Nachhaltigkeit und Innovation - so kann's gehen
Gerade in der Krise braucht es Innovationen. Dann wären das aktuell perfekte Zeiten für Erfinder. Die Realität ist nicht ganz so einfach. Vor allem nachhaltige Ideen brauchen als Antrieb eher Vertrauen als Angst. UmweltDialog geht in seinem neuen Magazin (ET 18. Mai 2020) auf 80 Seiten der Frage nach, warum wir Politik, Gesellschaft und Markt neu erfinden müssen.
Gerade in der Krise braucht es Innovationen. Dann wären das aktuell perfekte Zeiten für Erfinder. Die Realität ist nicht ganz so einfach. Vor allem nachhaltige Ideen brauchen als Antrieb eher Vertrauen als Angst. UmweltDialog geht in seinem neuen Magazin (ET 18. Mai 2020) auf 80 Seiten der Frage nach, warum wir Politik, Gesellschaft und Markt neu erfinden müssen.
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Ausgabe 13
Mai 2020
9,00 EUR
Innovationen
Warum wir Gesellschaft, Politik und Markt
neu erfinden müssen
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Innovation
Eigentlich, ...
EDITORIAL
... liebe Leserinnen und Leser, stand das Konzept für diese Ausgabe ganz
früh fest: Eine nachhaltige Entwicklung im Einklang mit den planetaren
Belastungsgrenzen und dem Zwei-Grad-Ziel von Paris erreichen wir nur,
wenn wir a) unseren Konsum einschränken und verzichten lernen oder b)
die Art unseres Konsums und unserer Produktionsweisen verändern. Variante
A geht von heute auf morgen. Diese Forderung findet sich übrigens
meist in saturierten Ländern – sogenannten Wohlstandsgesellschaften.
In anderen Teilen der Welt bedeutet Verzicht die freiwillige Aufgabe
von Zukunftschancen. Das wollen wenige. Darum Variante B: Lasst uns
über Innovationen ein Morgen schaffen, das eben nicht auf Raubbau
basiert! Das Problem daran ist, dass es eine Wette auf die Zukunft ist. Die
Innovationen sind (noch) nicht da. Man kann sie nicht erzwingen, und
darum gibt es auch keine Erfolgsgarantie. Das muss man sich immer klar
machen.
Warum also das Wort „eigentlich“ am Anfang? Weil seit Mitte März
der Corona-Virus die Welt in Atem hält. Wie kann man da ein Magazin
über ein ganz anderes Thema machen? Weil es gerade jetzt wichtig ist:
Irgendwann geht auch diese Krise vorbei. Wollen wir danach zurück
auf den 17. März, den Tag des Shutdowns in Deutschland? Bitte nicht.
Lassen Sie uns lieber die Zukunft neu denken! Zugegeben, da wartet
ein riesen Schuldenberg auf uns. Wie tragen wir den ab und sammeln
die Corona-Scherben wieder ein? Indem wir ein Stück weit unser Land
neu erfinden: Innovationen und nachhaltiges Unternehmertum sind
gefragt. Und in der Post-Corona-Zeit werden wir uns entscheiden müssen,
welche Art von Wiederaufbau wir wollen: Weiterhin den fossilen Raubbau-
Kapitalismus? Eine Postwachstums-Biosphäre? Eine Zukunft, die von KI
beherrscht wird? Oder ein Weg, an den noch keiner gedacht hat. Letzteres
halte ich für wahrscheinlich, denn die Zukunft kommt immer anders, als
man denkt ...
Viel Spaß beim Lesen wünscht im Namen der gesamten Redaktion Ihr
Dr. Elmer Lenzen
Chefredakteur
Das nächste
UmweltDialog-Magazin
erscheint am 16.11.2020.
Innovation
Inhalt
EIN BÜNDNIS MIT DER ZUKUNFT
Wie wird die Post-Corona Welt aussehen? ..................... 6
Wenn wir den Blick über den Tellerrand der aktuellen
Virus-Krise lenken, empfangen wir unklare Bilder der
Zukunft. Wir ahnen: Vieles wird anders.
Aufbruch in die ökologische Moderne .......................... 10
Umweltpolitik ist kein Nischenthema mehr, sondern wird
zur neuen Zentralachse der Politik.
Wirtschaften in einer vollen Welt .................................... 18
Wie kann ein Wirtschaftssystem aussehen, das mit den
Grenzen unseres Erdsystems kompatibel ist? Welche Ansätze
gibt es, und welche werden bereits praktisch umgesetzt?
Neue gesellschaftliche Allianzen ....................................24
Die soziale Organisation von Gesellschaften ist nicht nur
Ursache von Umweltproblemen, sie ist zugleich Bedingung
für deren Lösung. Die ökologische Frage wird damit zur
sozialen Frage – genauso wie andersherum.
10
Ohne eine grüne industrielle
Revolution werden wir den Wettlauf
mit dem Klimawandel nicht gewinnen.
„Wir sind eine überforderte Gesellschaft“ ....................28
Größer, schneller, weiter. Noch immer glauben wir, unser
Glück durch Konsum und Leistung erzwingen zu können.
Ein Gespräch mit dem renommierten Psychologen
Wolfgang Schmidbauer.
THINK BIG
Vom Gott der Zerstörung und
dem Perpetuum mobile der Milliardengewinne ...........32
Nach Corona wird die Welt eine andere sein. Aber bedeutet
die Krise nur Zerstörung, oder kann darin auch eine schöpferische
Kraft liegen?
Advertorial | Dyson: Innovative Waschräume ...............37
Kooperationen mit Gewinnchancen ...............................38
Wenn Start-ups und etablierte Unternehmen zusammenarbeiten,
prallen Welten aufeinander. Experten aber
entdecken darin auch Möglichkeiten.
Große Pläne! Visionäre, Fantasten und Erfinder ..........44
Welche Erfindertypen gibt es?
Innovation
THINK TWICE
Social Impact Economy:
Konsum für einen guten Zweck .......................................48
Immer mehr Menschen probieren heute Lösungsansätze im
Kleinen aus, die morgen im Großen funktionieren können.
32
Wachstum ist ein Prozess
schöpferischer Zerstörung.
Neuer Konsum, neue Ökonomie? ....................................54
Mehr Konsum gleich mehr Produktion gleich mehr Gewinn?
Mit der Nachhaltigkeitsdiskussion haben sich in den letzten
Jahren auch neue Arten des Konsums entwickelt.
Advertorial | Nespresso:
Die vielen Leben einer Kaffeekapsel ..............................58
Ein Haus für Innovationen ...............................................60
Idee plus Markterfolg gleich Innovation! Wie Unternehmen
diesen Prozess managen können, weiß Angela Hengsberger.
Erfindungen, die eigentlich für
etwas ganz anderes gedacht waren ..............................62
Die wichtigsten Erfindungen und Innovationen gehen entweder
auf einen großen Geist oder auf einen Zufall zurück.
Was haben Coca-Cola, Frisbee und Viagra gemeinsam?
THINK INCREMENTALLY
48
Nachhaltiger Konsum heißt nicht
weniger Konsum, sondern
effizienter und bewusster Konsum.
Fünf Fragen zur Künstlichen Intelligenz ........................66
Welche Umsatzpotenziale und Produktivitätseffekte haben
KI-getriebene Geschäftsmodelle für Industriebetriebe? Machen
Maschinen uns Menschen überflüssig?
Weniger ist manchmal doch mehr .................................. 72
Immer neue Produkte auf dem Markt. Wir haben uns alle
daran gewöhnt. Elmar Schüller nicht. Für ihn bedeutet
Nachhaltigkeit die Reduktion auf das Wesentliche.
Advertorial | MAN: The Next Generation ....................... 76
Mit der neuen Truck Generation hat MAN das
bestmögliche Fahrzeug für die Kunden entwickelt, mit
dem sie die Marktumbrüche meistern können.
Driven by Purpose: Eine neue Ära? ................................. 78
Die Menschheit steht an der Schwelle zu einer zweiten
Renaissance: Visionäre Unternehmen zeigen, welche
Potenziale das Streben nach Höherem entfalten kann.
72
Wir müssen es einfach wieder schaffen,
das Überflüssige wegzulassen.
Innovation
Wie wird die
Post-Corona-Welt
aussehen?
Wenn wir den Blick über den Tellerrand der aktuellen Virus-
Krise lenken, empfangen wir unklare Bilder der Zukunft. Wir
ahnen: Vieles wird anders. In vier Szenarien hat das Team
des Zukunftsinstituts die Möglichkeitsräume ausgeleuchtet.
Foto: Joshua Stevens / NASA
6 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
1 Szenario 1: Totale Isolation
▸ Willkommen in der Super-Safe-Society!
Die Gesellschaft definiert sich wieder
ganz klar als Nation. Denn Sicherheit
kann nur gewährleistet werden, indem
die Grenzen der Sicherheitszone klar
abgesteckt werden. Sie steht an erster
Stelle. Jeder Mensch ist sich selbst der
nächste, und der Staat setzt alle verfügbaren
Mittel ein, um die Bürgerinnen
und Bürger zu beschützen – auch,
indem er tiefliegende Ängste schürt
oder Lebensmittel künstlich verknappt.
Menschen nutzen daher alle möglichen
Freiflächen, um Obst und Gemüse anzubauen.
Der Schwarzmarkt und der
Tauschhandel florieren.
▸ De-Urbanisierung: Das Land gewinnt
an Macht. Wer kann, zieht raus aus der
Stadt, versorgt sich selbst – und verdient
gutes Geld, indem er verarmte Städter
mit Lebensmitteln versorgt. Der Trend
zum Single-Leben, zu immer kleineren
Wohnungen und Co-Living, zur Abhängigkeit
von öffentlichen Verkehrsmitteln
und globalen Warenströmen hat die
Stadtbevölkerung unselbstständig gemacht.
Die urbanen Hipster sind zur
prekären Klasse geworden.
▸ Germophobia, die Sehnsucht
nach Keimfreiheit, hat das
Misstrauen gegenüber Produkten,
deren Herkunft
nicht klar nachverfolgbar
ist, kontinuierlich anwachsen
lassen. Obst
und Gemüse werden
vor dem Verzehr klinisch
desinfiziert, an
sicheren Verpackungen
wird mit Hochdruck
geforscht. Aus
Angst, dass Keime
über die Produkte
aus dem Ausland
eingeschleppt werden,
wurde der Import
beschränkt. Es
gibt weniger exotische
Früchte – aber vieles kann
inzwischen auch hierzulande
angebaut werden,
dem Klimawandel sei Dank.
▸ Was mit Empfehlungen begann,
Großveranstaltungen über
1000 Personen abzusagen, hat sich
zu einem Verbot von Versammlungen
mit über 10 Personen entwickelt, zum
Wohle der Menschen. Das öffentliche
kulturelle Leben ist daher fast komplett
zum Erliegen gekommen. Konzerte oder
Sportevents finden noch statt, aber das
Publikum sitzt zu Hause und beobachtet
das Geschehen von der heimischen
Couch – kostenlos, vom Staat gefördert.
Einst beliebte Third Places wie Cafés
werden gemieden, Restaurants sind zu
Ghost Kitchens geworden, die Kundinnen
und Kunden mit Mahlzeiten nach
höchsten hygienischen Standards beliefern.
Szenario 2: System-Crash
▸ Friktionen in der multipolaren Weltordnung
sind an der Tagesordnung:
Gegenseitige Schuldzuweisungen, aggressive
Drohgebärden und nervöses
Handeln im Eigeninteresse wechseln
mit Bestrebungen zu Offenheit und
Kooperation – weil dennoch das Bewusstsein
vorhanden ist, dass man
aufeinander angewiesen ist. Der Neo-
Nationalismus nimmt zu, es herrscht
ein dauernder Spannungszustand.
▸ Nearshoring wird mit Blick auf die nationalen
Absatzmärkte zu einer auch politisch-ideologischen
Prämisse. Zugleich
bleibt aber die Abhängigkeit von internationalen
Handelsbeziehungen und
Warenströmen bestehen. Beide Tendenzen
stehen dauerhaft unvermittelt nebeneinander
und reiben sich. Auch Glokalisierung
ist nur noch Ausdruck der
Unstimmigkeiten zwischen lokalen und
internationalen Märkten, die ohne einander
nicht können. Und Global Citys sind
mehr
denn je
die nervösesten
Orte der Welt: Hier werden die Spannungen
zwischen den regionalen, nationalen
und internationalen Finanz-,
Dienstleistungs- und Warenströmen unablässig
spürbar.
▸ High times for Big Data! Je unsicherer
die Zeiten, umso mehr Analyse wird
verlangt. Das Sammeln und Verarbeiten
großer Datenmengen erlebt einen
kontinuierlichen Aufschwung. Die Entwicklung
von Künstlicher Intelligenz
wird forciert, nicht zuletzt für die Simulation
von Krisenszenarien und die
Steuerung von Krisen. Folglich nimmt
auch Cybercrime im staatlichen Auftrag
zu – mit dem Ziel, die internationalen
Konkurrenten zu schwächen. Nach innen
nutzt der Staat Technologie zur
Überwachung: Predictive Analytics,
die datenbasierte Vorausberechnung
menschlichen Verhaltens, wird in einer
permanent verunsicherten Gesellschaft
immer wichtiger.
▸ Privacy ist dementsprechend stark im
Rückzug. Die individuelle Datenfreiheit
wird immer stärker eingeschränkt, Datenschutz
ist größtenteils abgeschafft,
sowohl im internationalen Austausch
als auch im Umgang mit der eigenen
Bevölkerung. Gesundheitsdaten werden
zur Staatsangelegenheit – und die Bevölkerung
macht mit, da das Vertrauen
in die staatliche Vorsorge und Betreuung
schon lange geschwunden ist. >>
Foto: peterschreiber.media / stock.adobe.com
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
7
Innovation
Immer mehr bauen Menschen auf gesundheitliche
Eigenverantwortung, auf
Digital Health, kontinuierliches Self
Tracking und die Überwachung ihrer
Vitalwerte durch Smart Devices, die persönliche
Gesundheitsdaten jederzeit in
die staatlichen Datenbanken einspeisen.
Impact Map für Szenarien
und Megatrends Szenario 1
Totale Isolation
1
Szenario 3: Neo-Tribes
▸ Die Menschen vertrauen staatlichen
Akteuren und supranationalen Bündnissen
nicht mehr – und trauen ihnen auch
keine Handlungsmacht mehr zu. Die
Abkehr von der globalen Weltgemeinschaft
mündet in eine partikularisierte
Wir-Kultur und die vermehrte Bildung
von Neo-Tribes. Gemeinschaft wird im
Kleinen gesucht, denn im Zuge der Corona-Krise
ist der Trend zur Post-Individualisierung
für eine breitere Masse
attraktiv geworden.
Silver Society
Sicherheit
Individualisierung
Gesundheit
▸ Die Angst vor Ansteckung hat einen
Rückzug ins Private und die Wiederentdeckung
der Häuslichkeit befeuert.
Großveranstaltungen gibt es praktisch
nicht mehr, dafür wird viel gestreamt,
denn via Virtual Reality kann man an
Mega-Events teilnehmen, ohne dabei
das sichere Zuhause verlassen
zu müssen. Nachbarschaftshilfe wird
großgeschrieben, es existieren feste
Strukturen, wie man sich im Krisenfall
untereinander helfen kann. Vorräte
werden geteilt oder getauscht, auf die
Alten und Schwachen wird besondere
Rücksicht genommen. Auch ziehen
Menschen vermehrt aufs Land oder in
kleinere Städte – die Progressive Provinz
hat ihren Peak erreicht.
▸ Statt öffentliche Verkehrsmittel zu
nutzen, wird immer mehr auf Fahrrad
oder E-Roller umgestiegen. Fernreisen
haben stark an Attraktivität verloren
– im Gegensatz zu umliegenden Regionen
oder Nachbarländern. Die massive
De-Touristification führt dazu, dass
sich ganze Landschaften und ehemalige
Tourismus-Hotspots vom Overtourism
erholen. Reisen ist nicht mehr selbstverständlich,
sondern wird – wieder – als
2
Szenario 4
System-Crash
Quelle: Zukunftsinstitut, FAS Research
Konnektivität
etwas Besonderes gesehen, auch weil
es in Post-Corona-Zeiten eine Menge
Vorsichtsmaßnahmen und viel Planung
erfordert.
▸ Der Ausfall globaler Handelsketten
und das Misstrauen gegenüber bestimmten
Herkunftsländern führen zu
einer fundamentalen Re-Regionalisierung.
Menschen kaufen mehr denn je lokal,
die Sharing Economy gewinnt in regionalen
Netzwerken stark an Auftrieb,
Globalisierung
Gender Shift
Szenario 4
Adaption
4
Urbanisierung
traditionelle Handwerkstechniken erleben
eine Renaissance. Urban Farming
und Genossenschaften lösen kapitalistische
Konsummuster ab, in regionalen
Gemeinschaften erwächst eine Circular
Economy mit autonomen Ökosystemen.
Konzepte wie Cradle to Cradle oder Postwachstum
sind selbstverständlich in
den Alltag der Menschen eingebettet –
als ebenso gewünschte wie notwendige
Praktiken. Die Wirtschaft funktioniert
im Regionalen vollkommen autark.
8 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
3
Mobilität
Robuste Megatrends
Treibende Megatrends
Ambivalente Megatrends
Szenario 3
Neo-Tribes
New Work
Neo-Ökologie
Wissenskultur
▸ Die Corona-Krise hat sich als überraschender
Treiber von New-Work-Trends
hin zu mehr Flexicurity erwiesen: Dadurch,
dass Flexibilität am Arbeitsplatz
aus der Not heraus breitflächig ermöglicht
wurde, haben sich Arbeitskulturen
dauerhaft verändert. Home Office
ist nun essenzieller Bestandteil jeder
Unternehmenskultur, internationale
Unternehmen vereinbaren Meetings in
VR-Konferenzen, Verträge werden via
Blockchain geschlossen.
Szenario 4: Adaption
▸ Das Corona-Virus hat eine Selbstreinigung
der Märkte angestoßen: eine
kollektive Reflexion der Herkunft unserer
Güter, die zu neuen Konsummustern
angeregt hat. Der Ausfall globaler
Produktions- und Handlungsketten hat
zu einer Wiederentdeckung heimischer
Alternativen geführt. Der stationäre
Handel, regionale Produkte und Lieferketten
haben einen Aufschwung erlebt.
Seitdem boomen Wochenmärkte, regionale
Erzeuger und lokale Online-Shops.
Die Monopolstellung von Online-Händlern
wie Amazon und Alibaba hat sich
zugunsten mehrerer kleinerer Player
aufgelöst, die weniger abhängig von globalen
Produktionsketten und schneller
lokal verfügbar sind. Die Gesellschaft
bewegt sich weg von Massenkonsum
und Wegwerf-Mentalität, hin zu einem
gesünderen Wirtschaftssystem.
▸ Corona hat die Vision eines neuen holistischen
Gesundheitsverständnisses
wahr werden lassen: Gesundheit wird
nicht länger als etwas gesehen, das nur
den individuellen Körper und das eigene
Verhalten betrifft. Vielmehr wird
Gesundheit ganzheitlicher betrachtet:
Umwelt, Stadt, Politik, Weltgemeinschaft
– all das sind wichtige Faktoren
für die menschliche Gesundheit. Weltgesundheit
und individuelle Gesundheit
werden zusammengedacht. Dieses
neue Mindset krempelt das gesamte
Gesundheitssystem um: Regierungen,
Stadtplanung und Unternehmen kooperieren,
um gesunde Umwelten für alle
zu schaffen. Die Nutzung von Digital-
Health-Apps ist in diesem Zusammenhang
selbstverständlich geworden, um
Gesundheitsdaten in Echtzeit anonymisiert
zu teilen. Dank Predictive Health
können so genaue Vorhersagen, etwa
über die Wahrscheinlichkeiten einer
Epidemie, getroffen werden.
▸ Globale Risiken erfordern überstaatliche
Akteure, die global vernetzt agieren
können. So hat die Corona-Krise politische
Handlungsmacht neu gewichtet.
Während Nationalstaaten an Relevanz
verloren haben, werden Städte und supranationale
Instanzen immer wichtiger
– eine Re-Organisation im Sinne der Glokalisierung:
Die lokale Ebene (Städte,
Gemeinden, Bürgermeisterinnen etc.)
verknüpft sich direkt mit globalen Organisationen.
So können lokale Probleme
schnell und kreativ gelöst und auch globale
Risiken schneller erkannt und kooperativ
angegangen werden. Insgesamt
nimmt die Menschheit sich seit der Pandemie
stärker als globale Gemeinschaft
wahr, die Herausforderungen gemeinsam
lösen muss. Denn weder eine Epidemie
noch die Klimakrise macht vor
Nationalgrenzen halt. Es ist eine globale
Identität entstanden.
▸ Die Corona-Krise hat zu konkreten
Learnings im supranationalen Umgang
mit Big Data, Predictive Analytics und
Frühwarnsystemen geführt. Künstliche
Intelligenz wird nun konstruktiver
eingesetzt: nicht nur, um frühzeitig
Epidemien einzudämmen, sondern
zur Minimierung aller möglichen Risiken,
die sich nicht um Landesgrenzen
scheren. Jeder Mensch ist mit Health-
Tracking-Devices ausgestattet, denn
durch den globalen Austausch aktueller
Gesundheitsdaten können Risiken frühzeitig
erkannt werden. Das kontinuierliche
Voneinander-Lernen in einer Vielzahl
funktionierender Netzwerke schafft
eine globale Resilienz. Dieser neue Spirit
prägt auch die Medienlandschaft:
Konstruktiver Journalismus stellt Lösungsansätze
in den Mittelpunkt,
statt Alarmismus und Fake News zu
verbreiten. f
Copyright und weitere Infos:
Zukunftsinstitut GmbH
Kaiserstr. 53
60329 Frankfurt am Main
zukunftsinstitut.de
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
9
Innovation
Aufbruch
in die
Vom Raubbau an der
Natur zur Kooperation
mit der Natur
ökologische
Moderne
10 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Von Ralf Fücks
Die Auseinandersetzung um den Klimawandel ist
in eine neue Phase getreten: Die Alarmzeichen
einer immer rascheren Veränderung der Ökosphäre
nehmen zu, und gleichzeitig wird diese zu
einem bestimmenden politischen Faktor.
Hunderttausende junger Leute sind Vorreiter einer
„Klima-APO“, und sie ziehen die Älteren mit sich.
Klimaschutz war bei der Europawahl 2019 ein
zentrales Motiv und birgt auch mit Blick auf
Deutschland das Potenzial, die politische
Landschaft umzupflügen. Umweltpolitik ist kein
Nischenthema mehr, sondern wird zur neuen
Zentralachse der Politik.
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Foto: Lorant / stock.adobe.com
Aktuell halten fast 60 Prozent der
Bevölkerung den Klimawandel
für das drängendste Problem
unserer Zeit – so die Ergebnisse einer
Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen
aus dem September 2019. Dieser Wert
wurde bislang nur übertroffen von früheren
Sorgen vor Arbeitslosigkeit sowie
der Unruhe um die Flüchtlingspolitik
2015/16. Wahrend der Konflikt um die
Flüchtlingspolitik durch ein Bündel von
integrativen und restriktiven Maßnahmen
eingedämmt werden konnte, ist
eine Entschärfung bei der Klimafrage
nicht in Sicht. Wie die Reaktionen auf
das jüngst beschlossene „Klimapaket“
der Bundesregierung zeigen, nimmt die
Auseinandersetzung noch an Heftigkeit
zu. Wenn die Kluft zwischen klimapolitischer
Ungeduld in der Gesellschaft
und der Trägheit von Politik und Wirtschaft
tiefer wird, kann daraus >>
11
Innovation
eine Legitimationskrise unseres Gesellschaftsmodells
entstehen, das auf der
Kombination von liberaler Demokratie
und Marktwirtschaft beruht. Wer beide
zukunftsfest machen will, muss sich der
ökologischen Herausforderung stellen.
Die industrielle Moderne basiert bislang
auf der scheinbar unbegrenzten
Verfügbarkeit fossiler Energien. Sie
waren der Treibstoff für eine ungeheure
Steigerung von Produktion und
Konsum und eine immer weiter ausgreifende
Mobilität. Gleichzeitig haben
die Industrialisierung der vormaligen
„Dritten Welt“ und der expansive Lebensstil
der wachsenden globalen Mittelschicht
zu einem dramatischen Anstieg
des Energieverbrauchs geführt.
Seine Hauptquellen sind Kohle und Öl.
Rund die Hälfte aller fossilen Energieträger,
die seit Beginn der Industrialisierung
verfeuert wurden, fallen in die
vergangenen 30 Jahre.
Historisch betrachtet sind die Vorreiter
der industriellen Moderne – Europa
und die USA – für den Löwenanteil der
steigenden CO 2
-Konzentration in der Atmosphäre
verantwortlich. Inzwischen
sind die bevölkerungsreichen neuen
Industrienationen Asiens an ihnen vorbeigezogen:
China steht heute für rund
28 Prozent der weltweiten CO 2
- Emissionen,
Indien folgt nach den USA bereits
auf Rang drei. Japan hat seinen
CO 2
-Ausstoß seit 1960 verfünffacht.
Deutschland ist das einzige Land unter
den sechs weltgrößten „Klimasündern“,
dessen CO 2
-Emissionen in diesem Zeitraum
in etwa gleich geblieben sind. Im
Verhältnis zum Basisjahr 1990 sind sie
sogar um rund 30 Prozent gesunken.
Der Anteil der Bundesrepublik an der
globalen Wirtschaftsleistung beträgt
etwa 3,2 Prozent, an den Treibhausgasemissionen
zwei Prozent. Dennoch liegen
die deutschen CO 2
-Emissionen pro
Kopf über dem europäischen Durchschnitt.
Das liegt vor allem am hohen
Anteil der Kohle am Energiemix. Schweden
kommt mit seiner Kombination aus
Wasserkraft und Atomenergie nur auf
die Hälfte des deutschen Werts.
12 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Foto: chokniti / stock.adobe.com
„Tuet Buße
und kehrt
um!“ ist
deshalb
der neue
kategorische
Imperativ.
Einem Zauberlehrling gleich hat die industrielle
Moderne einen Prozess globaler
Erwärmung in Gang gesetzt. Er führt
uns in einer historisch kurzen Frist aus
der relativ stabilen Klimazone der vergangenen
zehntausend Jahre hinaus,
in der sich die menschliche Zivilisation
entwickeln konnte. In den zurückliegenden
200 Jahren stieg die mittlere globale
Temperatur um 1,1 Grad; der Trend
geht steil nach oben. Die Erwärmung der
Arktis und das Schmelzen des Grönland-
Eises verlaufen schneller als vermutet,
ein Hitzesommer jagt den nächsten. Wir
müssen um die künftigen Lebensbedingungen
auf unserem Heimatplaneten
fürchten. Wenn der Treibhauseffekt außer
Kontrolle gerät, wird das die Lebenswelt
von Milliarden Menschen gefährden.
