07.05.2020 Aufrufe

Schlaflos - Das neue Normal: Eine Loseblattsammlung zum aktuellen Geschehen

Ein Stimmungsbild unserer Zeit. Wir führen die Loseblattsammlung 2021 weiter. Heute mit: Die theoretische Jugendweihe Info zur Sammlung: Viele Menschen sind schlaflos, die Gedanken rotieren. Nicht immer nur um sich selbst, sondern um ihre Freunde, Familien, um überhaupt alles. Die Loseblattsammlung enthält Gedanken, die diese Menschen mit uns teilen möchten. Die Texte sind bewusst unkommentiert, ungeschönt. Böse, kontrovers, traurig, lustig (ja, auch lustig) nachdenklich, vor allem jedoch authentisch. Normal ist nicht. Punkt.

Ein Stimmungsbild unserer Zeit. Wir führen die Loseblattsammlung 2021 weiter.
Heute mit: Die theoretische Jugendweihe

Info zur Sammlung:
Viele Menschen sind schlaflos, die Gedanken rotieren. Nicht immer nur um sich selbst, sondern um ihre Freunde, Familien, um überhaupt alles.
Die Loseblattsammlung enthält Gedanken, die diese Menschen mit uns teilen möchten. Die Texte sind bewusst unkommentiert, ungeschönt. Böse, kontrovers, traurig, lustig (ja, auch lustig) nachdenklich, vor allem jedoch authentisch.

Normal ist nicht. Punkt.

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mich ins Atelier und malte mir den<br />

Schock von der Seele. Im Gegensatz<br />

zu jungen Familien, deren Kinder<br />

sechs Wochen lang gar nicht mehr auf<br />

die Straße durften, die teilweise in engen<br />

Wohnungen ohne Balkon zusammengepfercht<br />

waren, ging es uns auf<br />

der Insel gut. Wir haben den Garten, da<br />

fiel es nicht ganz so sehr ins Gewicht,<br />

dass man das Grundstück nur verlassen<br />

durfte, wenn man etwas einkaufen<br />

oder <strong>zum</strong> Arzt musste, und auch das<br />

war streng reglementiert. Wie in anderen<br />

Ländern hatten nur noch bestimmte<br />

Geschäfte auf, unter anderem musste<br />

der kleine Laden für Künstlermaterial<br />

schließen, und nach kurzer Zeit gingen<br />

mir die Leinwände aus. Die Häfen<br />

waren geschlossen, es gelang mir<br />

nicht, via Internet Nachschub zu bestellen.<br />

Während andere – <strong>zum</strong> Beispiel<br />

mein Mann – durch die Konzentration<br />

auf das eigene Heim zu kreativen<br />

Höhenflügen ansetzten oder ihre<br />

Häuser renovierten, versank ich in Depression,<br />

aus der ich mich nur herausziehen<br />

konnte, indem ich meinen<br />

Mann in seiner schriftstellerischen Arbeit<br />

unterstützte. Ich zeichnete noch,<br />

aber mir fehlte das großformatige Arbeiten.<br />

Papier war genug da, ich bekam<br />

nichts drauf. Ich war total blockiert.<br />

Nicht weg zu dürfen wie mir<br />

der Sinn danach stand, mich nicht einfach<br />

ins Auto setzen und irgendwohin<br />

fahren zu können, das machte mich<br />

schier verrückt. Ich wollte nach<br />

Deutschland fliegen, aber die Fluggesellschaft<br />

cancelte einen Flug nach<br />

dem anderen. Umbuchen, stornieren,<br />

neu buchen wurde <strong>zum</strong> <strong>neue</strong>n Sport.<br />

Nachts wachte ich manchmal auf und<br />

hatte ein tränennasses Gesicht. Ich<br />

lernte völlig <strong>neue</strong> Seiten an mir kennen...<br />

Andererseits: Die Natur um uns herum<br />

blühte auf. Im Hafen von Tazacorte<br />

<strong>Loseblattsammlung</strong> © ELVEA<br />

14<br />

schwamm gemütlich ein Wal und<br />

schien sich die gestrandeten Boote<br />

und Yachten anzusehen. In der Stille<br />

nahmen wir den Gesang der Vögel<br />

und das Summen der Insekten intensiver<br />

wahr als sonst. Und mit den verstreichenden<br />

Wochen erschien auch<br />

mir die Insel mit ihren überschaubaren<br />

Coronainfektionen als Hort der<br />

Zuflucht.<br />

Am 11. Mai rief die spanische Regierung<br />

die erste Stufe der Deeskalation<br />

aus, am 22. Mai machten wir eine<br />

erste größere Autofahrt in den Norden<br />

der Insel. Unterwegs blühte überall<br />

der Klatschmohn, er wurde für mich<br />

<strong>zum</strong> Symbol der Hoffnung. Mein<br />

Künstlerladen durfte wieder öffnen,<br />

ich kaufte Leinwände, ich malte eine<br />

junge Frau mit einem Strauß Klatschmohn<br />

in der Hand vor einem Hintergrund<br />

von Schlafmohnkapseln. Weitere<br />

Lockerungen kamen, und am 1.<br />

Juli schließlich konnten wir nach<br />

Deutschland zurückfliegen. Als ich<br />

meine Tochter <strong>zum</strong> ersten mal wieder<br />

besuchte, rannte mir meine Enkelin<br />

freudestrahlend entgegen, riss die<br />

Ärmchen hoch, blieb dann plötzlich<br />

stehen, ließ sie wieder sinken und<br />

sagte eifrig: „Omi, Omi, wir müssen<br />

Abstand halten!“ Erst als meine Tochter<br />

ihr beruhigend über den Kopf<br />

strich, bemerkte ich die Tränen in<br />

meinem Gesicht und hörte mich sagen:<br />

„Nicht erschrecken, Schatz, die<br />

Omi weint nur, weil sie sich so sehr<br />

freut, euch wiederzusehen.“<br />

November 2020<br />

Ich gehöre zu den Privilegierten, das<br />

ist mir bewusst. Ich beziehe Pension<br />

aus einem so genannten bürgerlichen<br />

Beruf. Ich beantrage keine Künstlerhilfe,<br />

die ist für alle KollegInnen da,<br />

die von ihrer Kunst allein leben müssen.<br />

In den Wochen in Deutschland

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