ins Lächerliche. Zudem zerstören sie das Vertrauen in <strong>Gottes</strong>
28<br />
F. <strong>Aeschlimann</strong>: <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> …<br />
Wort, denn wenn die angebliche Prophetie nicht eintritt, gibt man oft<br />
Gott und nicht dem Sektenführer die Schuld. „Gott hat uns angelogen!“,<br />
heisst es dann lapidar.<br />
Auch evangelikale Christen machen sich zunehmend schuldig mit<br />
Aussagen im Namen <strong>Gottes</strong>. Mit Prophezeiungen, die nicht auf einer<br />
nachvollziehbaren Auslegung der objektiven Wahrheit der Bibel basieren,<br />
sondern vielmehr aus einem subjektiven Gefühl heraus oder<br />
einer eigenwilligen Hermeneutik entstehen. Noch in den 60er-Jahren<br />
behauptete ein auf Endzeit spezialisierter Verkündiger, der Mensch<br />
werde nie auf dem Mond landen und Deutschland werde sich nie<br />
wiedervereinigen. Der amerikanische Fernsehprediger Pat Robertson<br />
kündigte für Ende September 2007 Terroranschläge auf US-Städte mit<br />
Millionen von Toten an. „Ich bin nur ein bescheidenes Sprachrohr <strong>Gottes</strong>“,<br />
meinte er bescheiden.<br />
Wir spotten über diese naiven Aussagen, aber unzählige Christen<br />
erdreisten sich heute im eher privaten Rahmen, dafür umso häufiger,<br />
<strong>Gottes</strong> Stimme in direkter Weise zu vernehmen. Dieses Reden <strong>Gottes</strong><br />
wird allerdings nicht in populären Büchern vermarktet, dafür im seelsorgerlichen<br />
Rahmen angewendet. Was da alles als „Stimme <strong>Gottes</strong>“<br />
vernommen wird, könnte einem den Glauben rauben. Da erklärt ein<br />
Seelsorger dem in der Krise stehenden Ehepaar aufgrund des „hörenden<br />
Gebets“, die Gründe der Ehekrise lägen darin, dass der Mann als<br />
Frau hätte geboren werden sollen. Solche Fälle lassen mich zum Skeptiker<br />
werden, was das direkte Reden <strong>Gottes</strong> zu uns Menschen betrifft.<br />
Der neue christliche Mystizismus, der ständig auf die eigene innere<br />
Stimme hört, ist für mich alles andere als ein zuverlässiger Garant des<br />
Redens <strong>Gottes</strong>. Wir sollten es wissen: Wer immer <strong>Gottes</strong> Wahrheit etwas<br />
hinzufügt, wird am Ende des Tages als Lügner dastehen (Spr 30,6).<br />
Die Reformatoren waren sich daher einig: Wenn wir <strong>Gottes</strong> Stimme in<br />
Wahrheit und objektiv hören wollen, dann müssen wir sein Wort studieren<br />
und die Aussagen von Personen kritisch prüfen, die angeblich<br />
in <strong>Gottes</strong> Auftrag gesprochen werden. Doch Christen waren diesbezüglich<br />
offensichtlich schon immer etwas fahrlässig und leichtgläubig.<br />
Nicht von ungefähr warnte Johannes seine Leser: „Ihr Lieben, schenkt<br />
nicht jedem Geist Glauben, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott<br />
sind!“ (1Joh 4,1). Mit anderen Worten: Seid nicht naiv, wenn es um den<br />
Glauben geht. Setzt euren Verstand ein. Prüft und evaluiert, denn da<br />
gibt es nicht nur Echtes, sondern auch Fake-News. <strong>Das</strong> klingt in vielen<br />
Ohren wenig spektakulär, hört sich eher nach trockener Lehre als pulsierendem<br />
Leben an. Lehre und Leben, zwei Bereiche, die viele Christen<br />
leider als Gegensatz darstellen.
… auf der Grundlage von Sola Scriptura<br />
29<br />
Wie die Bibel gemäss Karl Barth zu uns spricht<br />
Als junger Pfarrer wirkte Karl Barth, der wohl berühmteste Schweizer<br />
Theologe des letzten Jahrhunderts, von 1911 – 1921 in Safenwil<br />
und erlebte dabei eine handfeste Predigtkrise. Während seines Theologiestudiums<br />
zerlegten seine liberalen Professoren die Bibel bis ins<br />
Unkenntliche und liessen höchstens noch ein paar Knochen in Form<br />
von Moral übrig. Jetzt stand Barth Sonntag für Sonntag mit einem riesigen<br />
Wissen, aber einem Skelett der Bibel vor seiner mehrheitlich aus<br />
Bauern und Arbeitern bestehenden Gemeinde und fragte sich, ob er<br />
diesen lieben Leuten überhaupt etwas Brauchbares predigen konnte.<br />
„Hätten wir doch früher uns zur Bibel bekehrt, damit wir jetzt festen<br />
Grund unter den Füssen hätten!“, schrieb er verzweifelt seinem Freund<br />
Thurneysen. Für Barth war klar, dass die liberalen Theologen die Bibel<br />
missbrauchten, um ihre eigenen religiösen, moralischen und teilweise<br />
auch politischen Ansichten zu begründen. Gott kam dabei nicht zu<br />
Wort. Als Nazi-Christen in der deutschen Kultur und der Genialität des<br />
Führers eine allgemeine Offenbarung <strong>Gottes</strong> sahen, hielt Barth mit<br />
seiner spezifischen Offenbarungslehre dagegen und versuchte dem eigentlichen<br />
Reden <strong>Gottes</strong> wieder Raum zu schaffen. Er wünschte sich,<br />
dass die Predigtbesucher nicht einfach menschliche Weisheiten, persönliche<br />
Meinungen oder politische Pamphlete von ihren Pfarrern zu<br />
hören kriegten, sondern <strong>Gottes</strong> Wort. Deshalb stellte er mit seiner ausgeprägten<br />
„Wort-<strong>Gottes</strong>-Theologie“ - im Gegensatz zu seinen liberalen<br />
Lehrern - wieder Gott in den Mittelpunkt von Theologie und Predigt.<br />
Sein Bibelverständnis wurde deshalb auch „Neu-Supernaturalismus“<br />
oder „Neoorthodoxie“ genannt. Barth versuchte also, der liberalen Bibelauslegung<br />
ein Ende zu bereiten und die Einsichten der Reformatoren<br />
wiederherzustellen.<br />
<strong>Das</strong> tönt zwar biblisch und schon fast evangelikal, ist aber letztlich<br />
nur der Versuch eines Mittelweges, der zwar als Umkehr angepriesen<br />
wurde, aber sicher nicht die Rückkehr zum Bekenntnis zur Wahrheit<br />
der Bibel bedeutete. Weshalb? Für Barth ist das eigentliche Wort <strong>Gottes</strong><br />
nicht als eine innewohnende Qualität in der Bibel aufbewahrt. Es<br />
muss sich vielmehr jedes Mal beim Lesen oder Hören neu ereignen<br />
(man spricht deshalb auch von „Ereignistheologie“). Wenn also jemand<br />
die Bibel liest oder hört, dann kann es sein – muss aber nicht –, dass<br />
Gott dieser Person persönlich begegnet. In diesem Moment – und nur<br />
in diesem – kann jemand wahrhaftig sagen, dass die Bibel <strong>Gottes</strong> Wort<br />