Die dramatischen Folgen eines sich
selbst verstärkenden Klimawandels sind
oft genug beschrieben worden, ebenso
ihre sicherheitspolitische Dimension.
Umweltbedingte Massenmigration und
Konflikte um knappe Wasserreserven
bergen ein erhebliches Gewaltpotenzial.
Neuer „Kulturkampf“
Jetzt, da sich erweist, dass die Verbrennung
von Kohle, Öl und Gas das Erdklima
aus den Fugen hebt, gerät auch der Hedonismus
der Moderne in die Kritik. In
den wohlhabenden Ländern – vorneweg
in Deutschland – wächst eine Bewegung,
die eine radikale Veränderung des individuellen
Lebensstils fordert. Die Freude
am Fahren, der Urlaubsflug, die große
Wohnung, die permanente Online-Kommunikation,
die jährlich wechselnden
Moden, die jahreszeitunabhängige Verfügbarkeit
von Lebensmitteln aus der
ganzen Welt und der hohe Fleischkonsum
gelten als ökologischer Sündenfall.
Für die Anhänger eines neuen Öko-
Puritanismus ruiniert unser Streben
nach „immer mehr“ den Planeten. „Tuet
Buße und kehrt um!“ ist deshalb der
neue kategorische Imperativ.
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat diesen
neuen „Kulturkampf“ bereits vor Jahren
vorausgesehen: „Die expressions- und
emissionsfeindliche Ethik der Zukunft
zielt geradewegs auf die Umkehrung der
bisherigen Zivilisationsrichtung“, sagte
er 2009 in einer Rede auf der Klimakonferenz
in Kopenhagen. „Sie verlangt
Verminderung, wo bisher Vermehrung
auf dem Plan stand, sie fordert Minimierung,
wo bisher Maximierung galt, sie
will Zurückhaltung, wo bisher Explosion
erlaubt war, sie verordnet Sparsamkeit,
wo bisher Verschwendung als höchster
Reiz empfunden wurde, sie mahnt die
Selbstbeschränkung an, wo bisher die
Selbstfreisetzung gefeiert wurde. Denkt
man diese Umschwünge zu Ende, so
gelangt man im Zuge der meteorologischen
Reformation zu einer Art von ökologischem
Calvinismus.“
Die bisherige Wirkung all dieser Bußpredigten
ist allerdings sehr überschaubar.
Zwar geht unter den Jungen und Gebildeten
der Fleischkonsum ebenso zurück
wie der Drang zum eigenen Auto.
Zugleich steigen die Zulassungszahlen
für SUVs ebenso wie die Zahl der Flugreisen
und der Stromverbrauch der digitalen
Kommunikation. Die Zahl derjenigen,
die ihre persönliche CO 2
-Bilanz
drastisch gesenkt haben, fällt kaum ins
Gewicht.
Das liegt nicht nur an der Macht alter Gewohnheiten
und individueller Bequemlichkeit.
Unsere persönliche Klimabilanz
hängt stark von Strukturen ab,
die sich individuell nur sehr bedingt verändern
lassen: von der Art der Energieerzeugung,
den Gebäuden, in denen wir
wohnen, den verfügbaren Alternativen
zum Automobil und von den Berufen, in
denen wir tätig sind. Für Geschäftsleute,
Wissenschaftlerinnen, Angehörige des
internationalen Kulturbetriebs, Politiker
und die Eliten der globalen Zivilgesellschaft
ist das Fliegen keine Frage >>
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
13
Innovation
der individuellen Moral, sondern ihres beruflichen Alltags.
Selbst wo es sinnvoll und zumutbar wäre, den Zug statt des
Flugzeugs zu nehmen, scheitert das allzu oft an fehlenden
Kapazitäten und zeitraubenden Verbindungen der Bahn.
Damit wir uns recht verstehen: Es gibt keine Freiheit ohne persönliche
Verantwortung. Es ist gut und richtig, mit Rad oder
Bahn zu fahren und keine Produkte zu kaufen, für die Menschen
geschunden werden oder Tiere leiden. Jedem steht es
frei, das „gute Leben“ in einem Mehr an Muße und sozialen
Beziehungen statt in einer Steigerung von Einkommen und
Konsum zu suchen. Aber ein nüchterner Blick auf die Größe
der ökologischen Herausforderung zeigt, dass sie mit dem Appell
zur Genügsamkeit nicht zu lösen ist. Eine Reduktion von
Treibhausgasen um 90 Prozent und mehr ist nicht durch die
Beschränkung von Mobilität und Konsum zu erreichen. Ohne
eine grüne industrielle Revolution werden wir den Wettlauf
mit dem Klimawandel nicht gewinnen. Ihr Kern besteht in
einer Entkopplung von Wohlstandsproduktion und Naturverbrauch.
Das ist ambitioniert, aber machbar.
Ohne eine grüne
industrielle Revolution
werden wir den Wettlauf
mit dem Klimawandel
nicht gewinnen.
Klimawandel und Demokratie
Die Kritik an der Langsamkeit der Demokratie mit ihrer Kompromissorientierung
hat eine lange Tradition. Angesichts immer
neuer Alarm-Nachrichten über schmelzende Gletscher,
brennende Wälder und auftauende Permafrostböden wird der
Ruf nach durchgreifenden Maßnahmen lauter. Es ist kein Zufall,
dass prominente Umweltschützer wie der Norweger Jørgen
Randers mit dem chinesischen Modell eines vermeintlich
aufgeklärten Autoritarismus sympathisieren. Randers gehörte
zu dem Team um den Ökonomen Dennis Meadows, das 1971
den berühmten Bericht zu den „Grenzen des Wachstums“ für
den Club of Rome verfasste. Bereits diese Urschrift der modernen
Umweltbewegung war von einem autoritären Grundton
durchzogen.
Wenn man die Rettung aus der ökologischen Krise vor allem
in der Einschränkung von Produktion, Konsum und Fortpflanzung
sucht, ist das konsequent. Autoritäre Regimes scheinen
dann eher in der Lage, die notwendigen Verzichtsleistungen
durchzusetzen, weil sie in geringerem Maße als parlamentarische
Demokratien von der Zustimmung der Bevölkerung
abhängig sind. Demokratie wird in dieser Lesart zu einem
Luxus, den wir uns angesichts der Klimakrise nicht mehr leisten
können.
Gegen die autoritäre Versuchung der Ökologie zu argumentieren,
bedeutet nicht, die ökologische Krise zu verharmlosen.
Wenn die Erderwärmung außer Kontrolle gerät und die Meere
kippen, wird das große Verwerfungen nach sich ziehen, von
wirtschaftlichen Einbrüchen bis zu weltweiten Wanderungsbewegungen.
Insofern gefährdet die Umweltkrise auch die
Demokratie. Wir müssen deshalb alles tun, um die ökologische
Transformation der Industriegesellschaft voranzutreiben.
14 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Foto: Aleh Varanishcha / stock.adobe.com
Wider eine Ökologie des Verzichts
Die Ökologie des Verzichts beruht auf einer
statischen Sicht auf die Beziehungen
zwischen Mensch und Natur. Sie begreift
die Erde als einen fixen Raum, der nur
ein begrenztes Potenzial an Ressourcen
bietet, in dem sich die Menschen einrichten
müssen. Überschreiten sie die
von der Natur gesetzten Grenzen, droht
die Selbstvernichtung der menschlichen
Gattung. Ein Vorläufer dieses Denkens
war der britische Theologe und Ökonom
Thomas Malthus, ein Zeitgenosse
von Goethe. Seine berühmt gewordene
„Bevölkerungstheorie“ postulierte, dass
die Erde nur rund eine Milliarde Menschen
ernähren kann. Ein Überschreiten
dieser Schwelle führe zu katastrophalen
Hungersnöten bis hin zum Zusammenbruch
der menschlichen Zivilisation.
Was Malthus nicht voraussah, war die
enorme Steigerung der landwirtschaftlichen
Produktivität durch chemische
Dünger, Pflanzenschutzmittel, moderne
Maschinen und die Züchtung ertragreicherer
Pflanzen und Nutztiere. Heute
leben mehr als sieben Milliarden Menschen
auf der Erde, ihre Lebenserwartung
hat sich seither verdoppelt und die
verfügbare Kalorienmenge pro Kopf um
mehr als die Hälfte erhöht. Ein Wunder?
Ja, aber ein Wunder auf der Basis von
Wissenschaft und Technik. Was Malthus
außer Acht ließ, war die menschliche
Erfindungskraft. Wir können die Naturgesetze
nicht außer Kraft setzen, aber
die wachsende Naturerkenntnis und der
technische Fortschritt ermöglichen es,
die „natürlichen Grenzen“ immer weiter
hinauszuschieben. Die „Grenzen des
Wachstums“ sind keine fixe Größe. Die
Sonneneinstrahlung auf der Erde bietet
ein fast unerschöpfliches Energiepotenzial
für eine ökologische Industriegesellschaft,
die auf der Kombination
von natürlicher und technischer Photosynthese,
von Bioökonomie und Wasserstoff
beruht.
Auch der Report „Die Grenzen des
Wachstums“ huldigt einer linearen
Logik. Für Dennis Meadows und seine
Kollegen war Wirtschaftswachstum
unvermeidbar mit einem wachsenden
Verbrauch eng begrenzter Ressourcen
verbunden. Nach ihren Hochrechnungen
musste eine fortgesetzte Expansion
der Weltwirtschaft bereits um das Jahr
2000 zur Erschöpfung der natürlichen
Ressourcen führen. Öl, Gas, Kupfer, Bauxit,
Zinn, Eisenerz und andere wichtige
Rohstoffe würden versiegen, die Meere
wären leergefischt, die Kontamination
von Böden und Gewässern mit giftigen
Stoffen würde irreversibel.
Womit sie nicht gerechnet hatten, war
die steigende Effizienz im Umgang mit
knappen Ressourcen, die Entdeckung
immer neuer Rohstoffquellen und eine
immer umfassendere Umweltgesetzgebung,
die zumindest in den fortgeschrittenen
Ländern dem Raubbau
an der Natur Grenzen zog. Im Ergebnis
hat sich die Weltbevölkerung seit 1970
glatt verdoppelt, die Lebenserwartung
ist ebenso gestiegen wie das Bildungsniveau,
die Kindersterblichkeit ist gesunken,
und die Luft- und Gewässerqualität
ist in Europa und Nordamerika
deutlich besser als zu Beginn der 1970er
Jahre, gleichzeitig sind die bekannten
Vorräte der meisten Rohstoffe heute größer.
Inzwischen ist unsere Sorge nicht
mehr, dass der Industriegesellschaft die
Rohstoffe ausgehen. Als zentrales ökologisches
Problem haben sich die Dezimierung
der biologischen Vielfalt sowie
die Überlastung des Erdsystems mit den
Schadstoffen des Industriesystems entpuppt,
vorneweg die Überfrachtung der
Atmosphäre mit Treibhausgasen.
Freiwilliger oder erzwungener Verzicht
auf dieses und jenes wird die ökologische
Krise bestenfalls verlangsamen,
aber nicht stoppen. Das gilt erst recht
mit Blick auf die Milliarden Menschen
auf unserem Planeten, die nichts sehnlicher
wollen als den Anschluss an ein
modernes Leben: gut ausgestattete Wohnungen,
Bildung und professionelle
Gesundheitsversorgung, die Möglichkeit
zu reisen, eine reichhaltige Ernährung.
Für die große Mehrheit der Weltbevölkerung
ist „Nullwachstum“ keine
Alternative. Für sie ist wirtschaftliches
Wachstum nach wie vor der Hebel >>
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
15
Innovation
für höheren Lebensstandard, bessere
Bildung und Gesundheitsversorgung.
Es kommt deshalb alles darauf an, die
Art und Weise unseres Wirtschaftens zu
verändern: vom Raubbau an der Natur
zur Kooperation mit der Natur. Das wäre
der Modus für ein nachhaltiges beziehungsweise
grünes Wachstum, das steigenden
Wohlstand – zumindest für die
große Mehrheit der Weltbevölkerung –
mit der Treuhänderschaft für die natürlichen
Lebensgrundlagen verbindet.
Für eine grüne industrielle Revolution
In einer stagnierenden oder gar
schrumpfenden Ökonomie sinken auch
die Investitionen und damit das Innovationstempo.
Gerade weil die Zeit angesichts
des Klimawandels drängt, brauchen
wir umgekehrt ein höheres Tempo
bei der Umstellung auf erneuerbare
Energien, umweltfreundliche Landwirtschaft
und klimaneutrale Mobilität. Der
ökologische Umbau der Industriegesellschaft
erfordert steigende Investitionen
in alternative Energiesysteme und neue
Produktionsanlagen, in den Ausbau des
öffentlichen Verkehrs und die ökologische
Modernisierung unserer Städte.
Wenn wir es richtig anstellen, entsteht
daraus eine neue ökonomische Dynamik,
eine lange Welle umweltfreundlichen
Wachstums.
Bei Lichte besehen, geht es ohnehin
nicht um die Frage, ob die Weltwirtschaft
weiterhin wächst. Angesichts
einer auf zehn Milliarden steigenden
Weltbevölkerung, der fortschreitenden
Industrialisierung der Länder des Südens
und des anhaltenden Wachstums
der Städte lautet die alles entscheidende
Frage, ob es gelingt, Wertschöpfung
und Umweltbelastung zu entkoppeln.
Bei einer jährlichen Wachstumsrate
von drei Prozent wird sich die globale
Wirtschaftsleistung in den kommenden
20 Jahren in etwa verdoppeln. Im gleichen
Zeitraum müssen die Treibhausgasemissionen
dramatisch sinken, um
den Temperaturanstieg im Zaum zu
halten. Das erfordert nichts weniger
als eine grüne industrielle Revolution
mit einer ähnlich durchschlagenden
Wirkung wie die Erfindung der Dampfmaschine,
die Elektrifizierung oder das
Automobil. Im Kern geht es um eine
dreifache Transformation der alten Industriegesellschaft:
erstens von fossilen
Energiequellen zu erneuerbaren Energien,
zweitens um eine kontinuierliche
Steigerung der Ressourceneffizienz (aus
weniger Rohstoffen und Energie mehr
Wohlstand erzeugen) und drittens um
den Übergang zu einer modernen Kreislaufwirtschaft,
in der jeder Reststoff wieder
in die biologische oder industrielle
Produktion zurückgeführt wird.
Wer Freiheit und Ökologie in Einklang
bringen will, muss vor allem auf Innovation
setzen und den Wettbewerb um die
besten Lösungen fördern. Das ist keine
Absage an staatliche Eingriffe in den
Markt. Auch eine liberale Umweltpolitik
kommt nicht ohne Grenzwerte und Verbote
aus. Aber sie sind nicht der Königsweg
für die Lösung der ökologischen
Frage. Zielführender ist die Einbeziehung
ökologischer Kosten in die Preisbildung.
Marktwirtschaft funktioniert
nur, wenn die Preise die ökologische
Wahrheit spiegeln. Eine ökologische
Steuerreform, die Treibhausgasemissionen
und den Verbrauch knapper natürlicher
Ressourcen verteuert, hat einen
weitaus größeren Effekt als immer neue
Ge- und Verbote. Die Mehrbelastungen,
die durch Umweltsteuern entstehen,
können in Form eines Öko-Bonus an alle
Bürgerinnen und Bürger zurückerstattet
werden. Ein solcher Pro-Kopf-Betrag hätte
sogar einen sozialen Umverteilungseffekt,
weil Geringverdienende in der
Regel einen geringeren CO 2
-Fußabdruck
aufweisen als Wohlhabende.
Der Weg über einen sukzessiv ansteigenden
CO 2
-Preis ist der kostengünstigste
Weg zum Klimaschutz – er setzt
die Maßnahmen zur Senkung von Kohlendioxid-Emissionen
frei, bei denen das
günstigste Kosten-Nutzen-Verhältnis er-
16 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
zielt werden kann. Der zweite große Vorteil
liegt darin, dass er die Eigeninitiative
von Unternehmen und Verbrauchern
in eine nachhaltige Richtung lenkt, ohne
ihnen Vorschriften zu machen. Zugleich
liefert ein steigender CO 2
-Preis Anreize
für klimafreundliche Investitionen und
Kaufentscheidungen aufseiten der Produzenten
und Konsumenten.
Klimaökonomen kommen auf lenkungswirksame
Einstiegspreise von 50 bis 60
Euro pro Tonne, die nach und nach auf
einen dreistelligen Betrag ansteigen. Der
von der Bundesregierung beschlossene
CO 2
-Tarif von 10 Euro pro Tonne bleibt
weit unter dieser Schwelle. In Schweden,
das bereits Anfang der 1990er Jahre
eine nationale CO 2
-Steuer einführte,
liegt der Preis gegenwärtig bei 115 Euro
je Tonne. Er gilt für wirtschaftliche Aktivitäten,
die nicht vom europäischen CO 2
-
Emissionshandel erfasst werden.
Neuer Anlauf
Foto: chokniti / stock.adobe.com
Die Pariser Klimakonferenz von 2015
hat sich nicht als der große Durchbruch
erwiesen, den sich viele erhofft hatten.
Die globalen Treibhausgasemissionen
steigen weiter, die meisten Staaten bleiben
hinter ihren Absichtserklärungen
zurück. Das gilt auch für die Bundesrepublik.
Die Trägheit von Politik, Wirtschaft
und Alltagsgewohnheiten bremst rasche
Fortschritte. CO 2
-intensive Industrien
wehren sich gegen die Entwertung ihres
Kapitals. Viele Entwicklungsländer setzen
nach wie vor auf Kohle zur Deckung
ihres Energiehungers. In Schlüsselländern
wie den USA und Brasilien ist
ein klimapolitisches Rollback im Gang.
Für Trump und Bolsonaro ist das Pariser
Abkommen nur lästiger Ballast. Die
russische Führung setzt auf die Steigerung
der Öl-, Gas- und Kohleexporte als
Geschäftsmodell. Auch in China steigen
die CO 2
-Emissionen weiter an, trotz des
beeindruckenden Ausbaus erneuerbarer
Energien und der Elektromobilität. Dieser
Trend kann nur umgekehrt werden,
wenn die fortgeschrittenen Industrieländer
zeigen, dass es auch anders und
besser geht.
Die ökologische Krise erzwingt einen
fundamentalen Umbau der Industriegesellschaft.
Die rasche Entwicklung
digitaler Technik, von Hochleistungsrechnern
und superschnellen Datennetzen
bis hin zu selbstlernenden Robotern
und 3D-Druck im industriellen
Maßstab, bietet auch neue Potenziale
für ressourcenoptimierte Produktion
und eine vernetzte Kreislaufwirtschaft.
Ohne intelligente Verbundnetze wäre
die Energiewende, die eine Verknüpfung
von Millionen dezentraler Anlagen
erfordert, undenkbar. Auf diesem Weg
voranzugehen, ist die besondere Verantwortung
und Chance der hochindustrialisierten
Länder.
Die deutsche Energiewende hat dazu
beigetragen, die Lernkurve erneuerbarer
Energien zu finanzieren. Heute sind
Solar- und Windkraftanlagen vielerorts
kostengünstiger als neue Kohle- und
Atomkraftwerke. Diese Pionierrolle sollten
wir auch bei Stromspeichern und
intelligenten Netzen, der Umwandlung
von Regenerativstrom in Wasserstoff
und synthetische Kraftstoffe, bei Elektromobilität
und Biotechnologie übernehmen.
Nur wenn wir zeigen, dass Klimaschutz
und wirtschaftlicher Erfolg zwei
Seiten einer Medaille sind, kann Europa
zum Modell für andere werden. Gleichzeitig
sichern wir damit unsere eigene
wirtschaftliche Zukunft.
Angesichts einer drohenden Zuspitzung
ökologischer Krisen stehen wir vor drei
absehbaren Optionen. Die erste liegt in
der Radikalisierung einer Umkehrbewegung,
die die Rettung in der freiwilligen
oder erzwungenen Schrumpfung von
Produktion und Konsum sucht, in Verzicht
und Verbot. Ihr Gegenpol ist ein
trotziges „Weiter so“, die Verlängerung
des fossilen Industrialismus bis zum
Kollaps. Die dritte Möglichkeit liegt in
einer neuen Synthese zwischen Natur
und Technik. Angesichts der Belastungsgrenzen
des Erdsystems bleiben
uns zwei Quellen des Fortschritts: Die
Einstrahlung von Sonnenenergie auf
die Erde und die menschliche Kreativität.
Auf einer Kombination von beidem
muss eine freiheitliche und nachhaltige
Gesellschaft aufbauen. Wir können die
drohende Selbstzerstörung der Moderne
mit den Mitteln der Moderne bewältigen:
mit demokratischer Politik, Wissenschaft,
einer dynamischen Ökonomie
und einer aktiven Zivilgesellschaft. f
Bei diesem Beitrag handelt
es sich um eine überarbeitete
Fassung von Ralf Fücks,
Letzte Chance, in: APuZ
47/2019, S. 21-25
Ralf Fücks ist Mitgründer
des Zentrums Liberale
Moderne. Zuvor war er
lange Jahre Vorstand der
Heinrich-Böll-Stiftung.
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
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Innovation
Wirtschaften
in einer vollen
Welt
Von Nina V. Michaelis
Unser Wirtschaftssystem
stößt an planetarische Grenzen,
wie beispielsweise durch
den immer schneller voranschreitenden
menschgemachten
Klimawandel
deutlich wird. Es stellt sich
die Frage, ob das auch anders
geht: Wie kann ein Wirtschaftssystem
aussehen, das mit den
Grenzen unseres Erdsystems
kompatibel ist? Welche
Ansätze gibt es, und welche
werden bereits praktisch
umgesetzt? Kann das
funktionieren, ohne dass unser
Wohlstand abnimmt?
Unser Wirtschaftssystem
Wirtschaftssysteme lassen sich in zwei idealtypische Formen
unterscheiden: die Marktwirtschaft und die Zentralverwaltungswirtschaft.
In einer Marktwirtschaft befinden sich die
Produktionsmittel (also zum Besispiel Maschinen und Gebäude)
in privatem Besitz, die Preise für Güter bilden sich auf
Märkten durch Angebot und Nachfrage und Wirtschaftsprozesse
werden dezentral durch die einzelnen Wirtschaftsakteure
geplant. In einer Zentralverwaltungswirtschaft befinden
sich die Produktionsmittel in öffentlicher Hand oder sind
Kollektiveigentum, Löhne und Preise werden festgesetzt und
Wirtschaftsprozesse werden zentral geplant. In der Realität
treten ausschließlich Mischformen auf, das heißt, der Staat
greift mehr oder weniger lenkend in die Marktwirtschaft ein.
Die Volkswirtschaftslehre beschäftigt sich mit dem Funktionieren
von Marktwirtschaften. Dabei wird davon ausgegangen,
dass die Bedürfnisse der Menschen unendlich sind und wir
wirtschaften, um diese Bedürfnisse zu befriedigen. Dabei geht
es darum, dies so gut oder so effizient wie möglich zu tun.
Wenn wir das schaffen, dann wächst die Menge an produzierten
Waren und Dienstleistungen (das Bruttoinlandsprodukt)
jedes Jahr um einen bestimmten Prozentsatz, das heißt wir
produzieren jedes Jahr mehr als im Jahr zuvor. Dazu werden
Ressourcen benötigt.
18 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Gibt es Grenzen?
Foto: wx-bradwang / iStockphoto.com
Wenn die Gütermenge jedes Jahr nur um
2,5 Prozent wächst und wir technologischen
Fortschritt zunächst ausschließen,
würden wir damit auch jedes Jahr
2,5 Prozent mehr Ressourcen verbrauchen
und Schadstoffe emittieren. Ressourcenverbrauch
und Schadstoffeinträge
würden sich alle 28 Jahre verdoppeln
(vgl. Rogall 2012). Schaut man sich das
in der realen Welt an, merkt man, dass
unsere Art des Wirtschaftens tatsächlich
schon in einigen Bereichen zu einer
Übernutzung unserer natürlichen Umwelt
geführt hat.
Das Konzept der planetarischen Grenzen
von Rockström und Steffen (2015)
macht das sehr deutlich: Sie haben für
neun Bereiche unserer natürlichen
Umwelt Grenzen definiert, deren Überschreiten
die Wahrscheinlichkeit für abrupte,
großskalige Veränderungen der
Stabilität des gesamten Erdsystems bedeuten
würde, mit entsprechenden Folgen
für die Menschen, das heißt es wird
ungemütlich. In vier Bereichen haben
wir diese Grenzen bereits überschritten:
beim Klimawandel, beim Verlust biologischer
Vielfalt, bei der Veränderung biochemischer
Kreisläufe – vor allem durch
Phosphor- und Stickstoffeinträge durch
die Industrie und die intensive Landwirtschaft
– sowie bei der Veränderung
der Landnutzung durch die Umwandlung
von Wald in Agrarflächen, Straßen
und Städte (vgl. Steffen et al. 2015).
Grenzen spielen in Standardmodellen
der Volkswirtschaftslehre keine Rolle.
Die Mainstream-Volkswirtschaftslehre
vertraut darauf, dass über den Preismechanismus
und den technischen
Fortschritt diese Probleme überwunden
werden können. Der Preismechanismus
soll dafür sorgen, dass knapper werdende
Ressourcen oder Umweltleistungen,
wie beispielsweise die Schadstoffaufnahme,
teurer werden, und daraufhin
die Nachfrage sinkt. Dadurch lohnen
sich dann auch Investitionen in neue
ressourcensparende und umweltfreundliche
Verfahren wirtschaftlich, und technischer
Fortschritt wird damit gefördert.
Das funktioniert leider nicht ganz, denn
vielfach sind die Preise für Ressourcen
und Umweltleistungen zu niedrig, so
dass der Markt bei der ökonomisch effizienten
Bereitstellung versagt. Die gesellschaftlichen
Kosten sind dann höher als
die privatwirtschaftlichen, und nach der
Theorie sollte hier der Staat eingreifen.
Zudem ist bislang nicht erkennbar, dass
durch den technischen Fortschritt der
Ressourcenverbrauch oder die Schadstoffeinträge
– absolut gesehen – zurückgehen.
