06.05.2020 Aufrufe

BLICKWECHSEL 2020

Mittendrin und anders. Deutschsprachige Minderheiten im östlichen Europa

Mittendrin und anders. Deutschsprachige Minderheiten im östlichen Europa

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Ausgabe 8 • <strong>2020</strong><br />

~ 33 ~<br />

MENSCHEN<br />

33<br />

firma erzeugt maschinell in einem Tag so viel Nägel,<br />

als vorher 40 Nagelschmiede in einer Woche fertigbrachten.<br />

Neben den Maschinenkonkurrenten hatten<br />

die Heinrichsdorfer auch die Konkurrenz einer<br />

tschechischen Nagelschmiedezunft in der Příbamer<br />

Gegend zu bestehen. Aber statt, daß man die Staatsbahnlieferungen<br />

auf beide Gruppen gleich armer Teufel<br />

verteilt hätte, wie es recht und billig wäre, sind die<br />

Lieferungen ganz ins tschechische Gebiet dirigiert worden.<br />

Indem man solcherart einem alten Erwerbszweig<br />

den Kragen umdreht, statt mitzuhelfen, ihn auf neuzeitliche<br />

Grundlage umzustellen, wird man die Grenzbevölkerung<br />

den neuen Staat sicherlich lieben lehren.<br />

Die letzten Nagelschmieden, die wir noch in Betrieb<br />

fanden, werden sonach bald willkommene Studienobjekte<br />

für unsere rührigen Heimatforscher sein, die sich<br />

ja für alles interessieren, was einmal gewesen ist. In<br />

der Werkstatt des langjährigen Lokalvertrauensmannes,<br />

des Genossen Körner, erfuhren wir einiges zu der<br />

bekannten Streitfrage, wer denn eigentlich das Kleingewerbe<br />

zugrunde richtet. Im Jahre 1897 arbeitete er<br />

bereits als Meister mit sechs Gehilfen. Nach dem Kriege<br />

mußte er wieder allein anfangen, aber wegen der hohen<br />

Steuern war er bald gezwungen, den Gewerbeschein<br />

zurückzulegen. Heute, nach einem schweren, arbeitsreichen<br />

Leben, ist er Gehilfe, schmiedet auf fremde Rechnung<br />

Putzhaken und bekommt für ein Kilo 60 Heller<br />

Lohn … Sind daran auch die Sozialdemokraten schuld?<br />

Durch den Zwang eines übermächtigen Schicksals,<br />

durch das harte Gebot der wirtschaftlichen Tatsachen<br />

werden viele treue Erzgebirgler gezwungen, ihrer grünen<br />

Heimat Ade zu sagen. Heinrichsdorf ist der Mittelpunkt<br />

dieses Entvölkerungsgebietes. Vor dem Kriege<br />

zählte die Gemeinde noch 1 400 Einwohner, derzeit<br />

um 1 000 herum. Die Männer und Burschen sind auf<br />

der enttäuschungsvollen Arbeitssuche fortgezogen in<br />

die verrußten Industriegebiete, die am Fuße des Erzgebirges<br />

oder weit im industriellen Deutschland draußen<br />

liegen. Die Frauen und Mädchen sitzen im Winter<br />

daheim an den Tischen, machen Häkelknöpfe und<br />

verdienen, wenn’s gut geht, 50 Heller in der Stunde.<br />

Sommers mühen sie sich im Walde mit Futterholen<br />

oder Reisigsuchen ab oder leisten für einige Kronen<br />

schwere Waldarbeit für den Großgrundbesitz. »Eine<br />

gute Luft haben wir im Erzgebirge« – dieses<br />

immer wiederkehrende Heimatlob ist ein schwacher<br />

Trost für die Fortziehenden wie für die Daheimbleibenden.<br />

»Wenn man Luft verkaufen könnte!«, meinte<br />

einer humoristisch. Ja, dann allerdings wären die Erzgebirgler<br />

mindestens so reich wie die Saazer Hopfenagrarier.<br />

So aber kann man Luft nicht exportieren und<br />

auch in der Heimat davon nicht leben. Und so trifft<br />

man auf den gesündesten Kammhöhen viele Kinder mit<br />

schmalen Gesichtern und manche Leute, die ihrem Aussehen<br />

nach eine bessere Kost wohl vertragen würden.<br />

Wenzel Jaksch<br />

Die hier gekürzte Reportage erschien zuerst am 7. Januar<br />

1928 im Sozialdemokrat Nr. 6. Für die Abdruckgenehmigung<br />

danken wir dem Sabat-Verlag in Kulmbach. Die<br />

Originalillustrationen stammen von Lili Réthi.<br />

Einer der letzten Nagelschmiede von Heinrichsdorf<br />

*

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!