ist. Wenn aber Gott seine Gegenwart beim Lesen und Hören der Bibel<br />
entzieht, dann bleibt sie das, was sie vorher war: Worte von Moses,
30<br />
F. <strong>Aeschlimann</strong>: <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> …<br />
Jeremia, Johannes oder wem auch immer. Wer immer das Lesen der<br />
Bibel mit dem Satz einleitet, „wir hören nun <strong>Gottes</strong> Wort“, macht sich<br />
gemäss Barth der <strong>Gottes</strong>lästerung schuldig, denn er masst sich an,<br />
Gott zu sagen, wann oder zu wem er zu sprechen habe. <strong>Gottes</strong> Reden<br />
ist für Barth ein Gnadenakt <strong>Gottes</strong>, der ausschliesslich von ihm ausgeht<br />
– womit er sicher richtig liegt. Doch Barth ist der Auffassung, dass<br />
Realität und Wahrheit nur dynamisch und persönlich sind und nicht<br />
gleichzeitig auch eine festgelegte Informationseinheit. Nur wenn die<br />
Texte der Bibel in einer göttlich-menschlichen Begegnung mein Herz<br />
treffen, werden sie durch meine persönliche Reaktion <strong>Gottes</strong> Wahrheit<br />
für mich. Durch diese subjektive Begegnung mit dem Wort <strong>Gottes</strong><br />
wird die historische und wissenschaftliche Zuverlässigkeit der Bibel<br />
natürlich unwichtig. Barth leugnete deshalb die Unfehlbarkeit der Bibel<br />
und übernahm grösstenteils die Ergebnisse der Bibelkritik. Für die<br />
Neo-Orthodoxie ist es beispielsweise ziemlich belanglos, ob Wunder<br />
tatsächlich in Raum und Zeit geschehen sind, denn das Entscheidende<br />
ist nicht die historische Tatsache, sondern dass der Leser durch diese<br />
Wunderberichte persönlich angesprochen wird. Die Wunder werden<br />
in gewisser Weise für diejenigen wahr, die existenziell auf sie reagieren.<br />
Heute sind daher viele Gläubige - ganz im Sinne von Karl Barth –<br />
der Meinung, dass Gott nur dann zu ihnen spricht, wenn sie das innerlich<br />
„spüren“ oder „erleben“. Barth – und mit ihm mittlerweile viele<br />
evangelikale Christen – sieht nicht, dass die Bibel eine autoritative,<br />
unfehlbare Schrift ist, die uns in objektiver Weise Gott offenbart – ganz<br />
egal, ob der Mensch darauf reagiert oder nicht! (siehe Joh 8,47; 12,48;<br />
17,17; 1 Thes 2,13).<br />
Ein neuer Mythos: Lehre ist lebensfeindlich<br />
Immer wieder höre ich in Predigten – schon fast wie ein Mantra - den<br />
Satz: „Leute, es geht im Leben als Christ nicht um Dogmatik, sondern<br />
um Praxis!“ <strong>Das</strong> ist typisch für unsere Zeit. Lehre kontra Praxis. Theorie<br />
versus Leben. Meinen wir tatsächlich, gesunde Lehre hätte nichts mit<br />
dem Leben zu tun? Im alltäglichen Leben jedenfalls finden wir eine<br />
gesunde Portion Theorie sehr wohl nützlich. Ganz nach dem Motto: Es<br />
gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie!<br />
Wer von Interlaken nach Beatenberg ans sbt fährt, überquert zehn<br />
kleinere und grössere Brücken über felsiges Gelände. Die Strassenbauer<br />
haben in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts viele Klippen<br />
überwunden, vor denen selbst geübte Wanderer zurückschreckten. Im<br />
Auto sieht das alles mehr oder weniger ungefährlich aus, es sei denn,
… auf der Grundlage von Sola Scriptura<br />
31<br />
man ist ein Tourist aus einem Land, in dem man Berge nur aus den Medien<br />
kennt. Diese Leute fahren – ganz zum Ärger der Einheimischen –<br />
mit viel Angst und äusserster Vorsicht den Berg hoch. In Wirklichkeit<br />
spüren sie aber völlig richtig, dass da vielerorts ein senkrechter Absturz<br />
von 100 oder 200 Metern droht. Und doch fahren sie alle über diese<br />
Brücken. Warum? Weil sie wissen, dass da ein paar Ziegenhirten Äste,<br />
Steine und Dreck über die Gräben gelegt und dann mit einem glatten<br />
Teerbelag überzogen haben? <strong>Das</strong> mag in korrupten Staaten vielleicht<br />
so funktionieren, aber nicht in der Schweiz. Nein, sie vertrauen der<br />
korrekten Berechnungen von Ingenieuren und Statikern, die bis aufs<br />
Gramm berechnet haben, welches Gewicht diese Brücken tragen, und<br />
die deshalb auch wissen, weshalb 40-Tonnen-LKWs nicht nach Beatenberg<br />
fahren dürfen.<br />
Ist es nicht grotesk, dass uns die Theorie bei der Verkehrssicherheit<br />
oder der Gesundheit extrem wichtig ist, aber in Belangen der Ewigkeit<br />
ziemlich egal? Selbst bei einfachen Lebensmittel im Supermarkt<br />
erwarten wir präzise Auskunft darüber, ob es rein organisch und zuckerarm<br />
ist, wie viel Kalorien wir pro 100 Gramm zu uns nehmen, das<br />
Produkt glutenfrei ist oder Allergien auslösen kann. Aber in geistlichen<br />
Fragen lassen wir fünf als gerade gelten. Dabei wissen wir aus dem<br />
alltäglichen Leben, dass Theorie wichtig ist und sie sehr wohl mit dem<br />
Leben zu tun hat. Wer an Krebs erkrankt ist, sucht nicht den nächsten<br />
Kurpfuscher auf. Er legt sich nicht einmal der Koryphäe unter den Chirurgen<br />
einfach so unters Messer oder schluckt irgendein Mittelchen des<br />
besten Chemikers. Nein, er will zuerst theoretisch exakt über sämtliche<br />
Risiken, Wirkungen und Nebenwirkungen einer Behandlung aufgeklärt<br />
werden. Er lässt sich von klugen Köpfen beraten, füllt seinen eigenen<br />
Kopf mit viel Wissen und entscheidet erst dann, welche Therapie wohl<br />
die geeignetste ist.<br />
<strong>Das</strong> Wissen um die Theorie ist absolut zentral in unserem Leben,<br />
denn wer nichts weiss, muss alles glauben! Behauptete jemand,<br />
Erdbeeren seien giftig, würden das ohne das nötige Wissen viele<br />
glauben. Zwar hätten diese erdbeertechnischen Fake-News keine<br />
folgenschweren Resultate für unser Leben. Man wüsste halt nicht,<br />
wie lecker Erdbeeren schmecken, aber das wäre kein Weltuntergang.<br />
Andere Falschinformationen haben dagegen tödliche Konsequenzen.<br />
Wer der Behauptung Glauben schenkt, Starkstromleitungen zu<br />
berühren, erweitere das Bewusstsein, bezahlt dies mit dem Leben,<br />
sobald er das ausprobiert. Und schliesslich gibt es Lügen mit ewigen<br />
Konsequenzen. Die Aussage etwa, Christus sei nur ein gewöhnlicher<br />
Mensch gewesen, führt zielgenau am ewigen Leben vorbei. Es spielt