Beispielsweise steigen die
Treibhausgasemissionen weltweit: 2017
sind die weltweiten CO 2
-Emissionen um
1,4 Prozent und 2018 um 2,1 Prozent
gestiegen, für 2019 wird ein weiterer
Anstieg erwartet. Grund dafür ist ein
anhaltendes Wachstum der Weltwirtschaft
verbunden mit einem steigenden
Verbrauch von Erdgas und Öl (vgl.
Jackson et al. 2019) (Anmerkung der
Redaktion: mögliche Auswirkungen des
Corona-Virus sind hierbei nicht berücksichtigt
...).
Wie kann ein Wirtschaftssystem aussehen,
das mit den planetarischen Grenzen
vereinbar ist? Darüber wird in der
Wissenschaft und auch in Teilen der Gesellschaft
bereits seit einigen Jahrzehnten
diskutiert. Grundsätzlich lassen
sich die Vorschläge in drei verschiedene
Kategorien einteilen:
1. Wachstum mit neuen Attributen,
2. Verringerung der Wachstumsabhängigkeit
(weniger Wachstum) und
3. Wohlbefinden statt Wachstum (vgl.
Pirgmeier 2012).
Aus der gesamtwirtschaftlichen Perspektive
sind die ersten beiden Ansätze interessant
und sollen hier jeweils anhand eines
Beispiels genauer betrachtet werden.
Grünes Wachstum
„Wachsen wie bisher, aber grüner“
ist Leitbild der sogenannten Green
Growth-Strategie. Hierbei soll Wachstum
ressourceneffizienter, sauber und widerstandsfähiger
gemacht werden (vgl.
World Bank 2012). Es sollen hier also
zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen
werden: Wirtschaftswachstum und
Umweltschutz. Erreicht werden soll das
durch eine Steigerung der Ressourceneffizienz,
staatlich induzierte Investitionen,
ein forciertes Innovationstempo,
die Ausnutzung der Dynamik grüner
Zukunftsmärkte und der Vermeidung
wachstumsschädlicher Entwicklungen,
wie beispielsweise Rohstoffengpässe,
steigende Energiepreise, Umweltschäden
und Klimawandel (vgl. Jänicke
2011). Der Ansatz ist bei internationalen
Institutionen und nationalen Regierungen
sehr beliebt, da er suggeriert, dass
wir so weiter machen können wie bisher,
nur halt grüner. Auch die neue EU-Kommission
hat diese Strategie unter dem
Namen „Green New Deal“ ganz nach
oben auf die politische Agenda gesetzt.
Südkorea kann bei der Umsetzung als
Vorreiter gelten, da es 2009 im Zuge
der Weltwirtschaftskrise seine Konjunkturhilfen
explizit auf eine grüne >>
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
19
Innovation
Wachstumsstrategie ausgerichtet hat:
Südkorea hat insgesamt Mittel in Höhe
von 98,8 Mrd. USD eingesetzt; davon
ein gutes Viertel für die Dekarbonisierung
der Wirtschaft – unter anderem
für den Ausbau des Schienennetzes,
sonstige Maßnahmen zur Minderung
des Klimawandels und der Energiesicherheit,
Förderung der erneuerbaren
Energien, Ausbau der Atomenergie,
Entwicklung grüner Städte und Verringerung
der Fahrzeugemissionen. Dadurch
ist es gelungen, die Effizienz der
Energieerzeugung insbesondere in den
Bereichen Stromgewinnung, Industrie
und motorisierter Individualverkehr zu
erhöhen. Allerdings sind die CO 2
-Emissionen
nach der Wirtschaftskrise schnell
wieder gestiegen: 2008 um 2,3 Prozent,
2009 um 2,8 Prozent und 2010 um 9,5
Prozent. Selbst wenn das BIP nur noch
um ein Prozent pro Jahr wachsen sollte,
sind noch radikalere Maßnahmen und
mehr Mittel erforderlich (vgl. Sonnenschein
und Mundaca 2016).
Woran liegt es, dass trotz erheblicher
Anstrengungen die zwei Fliegen nicht
mit einer Klappe erlegt werden konnten?
Zum einen liegt es an den sogenannten
Reboundeffekten, das heißt die Einsparung
durch verbesserte Technologie fällt
nicht so hoch aus wie erwartet, weil sich
im Zuge der Nutzung auch das menschliche
Verhalten verändert. Ein Beispiel
für einen Reboundeffekt wäre, dass man
sich ein Auto kauft, das weniger Treibstoff
verbraucht. Da man ja nun ein umweltfreundliches
Auto hat, fährt man jedoch
mehr damit als mit dem alten und
verbraucht eventuell sogar mehr Benzin
als vorher (vgl. Golde 2016).
Auch ein Vergleich mit der Dampfmaschine
drängt sich auf: Eine Dampfmaschine
fördert Kohle und verbraucht sie
zugleich. Das kann als eine Parabel für
unsere Technikgläubigkeit gesehen werden:
Zwar schieben wir Grenzen durch
neue Technologien hinaus (durch die
Dampfmaschine den Mangel an leicht
verfügbarer Kohle), stoßen dabei aber
häufig an neue Grenzen (durch das Verbrennen
der geförderten fossilen Energieträger
emittieren wir immer mehr
CO 2
) (vgl. Rauchmüller 2013). Auch benötigen
wir für unsere neuen Erfindungen
(zum Beispiel digitale Technologien)
andere Rohstoffe, deren verstärkter Einsatz
auch dazu führt, dass wir – schon
teilweise heute – an Grenzen der Verfügbarkeit
stoßen.
Wirtschaft im Gleichgewicht
Ein Ansatz für eine Wirtschaft im Gleichgewicht
stammt aus den 1970er Jahren
und wurde von Herman Daly, einem volkswirtschaftlichen
Querdenker, entwickelt.
Elementar ist bei dem Ansatz, dass die
Wirtschaft nur als ein Teilsystem der Umwelt
betrachtet wird und nicht als isoliertes
System, wie von der Volkswirtschaftslehre
angenommen. Das uns umgebende
Ökosystem hat Grenzen, zusätzliches
Material kann weder ein- noch austreten,
nur Sonnenenergie strömt permanent
von außen ein und Wärme wird abgegeben.
Es gibt unökonomisches Wachstum,
dessen Schäden höher sind als die Vorteile.
Solange das ökonomische Teilsystem
relativ klein ist, ergeben sich keine Probleme.
Ab einer bestimmten Größe muss
sich die Wirtschaft jedoch an die Größe
des sie umgebenden Systems anpassen,
sonst bricht das Gesamtsystem zusammen,
weil lebenserhaltende Systeme
beginnen zu versagen (vgl. Daly 1993).
Mittlerweile ist unser Wirtschaftssystem
zu groß geworden, und es treten
die von Daly beschrieben Schäden auf.
Für das Wirtschaften in einer solchen
„vollen“ Welt ist es notwendig, dass in
einer Volkswirtschaft der physische Kapitalbestand
(Stock) und der Materialdurchsatz
(Flow) innerhalb ökologischer
Grenzen (Scale) möglichst konstant gehalten
werden, die Bevölkerung durch
Geburtenlizenzen stabilisiert wird und
mehr Verteilungsgerechtigkeit durch Einkommens-
und Vermögensobergrenzen
hergestellt wird (vgl. Pirgmeier 2012).
Über diese drei Bedingung kann man
lange streiten. Unter dem Aspekt der
planetarischen Grenzen lohnt sich ein
Blick auf die konstanten Durchsätze, Bestände
und den Maßstab unserer Wirtschaft.
Es gibt bislang keine Volkswirtschaft,
die das Ziel verfolgt, nicht mehr
20 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Es gibt bislang keine
Volkswirtschaft, die
das Ziel verfolgt, nicht
mehr zu wachsen.
zu wachsen. O'Neill (2015) hat anhand eines umfassenden
Systems an biophysikalischen und sozialen Indikatoren untersucht,
ob trotzdem einige Volkswirtschaften unfreiwillig in die
Nähe eines solchen Systems kommen und ob man in einem
solchen System noch gut leben kann. Er hat herausgefunden,
dass die meisten Länder Wachstumsökonomien sind, es aber
20 von 181 Ländern gibt, die zumindest bei den biophysikalischen
Indikatoren relativ stabil sind. Allerdings sind das noch
keine Volkswirtschaften im Gleichgewicht, da ja zusätzlich die
Grenzen unseres Planeten beachtet werden müssen. Das ernüchternde
Ergebnis ist hierbei, dass je mehr Umwelt ein Land
für seinen Lebensstil verbraucht, desto besser es auch bei den
sozialen Indikatoren abschneidet. Der Staat kann allerdings bis
zu einem gewissen Maß durch entsprechende Maßnahmen im
sozialen Bereich gegensteuern. Allerdings werden wir unseren
Umweltverbrauch tatsächlich einschränken müssen, wenn wir
innerhalb der planetarischen Grenzen bleiben wollen.
Zukunftsfähiges Wirtschaften in der Praxis
Betrachtet man die aktuelle politische Lage, ist eine wirklich
konsequente Umsetzung der Green Growth-Strategie unter
pragmatischen Gesichtspunkten der Spatz in der Hand. Trotzdem
müssen wir hier voranschreiten. Der erste Entwurf der
EU-Kommission für einen New Green Deal aus dem Dezember
2019 ist durchaus positiv zu beurteilen, es muss jetzt abgewartet
werden, ob tatsächlich entsprechende Taten folgen werden.
Gleichzeitig sollte jedoch weiter das öffentliche Bewusstsein
für alternative Lebensstile, die mit weniger materiellen Gütern
auskommen, geschärft werden. Dazu ist Bildung in allen Bereichen
notwendig sowie eine ambitionierte Politik.
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Foto: MAGNIFIER Foto: / stock.adobe.com
MAGNIFIER / stock.adobe.com
Was heißt das jetzt für Unternehmen? Unternehmen können
unterschiedliche Motive haben, nachhaltig zu wirtschaften.
Entweder sind die Eigentümer / Geschäftsführer selber ethisch
motiviert. Das ist jedoch nicht unbedingt notwendig, denn
Nachhaltigkeit kann auch zu einem Geschäftsmodell werden:
Unternehmen können mit nachhaltigem Wirtschaften Risiken
vermeiden, indem sie gesetzliche Vorgaben einhalten (die sich
vorhersehbar verschärfen werden), Imageschäden vermeiden
und sich Zugang zu wichtigen Inputfaktoren sichern (Rohstoffe,
Mitarbeiter oder Motivation). Positiv gewendet können
Wettbewerbsvorteile entstehen, wenn man durch das nachhaltige
Wirtschaften mittelfristig Kosten reduziert, Kundenwünsche
erfüllt (Generation Greta), das Image verbessert und sich
die besseren Inputfaktoren sichert (vgl. Loew und Claussen
2010). Auch die Dynamik grüner Wachstumsmärkte spricht
für Möglichkeiten zur Gewinnerzielung, für 2016 bis 2025
wird auf diesen Märkten ein Wachstum von 8,8 Prozent im
Jahr erwartet (vgl. BMU 2018).
Unternehmen sind ein Teil dieser Gesellschaft, und die herrschende
Managementlehre weist den Stakeholdern eines Unternehmens
eine hohe Bedeutung zu. Wichtige Stakeholder
sind die Kunden, die Mitarbeiter, die Geldgeber und der >>
21
Innovation
Staat. In der Gesellschaft findet zur Zeit
ein massives Umdenken statt: Konsumenten
achten verstärkt auf Nachhaltigkeitsaspekte,
es gibt Bewegungen
wie Dinvest, und die Regierungen werden
von gesellschaftlichen Bewegungen
wie Fridays For Future zu schnellerem
politischen Handeln getrieben. Dadurch
sind Unternehmen direkt betroffen.
Sie tun also gut daran, eher proaktiv
als reaktiv zu handeln, um sich nicht
selber ins Aus zu katapultieren. Dabei
sind Investitionen in grüne Technologien
und Prozesse schon ein Schritt in
die richtige Richtung. Allerdings sollte
zumindest mittelfristig auch überdacht
werden, ob kurzfristige Gewinnmaximierung
ein Ziel an sich sein muss.
Vielleicht kann man die Interessen der
Stakeholder besser befriedigen, wenn
ein Unternehmen nicht permanent
wächst, sondern dauerhaft und nachhaltig
wirtschaftet, seine ökologischen
Auswirkungen minimiert und für einen
sozialen Ausgleich sorgt?
Die Corona-Pandemie, die zur Zeit
weltweit wütet, hat die notwendigen
Diskussionen um ein nachhaltigeres
Wirtschaftsmodell in den Hintergrund
gedrängt. Jedoch ist offensichtlich, dass
die Klimakrise und auch andere ökologische
und soziale Herausforderungen
nach dem Hochfahren der Volkswirtschaften
nicht gelöst sein werden. Zwar
sinken in der Zeit des erzwungenen
Shutdowns zunächst die CO 2
-Emissionen,
diese werden jedoch auch schnell
wieder steigen, so wie in Südkorea
nach der letzten Wirtschaftskrise. Auch
verschärfen sich durch die Pandemie
soziale Probleme wie beispielsweise
Arbeitslosigkeit und unterschiedliche
Bildungschancen. Da sowieso massive
Konjunkturhilfen notwendig sein
werden, sollten die Investitionen des
Staates, ganz im Sinne eines grünen
Wachstums, in die „richtigen“ Bereiche
fließen. Das kann auch Unternehmen
motivieren ihre Produktion umzustellen.
Die EU-Kommission hat Ende März
2020 noch einmal bekräftigt, am New
Green Deal festhalten zu wollen. Zudem
kann und sollte diese erzwungene Pause
vom „Immer-Mehr“ genutzt werden, um
grundsätzlich über unser Wirtschaftsmodell
und unsere Werte nachzudenken.
Was ist uns wichtig? Brauchen wir
immer mehr? f
Dieser Artikel basiert auf
einem ausführlicheren
Buchbeitrag: Michaelis, N. V.
(2020): Alternative Wirtschaftssysteme
– Wege zu
einer nachhaltigen Entwicklung,
in: Rupprecht, M., Aktuelle
Themen der Volkswirtschaftslehre
verständlich
erklärt – Handelskriege,
Niedrigzinsen, Nachhaltiges
Wirtschaften, Kohlhammer
(erscheint im Herbst 2020).
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Naturschutz und nukleare Sicherheit
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Germany 2018 – Umwelttechnik-Atlas
für Deutschland, Dessau-Roßlau.
n Daly, H. E. (1993): Steady-State
Economics: A New Paradigm, in:
New Literary History, 1993, 24:
S. 811-816.
n Golde, M. (2016): Rebound-Effekte -
Empirische Ergebnisse und Handlungsstrategien,
Umweltbundesamt,
Hintergrund Juni 2016, Dessau-
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n Jackson R. B.; Le Quéré, C; Andrew,
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J. I.; Liu, Z.; Peters, G.P.; Zheng, B.;
Friedlingstein, P. (2019): Global Energy
Growth Is Outpacing Decarbonization.
A special report for the United
Nations Climate Action Summit
September 2019. Global Carbon
Project, International Project Office,
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– Vom Wachstum der Öko-Industrie
zum nachhaltigen Wirtschaften,
Freie Universität Berlin, FFU-Report
06-2011, Berlin.
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durch CSR. Eine
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Berlin, Hannover.
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A World Bank Group Environment
Strategy 2012-2022, Washington, D.C.
22 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
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Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
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Neue gesellschaftliche
Allianzen
Fotos: Gajus / stock.adobe.com
Von der Klimakrise über die
Corona-Krise zur sozialökologischen
Transformation
24
Innovation
Von Ulrich Petschow und Helen Sharp
Internationale wissenschaftliche
Organisationen, die sich
etwa mit den Herausforderungen
des Klimaschutzes und der
Biodiversität befassen, gehen
übereinstimmend und dringlich
davon aus, dass eine weitreichende
sozial-ökologische
Transformation erforderlich ist.
Dies nicht zuletzt, um die Überschreitung
planetarer Grenzen
mit potenziell katastrophalen
Wirkungen auch auf die
menschliche Gesundheit
zu vermeiden.
Transformationsprozesse sind dabei immer auch verbunden
mit Machtfragen und Verteilungswirkungen.
Sie sind daher auch abhängig davon, inwieweit die unterschiedlichsten
gesellschaftlichen Akteure diese Prozesse
unterstützen oder auch bekämpfen. Grundsätzlich gilt: Die
soziale Organisation von Gesellschaften ist nicht nur Ursache
von Umweltproblemen, sie ist zugleich Bedingung für deren
Lösung. Die ökologische Frage wird damit zur sozialen Frage –
genauso wie andersherum.
Was bedeutet dieser Zusammenhang aber mit Blick auf die
Ebene gesellschaftlicher Akteure? „Neue Allianzen“ sozialer
und ökologisch motivierter Akteure, etwa zwischen den Umwelt-,
Sozial-, Wohlfahrtsverbänden und den Gewerkschaften,
können, so die hier zugrunde gelegte Prämisse, die sozialökologische
Transformation vorantreiben. Dies erfordert aber
entsprechende langfristig angelegte und systematische Austausch-
bzw. Aushandlungsprozesse, innerhalb derer gemeinsame
Leitideen wie etwa die einer „Just Transition“ (eines gerechten
Wandels) oder des „leave no one behind“ (Grundsatz
der globalen Nachhaltigkeitsziele) gemeinsam konkretisiert
werden. Die zivilgesellschaftlichen Interessenverbände spielen
hierbei im politischen System Deutschlands weiterhin eine
wichtige Rolle, indem sie etwa im Vorfeld politischer Entscheidungsprozesse
aggregierte Interessen und Wissen einbringen.
Als kollektive Gemeinwohlakteure nehmen sie damit an gesellschaftlichen
Aushandlungsprozessen teil, deren Ergebnisse
sie wiederum gegenüber der eigenen Basis vermitteln. Die
Verbände besitzen aber dabei nicht nur theoretisch, sondern
auch praktisch noch immer eine zentrale Relevanz: Fast jede/r
zweite Bundesbürger/in ist Mitglied in einer gemeinnützigen
Organisation. Rund zehn Millionen Menschen in Deutschland
sind in Natur-, Tier- und Umweltschutzorganisationen organisiert,
knapp sechs Millionen sind es in den Gewerkschaften des
Deutschen Gewerkschaftsbundes. Allein die Wohlfahrtsverbände
der freien Wohlfahrtspflege werden nach eigenen Angaben
von knapp drei Millionen Ehrenamtlichen unterstützt, wobei
die Mitgliederzahlen weit darüber hinausgehen dürften. Die
Sozialverbände in Deutschland (SoVD, VdK) kommen zusammen
ebenfalls auf knapp drei Millionen Mitglieder.
Das Beispiel der Kohlekommission hat gezeigt, dass mithilfe
gesellschaftlicher Aushandlung Transformationsprozesse
durchaus proaktiv begleitet und soziale Kosten vermieden
oder zumindest gerechter verteilt werden können. Die Frage
sozial-ökologischer Allianzen ist nun allerdings nicht unbedingt
eine ganz neue Frage, insbesondere zwischen einigen
Gewerkschaften und den Umweltverbänden wurden mehrfach
Überlegungen angestellt, inwieweit weitergehende Kooperationen
oder Allianzen zwischen diesen Akteuren möglich sein
könnten. In der Praxis konnten mehrere Phasen beobach- >>
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
25
Innovation
tet werden, in denen das Thema auf der
Agenda war, aber letztlich nicht wirkmächtig
werden konnte. So beispielsweise
Mitte / Ende der 80er Jahre, als die Ideen
des ökologischen Umbaus prominent
wurden. Diese Diskussion ist im Kontext
der Wiedervereinigung abgeebbt. Zu
Anfang der 10er Jahre wurde ein breit
angelegtes Forschungsvorhaben auf den
Weg gebracht, mit der Vorstellung, dass
gemeinsame und konsensfähige Entwicklungspfade
zwischen den Gewerkschaften
und den Umweltverbänden
ausgelotet werden könnten. In der Folge
der Wirtschaftskrise 2008 wurde unter
breiter Beteiligung unterschiedlichster
Verbände ein Transformationskongress
(2013) durchgeführt, der aber mit Blick
auf direkte Folgeaktivitäten letztlich nur
eine begrenzte Wirkung hatte.
Diese Situation ändert sich aktuell. Es
zeigt sich, dass auch die Verbände selbst
aus eigener Initiative an unterschiedlichen
Stellen miteinander aktiv geworden
sind. So gab es im Juni 2019 die
große Fairwandel-Demonstration der IG
Metall unter Beteiligung von Sozial- und
Umweltverbänden, es gab gemeinsame
Erklärungen und Debattenbeiträge der
jeweiligen Verbandsspitzen etwa zu Fragen
der Mobilität oder Industrie- und
Wirtschaftspolitik. Gleichwohl bleibt
festzuhalten, dass diese Allianzen sich
noch in einem frühen Stadium befinden
und häufig eher auf einer deklamatorischen
Ebene verbleiben. Hinzu kommt
nun, dass sich die Verbände mit der
„Corona-Krise“ auf einmal in einer Situation
befinden, in der die Debatten um
klima- und umweltpolitische Herausforderungen
plötzlich mehr oder weniger
stummgeschaltet scheinen. Auch die
zarten Pflänzchen sozial-ökologischer
Allianzenbildung scheinen damit bedroht.
Und doch wird es gerade vor dem
Hintergrund der wirtschaftlichen Folgewirkungen
eines „Shut-Downs“ darum
gehen, die sozial-ökologische Frage neu
zu stellen. Auch hier braucht es neue
Allianzen, insbesondere da sich bereits
jetzt beobachten lässt, wie die Krise
von unterschiedlichen Akteuren durchaus
instrumentalisiert wird. Im breiten
Spektrum des Diskurses lassen sich
dabei bisher sicherlich zwei Extrempositionen
ausmachen: Auf der einen Seite
wird spekuliert, dass, ausgelöst durch
die gesundheitliche sowie die zu erwartende
gravierende Wirtschaftskrise, die
Gesellschaft zur „Vernunft“ kommen
und auf die „harten Tatsachen“ des Lebens
zurückgeführt werden würde. In
der Konsequenz müsse wirtschaftlichem
Wachstum in jedem Fall Priorität eingeräumt
werden. Auf der anderen Seite
des Diskussionsspektrums wird die derzeitige
Krise vor allem auch als Chance
für die sozial-ökologische Transformation
bezeichnet, u.a. weil, zumindest zum
gegenwärtigen Zeitpunkt, deutlich wird,
wie eng die wirtschaftlichen Aktivitäten
und der Lebensstil mit den Umweltbelastungen
zusammenhängen. Mit
den ergriffenen Maßnahmen der Politik
zur Eindämmung der Verbreitung
des Virus durch ein Einschränken des
öffentlichen Lebens auf ein notwendiges
Minimum sind auch wirtschaftliche
Aktivitäten zum Teil radikal heruntergefahren
worden – und dies zum Teil
mit großer Umweltrelevanz. Während
China etwa eine umfassende Verbesserung
der Luftqualität erlebt hat, wurde
auch der weltweite Flugbetrieb teilweise,
so Zeitungsberichte, auf ein Niveau
der 50er Jahre zurückgeschraubt. Ein
Niveau, das möglicherweise zukunftsfähig
sein könnte. Mithin entspringt also
bei einigen Akteuren die Vorstellung,
aus der Gesundheitskrise könne sich
eine Nachhaltigkeitschance ergeben.
Nicht mitgedacht wird dabei allerdings,
dass in Folge der Krise in den bestehenden
Strukturen auch massive soziale
Konsequenzen zu erwarten sind. Zentral
wird es daher sein, eine geeignete
Balance zwischen Wiederaufbau und
Pfadwechsel herzustellen. Eine tiefgreifende
wirtschaftliche Krise stellt eben
auch eine gewaltige Herausforderung
für die Gesellschaften dar und kann,
so eine der Lehren der Weltwirtschaftskrise
der 1920er/30er Jahre, sehr leicht
auch zu autoritären Systemen führen.
Mit den ergriffenen Maßnahmen der Politik zur
Eindämmung der Verbreitung des Virus durch ein
Einschränken des öffentlichen Lebens auf ein
notwendiges Minimum sind auch wirtschaftliche
Aktivitäten zum Teil radikal heruntergefahren worden
– und dies zum Teil mit großer Umweltrelevanz.
Was die Corona-Krise auf eindrückliche
Weise deutlich macht, ist, dass staatliche
Akteure sich durchaus als radikal handlungsfähig
erweisen können. Konfrontiert
mit einer akuten und weitreichenden
Krise, wird sich der Stimme „der“
Wissenschaft, zwar spät, aber immerhin
geöffnet. Die Herausforderung für die
staatlichen Akteure endet aber nicht mit
der Durchsetzung des Shut-Down. In absehbarer
Zeit wird es vor allem darum
gehen, die wirtschaftliche Folgekrise zu
bewältigen. Während staatliche Politik
also gegenwärtig im Wesentlichen ungerichtet
mit dem Auffangen der kurzfristigen
ökonomischen Konsequenzen
befasst ist, wird es schon bald darum
gehen müssen, wie künftige Strukturen
aussehen sollen. Ein „weiter so“– und
auch das hält die Corona-Krise vor Augen
– kann dabei weder aus sozialer
noch ökologischer Sicht eine Option sein.
26 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Was können wir damit schon jetzt aus
der Corona-Krise auch für die sozial-ökologische
Transformation lernen? Es sind
zweifelsohne viele Lehren zu ziehen,
und viele Lehren werden erst im Nachhinein
gezogen werden können.
Angefangen von der Nicht-Vorbereitung
auf einen Pandemiefall, der fehlenden
Resilienz der Systeme (gerade auch der
Gesundheitsversorgung) bis hin zu der
Frage, welche Relevanz die unterschiedlichen
gesellschaftlichen Systeme letztlich
besitzen.
Erstmals wird die Zentralität der Bereiche
betont, die bislang von Niedriglohn-Jobs
und Gig-Arbeiter/innen
sichergestellt werden – von der Verkäufer/in,
der Pfleger/in bis hin zum
Krankenhauspersonal betrifft dies mithin
vielfach vor allem Bereiche, die der
„Care-Ökonomie“ zugeordnet werden
können. Dies verweist darauf, dass die
Resilienz einer Gesellschaft essenziell
eben von diesen systemrelevanten
Bereichen und damit zusammenhängend
der lokalen und regionalen Infrastruktur
abhängt. Und dies ist eine
zentrale soziale Frage, die zudem eng
verbunden ist mit den ökologischen Fragen.
Mithin geht es tatsächlich um die
Neubeantwortung der Frage nach der
Systemrelevanz gesellschaftlicher und
wirtschaftlicher Aktivitäten.
Und exakt hier wird auch deutlich, dass
die soziale und die ökologische Dimension
nicht nur Hand in Hand gehen können,
sie müssen es sogar. Drängender
denn je müssen sich neue Allianzen für
eine resiliente und nachhaltige Zukunft
bilden, die die unabdingbare Verzahnung
der sozialen und ökologischen Frage
in der Debatte abbilden können. Diese
Blickwende auf die essenziellen Grundlagen
von Wirtschaft und Gesellschaft
könnte und sollte auch das Selbstverständnis
der Gesellschaft im Sinne des
„Höher“, „Weiter“ und vor allen Dingen
auch „Mehr“ grundlegend verändern. f
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
27
Innovation
Grafik: Covermotiv „Raubbau an der Seele“
„Wir sind eine
überforderte
Gesellschaft“
Größer, schneller, weiter. Noch immer glauben wir,
unser Glück durch Konsum und Leistung erzwingen
zu können. Der renommierte Psychologe Wolfgang
Schmidbauer weiß Rat – jenseits von Medikamenten,
Illusionierung und Verdrängung.
28 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
UmweltDialog: In Ihrem Buch „Raubbau
an der Seele: Psychogramm einer überforderten
Gesellschaft“ erzählen Sie, dass
Sie − durchaus glücklich − eine Weile
als Aussteiger in Italien ohne Strom und
Fernsehen gelebt haben. Heute dagegen
leben Sie in der Weltstadt München − gut
vernetzt, erfolgreich und vermutlich mit
allerlei modernem Komfort. Ihre Großeltern
würden sicher sagen: Aus dem
Jungen ist ja doch noch was geworden!
Haben Sie sich schlussendlich auch unserer
Konsum- und Leistungsgesellschaft
unterworfen?
Wolfgang Schmidbauer: Unterworfen
würde ich nicht sagen. Zum Teil angepasst
trifft es eher. Das Aussteigerleben
habe ich aufgegeben, als meine Älteste
schulpflichtig wurde und ich mich für
eine Therapieausbildung interessierte.
Aber die Kritik an dem Wachstumswahn
und der organisierten Verschwendung
habe ich nicht aufgegeben. Im Übrigen
waren meine Großeltern toleranter als
Sie denken. Dogmatismus lag ihnen so
fern wie mir.
Wir leben in einer Welt, die auf ehrgeizige,
tüchtige, allseitig funktionierende Individuen
zugeschnitten ist. Da hält nicht jeder
mit. Depressionen und Burn-out sind gängige
Schlagworte. Was läuft da aus Ihrer
Sicht bei uns grundsätzlich schief?
Das zentrale psychologische Thema ist
der Wandel des grundlegenden emotionalen
Motivs durch den Schritt von
einer altsteinzeitlichen Gleichgewichtsgesellschaft
in die erst langsam, dann
rapide − durch den Kapitalismus − sich
zum Raubbau hin steigernde Ungleichgewichtsgesellschaft.
Auf die Gleichgewichtsgesellschaft
ist unser Organismus
zugeschnitten. In diesen Kulturen,
die wir altsteinzeitlich nennen, wurden
die Menschen durch den Hunger motiviert,
der gut und eindeutig zu stillen
ist. Die Ungleichgewichtsgesellschaft
motiviert sich durch die Angst, gegen
die der Mensch nie genug an Sicherheit
anhäufen kann. Wer Vorräte hat, hat
auch Angst, dass sie ihm jemand wegnehmen
kann. Seither werden Kinder
geschlagen; Jägerkulturen tun das nicht,
weil solche Kinder schlechte Jäger sind,
aber „gute“ Sklaven. Im modernen Staat
haben wir zwar die Prügel wieder abgeschafft,
aber die Angst ist geblieben.
Sie hat sich multipliziert, inzwischen
zum Beispiel zu den zahlreichen Ängsten
vor falschen Entscheidungen, vor
beruflichem oder privatem Versagen.
Depressionen wurzeln darin, dass Kinder
Ängste der Eltern wahrnehmen, es
könnte „nichts“ aus ihnen werden, und
sich deshalb überanpassen, sich nicht
mehr an ihren vitalen Bedürfnissen und
Grenzen orientieren.
Nicht jeder erfährt in seiner täglichen Arbeit
Sinnhaftigkeit. Die meisten arbeiten
wegen des Geldes und allem, was sich
daraus ergibt: ein angesehener Beruf, viel
Geld verdienen, für den Partner attraktiv
sein et cetera. Sie kritisieren das als unpersönlichen
Perfektionismus. Warum
eigentlich?
Perfektionismus ist die Form der
Angstabwehr, die in der Konsumgesellschaft
„normal“ wird. Wer ihn anstrebt,
verliert oft die Orientierung an dem, was
ihm auf einer vitalen Ebene gut tut, was
bekömmlich für ihn ist. Burn-out ist oft
die Folge einer Übererfüllung beruflicher
Normen. Wer sein Leben auf die
Leistungskarte setzt, lebt sehr riskant.
Viele Depressionen brechen aus, wenn −
oft unbewusst − die Betroffenen den Eindruck
haben, dass sie sich für weniger
Anerkennung mehr anstrengen sollen.
Sich in ihrer Haut wohlfühlen, Freizeit
genießen können − das können Kinder
nicht von Eltern lernen, die Angst haben,
dass sie die nötige Leistung nicht
bringen.
An einer Stelle in Ihrem Buch heißt es: „In
der Konsumgesellschaft sollen wir glauben,
dass das Leben durch Leistung kontrollierbar
wird. Wer genug leistet, kann
sich Sicherheit und Glück kaufen.“ Aber
was ist genug?
Es ist eben eine Illusion, dass man Sicherheit
und Glück kaufen kann. Das
funktioniert einfach nicht. Man kann nur
dem Geld hinterherjagen − die aktive,
manische, realitätsverleugnende >>
Wolfgang Schmidbauer:
Raubbau an der Seele.
Psychogramm einer
überforderten Gesellschaft
Oekom Verlag:
München 2019
Softcover, 256 Seiten
ISBN 978-3-96006-009-3
Euro 18,00.–
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
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Innovation
Variante − oder jammern und anderen
die Schuld geben, dass sie einem nicht
das Glück verschaffen, das man sich
wünscht. Wichtig an den Überlegungen
zum Raubbau ist ja, dass uns im
depressiven Zusammenbruch oft die
Kraft fehlt, uns mit einer Fehlentwicklung
auseinanderzusetzen. Ein gesunder
Mensch kann Kränkungen verarbeiten
und einen neuen Weg suchen;
der zusammengebrochene Perfektionist
wünscht sich nur, dass alles wieder so
wird wie früher. Ihm werden Medikamente
angeboten. Sie entlasten ihn ein
wenig, lenken ihn aber von Einsicht und
Neuorientierung ab, vor allem wenn sie
mit dem Mythos einer womöglich ererbten
Anomalie des Gehirnstoffwechsels
vorgetragen werden. Heute nehmen in
den fortgeschrittenen Gesellschaften Depressionen
parallel zum Verbrauch von
Antidepressiva rapide zu. Man könnte
sagen, dass die antidepressiven Medikamente
mit dem Motto „Schluck mich,
und du wirst normal“ eher ein Symptom
als eine Kur der Depression sind.
Da sind wir ja auch beim Thema Nachhaltigkeit
und den planetaren Grenzen:
All unsere bisherige Kreativität und unser
Erfindergeist setzen grenzenlose Ressourcen
voraus. Der künftige New Green
Deal oder das Pariser Klimaabkommen
versprechen, das besser zu machen. Aber
auch sie setzen dabei auf die gleiche bisherige
Kreativität und den gleichen Erfindergeist.
Kann das klappen?
Ich hoffe sehr, dass wir die destruktiven
Motive hinter der menschlichen Erfindungsgabe
nicht behalten. Bisher hat sie
ja vorwiegend einseitig dem Wachstum
der Verschwendung und der Mehrung
des Profits gedient. Viel zu selten und
völlig neben den Machtstrukturen wurden
alternative Ziele wie mehr Lebensqualität,
Schonung der Natur und Ähnliches
verfolgt und soziale Strukturen
entwickelt, die solche Ziele festigen.
Der andere Weg ist der des Verzichts.
Dazu formulieren Sie einen interessanten
Gedanken: Die Konsumgesellschaft
entfalte ihre Macht keineswegs durch das
lustvolle Angebot, sondern durch Angst,
die einsetzt, wenn das Erwartungsniveau
unterschritten wird. Fühlt sich Konsumverzicht
dann nicht so an wie ein kalter
Entzug für einen Junkie?
Die Metapher ist schief, weil der Junkie
körperlich abhängig ist und sein Organismus
gegen den Mangel an seinem
Stoff rebelliert, während wir uns nur einbilden,
dass uns unser Konsumniveau
glücklicher macht. Es ist nachgewiesen,
dass die Befriedigung durch ein tolles
neues Produkt sehr schnell abebbt. Wer
viele tolle Produkte um sich hat, hat wenig
Freude an ihnen, aber viel Sorge,
dass sie nicht funktionieren. In Wahrheit
machen uns die Verlustängste abhängig,
während Verzicht uns Freiheit,
Lebensqualität und Energie zurückgibt.
Wenn Greta Thunberg fordert, dass die
Menschen Angst haben sollen, wenn sie
sich nicht sofort ändern, stoßen dann
nicht gleich zwei Angstwelten zusammen?
Wie können wir da am besten reagieren?
Frau Thunberg trifft einen wichtigen
Punkt: Nur Angst vor einem größeren
Schaden kann etwas gegen die Verlustangst
ausrichten, die unser absurd
hohes Konsumniveau bewacht. Die Vernunft
ist zu schwach dazu. Viele Alkoholiker
wissen, dass Alkohol nicht gut
für sie ist − aber sie hören erst auf zu
trinken, wenn sie die Schäden an Herz,
Leber oder Nervensystem nicht mehr
ignorieren können oder ihre Ehe auf
der Kippe steht. Leider gehört es zu den
großen Schwächen der Demokratie, dass
sie politische Lügner, die den Wählern
unangenehme Wahrheiten ersparen,
viel zu lange gewähren lässt. Der Staat
sollte durch energische Gesetze gegen
Verschwendung von Rohstoffen und
Energie, gegen Müllproduktion und undurchschaubare,
nicht zu reparierende
Produkte den Verzicht Einzelner unterstützen.
Eine Steuer und eine Schranke
motivieren den SUV-Fahrer, öffentlich
zu fahren − das Lob auf dem Plakat in
der U-Bahn, dass ihre Nutzer Klimaschützer
sind, bringt damit verglichen
herzlich wenig. f
Wolfgang Schmidbauer hat
über sein Aussteigerleben
in der Toskana und seinen
Weg vom Journalisten zum
Therapeuten und Schriftsteller
in dem Buch „Die
Seele des Psychologen“
berichtet, das 2016 in
Zürich erschienen ist.
Bekannt wurde er durch den
Bestseller „Hilflose Helfer“,
der seit 1977 viele Auflagen
erlebt hat und immer
noch gedruckt wird. Dort
entwickelt er das Konzept
des Helfersyndroms und der
Burn-out-Problematik in den
helfenden Berufen.
Schmidbauer ist einer der
ersten psychologischen
Kritiker der Konsumgesellschaft:
„Homo consumens.
Der Kult des Überflusses“
erschien 1971.
2017 entstand auf Anregung
des oekom verlags
eine weitere Schrift zu den
psychologischen Aspekten
der Konsumgesellschaft:
„Raubbau an der Seele:
Psychogramm einer überforderten
Gesellschaft“.
Foto: Wolfgang Schmidbauer
30 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
... und dann war da noch der tote Gaul
Wenn du entdeckst, dass du
einen toten Gaul reitest, steige
ab! Warum reiten manche
Menschen trotzdem weiter?
Ein paar nachdenkliche,
amüsante Argumente von
Arnold Retzer, deutscher
Mediziner und Psychotherapeut:
1.
So haben wir den Gaul immer
geritten!
2.
Wir halten unserem Gaul die
Treue!
3.
4.
5.
✝
Wir gründen eine Untersuchungskommission,
um den
Gaul zu analysieren!
Wir besuchen andere, um zu
sehen, wie man dort tote
Gäule reitet! (Benchmarking)
Wir ändern die Kriterien dafür,
ob ein Gaul tot ist!
6.
✝
7.
8.
Man redet uns nur ein, der
Gaul sei tot!
Kein Gaul kann so tot sein,
dass man ihn nicht noch
schlagen könnte!
Wir „frisieren“ die
Vergangenheit
9.
10.
11.
Wir spannen mehrere tote
Gäule zusammen, damit sie
schneller werden! (Synergie)
Wir entwickeln eine sehr enge,
intime Beziehung zu unserem
toten Gaul!
Tote Gäule zu reiten ist
die hohe Schule der
Reitkunst!
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
31
Innovation
Illustrationen: Alexander Pokusay / stock.adobe.com
Von Dr. Elmer Lenzen
Vom
Gott der
Zerstörung
und dem Perpetuum mobile
der Milliardengewinne
Nach Corona wird die Welt eine andere sein. Aber bedeutet die Krise nur Zerstörung, oder kann
darin auch eine schöpferische Kraft liegen? Der Wiener Ökonom Joseph Schumpeter hat dazu
schon vor 100 Jahren gearbeitet. Vor allem im Silicon Valley und bei Start-ups genießen seine
Ideen bis heute viel Zuspruch, gilt er doch als Urvater der Disruption.
32 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Er wollte der bedeutendste
Wirtschaftswissenschaftler, der
größte Liebhaber und der beste
Reiter seiner Zeit werden. Später
beklagte er, dass zum Reiten zu wenig
Zeit geblieben sei. Der Österreicher
Joseph Schumpeter (1883 - 1950) war zu
Lebzeiten kein Mann übermäßiger Bescheidenheit.
Hinzu kam ein brillanter
Intellekt, der die meisten Geister seiner
Zeit weit hinter sich ließ. Das brachte
ihm nicht nur Freunde ein. „Wachstum
ist ein Prozess schöpferischer Zerstörung“,
formulierte Schumpeter und
erkannte damit schon früh eine zentrale
Dynamik des Kapitalismus. Sein
Unternehmerbegriff unterscheidet sich
deshalb bis heute ganz wesentlich vom
gewohnten Sprachgebrauch. Ein Unternehmer
ist jemand für ihn nämlich erst
dann, „wenn er eine neue Kombination
durchsetzt“. Pioniergeist, Mut, der unbedingte
Wille, alte Pfade zu verlassen und
die Bereitschaft, Altes zu zerstören, um
Neues zu erschaffen – nur das sei echtes
Entrepreneurship.
Erst dieser Prozess „schöpferischer
Zerstörung“ ermögliche Wachstum
und technischen Fortschritt. Dadurch
werden alte Strukturen verdrängt und
neue, bessere, billigere oder effizientere
nehmen ihren Platz ein. Zerstörung
und brutale Marktverwerfungen, wie
wir sie jetzt etwa im Zuge der Corona-Krise
erleben, sind in der Welt von
Joseph Schumpeter keine Systemfehler,
sondern notwendig, um Neues und Besseres
wachsen zu lassen. Politik könne
das sozial abfedern, dürfe es aber nicht
verhindern, war sein Credo.
„Wachstum
ist ein
Prozess
schöpferischer
Zerstörung“
Joseph Schumpeter (1883 - 1950)
Foto: Bildarchiv der Österr. Nationalbibliothek
Die radikalste Form von Veränderung
ist die Disruption. Hierbei werden bestehende
Geschäftsmodelle nicht langsam
und steuerbar vom Markt verdrängt,
sondern das geschieht sehr schnell und
sehr hart. Disruptive Ideen denken nicht
bestehende Produkte weiter, sondern
sie gehen vom Kundenbedürfnis aus
und denken die Lösung mit ganz neuen
Ansätzen. Schumpeter wird von vielen
seiner Anhänger bis heute deshalb gern
auch als Gott der Zerstörung bewundert.
Lieblingsthema auf Konferenzen
Jeder, der eine Konferenz zu Wirtschaftsthemen
besucht, kennt diesen
Moment, wenn einer der Vortragenden
– meist passiert das schon in der Eröffnungsrede
– die Worte „Disruption“ und
„Innovation“ in einem Satz fallen lässt.
Ich nennen das immer den Kassandraruf
(benannt nach – Sie wissen schon –
Troja, Ilias, Wahrsagerin. Genau!)
Der Sinn ist es, zunächst Angst zu erzeugen:
Nichts ist mehr gewiss! Alle unsere
Geschäftsmodelle sind dem Untergang
geweiht! Dann kommt im zweiten Teil
die Hoffnung: Es gibt Lösungen und Hilfe.
Meistens in Form von Beratern, als
die sich die meisten Redner dann gleich
andienen. Wo einer die Karriereleiter
aufsteigt, muss ein anderer sie herabklettern
– zur Veränderung gehören Disruption
und Zerstörung. In diesem Punkt
hat Schumpeter bereist vor 100 Jahren
einen ungeschminkten Blick auf unsere
Ökonomie geworfen. Veränderung kennt
stets Gewinner und Verlierer. Und vor
Letzterem haben viele eine Heiden- >>
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
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Innovation
angst. So sehr das Neue auch fasziniert,
so sehr erzeugt der Verlust des Vertrauten
und angesammelter Erfahrungswerte
Angst. Da flüchten sich viele nur allzu
gern in Illusionen der Vergangenheit –
früher war alles Besser – oder fordern
vom Staat Schutz und Subventionen. Der
Ordnungskraft und Weitsicht der Politiker
traute Joseph Schumpeter übrigens
wenig zu. So soll folgendes Bonmot von
ihm stammen: „Eher legt sich ein Hund
einen Wurstvorrat an als eine demokratische
Regierung eine Budgetreserve.“
Bin ich noch wichtig?
Vielleicht ist die Angst vor der Disruption
deshalb zuallererst die Angst vor dem
eigenen Bedeutungsverlust. Der etablierte
Banker etwa ist das Produkt einer
über lange Zeit gewachsenen Status-
Hierarchie. Hier von einem Start-up in
lässigen Sneakers verdrängt zu werden
ist eine schmerzhafte Erfahrung, vor
der viele sich in die Selbstillusion des
Unverzichtbaren (Banken nennen das
„systemrelevant“) retten. Oder schauen
wir auf die Energiekonzerne: Vattenfall,
EON und RWE haben sich durch ihre
Kultur und Zufriedenheit selbst in die
Krise geritten. Die Trägheit war sicher
auch dem Quasi-Monopol geschuldet.
Sehr spät erst verstand man in den
Konzernzentralen, dass eine Welt, in
der die Menschen selbst anfangen,
Energie zu produzieren, keine zentralen
Kraftwerke mehr braucht, die von
einer Handvoll Ingenieuren gesteuert
werden. Dann tröstete man sich damit,
als Reserve bereitzustehen. Doch wieder
verstanden die Vorstände nicht: Die
Energiewende bezieht ihre Dynamik
nicht aus dem Antrieb mündiger Bürger,
sondern es geht um Klimaschutz
und CO 2
-Reduktion. Und in diesem Konstrukt
sind fossile Kraftwerke – vor allem
Kohlekraftwerke – langfristig nicht
mehr geplant.
Matthias Horx,
Trend- und Zukunftsforscher
Foto: Klaus Vyhnalek / www.vyhnalek.com, www.horx.com
Vom Zukunftsforscher Matthias Horx
wissen wir, dass man Disruption nur
verstehen kann, wenn man die Gesetze
der Evolution anwendet. Und da gibt es
dann tatsächlich Fossile und Saurier,
die sich überlebt haben. Es gibt dafür
andere, deren Stunde nun gekommen
ist. Und es gibt ein paar wenige, die sich
neu erfinden und allem zum Trotz überleben.
Ein Beispiel für Letzteres ist die
Firma IBM, die im Prinzip schon zwei
Mal von den Toten auferstanden ist: Angefangen
hat das Unternehmen 1914
mit der Produktion von Lochkarten.
Später sattelte man auf die Produktion
von Großrechnern - die wurden lange
mit Lochkarten gefüttert – um, und verpasste
dabei in den 80er Jahren fast den
Wechsel zum Personal Computer (PC).
Das ging so lange gut, bis es nicht mehr
ging. 2004 verkaufte IBM mit den Thinkpad-Notebooks
sein Kerngeschäft an die
Chinesen. Seitdem konzentriert man
sich ganz auf Software und Wissensmanagement.
Mit Erfolg: 80 Milliarden Dollar
setzt der Konzern jährlich um.
Vom Koch zum Kellner
Geld, von dem Nokia nur träumen kann.
Auch die Finnen haben sich mehrfach
erfunden, aber die disruptive Innovation
meinte es nicht ganz so gut mit ihnen.
Los ging's mit Holzwirtschaft, Gummistiefeln
und Gummireifen. Ab den 70er
Jahren kam die Telekommunikation hinzu.
Ende der 1990er Jahre genoss Nokia
ein Renommee als Hersteller von hochwertigen
Mobiltelefonen. Der Marktanteil
weltweit lag 2003 bei unglaublichen
35 Prozent. In seiner Euphorie verkaufte
das Management alle Geschäftsbereiche
bis auf die Mobiltelefonsparte. Doch
dann kam das Smartphone. Anders als
IBM verpasste Nokia den Anschluss,
und so begann der Abstieg. Was heute
noch geblieben ist, ist das Geschäft als
Netzwerkausrüster.
34 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Ist Tesla disruptiv?
Wie ist es mit den Produkten, die man
unmittelbar damit verbindet? Das Elektroauto
zum Beispiel gilt als disruptiver
Nachfolger des Verbrennungsmotors.
Aber ist das Disruption? Ist Elon Musk
ein schöpferischer Zerstörer? Wohl eher
nicht, denn eigentlich will Musk auch
nur eins: Möglichst viele Autos verkaufen.
Das unterscheidet ihn keinen Deut
von seinen Konkurrenten in Stuttgart,
Wolfsburg oder in Japan. Der Antrieb
ändert sich, aber sonst nix.
Elektrofahrzeuge sind innovativ und
haben den Energieverbrauch und das
Design traditioneller Autos sicherlich
verbessert. Aber egal, wie viele Leute
Tesla als Disruptor bezeichnen, es ist
keiner. Ryan Moore, Chef der Vertriebsplattform
Peaksales, findet, Elektrofahrzeuge
seien zwar innovativ und
hätten den Energieverbrauch und das
Design traditioneller Autos sicherlich
verbessert. Aber egal, wie viele Leute
Musk als Disruptor bezeichnen, er ist
keiner. „Tesla ist nicht in einem niedrigen
oder nicht existierenden Marktsegment
eingestiegen. Er richtet sich an
Kunden im oberen Marktsegment, die
von den etablierten Autoherstellern immer
noch sehr begehrt sind. Außerdem
machen die hohen Preise Tesla nicht
gerade für die Übersehenen und Unterbezahlten
zugänglich.“
Einer der größten Zerstörer, wenn man
denn so will, ist Karlheinz Brandenburg.
Der Erlanger entwickelte mit Kollegen
ab 1982 am Fraunhofer-Institut
für Integrierte Schaltungen (IIS) ein
Verfahren zur Audiodatenkompression.
Klingt sperrig, echt wissenschaftlich
und wenig aufregend. Ihre Idee war es,
Tonsignale so zu kodieren, dass sie für
das menschliche Gehör noch genauso
klingen wie das Original. Als Namen
Karlheinz Brandenburg,
Entwickler der mp3
Foto: Christliches Medienmagazin pro / Kreuzschnabel /
commons.wikimedia.org / CC Attribution 3.0 Unported /
schwarz-weiß
dafür wählten sie schlicht die Dateinamenserweiterung:
mp3. Wahrscheinlich
hat damals in Erlangen keiner auch
nur ansatzweise die Potenziale erkannt.
In den 90er Jahren sorgte mp3 für den
Siegeszug der CDs und dann ein paar
Jahre weiter für den Durchmarsch der
Streamingdienste: Ob Netflix, Amazon,
Spotify oder Apple Music, Karlheinz
Brandenburgs Verfahren zur Datenkompression
bildet für alle die Grundlage.
Einen wichtigen Beitrag leistete
indirekt auch die Sängerin Suzanne
Vega, deren Musik Brandenburg im
Ohr hatte. Während der Entwicklungsphase
von mp3 diente insbesondere ihr
Song „Tom's Diner“ als Grundlage, um
die Sprachqualität zu optimieren.
The next big thing?
Künstliche Intelligenz (KI) ist die disruptivste
Technologie der heutigen Zeit
und verfügt über immense Macht und
Fähigkeiten, um Unternehmen an eine
andere Grenze zu bringen. Die Technologie
ist nicht nur in der Lage, Sci-Fi in
die Realität umzusetzen, sondern auch
einen Meilenstein im Zeitalter der Analytik
zu setzen. Das Start-up Ople beispielsweise
hat eine einfach zu bedienende
KI-Plattform entwickelt, welche
in kürzester Zeit sehr präzise Projektionen
liefert. „Was wäre wenn“-Szenarien
beschleunigen die Zeit bis zur
Wertschöpfung und ermöglichen es
Unternehmen, produktionsreife KI-Modelle
in Minuten statt in Monaten zu
erstellen.
Ein anderer Hoffnungsträger aus dem
Silicon Valley heißt Rosoka Software.
Diese beschäftigt sich mit Techniken
und Methoden zur Veränderung psychischer
Abläufe im Menschen, dem
sogenannten Neuro-Linguistischen
Programmieren (NLP). Bis zur Entwicklung
von Rosoka war NLP so >>
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
35
Innovation
ziemlich die Domäne der Supercomputer
oder der massiv parallelen Verarbeitung.
Rosoka erzielt die gleichen
Extraktionsergebnisse mit viel geringerem
Aufwand. Das hat für Spracherkennungsprogramme
eine fundamentale
Bedeutung. Während Siri, Cortana und
Alexa alle Daten zur Verarbeitung an
das Rechenzentrum zurückschicken,
erlaubt Rosoka eine Lösung vor Ort. Allein
die Auswirkungen auf den Datenschutz
sind enorm. Gregory Roberts,
Gründer von Rosoka findet: „Es sind
Ihre Daten, wollen Sie sie wirklich an
eine dritte Partei und zurück zur Verarbeitung
schicken?“
Attacke auf allen Kanälen
Sven Hellmann, Senior Partner bei der
Beratungsgesellschaft Cassini meint:
„Ein einzelnes Geschäftsmodell kopieren
kann schließlich jeder. Durch kluge
Kombination jedoch könnte der Angriff
auf die Konkurrenz gleich auf mehreren
Ebenen stattfinden.“ Deshalb, so sein
Credo, gehört die Zukunft sogenannten
hyper-disruptiven Unternehmen, die
Märkte kombiniert attackieren. Dazu
verbinden sie mehrere bereits erfolgreiche
und oftmals digitale Geschäftsmodelle.