32<br />
F. <strong>Aeschlimann</strong>: <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> …<br />
also sehr wohl eine wichtige Rolle, was wir glauben. Und doch scheint<br />
vielen Christen das Wie wichtiger als das Was zu sein. „Gott kennen,<br />
das ist mir zu theoretisch!“, höre ich viele sagen. „Ich will ihn spüren,<br />
fühlen und erleben!“ Im Zentrum ihres Glaubens steht der Enthusiasmus<br />
und nicht die richtige Information über die Person, an die<br />
wir glauben. Enthusiasmus allein genügt aber nicht, denn geistliche<br />
Erleuchtung und ekstatische Erlebnisse beanspruchen viele Religionen<br />
für sich. Dieser inhaltlose Glauben führt bei Johannes nicht zu<br />
wohligen Gefühlen, sondern bereitet ihm Bauchschmerzen, denn für<br />
ihn ist klar: Wer falsch über Christus informiert ist und falsch über<br />
ihn denkt, hat alles verloren, egal wie enthusiastisch er ihm Beifall<br />
klatscht (1Joh 2,22-23; 4,2-3).<br />
Viele spotten über uns Theologen, weil wir uns über jedes i-Pünktchen<br />
streiten würden. <strong>Das</strong> stimmt sogar. <strong>Das</strong> ist tatsächlich passiert,<br />
weil es heilsentscheidend sein kann, ob da ein I steht oder nicht. 325<br />
n. Chr. berief der römische Kaiser Konstantin ein ökumenisches Konzil<br />
ein, um die besten Theologen seiner Zeit über genau dieses I diskutieren<br />
zu lassen. Die Frage lautete: Ist Christus Gott gleich (griechisch:<br />
homo) oder nur Gott ähnlich (griechisch: homoi)? Viele mögen sich<br />
sagen: „Wenn juckt’s? Ist doch nur ein unwichtiger Theologenstreit!“<br />
Tatsächlich? Ähnlich oder gleich ist uns egal? Stellen wir diese Frage<br />
doch einem passionierten Pilzsammler: „Macht es einen Unterschied,<br />
wenn deine Pilze, die du in deinem Korb gesammelt hast, bestimmt<br />
Schafchampignons sind oder nur ähnlich aussehen, in Wirklichkeit<br />
aber weisse Knollenblätterpilze sind?“ Würde er antworten:<br />
„Ähnlich oder gleich? Was soll’s? Spielt eh keine Rolle!?“ Was in der<br />
Biologie, der Chemie, der Mathematik und in allen anderen Wissenschaften<br />
gilt, trifft auch für die Theologie zu. Der Unterschied zwischen<br />
ähnlich und gleich kann zwischen Tod und Leben entscheiden.<br />
Ob Jesus tatsächlich Gott gleich oder Gott nur ähnlich ist, entscheidet<br />
über gerettet oder verloren sein. Darüber kann auch das Gerede von<br />
„Hauptsache wir haben Jesus lieb!“ nicht hinwegtäuschen. Wenn dieser<br />
Jesus nicht viel mehr als ein sympathischer Philanthrop war, dann<br />
kann er uns nicht retten. Soll unser Glauben eine sichere Grundlage<br />
haben, so muss er auf objektiver Wahrheit gründen, also auf <strong>Gottes</strong><br />
Wort und nicht Menschenwort. Überzeugungen, die lediglich dem<br />
menschlichen Denken oder der menschlichen Erfahrung entspringen,<br />
sind subjektiv, fehlerhaft und können in die Irre leiten. Die Definition<br />
des Glaubens als subjektives Erlebnis hat also mit dessen Loslösen<br />
vom objektiven Wort <strong>Gottes</strong> zu tun, wie es uns in der Bibel überliefert<br />
ist.
… auf der Grundlage von Sola Scriptura<br />
33<br />
Es schweige der transzendente Gott<br />
Papst Pius X. kämpfte 1907 in seinem Dekret „Lamentabili“ und seiner<br />
Enzyklika „Pascendi“ gegen die Behauptung der Modernisten, von der<br />
eigentlichen Lehre des Christus bliebe nur eine schwache und unsichere<br />
Spur zurück. Die Evangelisten hätten weniger das aufgeschrieben,<br />
was wahr ist, als vielmehr das, was sie für ihre Leser nützlich glaubten.<br />
So seien die Erzählungen des Johannes eine mystische Betrachtung des<br />
<strong>Evangelium</strong>s und er habe die Wunder übertrieben, um damit Jesus als<br />
Sohn <strong>Gottes</strong> darzustellen. 14<br />
Der Christus der Geschichte stand in der liberalen Theologie weit<br />
unter dem Christus, der Gegenstand des Glaubens ist. Die Verneinung<br />
der übernatürlichen Welt durch den Rationalismus des 18. Jahrhunderts<br />
hatte tiefgreifende Folgen für die Theologie, die im 19. und 20.<br />
Jahrhundert in allen Gebieten sichtbar wurden. Viele dachten, sie<br />
müssten ihren Intellekt opfern, wenn sie weiterhin an Wunder oder<br />
die Wirkkraft von Dämonen glaubten. So standen auf einmal alle Ereignisse<br />
der Bibel, die sich nicht natürlich-logisch erklären liessen, zur Debatte.<br />
15 Sie wurden kurzerhand zu Mythen und Legenden degradiert.<br />
Alles „Aussergewöhnliche“ bzw. „Übernatürliche“ wurde von liberalen<br />
Theologen abgelehnt. Man wandte sich nicht nur peinlich berührt vom<br />
primitiven Wunder- oder Dämonenglauben der frühen Christen ab,<br />
man vermied zunehmend auch von der „Tatsache der leiblichen Auferstehung<br />
des Christus“ zu reden und flüchtete stattdessen in Floskeln<br />
wie „das unsterbliche Leben Christi bei Gott“. Nun kann man den liberalen<br />
Theologen der damaligen Zeit nicht vorwerfen, sie wären böswillig<br />
gegen den einfachen Glauben der Christen vorgegangen. Vielmehr<br />
14 Papst Pius X (1907a). URL: http://www.kathpedia.com/index.php?title=Lamentabili_sane_exitu<br />
[Stand: 20. März 2019] und (1907b). URL: http://www.kathpedia.<br />
com/index.php?title=Pascendi_dominici_gregis_(Wortlaut). [Stand: 20. März<br />
2019].<br />
15 Sehr deutlich drückt das beispielsweise Rudolf Bultmann in seinem Entmytologisierungsprogramm<br />
aus: „Welterfahrung und Weltbemächtigung sind in Wissenschaft<br />
und Technik so weit entwickelt, dass kein Mensch im Ernst am neutestamentlichen<br />
Weltbild festhalten kann und festhält [...]. Erledigt ist durch die Kenntnis<br />
der Kräfte und der Natur der Geister- und Dämonenglaube [...]. Krankheiten<br />
und Heilungen haben ihre natürlichen Ursachen und beruhen nicht auf dem Wirken<br />
von Dämonen bzw. auf deren Bannung. Die Wunder des Neuen Testaments<br />
sind damit als Wunder erledigt [...]. Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat<br />
benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel<br />
in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen<br />
Testaments glauben.“ Bultmann (1941:17f.).