Dadurch würden sich die Hebel,
Geld zu verdienen, multiplizieren.
Wie kann das aussehen? Die ultimative
Stufe der Hyper-Disruption lebt uns
Apple vor. Der Konzern erzeugt bei
vielen seiner Kunden eine umgedrehte
Abhängigkeit. Hellmann: „Physisch
und psychisch kann man dem allumfassenden
Ökosystem aus begehrenswerter
Marke, hippen Geräten und dem
Hypermarkt an attraktiven E-Shops,
App-Store-Angeboten und Services
kaum noch entrinnen. Die Kombination
der Geschäftsmodelle führt schließlich
zum Perpetuum mobile der Milliardengewinne.“
f
Gregory Roberts,
Gründer von Rosoka
Foto: Gregory Roberts / medium.com
Die
Madman-Theorie
Ist die Politik von Donald Trump
eigentlich destruktiv oder
disruptiv? Diese Frage stellen sich
nicht nur die Menschen in den
USA. In Europa weitverbreitet ist
die Ansicht, dass Trump vor allem
Bestehendes wie etwa die transatlantische
Freundschaft zerstört.
In Amerika sehen einige darin
durchaus eine disruptive Chance.
Etwa der Paypal-Mitbegründer,
Großinvestor und Philosoph Peter
Thiel. Er findet in einem NZZ-Interview
lobende Worte für den Mann
im Weißen Haus: „Ich bin längst
nicht in allem seiner Meinung, aber
er benennt Probleme und packt sie
an.“ Dabei setze Trump auf Mittel
der sogenannten Madman-Theorie.
Diese stammt vom US-Präsidenten
Richard Nixon, den seine Parteifreunde
„Tricky Dicky“ nannten.
Während des Vietnamkriegs entwarf
er mit Außenminister Henry
Kissinger die List, dass der Präsident
unzurechnungsfähig und zu
irrationalen Handlungen imstande
sei. Nixon sagte intern: „I call it the
Madman Theory, Bob. I want the
North Vietnamese to believe I've
reached the point where I might do
anything to stop the war.“ Tagelang
ließen Nixon und Kissinger deshalb
atomar bestückte Kampfflugzeuge
nahe am russischen Luftraum fliegen.
Mit Erfolg. In Moskau wuchsen
die Sorgen vor dem Verrückten
im Weißen Haus, und man drängte
die Führung in Nordvietnam zu
Gesprächen einzulenken.
36 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Advertorial
Nähere Informationen finden Sie unter:
www.dyson.de/haendetrockner.aspx
Können Waschräume
hygienisch und umweltfreundlich
zugleich sein?
Nachhaltige und papierlose Waschräume
sind ein wichtiger Schritt in die Zukunft.
Doch natürlich gilt es, als erstes
an die Waschraumhygiene zu denken.
Dyson hat hierfür die passenden Lösungen:
die verschiedenen Dyson Airblade
Händetrocknermodelle, die für die
unterschiedlichsten Waschraumanforderungen
konzipiert sind. Eines haben sie
jedoch gemeinsam: den vliesbeschichteten
Glasfaser-HEPA-Filter (H13), der für
eine gereinigte Luft sorgt, die die Hände
schnell und hygienisch trocknet.
Dyson Airblade TM Händetrockner
sind besser für die Umwelt
Papierhandtücher haben große Auswirkungen
auf die Umwelt. Für die Papiertuchproduktion
werden Bäume gefällt,
große Mengen an Wasser und Energie
verbraucht sowie Chemikalien wie
Chlor und Schwefeldioxid eingesetzt.
Der spätere Papierabfall, der weltweit in
Waschräumen anfällt, ist enorm.
Dyson Airblade TM Händetrockner können
den ökologischen Fußabdruck hingegen
verbessern, denn sie erzeugen bis
zu 85 Prozent weniger CO 2
als Papierhandtücher
(siehe Infokasten). Der Papierabfall
entfällt hierbei komplett.
Die schnellste Art, Hände hygienisch
zu trocknen
Dyson Airblade TM Händetrockner sind
serienmäßig mit HEPA-Filtern ausgestattet,
die 99,95 Prozent aller Partikel
in Bakteriengröße – erfasst wurden Elemente
ab einer Größe von einem Mikron
– aus der Luft entfernen, wie Tests nach
der Norm EN 1822 ergaben. So werden
die Hände mit sauberer, gefilterter Luft
getrocknet.
1. Die Umweltauswirkungen von
Elektrogeräten und
Papierhandtüchern wurden vom
Carbon Trust gemessen. Die
Berechnungen wurden mit der
Software Footprint Expert Pro
auf Grundlage einer Produktnutzung
über fünf Jahre und mit
gewichteten Durchschnitten der
einzelnen Einsatzländer erstellt.
Die Trocknungszeiten wurden
mithilfe der Dyson Testmethode
769 getestet.
2. Für die Berechnung der möglichen
Einsparungen wird ein
durchschnittlicher Strompreis
von 0,1 Euro pro Kilowattstunde
zum Stand vom 1. Dezember
2018 zugrundegelegt. Die
Berechnungsgrundlagen werden
auf der Internetseite
www.dyson.de/calcs erläutert.
Die Bedienung der Geräte erfolgt dabei
berührungslos: für eine optimale Hygiene
beim Trocknen der Hände. Zwei 690
Kilometer pro Stunde schnelle Luftströme
streifen das Wasser von den Händen
ab und sorgen für eine schnelle Trocknungszeit
innerhalb von zehn bis 14
Sekunden.
Positiver Nebeneffekt: weniger
Aufwand und geringere Kosten im
Betrieb
Die Dyson Airblade Händetrockner
sind wartungsfrei und nicht mit zusätzlichem
Aufwand verbunden. Bereiche
wie Beschaffung, Lagerung, Wiederauffüllen
und Entsorgung entfallen, sodass
das Personal Zeit sparen kann. Personalausfall
oder mögliche Lieferengpässe
tangieren somit den Betrieb von
Waschräumen nicht. Des Weiteren können
die Dyson Airblade TM Händetrockner
bis zu 99 Prozent der Betriebskosten
im Vergleich zu Papierhandtüchern einsparen
(siehe Infokasten).
Zufriedene Kunden sind der beste
Beweis
Nach den ersten Monaten der Nutzung
stellt der stellvertretende Ausstellungskoordinator
Marcel Rathman fest:
„Mit der kurzen Trocknungszeit können
wir Energie einsparen. Auch die Warteschlangen
sind verschwunden, und die
Waschräume sehen jetzt sehr viel sauberer
aus. Die Besucher sind begeistert
von Hightech pur.“ f
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
37
Innovation
Kooperationen
mit Gewinnchancen
Von Gerd Pfitzenmaier
Wenn Start-ups und
etablierte Unternehmen
zusammenarbeiten,
prallen Welten
aufeinander. Experten
aber entdecken darin
auch Möglichkeiten.
38 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Foto: g-stockstudio / iStockphoto.com
„Doch“,
sagt Kevin Kuhn. Es stimme
durchaus. Er kenne Startups,
in denen eine Tischtennisplatte
im Büro steht. Manchmal auch ein Kickertisch, und
auf den Arbeitsplatten darf die Schale mit Frisch-Obst ebenso
wenig fehlen wie im Kühlschrank hippe Szenedrinks. „Das ist
nicht nur ein Klischee“, bestätigt der Mitgründer der EcoToiletten
GmbH aus Rudersdorf in Brandenburg, „das ist Teil der
Identität in der Szene.“
Mit seinem eigenen Start-up stellt Kuhn seit 2013 Kompost-WCs
bei Veranstaltungen auf, will damit dazu beitragen, irgendwann
pro Jahr und Mensch 16.000 Liter Trinkwasser sauber
zu halten und fruchtbaren Humus statt giftigen Klärschlamm
aus den etwa 50 Kilogramm Feststoffen und 440 Litern
Urin zu erzeugen, die jeder Mensch pro Jahr ausscheidet.
Seine unternehmerische Vision: Allen fast zweieinhalb Milliarden
Menschen auf der Erde, die bis dato noch keinen Zugang
zu Sanitäranlagen haben, endlich ein stilles Örtchen bieten zu
können.
Inzwischen verhandelt Kuhn zumindest schon einmal mit
ersten Großkunden wie der Deutschen Bahn oder den Berliner
Verkehrsbetrieben. Er will mit seinen Toiletten auch den
Kundenservice der Mobilitätskonzerne aufpolieren. Der Jungunternehmer
hat erkannt, dass das Geschäft mit Bigplayern
lukrativer sein wird als der tägliche Kampf um Klein-Abnehmer.
„Die Zahlen forderten ein Umdenken“, erzählt er. Also
saßen Gründer und Team zusammen, diskutierten die Lage,
beschlossen ein verändertes Businesskonzept – und setzten es
um.
Das war typisch für Start-ups. Auch Claudio Vietta kennt die
Situation. Auch er musste mit seinem Start-up Leef, das Einweggeschirr
aus nachwachsenden Rohstoffen produziert, erkennen,
dass seine Ursprungsidee nicht trug. Binnen sechs
Monaten krempelte er mit seinen Mitgründern und einigen
Mitarbeitern den Laden um. Heute floriert das Geschäft. „Das
geht vor allem, weil wir näher an unseren Kunden sind als Mitarbeiter
großer Konzernstrukturen“, verrät er das Geheimnis:
„Beschlossen, gemacht!“ Die Geschwindigkeit, mit der Jungunternehmen
auf geänderte Vorzeichen im Markt reagieren,
übertrumpft die Reaktionsmöglichkeit alteingessener Firmen.
Bei einer Messe in Südamerika erkannte Vietta das Potenzial
seines Einweggeschirrs aus Blättern. Binnen eines Halbjahrs
baute er den neuen Vertriebskanal inklusive Büro und Angestellten
vor Ort auf dem anderen Kontinent auf. „In einem
großen Laden wäre sowas nicht vorstellbar“, meint er. Zu viele
Abstimmungen und zu viele Mitentscheider zerreden dort oft
noch immer wichtige und richtige Lösungen. In Großbetrieben
ist solch rasches Umsteuern kaum denkbar, dort reden zu >>
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
39
Innovation
Foto: PeopleImages / iStockphoto.com
viele Hierarchieebenen mit. „Mit Controller-Denke
klappt das nie“, sagt Claudio
Vietta.
In der zu so etwas wie einem Hauptstadtbüro
umgewidmeten Altbauwohnung im
Hinterhaus am Prenzlauer Berg in Berlin
sitzen Kevin Kuhn und ein Kollege
derweil am Küchentisch, bearbeiten an
ihren Laptops Dokumente und fischen
in einer Holzschale nach Keksen. Knabbern
verschönert auch dem Team der
Ökoklosettanbieter das Tagwerk. Solch
eher zwangloses Ambiente gilt als Markenzeichen
der Szene. Sie wirbt für sich
mit „flachen Hierarchien“, setzt auf Entscheidungsfindungen
im Kollektiv und
gründet ihre Geschäftsmodelle auf Digitalprozesse.
Hier sind, was natürlich
auch eine Generationenfrage ist, grundsätzlich
alle per Du – selbst mit den
Chefs. Und alle suchen sie eine „Arbeit
mit Sinn“. Dafür rackern sie schon einmal
über die Maßen, fragen nicht nach
Mindestlöhnen. Als – wie im Frühjahr
2020 geschehen – in New York beim
Szene-Finanzportal Kickstarter, auf dem
auch viele deutsche Start-ups Startkapital
zu finden hoffen, die Belegschaft sich
erdreistete, einen Betriebsrat zu fordern,
schlugen die Wellen hoch. Deutschen
Tageszeitungen war das eine News wert.
„Bällebad und Kickertisch waren gestern“,
schrieb etwa die Berliner taz, „was
aussehen wollte wie eine individuelle
Überwindung des kapitalistischen Gegensatzes
zwischen Kapital und Arbeit,
ist inzwischen in der Realität klassischer
Ausbeutung angekommen.“
Die Mehrheitsgesellschaft hat also
längst das Paradies okkupiert: Oben gut
dotierte Manager und unten Malocher
in Sweatshops. Plötzlich erinnern sich
auch andere, die aufgebrochen waren,
im Land der Start-ups die bessere Art
des Arbeitens zu finden, an Schreckliches:
Die Gründerszene stelle sich gerne
als „effizient, mitarbeiterfreundlich und
offen dar“, hatte 2017 der Tagesspiegel
40 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
berichtet. Hinter dem schönen Versprechen
fanden die Journalisten dann aber
„Ausbeutung und absichtlich unterentwickelte
Produkte am Rande der Legalität“.
Ganz anders die reine Idee: Authentizität,
Charakter, Agilität und Leidenschaft
– die Schlagworte kennzeichnen Startups
als Kraftquell der Wirtschaft. Inspirationsbuden,
in denen Kreative neue
Verfahren, Produkte und Dienstleistungen
kreieren, haben längst den Nimbus
des Exotischen oder gar des Singulären
abgestreift: Weil immer wieder geniale
Ideengeber durchstarten und mit den
finanziellen Spritzen von Investoren
ein florierendes Business stemmen, das
mitunter binnen kurzer Zeit sogar den
Status von millionenschweren, so genannten
„Einhörnern“ erreicht, werden
Start-ups und deren Gründer inzwischen
längst auch von Ökonomen in etablierten
Unternehmen ernst genommen. Sie
werden sogar regelrecht umgarnt oder
gelockt. Dickschiffe der deutschen Wirtschaft,
die jahrelang darauf vertrauten,
dass die Dynamik ihres Dampfers die
Spur auch durch höhere Wogen schon
halten werde, erhoffen sich nun von den
Start-ups Mumm für ihre Muskeln und
Schwung für die eigenen Strukturen.
Sie setzen beim Blick in die Zukunft
nur noch selten ausschließlich auf eigene
Forschung und Entwicklung. Sie
erhoffen sich vielmehr von der Kooperation
mit outgesourcten Kreativen den
Schwung, der das schlingernde Geschäft
wieder auf Kurs bringt. Nicht selten
spielt dabei deren Nähe zum universitären
Umfeld, in dem sie ihre Fähigkeiten
lernten und erprobten, eine entscheidende
Rolle. Sie ist der Trigger dieser Partnerschaften.
Und durchaus auch neues
Wissen – etwa im Digitalen, wo Junge
den Erfahrenen oft einfach voraus sind.
Auch für Start-up-Gründer gibt es Gründe,
die Nähe zu etablierten und kapitalstarken
Unternehmen zu suchen.
71 Prozent der Neu-Chefs aus der
IT-Szene können sich die Übernahme
durch ein größeres Unternehmen vorstellen,
behauptet das Zukunftsinstitut
in seinem 2017 publizierten Leadership-Report.
Für Biotech- wie Fintech-
Start-ups gelten ähnliche Werte. Motto:
Neues schaffen und Exit. Mit der Strategie
winkt rasch gutes Geld. Darauf arbeiten
viele der Gründer hin – auch wenn
ein solcher Plan einer neuen und sozialeren
Arbeitswelt diametral entgegen
steht und die Denke eher aus der frühkapitalistischen
Zeit stammen dürfte.
Spätestens seit am 4. April 1975 in Albuquerque
(New Mexico) die US-Jungs
Bill Gates und Paul Allen ihre Softwarefirma
Microsoft in ihrer heute berühmt
gewordenen Garage gründeten, gelten
solch dynamische Business-Cracks als
Hoffnungsträger verkrusteter Unternehmenskulturen.
Produkte oder Dienstleistungen,
die weitere Märkte erschließen
und so die Existenz in der Zukunft
sichern helfen, erwarten sich viele gestandene
Chefs zurzeit eher von Startups
und ihren agilen Gründern als wie
ehedem von eigenen Ingenieuren und
Buchhaltern.
„Hier werden Utopien real“, erklärt Markus
Sauerhammer das Phänomen. Der
Vorstand des Social Entrepreneurship
Netzwerk Deutschland (SEND), einem
Verein unter dem Dach des Bundesverbands
Deutsche Start-ups, empfängt –
„Bällebad und
Kickertisch waren
gestern.“
ganz dem Image der Szene gehorchend
– Gesprächspartner in einem Kreuzberger
Café. Sauerhammer klappt den
Laptop zu, vor dem er inmitten anderer
Menschen sitzt und gewartet hat. Die
Geräuschkulisse aus Geklapper von
Cappuccinotassen und Geplapper anderer
Gäste stört seine Hymne auf die
Start-ups wenig. Sauerhammer wirkt
nicht nur wie, er ist ein Überzeugungstäter:
„In Umbruchzeiten braucht es
Gestaltungsräume“, quillt der gelernte
Landwirt, studierte Ökonom und nach
Jahren der Begleitung vieler Start-ups
zu deren Funktionär mutierte Lobbyist
über: „Veränderungen erreichen wir
nicht nur mit Reden, das reicht nicht
mehr. Wir müssen handeln.“ Start-ups
dürften nicht das alte System replizieren,
sie stünden vielmehr für Neues.
„Damit haben wir die Chance, auf friedliche
Weise den Umbruch zu gestalten.“
Disruption heißt sein Schlüsselwort, an
das er und die Szene fest glauben. Sie
wollen die Welt aus den Angeln heben.
Vielen Gründern gelang genau dies. Inzwischen
florierende Unternehmen wie
N26, Flixbus, Zalando, CureVac, Blabla-
Car, Hellofresh oder Delivero sind dafür
nur einige der bekannten Belege. Geholfen
hat dabei oft der virtuelle Austausch
in der Datenwelt des Digitalen. Das
verschlankt Prozesse, verkürzt Wege
zwischen Anbietern und Kunden, spart
damit Zeit und meist Geld. Solche Konzepte
begeistern Investoren. Dafür >>
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
41
Innovation
bieten sie Milliarden für den Aufbau der
Neuunternehmen.
Wirtschaft wird salonfähig – oder sogar
zur TV-Unterhaltung. Die Höhle der
Löwen begeistert Millionen Fernsehzuschauer
zur Primetime für ein Thema,
das noch vor wenigen Jahren der
Berliner Wirtschaftsprofessor Günter
Faltin – selbst erfolgreicher Initiator von
Unternehmen wie der Teekampagne –
als „völlig unterbelichtet“ einstufte.
Faltin machte in Deutschland eine ablehnende
Grundhaltung der Menschen
gegenüber allem Ökonomischen dafür
verantwortlich und sprach vielen ab, die
Zusammenhänge der Märkte zu verstehen
– weil Schulen und Lehrer versäumt
hätten, es ihren Pennälern zu erklären.
Bei der Deutschen Bundesstiftung Umwelt
(DBU) begleitet auch Jörg Lefèvre
seit 1992 etwa 100 Technologie-Entwicklungsprojekte
pro Jahr. Er schöpft
also aus einem reichen Fundus an Erfahrungen,
wenn er über Start-ups Auskunft
gibt. „Seit mehr als 5 Jahren befasse
ich mich systematischer mit dem
Gründungsumfeld“, sagt er. Etliche der
von ihm betreuten Projekte befassten
sich mit der Gründungsumfeldanalyse
oder mit den Interdependenzen zu Nachhaltigkeit
und Digitalisierung. Lefèvre
ist Spezialist im Themenfeld. 2019 legte
er mit einem Team der DBU eine Förderinitiative
auf – im „Green-Start-up Sonderprogramm“
prüfte er inzwischen 130
Anträge auf Förderung.
Der Experte sieht immer wieder, wie
gute Ideen in etablierten Unternehmen
einfach „versanden“: weil Arbeitsroutinen
sich als „Innovationskiller“ entpuppen,
wie er glaubt. „F&E-Projekte
scheitern daran, dass zwar oft das notwendige
Know-how in Firmen da, aber
Fachpersonal nicht verfügbar ist.“
Die Lage spitze sich noch weiter zu,
weil etwa „mehr als 10.000 umwelttechnische
Unternehmen zurzeit keine
Perspektive für den anstehenden Generationenwechsel
haben“. Das biologische
Alter solcher von ihm als „Silberrücken“
titulierten Firmenlenker gehe
laut DBU-Spezialist Lefèvre „oft analog
Goldgräberstimmung
am Gründermarkt
mit einem Alterungsprozess in Produktportfolios
oder Produktionsverfahren“
einher. Die Dynamik der Digitalisierung
verstärke den Prozess. Die Schere klafft
also immer weiter auseinander. Der Experte
der DBU weiß aber, dass solche
Unternehmer über „Eigenkapital, Markterfahrung,
Netzwerke, Marktzugänge“
verfügten.
Darin sieht Lefèvre nun die große
Chance für die Zusammenarbeit von
Start-ups mit etablierten Playern der
Wirtschaft. Hier liege der Schlüssel zur
Kooperation zwischen jungen Gründern
mit ihren zeitgemäßen Lösungsansätzen.
Dies treibe eine neue Gründungsdynamik,
glaubt der Experte,
und lege den Schalter um. Statt arbeitsmarktbedingten
„Notgründungen“, die
laut seiner Erkenntnis rückläufig seien,
„sind ‚Chancengründungen‘ auf dem
Vormarsch“.
Goldgräberstimmung am Gründermarkt:
Per Definition sind die Gründerinnen
und Gründer meist jung.
Ihr Start-up ist ein digitalgetriebenes
Neubusiness, dessen Geschäftsmodell
rasch skalierbar ist. Start-ups also
sind auf rasches Wachstum ausgelegt.
Das bringt zumindest jene, deren Mitarbeiter
auf mehr Sinn in ihrer Arbeit
hofften, durchaus in Bedrängnis. Hier
kollidiert der Anspruch auf rasches Firmenwachstum
– meist um Investoren einen
rentablen Ausstieg zu sichern – mit
der Erkenntnis, dass ökologisches Wirtschaften
auch mit weniger Wachstum zu
vereinbaren sei.
Anspruch und Wirklichkeit. Auch wenn
laut Szene-Funktionär Markus Sauerhammer
rund 90 Prozent der Start-ups
scheitern, viele Gründer mehrere Anläufe
nehmen und andere zumindest
ihr Geschäftsmodell mindestens einmal
korrigieren: Das Konzept der jungen
Firmengründer scheint zu funktionieren.
In Deutschlands Start-up-Metropole
Berlin sind laut der jüngsten Erhebung
der grünen Wirtschaftssenatorin Ramona
Pop Anfang 2020 gut 3.000 Start-ups
im Tech- und Digitalbereich am Start.
78.000 Menschen fanden im Segment
einen Job, in den zwei jüngsten Jahren
schuf die Szene 19.000 neue Arbeitsplätze,
die meisten in kleineren Firmen,
etwa 30 Prozent aber auch in Betrieben
mit mehr als 150 Mitarbeitern.
Dennoch: Die Unterschiede in Deutschland
variieren heftig. Während die drei
Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen
laut einer Auswertung des Analysedienstes
Start-updetector mit 1,6 Prozent
Start-ups an allen Unternehmensgründungen
in Deutschland die Nasen vorn
haben, dominieren unter den Flächenländern
Bayern, Nordrhein-Westfalen,
Baden-Württemberg und Hessen. Dort
42 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
siedeln sich Start-ups vornehmlich in
den Branchen Software, Medizin, Lebensmittel
und Hardware an.
Nach einer Statistik der KfW-Bankengruppe
waren an den zusammen im Jahr
2018 gegründeten rund 70.000 Startups
129.000 Gründerinnen und Gründer
beteiligt. Auf jedes Unternehmen
kamen damit rein rechnerisch 1,8 Initiatoren.
Die sammeln immer mehr Startkapital
bei Investoren. Laut einer Studie
der Beratungsgesellschaft EY akquirierten
Start-ups in Deutschland 2019 mit
6,2 Milliarden Euro 36 Prozent mehr als
im Jahr zuvor. Ein Zeichen, dass immer
mehr etablierte Kapitalgeber den Nachwuchsunternehmern
vertrauen. Die versprechen,
dieses Kapital zu mehren.
Diese beiden Welten – hier junge Ideen,
dort etablierte und kapitalstarke
Strukturen – will Jörg Lefèvre versöhnen.
Er sieht eine „kluge mikro- sowie
makroökonomische Strategie darin,
etablierte Unternehmen mit Marktzugang
und ‚Branchenwahrnehmung‘
mit Nachwuchsunternehmen so miteinander
in Kontakt zu bringen, dass
dabei Mehrwerte entstehen“. Die allzu
harsche Kritik an der Wachstumsphilosophie
der Start-ups teilt er nicht ganz.
„Selbstverständlich kann das billige
Abschöpfen von Know-how (so etwas
gibt es durchaus in manchen geförderten
Verbundforschungsprojekten) kein
befriedigendes Kooperationsergebnis
sein“, räumt er zwar ein. Für die Skalierung
junger Geschäftsmodelle im
Sinne einer „positiven“ Disruption statt
sukzessiver Substitution könne jedoch
der gut organisierte Kontakt zwischen
den beiden „Welten“ zur Win-win-Situation
werden. Sein ausgleichendes Fazit
zum Kontakt zwischen Start-ups und
etablierten Unternehmen: „Auch bei
engeren Kooperationen, wo dann Markt
und Kapital sich mit Innovation und
Zeithorizont verbinden, ist sehr viel zu
gewinnen.“ f
Foto: PeopleImages / iStockphoto.com
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
43
Innovation
Große Pläne!
Visionäre, Fantasten und Erfinder
Große Erfindungen sind immer
untrennbar verbunden mit
den Menschen, die sie gemacht
haben. Aber was zeichnet
Erfinder aus? Vor allem, dass sie ein
Problem erkennen und sich nicht damit
abfinden, sondern eine kreative Lösung
suchen und finden. Damit die nicht von
anderen einfach kopiert wird, gibt es
Patentämter. Besonders fleißig in der
Patentanmeldung ist übrigens der 1958
in Australien geborene Kia Silverbrook.
Er bringt es auf über 9.000 Patent-Anträge.
Wie? Sie haben noch nie von ihm
gehört? Schon möglich – und das bringt
uns auf ein weiteres Problem vieler Erfinder:
Nicht jedem bringt seine Erfindung
auch Anerkennung, geschweige
denn Wohlstand. Richard Vetter zum
Beispiel ist ein vor einigen Jahren gestorbener
Erfinder aus Peine. Von ihm
stammt der erste Voll-Brennwertkessel
(„Vetter-Ofen“) – super umweltfreundlich,
hochgelobt (1987 erhielt er den
Umweltschutzpreis) und doch erfolglos.
TÜV & Schornsteinfeger wollten sich
nicht vorstellen können, dass es auch
anders geht. „Das haben wir schließlich
schon immer so gemacht“. Funktionale
Fixiertheit nennt das der Psychologe.
Reden wir also lieber über die Helden,
wie etwa Thomas Alva Edison, Werner
von Siemens oder Robert Bosch.