34<br />
F. <strong>Aeschlimann</strong>: <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> …<br />
wollten sie den Glauben retten, indem sie diesen dem Zeitgeist anpassten<br />
und so der Lächerlichkeit zu entreissen versuchten. Dies hatte<br />
zur Folge, dass das Christentum seines eigentlichen Inhalts beraubt<br />
wurde: Die übernatürliche bzw. himmlische Rettung durch den Sühnetod<br />
und die Auferstehung von Jesus Christus wurde verschmäht bzw.<br />
als nicht evangelisch, sondern nur paulinisch abgeschrieben 16 und an<br />
ihrer Stelle der moralisierende Jude Jesus gesetzt, der ein Königreich<br />
der ethischen Werte und der sozialen Verantwortung predigte. Und so<br />
wird seither der christliche Glauben von den meisten Menschen wahrgenommen:<br />
als erdrückender Moralismus und nicht als gute Nachricht.<br />
Wie oben beschrieben, führte auf der anderen Seite der Verlust<br />
der objektiven Wahrheit in der Theologie zur Definition des Glaubens<br />
als subjektives Erlebnis, als reine Gefühlsangelegenheit. Was wahr und<br />
real ist, entscheidet eine innere Stimme in mir, mein Bauchgefühl und<br />
nicht das vor mir liegende Wort <strong>Gottes</strong>. Damit wird der Glauben zu<br />
einer höchst unsicheren Angelegenheit, denn sobald das gute Gefühl<br />
verschwindet, entfernt sich auch das Vertrauen in Gott.<br />
Bevor wir jedoch mit den liberalen Professoren der damaligen Zeit<br />
hart ins Gericht gehen, sollten wir uns selbst kritisch hinterfragen,<br />
wie wir den Glauben definieren. Erklären nicht auch wir wie Schleiermacher<br />
angesichts der Verächter des Christentums unseren Glauben<br />
primär mit unseren Gefühlen und Erlebnissen? 17 Sätze wie: „Jesus<br />
schenkt dir Freude und Geborgenheit“ scheinen den Glauben besser<br />
zu erklären und gesellschaftsrelevanter zu sein als die Aussage: „Jesus<br />
rettet Sünder vor <strong>Gottes</strong> Zorn“. Auch wir stehen in Gefahr, unseren<br />
Glauben dem Weltbild unserer Zeit anzupassen, aus Angst wir würden<br />
uns sonst lächerlich machen. Mehr als je zuvor ist den meisten Menschen<br />
das Gerede von Gott und dem Übernatürlichen peinlich. Die<br />
Wunderberichte der Bibel bleiben eine grosse Hürde im Gespräch mit<br />
Menschen, die es gerne rational haben und deshalb nicht Bauchtänzer<br />
geworden sind. Es ist verständlich, wenn wir bei der Erwähnung<br />
der zehn Plagen Ägyptens, dem wundersamen Fall der Stadtmauern<br />
Jerichos, Simsons übernatürlichen Kräften, Elijas nie versiegenden Öls<br />
und Mehls und Elisas schwimmender Axt etwas peinlich berührt, das<br />
Gespräch möglichst schnell in eine andere Richtung zu lenken versuchen,<br />
oder nach erklärbaren und nachvollziehbaren Gründen ringen.<br />
Die Flucht ins Logische, Empirische und Natürliche ist auch für uns eine<br />
16 Papst Pius X (1907a). URL: http://www.kathpedia.com/index.php?title=Lamentabili_sane_exitu<br />
[Stand: 20. März 2019]<br />
17 Siehe Schleiermacher (2012).
… auf der Grundlage von Sola Scriptura<br />
35<br />
Versuchung. Dies fällt besonders in ethischen Diskussionen auf. Auch<br />
hier wird das Übernatürliche, der ultimative göttliche Befehl peinlich<br />
vermieden. Viel lieber ziehen wir natürliche bzw. säkulare Argumente<br />
heran. Diesem Grundsatz folgt beispielsweise der deutsche Philosoph<br />
Otfried Höffe, wenn in einem Gastkommentar zur Ehe für alle in der<br />
NZZ vom 19.3.2019 schreibt: „… von den zwei Tafeln, auf die die Zehn<br />
Gebote geschrieben sind, enthält nur die erste Tafel religiöse Verbindlichkeiten,<br />
während die zweite Tafel schon ihr erstes Gebot: ‚Du sollst<br />
Vater und Mutter ehren‘ mit dem fraglos säkularen Argument: ‚auf<br />
dass es dir wohlergehe auf Erden‘ begründet. Weil es sich bei den anderen<br />
Geboten analog verhält, taugt keineswegs der gesamte Dekalog,<br />
wohl aber sein zweiter Teil als Referenz für moralische Überzeugungen<br />
säkularer Natur.“ 18 Klar, niemand käme heute auf die Idee, in eine Bundesverfassung<br />
rein religiöse Paragrafen wie „Du sollst keine anderen<br />
Götter haben neben mir“ (Ex 20,3) aufzunehmen. In einer buchstäblich<br />
gottlosen Gesellschaft ergeben solche Sätze keinen Sinn.<br />
Wenn Christen daher die Ehe für homosexuelle Paare ablehnen, argumentieren<br />
sie meist mit den natürlichen Gesetzen. Etwa mit der Biologie<br />
als Voraussetzung von männlich und weiblich für die Fortpflanzung<br />
oder psychologisch als notwendige Ergänzung von Mann und<br />
Frau oder traditionell als Ehe zwischen Mann und Frau seit Menschengedenken.<br />
Selbstverständlich finden sich gegen all diese „natürlichen“<br />
Gesetzmässigkeiten gute Gegenargumente: Menschen können sich<br />
auf künstlichem Weg fortpflanzen. In einem grösseren „Familien-Konglomerat“<br />
finden Kinder auch ohne Vater oder Mutter die notwendige<br />
männliche oder weibliche Erziehung. Traditionen ändern sich.<br />
Was aber, wenn es einen Gott gibt, der seinen Geschöpfen deutlich<br />
mitteilt, was er für richtig und für falsch hält? Was, wenn er praktizierte<br />
Homosexualität verurteilt und gar als Gräuel bezeichnet? Genügte<br />
nicht einfach dieses Verdikt des Schöpfers? Weshalb nicht auch hier<br />
„Sola Scriptura“? Die Schrift ist ja nicht nur Richtschnur in Bezug auf<br />
unseren Glauben und unser Heil. Sie gibt uns auch sicheren Halt im<br />
ethischen Verhalten.<br />
Menschlich gesehen ist es durchaus nachvollziehbar, wenn neuerdings<br />
Autoren wie der amerikanische Alttestamentler Peter Enns auch<br />
von Evangelikalen grosse Zustimmung erhält, wenn er übernatürliche<br />
Geschichten der Bibel als Mythen mit moralischem Wert und unverständliche<br />
Gesetze <strong>Gottes</strong> als Moralvorstellungen der alten Israelis<br />
18 Höffe (2019), URL: https://www.nzz.ch/meinung/ehe-fuer-alle-ein-gebot-saekularen-rechts-ld.1461955<br />
[Stand: 19.3.2019].