Alle drei waren nicht nur überaus erfolgreiche
Erfinder, sondern auch geschäftstüchtige
Unternehmer: Der eine
gründete General Electric, die anderen
beiden benannten die Firma nach sich
selbst. Ihre Erfindungen waren nicht
bloß pfiffig, sondern trafen den Nerv
der Zeit, und so wurden sie Vorreiter
der wichtigsten Industriebranchen des
20. und wohl auch 21. Jahrhunderts:
Energieversorgung, Kommunikation
und Mobilität.
Welche Erfindertypen
gibt es? Wir
hätten uns dem
Thema sachlich
nähern und
Persönlichkeitstests
anwenden
können – Big Five,
Myers-Briggs-
Typenindikator,
HEXACO Modell
usw... Personaler
wissen, worüber
wir reden. Letztendlich
führt uns
das zu weit weg
vom Innovationsthema,
daher
präsentieren wir
Ihnen hier eher eine
launige Typologie:
Der Tüftler
Der Tüftler ist jemand, der mit viel Geduld und Ausdauer so lange an einem
Detail arbeitet, bis es (wieder) funktionsfähig ist. Berühmtes Beispiel ist
Daniel Düsentrieb. Er erblickte 1952 auf dem Zeichenbrett von Carl Barks
das Licht der Welt. Daniel Düsentriebs Wahlspruch in den deutschen
Ausgaben lautet „Dem Ingenör ist nichts zu schwör“ und macht ihn damit
zum Verwandten des deutschen Ingenieurtums. Sein Originalname Gyro
Gearloose ist aber eher eine Anspielung auf „to have a screw loose“
(dt. „eine Schraube locker haben“).
Foto: robotcity / stock.adobe.com
44 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Foto: Aerostat_18th_1853_www.neo-cortex.fr / stock.adobe.com
Der
Visionär
Visionäre sind
vor allem eins:
hoffnungslose
Idealisten.
Die Welt steckt
voller aufregender
Möglichkeiten. Oder
wie der amerikanische
Philosoph und
Bürgerrechtler Howard
Thurman sagte: „Frag
nicht, was die Welt
braucht. Frag, was
dich mit Leben erfüllt,
und tu das. Denn
was die Welt braucht
sind Menschen, die ihre
Bestimmung gefunden
haben.“
Foto: J.M. / stock.adobe.com
Der Macher
Erfinder scheitern
immer wieder daran,
dass die Idee stimmt,
aber nicht die
Vermarktung.
Das kann man
mit Sicherheit
nicht über Steve
Jobs sagen. Er
war nicht bloß
Mitbegründer von
Apple und ihr langjähriger CEO. Jobs war
vielmehr Markenbotschafter und Markenbotschaft in einem.
Steve Jobs war Apple. Als Mensch war Steve Jobs,
sagen wir es so: schwierig. Kollegen fürchteten seine
arrogante und kaltherzige Art. Geschäftspartner bewunderten
seine Fähigkeit, das Potenzial hinter einer Idee zu
erkennen. „Verlassen. Ausgewählt. Besonders.“ Mit diesen
Worten hat sein Biograf Walter Isaacson ihn treffend
charakterisiert.
Foto: AA+W / stock.adobe.com
Der „deutsche
Ingenieursgeist“
Wann immer von „Made in Germany“
die Rede ist, wird der deutsche
Ingenieursgeist beschworen. Der
Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser
sagt, dieser Mix aus Technik
und Wissenschaft sei ein Produkt
der „Forschungsuniversität“. Dieses
Uni-Konzept entstand zu Beginn des
19. Jahrhunderts auf Betreiben
Preußens. Die Idee: Hochschulen
forschen wirtschaftsnah, und die
Wirtschaft fördert ihrerseits solche
Lehrstühle (Stichwort: Stiftungsprofessur).
Überraschenderweise zündete
die Idee im Stammland Preußen eher
weniger. Dafür umso besser in einer
weit entfernten Provinz: Dem
Schwabenland.
>>
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
45
Innovation
Das erkannte Genie
Der Universalgelehrte (genius universalis) ist das Ideal
der Wissenschaft seit den Tagen der Antike. Er beschert
uns nicht nur geniale Ideen, sondern vor allem den „Blick
über den Tellerrand“, weil die Person auf verschiedenen
Wissensgebieten außergewöhnliche Leistungen
vollbringt. Solche Typen sind naturgemäß selten und
strahlen über alle Zeiten hinweg: Der Altägypter Imhotep,
der Grieche Aristoteles, der Perser Ibn Sina, der Deutsche
Alexander von Humboldt und natürlich und immer wieder
an erste Stelle genannt
der aus Italien
stammende
Leonardo
da Vinci.
Foto: euthymia / stock.adobe.com
Das verkannte Genie
Es ist nicht
jedem
vergönnt, zu
Lebzeiten
die Anerkennung
zu
bekommen,
die er oder
sie verdient
hätte. Der
Autor habe
„schlicht
einen Dachschaden“,
und das
Buch sei eine
„schlampig
hergestellte
Mixtur“, bescheinigten
zum Beispiel
Kritiker einem damals 33 Jahre jungen Autor, den das
so mitnahm, dass er für zwei Jahrzehnte das Schreiben
sein ließ und seinen Lebensunterhalt als Zollinspektor in
New York verdiente. Sein Name: Herman Melville. Das
Buch heißt „Moby Dick“.
Foto: ratpack223 / stock.adobe.com
Der Perfektionist
Im Beliebtheitsranking ähnlich schlecht
schneidet auch dieser Kandidat ab:
Ferdinand Piëch. Geboren wurde er in
eine Familie mit „Benzin im Blut“. Sein
Großvater Ferdinand Porsche baute den
ersten VW-Käfer und begründete den
Volkwagenkonzern. Sein Onkel Ferry
Porsche stand auf schnellere Modelle
und gründete die Automarke Porsche.
Piëch wurde von Kindesbeinen an
zum Autoerben erzogen: Maschinenbau-Studium
und Ingenieursabschluss,
Entwicklungsabteilung bei Porsche,
Technikvorstand bei Audi, schließlich
dann Vorstandsvorsitzender und später
Aufsichtsratschef der Volkswagen AG.
Piëch galt zeitlebens als „Herr der
Ventile und Zylinder“ – mit Akribie und harter Hand machte er aus Volkswagen einen der größten Autokonzerne der Welt. Sein
Biograf Wolfgang Fürweger sagte über ihn: „Piëch ist kein harmoniebedürftiger Mensch“.
Foto: franz12 / stock.adobe.com
46 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Foto: Otto-Lilienthal-Museum, Originalfoto:Ottomar Anschütz, 1893
Das gescheiterte Genie
Scheitern gehört zum Schaffen. Die wahre
Größe liegt in der Art, wie man damit umgeht
und den Mut aufbringt, immer wieder aufzustehen.
So gesehen war der Mecklenburger
Otto Lilienthal (1848-1896) ein sehr mutiger
Mann. Trotz ungezählter Rückschläge ließ
er sich nicht von seinem Traum vom Fliegen
abbringen. Schon als kleiner Junge schnallte
er sich Bretter an die Arme, rannte auf
einen Abhang zu, und... naja, man kann sich
denken, wie die Geschichte endete. Otto
Lilienthals Fiaskos waren so bekannt, dass
seine Flugversuche stets eine große Schar
an Schaulustigen anzogen. Am 9. August
1896 stürzte er in Berlin vor den Augen des
Publikums aus 15 Metern Höhe ab und zog
sich dabei schwere Verletzungen zu, denen
er Tage später erlag. Auf dem Sterbebett
soll er lapidar gesagt haben: „Opfer müssen gebracht werden“. Zu seiner Zeit ein Spinner, leistete Otto Lilienthal mit seinen
(Fehl)-Versuchen dennoch wichtige Vorarbeiten für die Aerodynamik und gilt heute als einer der Pioniere der Luftfahrt.
Der Deutsche Nachhaltigkeitspreis Design prämiert ab sofort
vorbildliche Beispiele nachhaltiger Gestaltung: etablierte Ikonen,
aktuelle Vorreiter und Visionen für eine nachhaltigere Zukunft.
Gesucht werden Produkte, Dienstleistungen und Systeme, die
einen wirksamen Beitrag zur Transformation leisten.
Teilnehmen können Unternehmen jeder Größe, Designer/innen
innerhalb und außerhalb von Agenturen, Studierende
und Startups.
Bis zum 15. Juni 2020 bewerben:
www.nachhaltigkeitspreis.de/design
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
47
Innovation
Foto: sewcream / stock.adobe.com
Social Impact Economy:
KONSUM FÜR EINEN GUTEN
ZWECK
T E I L E I N E R B E S S E R E N Z U K U N F T
Von Dr. Alexandra Hildebrandt
48 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
„Sei mal positiv. Glaub an das Gute und
Richtige! Erkenne deine Stärken und
Möglichkeiten!“, sagte die Fernsehköchin
und Autorin Sarah Wiener vor einigen
Jahren dem Magazin FOCUS. Sie
wollte Menschen ins Herz treffen und
zum Aufstehen bewegen, auch wenn das
Kommende ungewiss ist und viele mit
dem Begriff Urvertrauen nichts mehr
anzufangen wissen. Ohne Urvertrauen
könne der Mensch nämlich morgens
sein Bett nicht verlassen, bemerkte einst
der Soziologe Niklas Luhmann: Es wird
auf etwas vertraut, ohne zu wissen, welche
Erfahrungen folgen werden. Das ist
oft verlässlicher als der mühsame Versuch,
dem Leben die eigenen Bedingungen
aufzudrücken. Urvertrauen und Optimismus
sind miteinander verbunden.
Max Roser, Ökonom am Institute for New
Economic Thinking (INET) in Oxford,
studierte erst Philosophie und wechselte
dann zur Ökonomie. Ihn überraschte,
dass die Nachrichten voll von schrecklichen
Ereignissen sind, sich langfristig
aber positive Entwicklungen zeigen,
die allerdings in den Medien kaum erwähnt
werden. Auf seiner Website „Our
World in Data“ trägt er alles zusammen,
was wir über die Entwicklung der Welt
wissen und postet regelmäßig ein Diagramm,
das verdeutlicht, dass die Welt
in vielerlei Hinsicht besser wird. Dafür
wirbt er auf Twitter: „Warum ich optimistisch
bin“. Leider ist es aber häufig
so, dass jene, die die Welt optimistisch
betrachten, dafür belächelt und für naiv
gehalten werden.
Die Sehnsucht nach Sinn steht im
Zusammenhang mit einem neuen
Optimismus
Während sich der Ansatz von Max Roser
auf statistisches Material beschränkt,
finden sich in „Good“, einer globalen,
redaktionellen HuffPost-Initiative, vor
allem Geschichten über Menschen, die
Lösungen für sehr reale Herausforderungen
unseres Lebens bereithalten.
Diese Sehnsucht nach mehr Sinn steht
in Zusammenhang mit einem neuen
Optimismus. Nachhaltigkeit bedeutet
für den internationalen Managementexperten
Tim Leberecht „den Zugang zu
essentiellen Fragen, zu authentischen
Gefühlen und markanten Erfahrungen,
die das schnelllebige Geschäft und die
Tyrannei des Jetzt überdauern.“ Vor allem
in der digitalen Netzwerkökonomie
sollten Unternehmen durch ihre Produkte
und Kundenerfahrungen, aber
auch ihre Firmenkulturen, langfristig
Sinn stiften. „In Märkten geprägt von
Maximierung und Optimisierung (Optimierung?)
können sie Entgrenzungen
und Grenzerfahrungen ermöglichen, die
über den reinen Profit hinausgehen und
neben dem gesellschaftlichen und dem
ökologischen Impuls eine zutiefst subjektive,
romantische und somit zutiefst
humanistische Welt schaffen.“
„Corporate Social Responsibility“,
„Conscious Capitalism“, „Purpose-Driven
Business“, Benefit Corporations
und andere Konzepte, die auf die positive
gesellschaftliche Wirkung des Unternehmens
abzielen, sind allerdings
häufig zu abstrakt für die Mitarbeiter.
Tim Leberecht interviewte für sein
Buch „Business Romantiker“ Angestellte
von „Conscious Capitalism“-Firmen,
zum Beispiel vom Outdoor-Bekleider
und Ausrüster Patagonia. Einige der
Befragten gaben zu, dass sie sich zwar
mit der Mission ihres Unternehmens
vollkommen identifizieren und auch
davon inspiriert seien, sich allerdings
oft im Arbeitsalltag gelangweilt fühlten.
Es gibt also offensichtlich auch da
eine „Entzauberungskluft“ zwischen
Abstraktion und konkreter Erfahrung.
Einer der Interviewten beklagte sogar,
dass er sich manchmal vorkäme, als sei
er in einem „Tue Gutes“-Hinterland und
vertraute ihm an, dass er sich heimlich
nach der Intensität von stärker konkurrenzorientierten,
darwinistischen Kulturen
an der Wall Street oder im Silicon
Valley sehnte. Hier kommt die Business-
Romantik ins Spiel, denn sie schlägt die
Brücke zwischen der Mission des Unternehmens
und dem Erleben von vielen
kleinen intensiven, sinnstiftenden Momenten
in der alltäglichen Arbeit. >>
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
49
Innovation
Immer mehr Menschen probieren
heute aber auch Lösungsansätze im
Kleinen aus, die morgen im Großen
funktionieren können.
Der Deutsche Social Entrepreneurship
Monitor 2019 zeigt, dass Sozialunternehmen
gesellschaftliche Wirkung
über finanzielle Rendite stellen, innovative
Lösungen entwickeln und eine
überdurchschnittlich hohe Gründerinnenquote
haben. Dass in einem Café
Trinkgeld gegeben wird, ist etwas Selbstverständliches,
aber was wäre, wenn Arbeiter*innen
weltweit Trinkgeld für ihre
Arbeit erhielten – und das direkt beim
Kaufen von Produkten? Die Vision von
tip me ist es, Lösungen für faire Wertschöpfungsketten
anzubieten. Transparenz
und Verantwortung in Lieferketten
sollen gestärkt und Konsument*innen
darin unterstützt werden, informierte
und nachhaltige Entscheidungen zu
treffen. Dafür werden die digitalen Möglichkeiten
genutzt. Die Idee für das globale
Trinkgeld hatte Jonathan Funke bei
einer Demonstration gegen Primark. Es
fühlte sich für ihn nicht richtig an, dass
ein T-Shirt weniger kostet als eine Tasse
Kaffee. Wenn wenige Cent direkt und
sicher an die Näher*innen gehen würden,
könnte dies ihr Leben wirksam verändern.
Auf Konferenzen traf er seine
zwei Mitstreiter, die auf internationaler
Ebene im Bereich der Armutsbekämpfung
arbeiteten und die Auswirkung
von Transparenz in globalen Lieferketten
studierten und IT-Expertise hatten.
Gemeinsam ließen sie die Idee zu einem
Sozialunternehmen heranwachsen. Sie
möchten Geschichten von Menschen erzählen
und dadurch einen Beitrag zum
nachhaltigen Konsum leisten.
„share“ und „Vytal“
„Probiere eine bessere Welt. 1+1: Mit
deinem Kauf hilfst du gleichzeitig einem
Menschen in Not.“ Das 1+1 Prinzip
von share ist einfach: Wer ein share
Produkt kauft, sorgt dafür, dass auch
tip me: Globales Trinkgeld
Foto: Daniela Haupt / share Foto: tip me
Wer ein share Produkt kauft, sorgt dafür,
dass auch einem bedürftigen Menschen
etwas Gutes getan wird
einem bedürftigen Menschen etwas
Gutes getan wird – beispielsweise eine
Mahlzeit für jeden share Nussriegel, ein
Hygieneartikel für jede share Handseife,
sauberes Trinkwasser für jede share
Wasserflasche, mit der auch die Umwelt
geschont wird, weil sie aus 100 Prozent
recyceltem Material ist. Mit dem Kauf
einer share Wasserflasche wird ein Tag
Trinkwasser an einen Menschen in Not
gespendet. Der Anspruch an Nachhaltigkeit
spiegelt sich auch bei der Produktion
wider. So setzt die Marke konsequent
auf eine umweltschonende Kreislaufwirtschaft,
um natürliche Ressourcen zu
schonen.
Kreislaufökonomie ist auch die Basis
des Startups Vytal, das Gastronomien,
Kantinen und Supermärkte mit Gefäßen
versorgt, in denen die Kundinnen und
Kunden frische Lebensmittel transportieren
können. Die Kunden geben die
Gefäße nach der Nutzung wieder bei
einem teilnehmenden Betrieb ab, wo
sie gereinigt werden. Das soll den Müll
im Take-away-Geschäft reduzieren. Als
Bezahlmodelle gibt es die Abrechnung
pro Nutzung der Vytal-Schüsseln oder
eine Flatrate. Das System (derzeit noch
etwas teurer als Einweg) leistet einen
Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit im Außer-Haus-Verzehr.
Die Zeiten sind vorbei, in denen „Zielgruppen“
penetrant mit TV-Spots berieselt
werden konnten, um eine Botschaft
wie „Geiz ist geil“ oder „Supergeil“ in
ihr Bewusstsein zu drücken. Billigprodukte
werden heute meistens mit einer
schlechten Ökobilanz, Lohn-Dumping,
Kinderarbeit oder verantwortungslosen
Unternehmenspraktiken assoziiert. Die
bewussten und mündigen Konsumenten
von heute sind gut informiert und möchten
wissen, wo die Produkte hergestellt
werden, die sie kaufen. Besser leben
heißt für sie, anders herzustellen und zu
konsumieren. Sie sind davon überzeugt,
dass Geiz am Ende schädlich für Mensch
und Umwelt ist.
50 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Nachhaltiger Konsum heißt nicht
weniger Konsum, sondern effizienter
und bewusster Konsum.
Der symbolische Wechsel von der Ökonomie
der „Zuvielisation“ zu einer „Ökonomie
der Bedeutsamkeit“ zeigt sich in
allen gesellschaftlichen Bereichen. Bei
dem dabei stattfindenden Perspektivenwechsel
vom Wollen zum Brauchen
entstehen neue Konsum- und Geschäftsmodelle.
tip me erhält beispielsweise
eine Provision von seinen Partnerunternehmen,
weil diese vom positiven Marketing
profitieren. Dadurch kann tip me
sicherstellen, dass 100 Prozent Deines
Trinkgeldes an die Arbeiter*innen geht.
Um mit dem Unternehmen zusammenzuarbeiten,
müssen sie Transparenz
und Verantwortung in ihrer Lieferkette
nachweisen. Es wird nur mit Unternehmen
zusammengearbeitet, die fair und
nachhaltig sind und die internationalen
Arbeitsstandards der International
Labour Organization (ILO) einhalten.
Dadurch wird sichergestellt, dass das
Unternehmen ebenfalls einen Beitrag
leistet, faire und nachhaltige Lieferketten
die Norm werden zu lassen. Für
Webshopbetreiber wie ethletic und bayti
ist dieses Trinkgeldmodul auch ein
attraktives CSR-Instrument und ein Alleinstellungsmerkmal
für Kund*innen,
denen die Nachhaltigkeit ihrer Produkte
am Herzen liegt.
ChariTea: Von jedem verkauften Getränk
geht ein fester Betrag an den Lemonaid &
ChariTea e.V.
z o t t e r Schokolade: Für die Produktion
werden ausschließlich bio-zertifizierte und
fair gehandelte Rohstoffe verwendet.
Foto: z o t t e r Foto: Lea Aring / ChariTea
Der bewusste und informierte Kunde
erwartet heute Produkte, die unter akzeptablen
Umweltschutz- und Sozialbedingungen
produziert werden – wahrhaftige
Produkte also. Viele werden
heute mit einem zusätzlichen Attribut
verkauft. Neu an diesem Ansatz ist,
dass nicht das Unternehmen, sondern
der definierte Begünstigte den Benefit
hat. Darauf setzt auch seit seiner
Gründung die weltweit gemeinnützige
Organisation ChariTea: Von jedem verkauften
Getränk geht ein fester Betrag
an den Lemonaid & ChariTea e.V. Über
eine Million Euro konnte bislang in soziale
Projekte investiert werden. Die Gelder
fließen vor allem in Sozialprojekte
innerhalb der Anbauregionen wie Sri
Lanka und Südafrika. Hier machen sich
die Gründer gegen die Ausbeutung von
Kindern, für eine bessere Bildung und
ökologische Landwirtschaft stark.
Auch der österreichische Chocolatier
Josef Zotter wollte stets Lebensmittel
herstellen, die ehrlich und fair zu
Mensch und Umwelt sind. Worauf es
seiner Meinung nach ankommt, ist,
Menschen zu erklären, warum es genial
ist, wenn man an morgen denkt. Die
z o t t e r Schokoladen Manufaktur
GmbH mit Sitz in Riegersburg, Bergl
(Österreich), wurde 1999 gegründet. Für
die Produktion werden ausschließlich
bio-zertifizierte und fair gehandelte Rohstoffe
verwendet. Zudem wird Schokolade
direkt von der Bohne weg produziert
(Bean-to-Bar). Der Großteil der Branche
verwendet Halbfertigprodukte, doch
z o t t e r stellt seine Schokoladen direkt
am Standort selbst her. Die Kakaobohnen
werden nach Bergl (Riegersburg)
geliefert und verlassen die Manufaktur
erst als fertige Schokoladentafel.
Dadurch werden Transportwege eingespart.
Die Fusion der drei Kriterien Bio +
Fairtrade + Bean-to-Bar sind ein Alleinstellungsmerkmal
des Unternehmens,
das europaweit der einzige Hersteller
ist, der von der Bohne weg komplett in
Bio- und Fairtrade-Qualität produziert.
Josef Zotter verweist darauf, dass es gerade
in der Lebensmittelbranche viele
kleine Unternehmen gibt, die aus Überzeugung
nachhaltig sind. Diese müssen
ihre Kundschaft finden, haben aber leider
nicht die Werbemöglichkeiten wie
die Großen. Deshalb sollten sie ausgewählt
und besonders unterstützt werden.
Beispielsweise auch koawach, wo
mit dem Slogan geworben wird: „Wach
auf! Die Welt braucht Dich wach.“ Menschen
sollen mit Bio-Trinkschokoladen
„geweckt“ werden – alles produziert
von Bio-Bauern aus Lateinamerika, >>
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
51
Innovation
ebenfalls direkt und fair gehandelt. Das
Unternehmen sieht sein nachhaltiges
Handeln als Beitrag für eine wachere
Welt: „Fair schmeckt einfach besser.“
Die guten Produkte müssen teurer verkauft
werden, denn sie haben einen anderen
Wert als billige Massenware. Doch
was teurer verkauft werden soll, braucht
auch eine wahrhaftige Geschichte, weil
Fakten allein unser Herz nicht erreichen
können – und das ist besonders wichtig,
wenn es darum geht, uns und andere zu
bewegen.
Viva con Agua
Gründer wie Benjamin Adrion haben
eine Vision davon, wie die Welt sein
könnte: Anfang 2005 reiste der FC St.
Pauli nach Kuba, wo sie die schwierigen
Verhältnisse vor Ort sahen. Adrion war
als Mittelfeldspieler dabei. Damals kam
ihm die „spontane Schnapsidee“, die
Trinkwasserversorgung zu verbessern.
Obwohl die Erde zu drei Vierteln mit
Wasser bedeckt ist, ist nur der geringste
Teil davon (2,6 Prozent) Süßwasser, und
nur 0,3 Prozent können als Trinkwasser
verwendet werden. Es ist kostbar und
rar. Vor allem in den von Dürre geplagten
Ländern in Afrika oder Asien, wo
90 Prozent der Menschen leben, ist die
Grundversorgung mit Trinkwasser und
Sanitärdienstleistungen keineswegs gesichert.
Im September 2006 wurde deshalb die
Trinkwasserinitiative „Viva con Agua
de Sankt Pauli e.V.“ offiziell gegründet
– getragen von Adrion und unterstützt
von Mitspielern wie Marcel Eger, Florian
Lechner oder Felix Luz. Unter dem
Motto „Wasser für alle, alle für Wasser“
werden Wasserprojekte im In- und Ausland
unterstützt. Aus dem Verein heraus
wuchs ein großes und nachhaltiges Projekt:
zuerst in den Stadtteil hinein, dann
ins Land und über viele Grenzen hinweg.
Längst ist die Organisation auch in
vielen Ländern wie Uganda, Nepal oder
Äthiopien aktiv.
koawach: „Fair schmeckt
einfach besser.“
Viva con Agua: „Wasser für alle,
alle für Wasser“
Foto: Viva con Agua Foto: koawach
Jährlich werden mehr als drei Millionen
Euro Spenden gesammelt. Seit 2006
konnte Viva con Agua mit über 40 Projekten
die Lebenssituation von rund 2,5
Millionen Menschen verbessern. Seit
seiner Gründung ist Viva con Agua auch
in Deutschland aktiv, organisiert Spendenläufe
und informiert über das globale
Thema Wasser. Zum stetig wachsenden
Ehrenamtsnetzwerk gehören auch
Musiker wie Bela B, Mark Tavassol von
Gloria, Fettes Brot oder Bosse, Sportler
wie Nico Rosberg, Timo Hildebrand, Kevin
Kurányi oder Arne Friedrich. Sie teilen
nicht nur die Idee, dass sich die Welt
ändern lässt, sondern auch ihre Freude
am Machen.
Es ist so etwas wie eine Fundraising-
Kampagne im Supermarktregal und an
der Theke: Jede Flasche ist ein „flüssiger
Flyer“ und transportiert die Idee hinter
Viva con Agua. Neben dem Verein,
der Spenden sammelt, ist die Mineralwassermarke
Viva con Agua in Szenekneipen
wie Supermärkten, beim Ärzte-Konzert
wie im Hamburger Rathaus
angekommen – und schüttet jährlich
Gewinne für die Wasserprojekte aus.
„Sieh dir an, wie Viva con Agua sich für
den weltweiten Zugang zu sauberem
Trinkwasser und Sanitärversorgung
einsetzt“, schreibt David Hieatt in seinem
Buch „Bestimmung. Warum Marken
mit Sinn den Unterschied machen“.
Er hat Apple und Google beraten, mit
Howies eine der einflussreichsten fairen
Sportmarken auf dem Markt etabliert
und 2007 mit seiner Frau Clare die Do
Lectures gegründet. In seiner walisischen
Heimatstadt Cardigan stand einst
die größte Jeans-Fabrik Großbritanniens.
Diese Tradition hat er aufgegriffen
und das nachhaltige Label Huit Denim
gegründet. In seinem Buch zeigt er, wie
solche Firmen zu Vorbildern für zukünftige
Unternehmen werden. Die Besten
sehen den ganzen Menschen und nicht
nur den kleinen Teilaspekt, der ihnen
etwas nützt. f
52 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Die Welt ist voller
guter Ideen.
Lass sie wachsen.
Landwirtin Aminata Compaoré verbessert mit guten Ideen und viel Tatkraft den Anbau von Zwiebeln
und anderen Gemüsesorten in einem Dorf in Burkina Faso. Jede Spende hilft Menschen wie Aminata,
53
sich selbst zu helfen. Ihre Geschichte unter: www.misereor.de/ideen
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Neuer Konsum,
neue Ökonomie?
Lange galt für Unternehmen die Formel: mehr Konsum
gleich mehr Produktion gleich mehr Gewinn. Im Rahmen der
Nachhaltigkeitsdiskussion haben sich in den letzten Jahren
aber auch neue Arten des Konsums entwickelt – und die sind
häufig nicht nur umweltfreundlicher, sondern gleichzeitig
erfolgreiche Geschäftsmodelle.
Sharing Economy:
benutzen statt besitzen
Hinter der Sharing Economy steckt die Ökonomie des Teilens. Statt Konsumgüter
oder auch Dienstleistungen zu kaufen, leiht man sie sich (oft kostenpflichtig) aus.
So werden im Idealfall weniger Waren produziert, was wiederum Ressourcen schont.
Mittlerweile ist das Prinzip in der Wirtschaft angekommen. Und das mit einer breiten
Produktpalette: Beim Carsharing teilt man sich ein Auto mit Fremden, Co-Working-Spaces
bieten einzelne Miet-Büroplätze an. Tchibo verzeichnet mit Tchibo Share
(eine Mietplattform für Kinder- und Jugendkleidung) Erfolge, das Start-up Windelei
hingegen bietet Stoffwindeln zum Mieten an – inklusive Reinigungsservice. Allerdings
kann die Sharing Economy zu Rebound-Effekten führen, warnt das Institut für
Energie, Ökologie und Ökonomie (DFGE): Das so gesparte Geld (im Vergleich zum
Kauf) könnten Verbraucher stattdessen für andere Dinge ausgeben und so wiederum
die Umwelt negativ belasten.
54 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Dematerialisierung durch Streaming
E-Book statt Printausgabe, Musikstreaming statt CD: Digitale Produkte und Streamingdienste
ersetzen zunehmend materielle Güter. Für die Umwelt hat das einen
großen Vorteil: Die Produktion von physischen Datenträgern – wie CD, Blu-ray oder
Buch – und deren Verpackungen entfällt. Auch der Warentransport fällt weg. Das
spart Rohstoffe und CO2. Dafür müssen aber unter Umständen Geräte zur Nutzung
solcher Angebote hergestellt werden, beispielsweise E-Book-Reader. Abgesehen davon
verbraucht vor allem Video-Streaming große Mengen an Strom, insbesondere
in den Rechenzentren: Energiedienstleister E.ON geht von bis zu 200 Milliarden Kilowattstunden
Strom pro Jahr weltweit aus. Damit könnte man alle Privathaushalte
in Deutschland, Italien und Polen für ein Jahr versorgen, heißt es im Webmagazin
„E.ON Erleben“. Wie nachhaltig Netflix, Amazon Prime Video, Spotify und Co. tatsächlich
sind, liegt also auch am Nutzungsverhalten jedes Einzelnen. Immerhin: Um
die Datennetze während der Corona-Krise nicht zu überlasten, drosselten viele Streaming-Anbieter
zeitweise ihre Datenmengen durch verringerte Videoqualität.
Aus zweiter Hand
T-Shirt und Hose von den älteren Geschwistern auftragen? Was früher Gang und Gäbe
war, hat längst den Weg in die (Online-) Geschäfte gefunden. Schon seit einigen Jahren
verkaufen hierzulande zahlreiche Secondhand-Läden bereits getragene Kleidung
an andere weiter. Die Digitalisierung bringt indes neue Distributionsmöglichkeiten
mit sich: Über Online-Plattformen und Apps wie Ebay oder Kleiderkreisel kann jeder
seine „alten“ Dinge wieder zu Geld machen – oder günstig shoppen. Der Handel mit
gebrauchten Waren ist auch ökologisch sinnvoll: Laut Greenpeace fallen zum Beispiel
allein bei der Produktion eines T-Shirts knapp 2.700 Liter Wasser an. Wer also bereits
gebrauchtes kauft, spart nicht nur Geld, sondern schont auch die Umwelt.
2.
„Nackte“ Ware
Etwas neuer ist das Konzept der Unverpackt-Läden. Das Ziel: Möglichst wenig Abfall
produzieren. Die Produkte werden hier deshalb ganz ohne Karton- oder Plastikverpackung
zum Kauf angeboten. Milch gibt es zum Beispiel in Glas-Mehrwegflaschen,
Müsli, Nüsse und Pasta befinden sich in Spendern, sogenannten „Bulk Bins“. Die
Waren füllt sich jeder Kunde selbst in mitgebrachte Vorratsdosen oder Flaschen.
Ganz „nackt“ geht aber noch nicht: Die Waren kommen in den Läden nämlich in
Verpackungen an – die sind aber möglichst groß, um unnötigen Müll zu vermeiden.
Der häufigste Grund für die Ablehnung von Unverpackt-Läden, neben fehlenden Geschäften
in der Nähe, ist übrigens die Angst vor mangelnder Hygiene, hat eine Studie
von Splendid Research rausgefunden. Ob die Corona-Krise das noch verschärft, wird
sich zeigen. Dabei muss sich wegen der Sauberkeit eigentlich keiner Sorgen machen:
„Unverpackt-Läden unterliegen den gleichen Hygieneanforderungen wie alle anderen
Betriebe, in denen Lebensmittel verarbeitet werden, und unterliegen Kontrollen
vom Gesundheitsamt bzw. der Lebensmittelaufsichtsbehörde“, heißt es auf der Website
des Unverpackt-Ladens „Stückgut Hamburg“.
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
55
Innovation
Erfolgreiche Geschäftsmodelle
für Nachhaltigkeit
Substitution
Was? Ersetzung „schädigender“
Produkte durch nachhaltigere
Alternativen
Beispiel: Erneuerbare Energien anstatt
fossiler Brennstoffe, veganer Ersatz für
Fleisch
Re- und Upcycling
Was? Umwandlung von Abfallprodukten
oder (scheinbar) nutzlosen Stoffen
in Rohstoffe oder neuwertige Produkte
Beispiel: Adidas X Parley Kollektion
(Sneaker aus aufbereitetem Plastikmüll)
Dematerialisierung
Was? Umwandlung physischer Produkte
in Software/Apps
Beispiel: Nuki-App (Smart Lock, die
Millionen metallener Schlüssel obsolet
macht)
Disintermediation
Was? Wegfall einer oder mehrerer
Wertschöpfungsstufen ohne positiven
Wertbeitrag
Beispiel: Avocadostore, Marktplatz
für nachhaltige Produkte, kollaboriert
direkt mit Herstellern
56 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Re-Commerce
Was? Lebenszyklusverlängerung von
Produkten, Komponenten und Nebenprodukten
durch Rücknahme und
Weiterverkauf
Beispiel: Ikea hat jüngst seinen Einstieg
in den Re-Commerce-Markt seiner
Möbel bekannt gegeben
Product-as-a-Service
Was? Transformation von Produkten
mit einmaligem Verkaufspreis in
kontinuierliche Dienstleistungen mit
Servicegebühren
Beispiel: Claas Landmaschinen mit
Precision Farming
Sharing Economy
Was? Erhöhung des Nutzungsgrads
von Produkten und Ressourcen durch
kommerzielles, kurzfristiges Teilen.
Beispiel: Daimler und BMW mit ihrem
Joint Venture Share Now
Zirkuläre Lieferkette
Was? Aufbau geschlossener Energieund
Materialkreisläufe zur Minimierung
des Energie- und Ressourceneinsatzes
sowie der Abfall- und Emissionsentstehung.
Beispiel: BASF hat jüngst diesbezügliche
Ziele formuliert
Social Impact Economy
Was? Profitable Systeme zur Behebung
sozialer Missstände, Förderung des
sozialen Miteinanders und der Verständigung
zwischen Kulturen.
Beispiel: Metro, Allos und Edeka
kooperieren mit SirPlus gegen Lebensmittelverschwendung
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
57
Innovation
Advertorial
Foto: KAY HERSCHELMANN / Nespresso
Foto: KAY HERSCHELMANN / Nespresso
DIE VIELEN LEBEN
einer Kaffeekapsel
Qualität und Nachhaltigkeit eines Produktes
sind oft zwei Seiten derselben
Medaille. Am Beispiel der Kaffeeproduktion
zeigt Nespresso, wie es gelingt,
in allen Bereichen der Wertschöpfungskette
die CO 2
-Emissionen zu senken und
dabei die hohe Qualität des Premiumkaffees
langfristig zu sichern.
Nespresso hat sich hohe Ziele gesetzt
und geht dafür innovative Wege. Bis
Ende 2020 wollen die Schweizer den
CO₂-Fußabdruck jeder Tasse Nespresso
Kaffee im Vergleich zu 2009 um insgesamt
28 Prozent reduzieren. Bis Ende
2018 lag die erreichte Reduktion bereits
bei 22 Prozent. Der von über 110.000
Kaffeebauern in 14 Ländern im Rahmen
des „AAA Sustainable Quality
Program“ hergestellte Kaffee wird sogar
schon seit 2015 klimaneutral produziert,
bezogen auf die Emissionskategorien
Scope 1 und Scope 2. Nespresso
hat das Programm 2003 zusammen mit
der Umwelt-NGO „Rainforest Alliance“
gegründet.
Die CO 2
-Neutralität des operativen Geschäfts
wird über eine spezielle agroforstwirtschaftliche
Methode auf den
Kaffeeplantagen des AAA-Programms
erreicht. Über 95 Prozent des verwendeten
Kaffees stammen aus diesen Quellen.
Beim „Insetting“ werden innerhalb
der Kaffeeplantagen und in den umliegenden
Gebieten einheimische Bäume
gepflanzt, die alle bei den betrieblichen
Prozessen entstehenden CO 2
-Emissionen
vollständig absorbieren.
Eine wichtige Rolle bei der Reduzierung
der Treibhausgasemissionen spielt
außerdem der Transport. Der Rohkaffee
in den genannten Regionen wird
ausschließlich auf der Schiene zu den
Produktionszentren transportiert. Auch
die Lieferung zu den Verkaufsstellen
erfolgt, soweit es möglich ist, mit der
Eisenbahn.
Dem Ansatz, alle Ressourcen so umweltund
klimafreundlich wie möglich zu
nutzen, bleibt Nespresso auch im weiteren
Verlauf der Wertschöpfungskette
treu. Besonders deutlich wird dies an
den Kaffeekapseln aus Aluminium. Diese
schützen die Aromen der Premiumkaffees
wie kein anderes Material vor
äußeren Einflüssen wie Luft, Licht und
Feuchtigkeit. Vor allem aber sind sie
sehr gut recycelbar.
Nahezu energieautarkes Recycling
Denn aluminiumhaltige Leichtverpackungen
wie etwa die Nespresso Kapseln
werden in den automatischen
Sortieranlagen der Entsorger durch
sogenannte Wirbelstromscheider besonders
gut erkannt. Deshalb lassen
sie sich zu qualitativ hochwertigem Sekundäraluminium
aufbereiten, aus dem
wiederum neue Produkte entstehen
können. Kein Wunder also, dass von den
1,3 Millionen Tonnen Aluminium, die
2018 laut Gesamtverband der Aluminiumindustrie
in Deutschland produziert
wurden, knapp 60 Prozent Sekundäraluminium
gewesen sind.
58 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Foto: KAY HERSCHELMANN / Nespresso
Gerade in punkto Energieeffizienz ist
Recycling-Aluminium dem „neuen“ Hütten-Aluminium
deutlich überlegen. Es
werden nämlich nur fünf Prozent der
Energie für dessen Herstellung benötigt.
Aluminiumrecycling mit innovativen
Technologien wie der Pyrolyse ist nach
Einschätzung des UmweltMagazins des
VDI sogar weitgehend energieautark.
Denn dabei wird wirklich alles verwertet.
Selbst anhaftende Verschmutzungen
wie beispielsweise Kaffeesatz werden
in Energie für den Anlagenbetrieb
umgewandelt. Nur für den Start der
Pyrolyseanlagen wird externe Heizenergie
benötigt.
Eine der wenigen deutschen Pyrolyse-
Anlagen steht im sächsischen Freiberg
beim Unternehmen Pyral. Dort werden
Aluminium-Abfälle wie etwa Nespresso
Kaffeekapseln unter Ausschluss von
Sauerstoff bei 450 bis 500 Grad Celsius
quasi gebacken. Durch die Hitze trennen
sich die anhaftenden Materialien vom
Aluminium, ohne aber zu verbrennen,
berichtet das UmweltMagazin.
Diese Reststoffe werden verglimmt. Die
dabei entstehenden Synthesegase werden
gereinigt als Energiequelle in die
Anlage zurückgeführt. Mit der anfallenden
Abwärme wird die Pyrolysekammer
beheizt. Selbst das beim Verschwelen
erzeugte Rauchgas wird abgekühlt. Dabei
entsteht Dampf, der wiederum zur
Stromerzeugung verwendet wird. Zurück
bleibt das sortenreine Aluminium,
das auf verschiedene Weise ohne Qualitätseinbußen
weiterverarbeitet wird.
Keine Kaffeekapsel soll verloren
gehen
Damit möglichst alle Nespresso Kapseln
wiederverwertet werden können, müssen
sie natürlich zuverlässig gesammelt
werden. In Deutschland funktioniert
dies über die Sammlung mit gelben
Säcken oder Wertstofftonnen sehr gut.
Schon 1993 lizenzierte Nespresso seine
Verpackungen freiwillig beim Dualen
System Deutschland.
Darüber hinaus investiert Nespresso
nach eigenen Angaben jährlich 40 Millionen
Euro in ein global integriertes
Recyclingprogramm. Dieses eröffnet
den Liebhabern der portionierten Kaffeespezialitäten
verschiedene Möglichkeiten,
die Wiederverwertung ihrer gebrauchten
Kapseln sicherzustellen: Sie
können diese etwa in jeder Nespresso
Boutique abgeben. Des Weiteren existieren
weltweit über 100.000 weitere
Kapsel-Sammelstellen. In 33 Ländern
gibt es außerdem „recycling@home“.
Der Postbote nimmt dann Alt-Kapseln
gleich mit, wenn er eine neue Lieferung
vorbeibringt.
Alu-Fahrräder mit Mehrwert
Foto: Velosophy / Jimmy Östholm / Nespresso
Bereits beim Produktdesign hat
Nespresso also auf die gute Recycelbarkeit
der Kapseln geachtet. Zudem kündigt
das Unternehmen für 2020 einen
echten Meilenstein im Bereich Nachhaltigkeit
an. Dennoch: Nespresso forscht
stetig an sinnvollen Alternativen, die in
Frage kommen könnten.
Wie aber sieht nun das „zweite Leben“
der Kaffeeportionsbehälter aus? Vor allem:
vielfältig. Das Sekundäraluminium
aus Kapseln kann immer wieder neue
Formen annehmen und findet ein zweites
Leben in z. B. Fensterrahmen und
Autoteilen. Das zeigen auch immer wieder
spannende Kooperationen zwischen
Nespresso und weiteren Unternehmen.
2019 stellte man beispielsweise gemeinsam
mit dem schwedischen Hersteller
Vélosophy das limitierte RE:CYCLE-
Fahrrad vor, bei dessen Produktion
wiederverwertete Nespresso Kapseln
verwendet wurden. Das Besondere an
Vélosophy: Für jedes verkaufte Modell
schenkt das Unternehmen einem Mädchen
in einem Entwicklungsland ein
Fahrrad. Dadurch erhalten die Mädchen
mehr Handlungsmöglichkeiten und können
beispielsweise leichter die Schule
erreichen.
Und auch der zeitlose Kugelschreiber
„849 Nespresso“ des Schreibgeräteherstellers
Caran d'Ache zeigt, was mit dem
Recycling von Nespresso Aluminiumkapseln
möglich ist: Mehrere Auflagen
des Stifts wurden mittlerweile produziert,
zuletzt im metallisch-schimmernden
Grün der Sorte Master Origins India.
Eine weitere Edition ist geplant. f
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
59
Foto: TAW4 / stock.adobe.com
Innovation
Ein Haus
für Innovationen
Foto: Michael Kammeter
Angela Hengsberger,
LEAD Innovation
Idee plus Markterfolg gleich Innovation! Wie Unternehmen
diesen Prozess managen können, weiß Angela Hengsberger.
Sie arbeitet bei LEAD Innovation und berät Unternehmen in
Sachen Innovationsmanagement.
Von Sonja Scheferling
UmweltDialog: Frau Hengsberger, viele
gute Ideen landen am Ende doch nur in
der Schublade. Was braucht es, damit aus
Ideen schließlich doch innovative Produkte
oder Services werden?
Angela Hengsberger: Unabhängig davon,
welche großartigen Ideen Entwickler
haben, ist generell der entscheidende
Erfolgsfaktor für Innovation der Kunde.
Denn nur, wenn der Markt eine Idee
für ein neues Produkt oder eine neue
Dienstleistung annimmt, spricht man
überhaupt von Innovation.
Das haben wir unter anderem für die
Firma Danone analysiert. Das Ergebnis
der Studie: 90 Prozent der neuen
Produktideen, die man im Supermarkt
kaufen konnte, waren nach Ablauf eines
Jahres wieder aus dem Kühlregal
verschwunden, weil die Verbraucher sie
60 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
nicht gekauft haben. Deswegen ist es im
Innovationsmanagement immer sehr
wichtig, den Kunden einzubinden.
Sie sind Expertin auf dem Gebiet des Innovationsmanagements.
Klären Sie uns
auf: Woran erkennt man ein innovatives
Unternehmen?
Ein innovatives Unternehmen erkennt
man an den vier Bestandteilen eines
ganzheitlichen, strategischen Innovationsmanagements.
Wir haben dazu ein
Modell entwickelt, das wir „House of Innovation“
nennen. Demnach bilden die
Innovationskultur und die Struktur die
Grundlage und das Fundament des Innovationsmanagements.
Darüber liegt der
Innovationsprozess mit seinen Methoden,
der den Rahmen des Innovationsmanagements
ausmacht. Das Dach bildet
die jeweilige Strategie, nach der sich alle
Innovationsaktivitäten ausrichten.
Das klingt kompliziert. Können Sie uns
das näher erklären?
Die Strategie gibt an, welche Innovationsziele
ein Unternehmen erreichen
will. Wo will es in den nächsten fünf
bis zehn Jahren innovationstechnisch
stehen? Was sind die Trends und die
Treiber, die das Unternehmen und den
Markt beeinflussen? Durch den Innovationsprozess
wird aus einer anfänglichen
Idee eines Mitarbeiters am Ende
ein marktreifes Produkt. Für diesen Prozess
benötigt man die richtigen Methoden
und Tools, durch die die Mitarbeiter
überhaupt Ideen entwickeln und weiterverarbeiten
können.
Nach meiner Erfahrung ist in einem
typisch deutschen mittelständischen
Unternehmen der Bereich Forschung
und Entwicklung strukturell für das
Innovationsmanagement verantwortlich.
Also dort, wo man täglich an neuen
Ideen arbeitet. Es macht aber auch
Denn nur, wenn
der Markt eine
Idee für ein
neues Produkt
oder eine neue
Dienstleistung
annimmt, spricht
man überhaupt
von Innovation.
Sinn, das Innovationsmanagement als
eigenständige Institution in einem Unternehmen
zu sehen, die als Koordinator
funktioniert. Dabei kümmert sich ein
Innovationsmanager darum, dass eine
Innovationsstrategie steht, der Prozess
designt wird und die Mitarbeiter Ideen
entwickeln können.
Wie das?
Ein Innovationsmanager dirigiert die an
neuen Ideen arbeitenden Mitarbeiter so,
dass Unternehmen deren kreatives Potenzial
ausschöpfen können. Beispielsweise
organisiert er Kreativworkshops
oder sorgt für die entsprechenden Fortbildungen
der Kollegen. Er hat außerdem
relevante Trends und Treiber im
Blick.
Was macht eine Innovationskultur aus?
Eine gute Innovationskultur erkennt
man an den Parametern „dürfen“,
„können“ und „wollen“. So müssen Unternehmen
zunächst den Angestellten
ermöglichen, dass diese an Innovationen
arbeiten dürfen. Google etwa stellt
seinen Mitarbeitern dafür 25 Prozent
ihrer Arbeitszeit zur Verfügung. Beim
„können“ geht es darum, dass man die
Mitarbeiter kontinuierlich schult und
sie dazu befähigt, an Innovationen zu
arbeiten. Schlussendlich muss man bei
den Mitarbeitern aber auch eine intrinsische
Motivation dafür wecken.
Auch beim Innovationsmanagement gilt:
„You can only manage, what you measure”.
Welche Kennzahlen sind relevant, um
die Innovationstätigkeit eines Unternehmens
zu messen?
Es gibt eine Vielzahl von Innovationskennzahlen,
die man maßgeschneidert
für das eigene Unternehmen auswählen
sollte. Zwei davon passen allerdings auf
jedes Unternehmen: Das sind zum einen
die Innovationsrate und zum anderen
die Innovationsquote.
Die Innovationsrate stellt die Innovationstätigkeit
in Beziehung zum Umsatz
des Unternehmens. Da sie den Umsatz
der Innovationen misst, gibt sie darüber
Auskunft, ob Neuentwicklungen
am Markt erfolgreich sind oder nicht.
Die Innovationsquote zeigt, wie wichtig
einem Unternehmen Innovationen sind,
da sie deren Anzahl mit dem gesamten
Sortiment in Beziehung setzt.
Vielen Dank für das Gespräch! f
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
61
Innovation
Erfindungen,
die eigentlich für
etwas ganz anderes
gedacht waren
Grafik: christianchan / stock.adobe.com
Die wichtigsten Erfindungen und Innovationen
gehen entweder auf einen großen Geist oder
auf einen Zufall zurück. Und dann gibt es noch
eine kleine dritte Gruppe: Das sind die Erfindungen,
die eigentlich für etwas ganz anderes
gedacht waren…
62 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Foto: Roman Samokhin / stock.adobe.com
Kaugummi
Naturkautschuk war bis weit ins 20. Jahrhundert
einer der wertvollsten Rohstoffe weltweit.
Ursprünglich aus dem Amazonasbecken
stammend, bescherte Kautschuk den
Großgrundbesitzern rund um Manaus
sagenhaften Reichtum. Die aufkommende Autoindustrie
und damit der Bedarf an Reifen heizte die Nachfrage immer
weiter an. Der amerikanische Erfinder Thomas Adams wollte an dem großen Geschäft
teilhaben und experimentierte mit weichem Kautschuk. Vergeblich. Aber kauen ließ sich der Kautschuk
gut. 1888 waren Adams kugelrunde „Kaugummis“ erstmals an einem Automaten erhältlich. Elf Jahre
später schlossen Adams und sein Wettbewerber Wrigley ein Abkommen: Während sie in den USA konkurrierten,
bekam Adams das Vertriebs-Monopol für Lateinamerika und Wrigley das für Europa.
Coca-Cola
Grafik: freepik.com
Post-Its
1968 begann Dr. Spencer Silver für 3M
mit der Entwicklung eines Superklebers
für den Bau von Flugzeugen. Das klappte
nicht so recht, denn sein Klebstoff
ließ sich leicht wieder lösen. Silver suchte
jahrelang vergeblich nach einer alternativen
Einsatzmöglichkeit für seine
Erfindung. 1977 sprach ihn sein Kollege
Art Fry an: Der sang im Kirchenchor
und war genervt, dass die Lesezeichen
immer aus den Gesangsbüchern fielen.
Fry und Silver machte sich an die Arbeit
– unter Zuhilfenahme von gelbem
Schmierpapier aus dem Nachbarlabor.
Der Post-it war geboren!
Foto: rcfotostock / stock.adobe.com
Dr. John Pemberton war ein
amerikanischer Apotheker und
Offizier der Südstaaten. Während
des Bürgerkrieges zog er sich
eine Kriegsverletzung zu und
war er auf Schmerzmittel
angewiesen. Mit der Zeit
wurde Pemberton morphiumsüchtig
und suchte nach
einer legalen Alternative.
Kokain galt damals nicht
als gesundheitsgefährdende
Droge. Und so mixte
er ein Getränk aus Kokain
und anderen Zutaten.
Pemberton sollte von
seiner genialen Idee nie erfahren
– er verkaufte zwei
Tage nach dem Patentantrag
zwei Drittel seiner
Rechte an Dritte, um Geld
für seine Sucht zu bekommen.
Den Rest verkaufte
er wenig später und
starb an einer Überdosis
Morphium.
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
63
Innovation
Viagra
Herzmittel sind ein großes Geschäft.
Zunehmendes Alter, Übergewicht,
Bewegungsmangel – all das führt
zu Bluthochdruck, Herzproblemen
und Sauerstoffmangel
des Herzens (Angina Pectoris).
Medikamente dagegen sind ein
einträgliches Geschäft, denn
Patienten nehmen diese in der
Regel über viele Jahre. Auch der
amerikanische Pharma-Riese Pfizer
forscht in diesem Bereich. Anfang
der 90er führte er eine klinische Studie
im britischen Kleinstädtchen Sandwich
durch. Die Ergebnisse waren unter
herzmedizinischer Sicht ein absoluter
Fehlschlag. Dennoch waren die Patienten
hochzufrieden, denn die kleinen
blauen Pillen hatten eine ganz spezielle
„Nebenwirkung“.
Foto: Soru Epotok / stock.adobe.com
Blindenschrift
Grafik: dzm1try / stock.adobe.com
Im Krieg siegt oft das Überraschungsmoment. Und dazu
gehört es, nicht entdeckt zu werden. Während der Napoleonischen
Kriege beauftragte Bonaparte deshalb einen Fachmann
damit, eine Technik zu entwickeln, mit der die Soldaten
miteinander kommunizieren könnten, ohne dabei Licht oder
Geräusche zu machen. Der Offizier Charles Barbier entwickelt
daraufhin eine sogenannte „Nachtschrift“, die er Sonographie
nannte. Diese bestanden aus jeweils zwei senkrechten Reihen
von ein bis sechs Punkten, denen alle französischen Laute
zugeordnet waren. In der Armee konnte sich Barbiers Idee
nicht durchsetzen. 1819 wandet er sich an das Blindeninstitut
(Institut Royal des Jeunes Aveugles) in Paris. Dort traf er
auf den blinden, gerade einmal elf Jahre alten Louis Braille,
der begeistert war. Allerdings hatte er viele Verbesserungsvorschläge,
was nun wiederum Barbier nicht begeisterte.