36<br />
F. <strong>Aeschlimann</strong>: <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> …<br />
deklariert. Auch wenn Enns die meisten „übernatürlichen“ Geschichten<br />
des Alten Testaments ablehnt und der Meinung ist, die Evangelisten<br />
wären recht kreativ in ihren Geschichten über Jesus vorgegangen,<br />
hält er - ganz in evangelikaler Tradition - an der Auferstehung<br />
des Christus fest. Eines ist jedoch sicher, wir werden den Skandal des<br />
Unerklärlichen, des Übernatürlichen, des Transzendenten nicht beseitigen,<br />
solange wir an einer leiblichen Auferstehung von Jesus Christus<br />
festhalten, die der Anfang einer neuen Welt einläutet, in der auch wir<br />
schliesslich mit einem neuen Leib auferstehen werden. Ein Skeptiker<br />
und Rationalist wird sich erst dann zufriedengeben, wenn alles seine<br />
natürliche und logische Erklärung hat. Wer diesen Weg radikal gehen<br />
will, flüchtet schliesslich in Metaphern und füllt Begriffe wie Auferstehung,<br />
Gericht oder neue Schöpfung mit Worthülsen wie „Hoffnung auf<br />
die Überwindung des Egoismus“ oder „Zukunft in einer gerechteren<br />
Welt“. Damit fegen sie den letzten Rest Transzendenz aus <strong>Gottes</strong> Wort.<br />
Es bleibt lediglich der Appell zur moralischen Verbesserung des Menschen.<br />
In diese Sackgasse des damaligen theologischen Liberalismus<br />
biegen 100 Jahre nach der Entstehung der evangelikalen Bewegung<br />
auch Evangelikale heute ein.<br />
<strong>Gottes</strong> Stimme durch eigenmächtige Hermeneutik verstummen<br />
lassen<br />
Als Christen besitzen wir viele Möglichkeiten, die Heilige Schrift als<br />
alleinige Richtschnur für Leben und Glauben zu verhindern. Einige<br />
hören lieber auf eine innere Stimme als auf das geschriebene Wort<br />
<strong>Gottes</strong> und merken nicht, dass sie dabei ihre eigenen Wünsche als<br />
<strong>Gottes</strong> Wort deuten. Andere setzen sich grosszügig über Texte hinweg,<br />
die ihnen zu wenig „wissenschaftlich“ erscheinen, deuten diese<br />
als menschliche Legenden um und bringen den transzendenten Gott<br />
so zum Schweigen. Und schliesslich finden wir jene Bibelleser, die mit<br />
einer angeblich wortwörtlichen Hermeneutik dem Wort <strong>Gottes</strong> gerecht<br />
werden wollen, aber damit Gott genauso ihre eigenen Ideen in<br />
den Mund legen.<br />
Wenn wir von der Unfehlbarkeit der Bibel reden, meinen wir natürlich<br />
nicht Unfehlbarkeit bei der Bibelauslegung. Viele konservative<br />
Christen bekennen sich zwar zur Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit<br />
der Bibel, aber sie sind lausige Exegeten. Sie vertreten entweder die<br />
Meinung, es brauche für das Verstehen der Bibel keine besonderen<br />
Kenntnisse oder sie sind schlicht zu bequem, die biblischen Texte intensiv<br />
zu studieren. Wir können beim Bibellesen tatsächlich wie funk-
… auf der Grundlage von Sola Scriptura<br />
37<br />
tionale Analphabeten vorgehen, die zwar die Buchstaben, Wörter und<br />
Sätze lesen können, aber den Inhalt trotzdem nicht richtig erfassen.<br />
Wie beim Lesen eines jeden Textes müssen wir auch beim Bibellesen<br />
unterscheiden, ob es sich um einen Gesetzestext, ein Lied, ein Gleichnis,<br />
einen Prophetenspruch oder eine der vielen anderen Literaturgattungen<br />
und Stilfiguren handelt. Es gibt allerdings konservative Christen,<br />
die ihre Bibel nicht nach literarischen Kriterien lesen, sondern literalistisch.<br />
Dies geschieht zum Beispiel, wenn sie Symbole wortwörtlich<br />
auslegen oder Bildworte nicht beachten. Damit zwängen sie der Bibel<br />
nicht unbedingt den Zeitgeist wie im Liberalismus auf, dafür umso<br />
mehr ihre eigenen Vorlieben, Traditionen und Bräuche.<br />
Die teilweise skeptische oder gar ablehnende Haltung der Evangelikalen<br />
gegenüber spezifisch wissenschaftlichen Ergebnissen ist längst<br />
nicht immer mit einer überzeugenden Bibelexegese begründet, denn<br />
manch eine neue wissenschaftliche Erkenntnis wird nicht durch die Bibel,<br />
sondern durch eine fehlerhafte Bibelauslegung abgelehnt. In diesem<br />
Fall liegt nicht die Wissenschaft falsch, sondern das Verständnis<br />
über gewisse Bibeltexte ist mangelhaft.<br />
Bis ins späte Mittelalter mussten Astronomen wie Galileo Galilei<br />
oder Nikolaus Kopernikus damit rechnen, mit ihrem heliozentrischen<br />
Weltbild in den Verdacht der Ketzerei zu geraten. Begründet haben die<br />
strengen Theologen der Inquisition ihr geozentrisches Sonnensystem<br />
mit Bibelstellen wie Gen 12,12; 2Kön 10,33 oder Ps 50,1. Heute bestätigen<br />
alle Christen, dass die Autoren den Sonnenaufgang und -untergang<br />
lediglich so beschreiben, wie wir Menschen das auf der Erde beobachten<br />
können und nicht aus der Sicht der wissenschaftlichen Astronomie.<br />
Erst im Oktober 1992 rehabilitierte eine päpstliche Kommission Galileo<br />
Galilei offiziell. Die Theologen der katholischen Kirche - und nicht nur<br />
die - hätten sich also den Streit mit Galileo Galilei sparen können, wenn<br />
sie die Bibel richtig verstanden hätten.<br />
Wir sollten daher demütig zugeben, dass nur <strong>Gottes</strong> Wort unfehlbar<br />
ist, nicht aber unsere Auslegung. Wenn daher neue Daten auftauchen,<br />
die der Bibel angeblich widersprechen, so müssen wir auch unser<br />
Verständnis über die betreffende Bibelstelle neu überprüfen, denn<br />
es ist durchaus möglich, dass der Widerspruch nur wegen unserer falschen<br />
Auslegung entsteht. Wir brauchen uns vor neuen wissenschaftlichen<br />
Erkenntnissen nicht zu fürchten. Sie werden letzten Endes immer<br />
die Wahrheit <strong>Gottes</strong> unterstreichen, die wir in der Bibel finden. Ein<br />
tatsächlicher Widerspruch ist ausgeschlossen, vorausgesetzt wir interpretieren<br />
die Bibel richtig. Gleiches gilt natürlich auch für die wissenschaftlichen<br />
Erkenntnisse. Ausgeschlossen ist auch hier nicht, dass sich
38<br />
F. <strong>Aeschlimann</strong>: <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> …<br />
Wissenschaftler irren und deshalb einen angeblichen Widerspruch zur<br />
Bibel reklamieren.<br />
Bekennen müssen wir auch, dass „Bibeltreue“ allein noch lange<br />
keine Garantie dafür ist, richtig Erkanntes in die Praxis umzusetzen. In<br />
der Diskussion mit Christen, die eine andere Bibelhaltung vertreten,<br />
sollten wir uns deshalb den Satz ins Bewusstsein rufen, unter den die<br />
Verfasser der Chicago Erklärung zur biblischen Irrtumslosigkeit ihr Bekenntnis<br />
im Vorwort stellen:<br />
„Wir anerkennen erfreut, dass viele, die die Irrtumslosgikeit der<br />
Schrift verwerfen, die Konsequenzen dieser Verwerfung in ihrem übrigen<br />
Glauben und Leben nicht entfalten, und wir sind uns bewusst,<br />
dass wir, die wir uns zu dieser Lehre bekennen, sie in unserem Leben<br />
oft verwerfen, indem wir darin versagen, unsere Gedanken und Taten,<br />
unsere Traditionen und Gewohnheiten in wahre Unterordnung<br />
unter das göttliche Wort zu bringen.“ 19<br />
Und doch: Wenn die Bibel Autorität haben soll, dann muss sie auch<br />
absolut vertrauenswürdig sein. <strong>Das</strong> klare Bekenntnis zur Wahrheit der<br />
Bibel und das Bekenntnis zum <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong>, wie es uns die Bibel<br />
offenbart, gehen Hand in Hand. Wenn die auf Papier überlieferte Offenbarung<br />
<strong>Gottes</strong> nicht vertrauenswürdig ist, was ist es dann? Wenn<br />
das <strong>Evangelium</strong> zum reinen Bauchgefühl wird, woher wissen wir dann<br />
mit Sicherheit, wie wir gerettet werden können?<br />
Literatur<br />
Bultmann, R. (1941). „Neues Testament und Mythologie“. In: Kerygma und<br />
Mythos, Hg. H.W. Bartsch. Hamburg 1941, S. 17f.<br />
Calvin, J. (1988). Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae<br />
religionis. 5. Auflage. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag.<br />
Carson, D. (1991). The Gospel According to John. Grand Rapids: Eerdmans.<br />
Höffe, O. (2019). „Ehe für alle: ein Gebot säkularen Rechts?“ In: Neue Zürcher<br />
Zeitung, 16.3.2019. URL: https://www.nzz.ch/meinung/ehe-fuer-alle-eingebot-saekularen-rechts-ld.1461955<br />
[Stand: 19.3.2019].<br />
Precht, R. D. (2007). Wer bin ich und wenn ja, wie viele? München: Goldmann.<br />
La Confession de La Rochelle im gegenwärtigem Deutsch URL: https://www.<br />
19 Schirrmacher (1993:18)
… auf der Grundlage von Sola Scriptura<br />
39<br />
kirchenbund.ch/de/themen/ref-credoch/rb-11-la-confession-de-la-rochelle<br />
[Stand: 1. Februar 2019].<br />
Law, S. (2003). Warum Kreter Lügen, wenn sie die Wahrheit sagen. Eine Anleitung<br />
zum Philosophieren. Frankfurt: Eichborn.<br />
Papst Pius X. (1907a). „Dekret Lamentabili sane exitu“ vom 3. Juli 1907. URL:<br />
http://www.kathpedia.com/index.php?title=Lamentabili_sane_exitu<br />
[Stand: 20. März 2019] und in der<br />
Papst Pius X. (1907b). „Enzyklika Pascendi Dominici gregis“ vom 8. September<br />
1907. URL: http://www.kathpedia.com/index.php?title=Pascendi_dominici_gregis_(Wortlaut)<br />
[Stand: 20. März 2019].<br />
Rahner, K.; Ratzinger, J. (1965). Offenbarung und Überlieferung. Freiburg: Herder.<br />
Reymond, R. L. (1998). A New Systematic Theology of the Christian Faith. Nashville:<br />
Thomas Nelson.<br />
Schleiermacher, F. (2012). Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter<br />
ihren Verächtern. 1799/1806/1821. Studienausgabe. Hg. Niklaus Peter,<br />
Frank Bestebreurtje und Anna Büsching. Zürich: Theologischer Verlag.<br />
Schirrmacher, T. (H.g.). (1993). Bibeltreue in der Offensive. Die drei Chicago-Erklärungen<br />
zur biblischen Irrtumslosigkeit, Hermeneutik und Anwendung.<br />
Bonn: Verlag für Kultur und Wissenschaft.<br />
Sproul, R. C. (2009). Can I Trust the Bible? Crucial Questions Series Book 2.<br />
Kindle-Version. Orlando: Reformation Trust.
2<br />
<strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> oder menschliche<br />
„Erlösungs“-Versuche<br />
<strong>Felix</strong> <strong>Aeschlimann</strong><br />
Entweder – oder? Stehen in Fragen der Erlösung nur zwei Alternativen<br />
zur Auswahl? Muss man das schwarz-weiss sehen? Gibt es nicht die<br />
goldene Mitte? Nein. Wer hier den berühmten Mittelweg einschlagen<br />
will, sitzt zwischen Stuhl und Bank. Paulus hält fest: „Denn durch die<br />
Gnade seid ihr gerettet aufgrund des Glaubens, und zwar nicht aus<br />
euch selbst, nein, <strong>Gottes</strong> Gabe ist es: nicht durch eigenes Tun, damit<br />
niemand sich rühmen kann“ (Eph 2,8-9). Der Apostel der Nationen toleriert<br />
keine Abweichung vom biblischen Prinzip „Gnade allein“. Wenn<br />
Gott allein rettet, bleibt für den Menschen in dieser Sache nichts mehr<br />
zu tun. Die menschlichen Erlösungsversuche und das <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong><br />
stehen sich damit als zwei unversöhnliche Einheiten gegenüber.<br />
Kompromisse ausgeschlossen. Was aber reizt uns, trotzdem unseren<br />
Beitrag an <strong>Gottes</strong> Werk leisten zu wollen – mit gravierenden Nebenwirkungen<br />
auf unsere <strong>Gottes</strong>beziehung?<br />
Gott als der grosse Spassverderber?<br />
Fragen wir unsere Zeitgenossen, woran sie Christen erkennen, folgt<br />
meist eine Definition mit moralischen Attributen und der Vorwurf, die<br />
Frommen wären stets gegen alles: Gegen die Fristenlösung, gegen die<br />
Homoehe, gegen die Legalisierung von Cannabis, gegen Waffenbesitz,<br />
gegen käufliche Liebe und eigentlich gegen alles, was Spass macht. Die<br />
öffentliche Wahrnehmung des Christentums ist offensichtlich geprägt<br />
vom politischen und moralischen Verhalten der Christen und nicht<br />
vom eigentlichen Inhalt des <strong>Evangelium</strong>s. Dessen Mitte ist aber nicht<br />
eine Fundamentalopposition und auch nicht Moral, sondern Erlösung<br />
durch Christus.<br />
Wie fromme Menschen zur Abtreibung, zum Umweltschutz, zur<br />
sozialen Gerechtigkeit oder zur Flüchtlingspolitik stehen, wird für alle<br />
erkennbar deutlich kommuniziert. Der christliche Glaube scheint daher<br />
mehr mit dem Verfolgen von Tugenden und dem Vermeiden von<br />
Lastern zu tun zu haben und weniger mit der Frage Luthers, wie wir
42<br />
F. <strong>Aeschlimann</strong>: <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> …<br />
einen Gott finden, der uns Sündern gnädig ist. <strong>Das</strong> führt mitunter dazu,<br />
dass selbst Christen nicht mehr in der Lage sind, grundlegende Elemente<br />
des <strong>Evangelium</strong>s wie die Bedeutung des Lebens und Sterbens<br />
von Jesus Christus theologisch korrekt zu erklären. <strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong>, die<br />
gute Nachricht, dass Gott in seiner Gnade alles getan hat, um uns zu<br />
retten, wird mehr und mehr zu einer Aufforderung zu menschlichem<br />
Wirken für Gott und Mitmenschen. Die Botschaft des neuen „<strong>Evangelium</strong>s“<br />
unterscheidet sich kaum mehr von den politischen Slogans<br />
unserer Zeit: „Jetzt müssen WIR handeln!“ Sonntag für Sonntag hören<br />
die Gläubigen unzählige moralische Imperative, mit denen sie aufgefordert<br />
werden, offener und freundlicher zu den Mitmenschen zu sein,<br />
verständnisvoller und hilfsbereiter zu handeln, intensiver die Umwelt<br />
zu schützen und sich stärker für soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Kein<br />
Wunder, dass auch Christen Gott vielfach nur noch für einen Spassverderber<br />
oder gar Sklaventreiber halten. Frustriert verlassen sie ihre<br />
Gemeinden, weil sie der Meinung sind, sie würden nicht auf grüne<br />
Auen und zur Ruhe am Wasser geführt, sondern von einer Aktivität zur<br />
anderen getrieben.<br />
Ich erlebe das anders: Nicht von Gott fühle ich mich bevormundet<br />
und gedrängt, sondern vielmehr von Behörden und Beamten. Die<br />
wenigen alttestamentlichen Speisegebote, an die sich das alte Israel<br />
halten sollte, sind im Vergleich mit den unzähligen Hygienevorschriften,<br />
die uns auch am sbt betreffen, ein Klacks. Immer mehr redet der<br />
Staat mit einer zunehmenden Gesinnungsdiktatur selbst in den privaten<br />
Lebensbereichen mit. Er sanktioniert die Freiheitsliebenden und<br />
belohnt die Angepassten. Die Verbotslisten des Staates sind lang und<br />
was gewisse Politiker alles an Umerziehungsmassnahmen für die Bürger<br />
planen, lässt einen erblassen. <strong>Das</strong> Gefühl, freie Schweizer zu sein,<br />
verschwindet angesichts der schier unzähligen Gesetze, Verordnungen,<br />
Vorschriften und Ausführungsbestimmungen. Man verliert nicht<br />
nur den Durchblick, es ist schlicht auch nicht mehr möglich, kein Gesetzesbrecher<br />
zu sein, weil man einfach nicht ständig alle Vorschriften<br />
präsent hat. Selbst Juristen behalten nur noch dort den Überblick, wo<br />
sie sich spezialisiert haben.<br />
Nicht so bei Gott. Bei ihm finden wir alles andere als eine Atmosphäre<br />
der Gesetzlichkeit oder Enge. Ganz im Gegenteil. Er schreibt<br />
seinem erwählten Volk Israel gerade mal 10 kurze Grundsätze in dessen<br />
Bundesverfassung. Die Verfassung der Schweiz braucht dagegen<br />
nicht weniger als 196 Artikel. <strong>Gottes</strong> Verfassung dagegen lässt sich sogar<br />
herunterbrechen auf zwei Prinzipien: Liebe Gott und liebe deinen<br />
Nächsten. In der Schweiz ist das Leben mit der Bundesverfassung noch
… oder menschliche „Erlösungs“-Versuche<br />
43<br />
lange nicht geregelt. Jeder Artikel wird bekanntlich im Zivilgesetzbuch,<br />
Obligationenrecht, Strafgesetzbuch und vielen anderen Gesetzen geregelt.<br />
Der Schweizer Gesetzesdschungel wuchert so stark, dass im Dorf,<br />
in dem ich aufwuchs, für einen normalen Kreisel sage und schreibe 138<br />
Gesetze, Erlasse und Reglemente notwendig sind, um die Verhältnisse<br />
des Strassenverkehrs zu ordnen, der das Gleis einer Schmalspurbahn<br />
kreuzt. Von der Berner Fahne bis zum Strassenpfosten ist da alles geordnet.<br />
Über 70.000 Seiten Regieanweisungen regeln im Bundesrecht<br />
das eidgenössische Zusammenleben, normieren den Alltag, markieren<br />
die Schranken der Freiheit. Aneinandergereiht entspricht dies einer<br />
Länge von rund zwanzig Kilometern. Da lob ich mir die Bibel mit ihrer<br />
Schlichtheit, Kürze und Verständlichkeit. 613 Ausführungsbestimmungen<br />
zählen jüdische Rabbiner in <strong>Gottes</strong> Verfassung für Israel. Mit<br />
diesen paar Hundert Paragrafen haben die Könige Israels ein Volk regiert.<br />
Zugegeben, vor 3000 Jahren gab es noch keine Autobahnen, kein<br />
Radio und Fernsehen, keine Internetkriminalität und auch keine Gewerkschaften.<br />
Aber es gab eine Armee, es gab Kriminelle, es gab Tierschutz,<br />
es gab Verträge und ja, auch Hygienevorschriften. <strong>Das</strong> Leben<br />
eines Volks mit 613 Gesetzen zu regeln, scheint im heutigen Vergleich<br />
geradezu paradiesisch.<br />
Wie kommt es aber, dass selbst Christen die Bibel mit ihren rund<br />
1500 Seiten für einen unübersichtlichen Paragrafendschungel halten;<br />
ein Buch, das uns angeblich mehr in die Enge führe als in die Freiheit?<br />
Mit Gott selbst und den eigentlichen Inhalten der Bibel kann das nichts<br />
zu tun haben, wohl aber mit unserer Interpretation dessen, was wir<br />
<strong>Evangelium</strong> nennen. <strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong> der Gnade <strong>Gottes</strong> steht seit der<br />
Entstehung der ersten christlichen Gemeinden stets in Gefahr, in ein<br />
„anderes <strong>Evangelium</strong>“ verwandelt zu werden, das es gar nicht gibt.<br />
„Was es hingegen gibt“, schreibt Paulus den Christen in Galatien, „sind<br />
einige, die euch verwirren und die das <strong>Evangelium</strong> Christi verdrehen<br />
wollen“ (Gal 1,7). Daran hat sich auch rund 2000 Jahre später nichts<br />
geändert. Die Verfälschung des <strong>Evangelium</strong>s kennt oft subtile Formen,<br />
die nicht auf Anhieb erkannt werden. Gut gemeinte moralische<br />
und gar politische Appelle zur Selbst- und Weltverbesserung ohne<br />
die geistliche Geburt durch die Gnade <strong>Gottes</strong> sind das Gegenteil von<br />
<strong>Evangelium</strong>. Sie bedeuten „kakangelion“ (schlechte Nachricht) für uns<br />
Menschen, weil wir nie in der Lage sein werden, uns selbst zu erlösen.<br />
Im Vergleich mit den Gesetzen unseres Landes wäre es relativ einfach,<br />
den Überblick über den Inhalt der Bibel zu behalten. Deren Inhalt<br />
lässt sich in einem kurzen Satz zusammenfassen: Gott rettet Sünder. Ja,<br />
tatsächlich, so einfach lässt sich das <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> beschreiben.
44<br />
F. <strong>Aeschlimann</strong>: <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> …<br />
Und es ist auch dieser Satz, mit dem wir Christen in Verbindung gebracht<br />
werden sollten, nicht mit Moralismus. Aus dieser Perspektive sollten wir<br />
auch die Bibel lesen und anwenden. Die Heilige Schrift verändert uns,<br />
wenn wir durch sie unserem Retter Jesus Christus begegnen, und nicht,<br />
wenn wir sie als Handbuch für ein tugendhaftes Leben lesen.<br />
Moderne Gesetzlichkeit<br />
Christen wollen heute keinesfalls als eng oder gesetzlich definiert werden.<br />
Wir betonen stattdessen Freiheit, Gnade, Barmherzigkeit und Individualität.<br />
Die evangelikal-pietistische Szene hat sich dramatisch verändert.<br />
Heute gibt es nur noch in einigen obskuren Gemeinschaften<br />
Verbote gegen das Rauchen, den Kinobesuch, das Alkoholtrinken und<br />
Vorschriften für Rock- und Haarlängen oder einen gewissen Musikstil.<br />
Diese Dinge sind unter Christen schlicht kein Thema mehr. Niemand<br />
sieht in der Einhaltung bzw. Ablehnung dieser Dinge einen Grund, gerettet<br />
zu werden oder die Rettung zu verlieren – und wahrscheinlich<br />
hat das auch kaum je einer so behauptet. Die modernen Evangelikalen<br />
leiden nicht unter einer rigorosen Gesetzlichkeit alter Schule. Wer heute<br />
noch mit diesen Konzepten arbeitet, tönt für die meisten Christen<br />
wie jemand von einem anderen Stern. Die Botschaft der Freiheit und<br />
des Individualismus ist angekommen. Darum sind heute die Christen<br />
so sehr von der Gewissheit überzeugt, niemandem verantwortlich zu<br />
sein, dass das Reden über Gesetzlichkeit für sie eine fremde Sprache<br />
bedeutet. Die traditionelle Verurteilung der so genannten Gesetzlichkeit<br />
macht schlicht keinen Sinn.<br />
Aber haben wir die Gesetzlichkeit mit ihren selbsterlösenden Tendenzen<br />
tatsächlich überwunden? Haben wir <strong>Gottes</strong> Gnade jetzt richtig<br />
verstanden? Hat die alte Gesetzlichkeit nicht einfach nur etwas modernere<br />
Kleider angezogen? Im liberalen Christentum stolziert sie daher,<br />
das in Jesus lediglich einen Sozialreformer sieht und das die Christen<br />
auffordert, dem guten Beispiel des ehrenhaften Nazareners und dessen<br />
ethischen Prinzipien zu folgen. Und im frommen Gewand kommt<br />
sie mit einem neuen Moralismus, der sich Sonntag für Sonntag in einer<br />
Liste von gut gemeinten Imperativen ergiesst. Ja, sogar die mittelalterlichen<br />
Begriffe der römischen Werkgerechtigkeit tauchen in der modernen<br />
Gesetzlichkeit wieder auf. Da ist die Rede vom „Ablasshandel“<br />
für CO2-Zertifikate, der den „Klimasündern“ ein gutes Gewissen verschafft.<br />
Die liberale wie die moralisierende Form des Christentums haben<br />
jedoch eines gemeinsam: die Erlösung durch Christus allein wird ge-
… oder menschliche „Erlösungs“-Versuche<br />
45<br />
schmälert oder völlig verneint und Gnade wird zu einer leeren Floskel.<br />
Auf dem Spiel steht eine evangeliumszentrierte Verkündigung – die<br />
Gefahr also, Christus durch die eine oder andere Form der Selbsterlösung<br />
zu ersetzen.<br />
Im Gegensatz zum Trend unserer Zeit definieren die ältesten christlichen<br />
Bekenntnisse den Glauben wesentlich als Beziehung zum dreieinigen<br />
Gott. Christen sollen sein Wesen und sein souveränes und heilvolles<br />
Wirken kennenlernen. Heute dagegen liegt der Fokus auf dem<br />
Menschen. Gott lassen wir da lieber aus dem Spiel.<br />
<strong>Das</strong> peinliche Gerede vom Übernatürlichen: Wie Gnade scheinbar<br />
überflüssig wird<br />
Es gibt in der langen Geschichte der christlichen Kirche Epochen, in denen<br />
das <strong>Evangelium</strong> <strong>Gottes</strong> stark unter Beschuss geriet. Die Zeit nach<br />
der sog. konstantinischen Wende beispielsweise, als die verfolgte Kirche<br />
zur privilegierten Kirche wurde und man anfing, Kirche mit Staat<br />
zu vermischen. Oder das späte Mittelalter mit seiner korrupten Kirche,<br />
die geistliche Ämter für Geld verkaufte und Erlösung zu einem lukrativen<br />
Geschäftsmodell machte. Aber auch die Zeit des sog. Liberalismus,<br />
der mit seiner Ablehnung des Übernatürlichen aus dem überlieferten<br />
christlichen Glauben praktisch eine neue Religion schuf. Eine Religion,<br />
die sich nicht auf das konzentriert, was Christus getan hat, sondern<br />
auf das, was Christen tun sollen. Paulus würde auch sie vorwurfsvoll<br />
gefragt haben: „Seid ihr so unverständig, dass ihr, was ihr im Geist begonnen<br />
habt, nun im Fleisch vollenden wollt?“ (Gal 3,3). Der Liberalismus<br />
verneinte das Übernatürliche, legte den Fokus auf das Materielle<br />
und die menschliche Genialität und versuchte, das Paradies ohne Gott<br />
zu errichten. Diese Ideologie hat das Christentum nachhaltig geprägt.<br />
Geistliches hat da kaum Platz. Dieses wirkt höchstens peinlich.<br />
Persönlich kann ich gut verstehen, dass man im Gespräch mit<br />
Nichtchristen alles Übernatürliche, aber auch den strafenden Gott,<br />
das Kreuz oder den stellvertretenden Tod ausklammern will. <strong>Das</strong> tönt<br />
tatsächlich unwissenschaftlich, erscheint empirisch geradezu lächerlich.<br />
Jesus habe die Zukunft gekannt, Wasser in Wein verwandelt, sich<br />
mit Dämonen angelegt, Tote auferweckt oder gar Sünden vergeben?<br />
Liberalen Theologen schien dies als Botschaft für eine aufgeklärte<br />
und gebildete Gesellschaft nicht zumutbar. Nun kann man liberalen<br />
Christen kaum den Vorwurf machen, sie hätten vorsätzlich versucht,<br />
den Glauben zu zerstören. Ganz im Gegenteil. Ihr Anliegen war, den<br />
Glauben aus der Lächerlichkeit zu befreien. Sie versuchten dies, indem