Freunde wurden die beiden nicht mehr, und Braille entwickelte
die Idee alleine weiter zur heutigen Braille-Schrift.
64 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Luftpolster
Ob beim Umzug oder Versand: Immer dann,
wenn Zerbrechliches eingepackt werden
soll, kommt die Luftpolsterfolie zum Einsatz.
Mittlerweile spielen Luftpolster auch bei der
geplanten Landung auf dem Mars eine ganz
zentrale Rolle, sollen sie doch die „zerbrechliche
Ladung“ Mensch schützen. Die Luftpolsterfolie
wurde 1957 eher zufällig von den
beiden Ingenieuren Alfred Fielding und Marc
Chavannes in einer Garage in New Jersey erfunden.
Gedacht war sie damals als Tapete:
Abwaschbar und leicht anzubringen sollte
die „Bubble Wrap“ die modernen amerikanischen
Wohnzimmer erobern. Daraus wurde
bekanntlich nichts, aber dafür gab es rege
Nachfrage aus der Industrie nach diesem
Verpackungsmaterial. Und so wurde aus der
Luftnummer doch ein dauerhaftes Geschäft.
Foto: Swapan / stock.adobe.com
Frisbee
Sonne, Strand, Frisbee spielen. Das vielseitige
Plastikteil war ursprünglich etwas ganz
anderes: Ein Teller. Die Frisbie Pie Company
war bis Ende der 1950er Jahre eine große
Bäckerei in den Neuenglandstaaten. Bis zu
80.000 Torten (Pies) wurden dort jeden Tag
ausgeliefert. Dafür musste der Boden stabil
sein, leicht zu reinigen, wiederwendbar und
günstig in der Herstellung. Und so kamen
schon bald Plastikteller zum Einsatz. Und
weil in der Nachbarschaft der Bäckerei
eine Schule lag, kam es, wie es kommen
musste: Die Kids fingen an, die leeren Teller
herum zu werfen. Frisbeeeeeeeee.
Foto: Daniel Deak Bardos / stock.adobe.com
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
65
Foto: pinkeyes / stock.adobe.com
Innovation
5Fragen zur Künstlichen
Intelligenz
66 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Welche Umsatzpotenziale
und Produktivitätseffekte
haben KI-getriebene
Geschäftsmodelle für
Industriebetriebe? Machen
Maschinen uns Menschen
überflüssig? Prägt Scrum
künftig unseren Joballtag?
Wie geht „grüne“
Digitalisierung? Und wie
bekommen wir auch den
Mittelstand eingebunden?
Antworten auf einige
wichtige Fragen.
Technologisch betrachtet ist
Künstliche Intelligenz nichts anderes
als die Fortführung der digitalen
Transformation: Sie ermöglicht
es dem Menschen, sich bei der Arbeit
von – nunmehr ständig dazu lernenden
– Computersystemen unterstützen zu
lassen.
Denn lernfähige Computersysteme ermöglichen
es, durch die intelligente
Verknüpfung von Daten neue Erkenntnisse
zu gewinnen. Dadurch lassen sich
unternehmerische Prozesse entlang der
gesamten Wertschöpfungskette optimieren
und neue Geschäftsmodelle entwickeln
– nicht nur für Großunternehmen.
Immer mehr Betriebe wandeln sich
deshalb vom reinen Produkthersteller
zum innovativen Lösungsanbieter mit
neuartigen Geschäftsmodellen und ergänzen
ihr Kernprodukt um komplementäre
Services. Die Digitalisierung
spielt dabei eine entscheidende Rolle,
weil digitale Technologien in hohem
Maße die Entstehung neuer Geschäftsmodelle
erleichtern. In Zukunft wird der
Wettbewerb nicht mehr allein zwischen
Produkten oder Prozessen, sondern vielmehr
zwischen Geschäftsmodellen stattfinden
und für Industriebetriebe neue
Wachstumspotenziale und Märkte mit
sich bringen.
Doch wie wirken sich digitale Geschäftsmodelle
auf die Wettbewerbssituation,
Innovationsfähigkeit und Produktivität
von Unternehmen aus? Fünf Fragen und
Antworten dazu:
>>
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
67
Frage
1
Wie gelingt der Transfer von
KI in den Mittelstand?
Selbstlernende Computersysteme, die Bäckereien tagesaktuell bei ihrer Absatzplanung
unterstützen. Eine Software, die mit Hilfe von Methoden des maschinellen
Lernens die Fertigungsqualität hochpräziser Bauteile sichert. Eine intelligente Preissuchmaschine,
die Händler dabei unterstützt, den besten Marktpreis für ihre online
vertriebenen Produkte festzulegen. KI-basierte Anwendungen halten längst Einzug
in die Wirtschaft – auch in mittelständische Betriebe.
Insgesamt zeigen sich deutsche Mittelständler beim Einsatz von KI-Systemen noch
zurückhaltend, so eine aktuelle Studie der Universität des Saarlandes, für die europaweit
200 große Mittelständler (Jahresumsatz zwischen 10 und 50 Millionen Euro)
befragt wurden. Mit KI beschäftigt sich demnach erst ein Drittel der Unternehmen,
lediglich 13 Prozent verfügen nach eigener Einschätzung über fortgeschrittene
Kenntnisse zum Thema.
Leitfäden, Stolperfallen, Fördermöglichkeiten
Die Plattform Lernende Systeme der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften
will Mittelständlern eine Anlaufstelle bieten, um sich über die Bedeutung von
Künstlicher Intelligenz für das eigene Geschäft zu informieren. Sie zeigt in ihrem
Web-Special, worauf es bei der Einführung von KI im Unternehmen ankommt und
welche klassischen Fehler zu vermeiden sind. Gut zu wissen ist auch: Wo können
sich Mittelständler kostenlos zum Thema KI weiterbilden? Welche Vernetzungsangebote
gibt es in ihrer Region? Und nicht zuletzt: Mit welchen Programmen fördern
Bund und Länder den Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Mittelstand? Aktuelle
Termine zu KI-spezifischen Veranstaltungen für den Mittelstand sowie Leitfäden und
Publikationen ergänzen das Angebot.
Frage
2
Kann 5G zum Wegbereiter einer
„grünen“ Digitalisierung werden?
Unterhaltung und Information sind längst essenzielle Bestandteile der mobilen
Datennutzung der Verbraucher. Dieser Trend wird durch immer umfangreichere Tarife
sowie bessere und leistungsfähigere Netze weiter getrieben. Doch welche digitalen
Anwendungen sind besonders nachhaltig und sinnstiftend? Und ergeben sich
mit 5G künftig neue Anwendungen, die zu mehr Umweltschutz und Nachhaltigkeit
beitragen können? „Wenn es uns mit 5G möglich ist, das Datenvolumen mit weit weniger
Energieverbrauch bereitzustellen, was machen wir dann sinnvollerweise mit
den Daten? Oder wirkt 5G wie ein Brandbeschleuniger?“, hinterfragt zum Beispiel
Digitalisierungsexperte Professor Santarius den Umgang mit dem Mobilfunkstandard
und den neuen technischen Möglichkeiten. Er appelliert an Nutzer und Unternehmen,
über die Datennutzung und deren Zweck intensiver zu reflektieren.
Einen konkreten, positiven Anwendungsfall erläutert Joachim Sandt, Umweltbeauftragter
bei Telefónica Deutschland: „Ein Beispiel, das bereits heute gut funktioniert,
sind hochzuverlässige Videokonferenzen in Unternehmen, mit denen sich die Teilnehmer
Auto- oder Flugreisen sparen können. Das ist eine konkrete Möglichkeit, bei
der wir zwar Energie über unser Netz einsetzen müssen, aber dadurch an anderer
Stelle deutliche Emissionen einsparen können.“
68 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Neue digitale Chancen und politische Teilhabe
„Die Dringlichkeit der Klimakrise zeigt, dass wir unbedingt alles tun müssen, um
die Emissionen zu reduzieren – und das drastisch“, sagt die Fridays for Future-Aktivistin
Pauline Brünger. Dabei sind 5G und Digitalisierung für die Gesprächspartner
auch Themen, die in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext betrachtet und
diskutiert werden müssen. Durch ein schnelleres Netz können sich beispielsweise
junge Menschen wie die von der Fridays for Future-Bewegung über digitale Kanäle
organisieren und sich für wichtige gesellschaftliche Themen wie den Klimaschutz
einsetzen. Hier zeigt sich, dass Anwendungen wie Social Media sehr sinnstiftend
eingesetzt werden können.
Ist Digitalisierung ein rein
technisches Thema?
Jeder spricht heute über Digitalisierung. So manchen mag das schon ermüden. Unternehmen
müssen sich aber intensiv damit beschäftigen – und zwar alle, sagt Prof.
Dr. Dennis Lotter von der Hochschule Fresenius in Wiesbaden. Denn: Die meisten
meinen immer noch, es dreht sich alles um Technologie. Dabei geht es vielmehr um
Kultur. „Die Technologie ist nur ein Treiber oder „Enabler“. Digitale Transformation
ist ein hoch gestalterischer Akt, den immer noch Menschen initiieren und umsetzen
müssen. Das kann keine Technik leisten“, sagt Prof. Dr. Dennis Lotter. „Viele haben
noch nicht verstanden, dass die erfolgreiche digitale Transformation vor allem die
Veränderung der Unternehmenskultur voraussetzt.“ Und es müssten sich wirklich
alle damit befassen, unabhängig von der Branche oder der Größe: Immer mehr Wertschöpfungsketten
verzahnen sich, und wer sich der Vernetzung verschließt, droht
den Anschluss zu verlieren.
3
Frage
Was heißt das konkret – Veränderung der Unternehmenskultur?
Die Digitalisierung, neue Technologien heben Grenzen auf und eröffnen vollkommen
neue Methoden des Zusammenwirkens. „In vielen Bereichen können wir heute zum
Beispiel schon zeit- und ortsunabhängig arbeiten“, erklärt Lotter. „Die Technologie
zu haben und bereitzustellen bringt aber nichts, wenn ich als Geschäfts- oder Bereichsleiter
dann doch eine festgelegte Präsenz im Büro erwarte.“ Digital Leadership
heißt für Lotter, Trainer oder Coach zu sein, der eine Vision hat, diese vorlebt und
als Mentor begleitet. Er oder sie lässt dem Team einen hohen Freiheitsgrad bei der
Beantwortung der Frage, wie dieses Ziel, diese Vision erreicht werden kann.
Digitale Transformation hat mit „Design“ zu tun. Wie gehen Designer vor? Sie experimentieren,
werten Misserfolge als Lernprozess. Man mag einwenden, dass Unternehmen
sich Experimente nicht leisten können. Das Risiko des großen Fehlwurfs
vermeiden sie indes, wenn sie einerseits zwar schnell in den Realitätscheck gehen,
andererseits aber kleine Schritte machen. „Wir arbeiten in kleinen Iterationen, wechseln
vom Marathon zum Sprint. Wir legen die Mentalität ab, lange Zeiträume für Projekte
zu haben. Das entspricht der heutigen Dynamik“, führt Lotter aus. Er sagt auch,
dass es „Unternehmen heute gelingen muss, einer Organisation eine Sinnstiftung zu
geben, die über das Gewinnmaximierungsmantra hinausgeht.“ Digital Natives stellen
heute andere Ansprüche an Unternehmen, ob in der Rolle als Arbeitgeber oder
Dienstleister. „Geschäftsführer müssen die Frage beantworten, wie sie ein ganzheitliches
Kundenerlebnis erschaffen können. Nur mit einzelnen technischen Features
werden sie in Zukunft nicht mehr punkten können.“ >>
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
69
4
Frage
Agilität in Unternehmen:
Trend oder Hype?
Agilität im Unternehmenskontext spaltet die Führungsebenen: Für die einen ist es
essenziell für die langfristige Wettbewerbsfähigkeit, während andere die Methoden
als einen unnötigen Hype bezeichnen. Aktuelle Studien zeigen jedoch: Agilität ist
kein kurzfristiger Trend, sondern die Arbeitsweise und -kultur der Zukunft.
Die agile Transformation steht in den Startlöchern und bereitet sich auf ihren großen
Durchbruch vor. Zumindest bestätigen das die Zahlen aus einer Studie des Marktforschungsinstitutes
Lünendonk: Jedes dritte Vorhaben wird aktuell mit Hilfe von
agilen Methoden umgesetzt.
„Agil ist doch das mit Scrum?“ lautete die Frage eines Workshop-Teilnehmers. Die
Antwort lautet: Ja, Scrum ist eine agile Methode. Agilität umfasst weit mehr als diese
eine methodische Ausprägung.
Beispiele für agile Methoden in der Arbeitsweise
• Design Thinking zur kundenzentrierten
Ideenfindung & -erprobung
• Business Model Canvas als systematische
Überprüfung der Wirtschaftlichkeit von neuen
oder bestehenden Lösungen
• Lean Startup, Kanban sowie Scrum in der
schnelleren, iterativen, risikoärmeren
Umsetzung
• OKR (Objectives & Key Results) als agile
Zielphilosophie und -systematik, die die
Mitarbeiter involviert.
Nutzen von Agilität in Unternehmen
Richtig angewandt bringt Agilität in Organisationen viele Vorteile mit sich. Agile
Methoden beschleunigen laut Ergebnissen von Lünendonk in erster Linie die Markteinführung
und erhöhen die Kundenorientierung. Beispiele für erwartete und umgesetzte
Benefits sind deutlich erhöhte Steigerungsraten bei diesen Themen: Teamwork,
Kundenzufriedenheit, Innovationsgeschwindigkeit, Ergebnisqualität sowie
vielen weiteren Aspekten.
Knackpunkt Führungsebene
Gerade im Top-Management sind die Zahlen laut der Scalable Agility Studie von
Lünendonk ernüchternd. Zwar geben 43 Prozent der Führungskräfte an, die Umstellung
auf agile Methoden aktiv voranzutreiben, doch nur 22 Prozent leben agile
Vorgehensweisen im Unternehmen selbst vor. Auch die Incentivierung der Führungskräfte
zahlt lediglich zu 13 Prozent auf agile Kennzahlen ein. Bei der nötigen
Kompetenz der Führungskräfte zeigt sich ein ähnliches Bild: Nur ein Viertel der
befragten Unternehmen geben an, Führungskräfte positioniert zu haben, die Projekte
in einem digitalen Kontext und agilen Modus erfolgreich planen und umsetzen
können.
70 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Machen Maschinen uns
Menschen überflüssig?
Der technische Fortschritt krempelt die Arbeitswelt derzeit kräftig um. Schon heute
arbeiten Roboter, Computer und Co. an vielen Stellen schneller, präziser, günstiger
als Menschen. Nehmen sie uns die Arbeitsplätze weg? Wer Antworten auf diese Frage
sucht, trifft auf zwei Lager: Die Pessimisten auf der einen Seite, die einen Generalangriff
auf Jobs und Löhne befürchten, der Gering- und Hochqualifizierte gleichermaßen
trifft. Auf der anderen Seite stehen die Optimisten. Sie argumentieren, dass
sich die Angst vor technischem Fortschritt in der Geschichte stets als übertrieben
erwiesen hat. Einig sind sich beide Lager allerdings darin, dass die Arbeitswelt derzeit
enorme Verwerfungen durchlebt.
5
Frage
400 Millionen Vollzeitstellen in Gefahr?
Das McKinsey Global Institute (MGI) ist dem in einer großen Studie auf die Spur
gegangen. Schon 2030 könnten demnach 15 Prozent der heute üblichen Tätigkeiten
in verschiedenen Berufen durch Automatisierung ersetzt werden. Weltweit entspräche
das 400 Millionen Vollzeitstellen. Entwicklungsländer seien dabei weniger stark
betroffen als Industrieländer, wo das hohe Lohnniveau starke Anreize zur Automatisierung
biete.
In Deutschland stehen im MGI-Durchschnittsszenario knapp 25 Prozent der Jobs auf
der Kippe. Tritt das Szenario ein, müssten bis 2030 rund acht Prozent der Beschäftigten
auf einen anderen Beruf umsatteln. Das wären drei Millionen Menschen. Eine
Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung kam 2015 zu deutlich
höheren Zahlen. Demnach arbeiten 42 Prozent der Deutschen in Berufen mit einer
hohen Automatisierungswahrscheinlichkeit. Das MGI geht zwar davon aus, dass sich
nur fünf Prozent aller Jobs komplett automatisieren lassen. Doch bei 60 Prozent aller
Berufe könnten mindestens 30 Prozent der Tätigkeiten durch Roboter, Computer und
lernende Systeme übernommen werden. Je weniger vorhersehbar und kreativer eine
Tätigkeit ist, desto geringer schätzt das MGI ihr Potenzial zur technischen Automatisierung
ein. Doch selbst hochqualifizierte Beschäftigte dürften deren Auswirkungen
zu spüren bekommen, sogar Unternehmensvorstände. Ein Viertel ihrer täglichen
Arbeit könne automatisiert werden, so die Denkfabrik, vor allem Analyse- und Planungsaufgaben.
Jobbilanz mittelfristig positiv
Geht uns also die Arbeit aus? Das MGI erwartet das nicht. In Deutschland entstünden
genügend Jobs, um die Verluste zu kompensieren. Auch weltweit wäre die Bilanz unter
bestimmten Voraussetzungen positiv. Behält das MGI mit seinem Durchschnittsszenario
recht, könnten bis 2030 global 390 bis 590 Millionen neue Stellen entstehen
– deutlich mehr als wegfallen. Treiber hinter diesem Jobwachstum sind laut MGI
vor allem die Sektoren Pflege, Gesundheit und Technologie, außerdem Investitionen
in Infrastruktur und erneuerbare Energie. Vor allem schaffe die Automatisierung
mehr Wohlstand, gerade in den Schwellenländern. Weltweit sollen so allein über
300 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen – und neue Märkte, von denen auch
Deutschland profitiere.
Das MGI verweist zudem auf die Geschichte: Der Einsatz bahnbrechender neuer
Technologien habe den Arbeitsmarkt immer erschüttert, jedoch auf lange Sicht viele
neue Jobs geschaffen. Für das Jahr 2030 erwartet das Institut, dass acht bis neun
Prozent der Arbeit in Berufen nachgefragt wird, die es zuvor nicht gab. f
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
71
Innovation
Weni
ist manchmal doch
mehr
loading
Die IT-Branche funktioniert nach
dem Mooreschen Gesetz. Alle
20 Monate verdoppelt sich die
Prozessorleistung, und damit
einhergehend auch der Stromverbrauch
und das Angebot
an neuen Programmen.
Wir haben uns alle daran
gewöhnt. Elmar Schüller nicht.
Der Wirtschafts-, Innovationsund
Designexperte findet:
Wir müssen es wieder schaffen,
das Überflüssige wegzulassen.
72 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
ger
UmweltDialog: Digitalisierung ist in aller
Munde, aber nur wenige hinterfragen den
Trend. Sie verweisen auf den Unterschied
zwischen Dateneffizienz und digitaler
Effizienz. Können Sie uns das näher erläutern?
Elmar Schüller: Eine E-Mail, wo Sie nur
das Wort „Hallo“ schreiben, verursacht
schon zehn Gramm CO 2
. Viele machen
sich darüber keine Gedanken, sondern
überlegen nur, wie sie immer mehr
Daten immer schneller versendet und
gespeichert bekommen. Kein Mensch
fragt hier mal nach der Qualität der Daten:
Brauchen wir die überhaupt alle in
dieser Form? Das beschreibt im Grunde
genommen meinen Ansatz. Es geht
nicht um Moralisieren, sondern darum,
kritisch zu hinterfragen, ob wir diese
Datenberge benötigen.
Oft ist es nämlich so: In dem Moment, in
dem wir die Datenmengen reduzieren,
erhöhen wir damit deren Effizienz. Sie
senken damit zum Beispiel die Fehleranfälligkeit.
Und das gilt im Grunde
genommen auf allen Unternehmensebenen.
Das ist eine organisatorische,
eine sicherheitsrelevante, in Corona-
Zeiten eine gesundheitsrelevante und
damit auch eine nachhaltige Effizienz.
Gerade jetzt in der aktuellen Krisenzeit
sehen wir, dass aufgrund der Einrichtung
von Home-Office-Arbeitsplätzen
die Datenleitungen vollkommen überlastet
sind. Die damit einhergehenden
Arbeitszeit- und Effizienzverluste sind
bereits jetzt immens. Und das ist erst
der Anfang.
Damit stellen Sie die vorherrschende
IT-Landschaft ziemlich in den Regen. Die
Datenmengen haben doch einen Grund,
oder?
Als ich zu diesem Business gestoßen
bin, habe ich gesagt: Ich mache das nur,
wenn wir den Software-Markt komplett
neu denken. Wenn wir genau das Gegenteil
von dem tun, was da zurzeit passiert.
Was passiert gerade? Microsoft, Apple,
Google und alle anderen haben das Geschäftsmodell
der Abhängigkeit. Wenn
ich zum Beispiel einmal Office benutze,
muss ich mir immer wieder eine neue
Lizenz kaufen. Wenn ich einen neuen
Mitarbeiter habe, muss der die auch bekommen.
Dann kommt ein Update und
sie bangen danach, ob anschließend der
Drucker überhaupt noch da ist, ob sie
wieder neue Treiber installieren müssen
etc. Das sind alles potenzielle Fehlerquellen,
die wir im Grunde genommen
nicht brauchen.
Nebenbei erwähnt, haben wir gerade
getestet, dass ein PC mit einem Office-
Paket darauf einen ca. 400 Mal so hohen
Energieverbrauch beim Start hat als ein
Computer, den Sie unter Linux mit denselben
Funktionen starten. Das bedeutet,
dass also diese Systeme zu komplex
geworden sind, obwohl ich nur einen
Bruchteil der Systeme benutzen kann
und muss.
Unser Ansatz ist, dass wir alles weglassen,
was der Kunde nicht braucht,
und nur die Funktionen aktivieren, die
wirklich relevant sind. Das macht das
System schlank und schnell. Außerdem
erzeugen wir keine Abhängigkeiten
von Unternehmen. Sie sollen das, >>
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
73
Innovation
"
Sie müssen es
einfach immer
wieder schaffen,
das Überflüssige
wegzulassen.
was wir für sie entwickeln, auch selbst
verändern können und damit arbeiten,
so wie sie es brauchen.
So haben wir zum Beispiel für einen
großen deutschen Flughafen das gesamte
Berechtigungsmanagement neu
gemacht: Das umfasst sehr, sehr viele
Personen, die Besucher, das gesamte
Sicherheitspersonal, das Kantinen-
Management und vieles mehr. Das gesamte
Programm würde auf einem kleinen
Raspberry Pi-Rechner in derselben
Geschwindigkeit wie vorher auf allen
drei Rechenzentren des Flughafens zusammen
laufen. Das ist digitale Effizienz.
Häufig ist das Denken in Unternehmen:
Um so komplizierter etwas ist, desto komplexer
muss es ja auch sein. Genau darin
unterscheiden Sie sich, korrekt?
Fotos: Annegret Breilmann
Ja, und es funktioniert. Wir arbeiten ja
auch für Behörden, Großunternehmen
aus der Logistik und der Industrie sowie
Ministerien im Mittleren Osten.
Das sind alles hoch komplexe Projekte,
die man auch ohne überbordende Kompliziertheit
lösen kann. Goethe hat das
Prinzip in einem Brief an seine Liebste
treffend auf den Punkt gebracht: „Meine
liebste Lotte, leider hatte ich nicht mehr
Zeit, dir weniger zu schreiben.“
Sie müssen es einfach immer wieder
schaffen, das Überflüssige wegzulassen.
Und es gibt bei uns eine Regel: Wir machen
keine Ausnahmen. Und wenn das
Projekt noch nicht so weit ist, dann ist es
noch nicht gut. Das große Problem heutzutage
in der ganzen Software-Branche
ist doch, das alles immer nur Ausnahmen
sind. Und wenn Sie dann eben halt
ein Rädchen da irgendwo ändern, dann
bricht Ihnen das ganze Kartenhaus zusammen.
Und das wollten wir vermeiden.
Und deswegen agieren wir da komplett
anders.
Unternehmen machen das alles nicht aus
Spaß an Technik, sondern weil sie innovativ
sein wollen. Was macht dann für Sie
heutzutage ein innovatives Unternehmen
aus?
Zum Thema Innovation muss ich mal
grundsätzlich sagen, dass ich der festen
Überzeugung bin, dass wir heutzutage
so gut wie nichts mehr neu erfinden
müssen. Wir müssen nur das, was da
ist, so intelligent und neu miteinander
verknüpfen und anpassen, dass daraus
etwas Intelligentes, Neues neu entsteht.
Naja, das hat IBM früher auch gesagt und
zum Beispiel überhaupt keinen Bedarf
geschweige denn Markt für Computer im
Privathaushalt gesehen. Damit lagen sie
aber gehörig falsch…
Wenn Sie sich den Erfolg von Apple anschauen,
dann hängt der damit zusammen,
dass das Fraunhofer-Institut die
MP3-Technologie entwickelt hat. Da ging
es darum, komprimierte Daten schneller
durch die Leitungen zu bekommen.
Diese Erfindung selbst hat eigentlich
keinen Wert. Der Wert kam erst, als Apple
angefangen hat, daraus ein Produkt
zu entwickeln. Und was hat Steve Jobs
getan? Er hat erkannt, dass sich der
Musikmarkt komplett ändert. Damals
kamen die ganzen Tauschbörsen, Napster
& Co., auf, und Apple hat daraufhin
angefangen, mit iTunes auf Basis der
MP3-Technologie einen ganz neuen Bu-
74 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Elmar Schüller ist Initiator,
Gründer und Präsident des
Innovative Living Institutes,
das Unternehmern hilft,
zukunftsorientierte Produkte
und Dienstleistungen zu
entwickeln. Schüller hat
vorher 19 Jahre lang als
geschäftsführender Gesellschafter
und Vice President
den renommierten „red
dot design award“ zu einer
globalen Designwährung
mitentwickelt. Er lehrt an
der International School of
Management.
rechts, was der Wettbewerb macht, und
nicht nach vorne. Wenn Sie dann als
angestellter Manager in einem großen
Unternehmen etwas Neues beginnen,
dann gehen Sie damit gleichzeitig auch
ein hohes Risiko ein. Das Risiko nämlich,
dass wenn es gut wird, der Chef
sagt: War sowieso meine Idee. Und
wenn es schlecht wird, hat es jeder
andere im Haus schon vorher gewusst.
Das sind systemische Hürden, die es im
Unternehmen aufzulösen gilt. Die einzigen
Unternehmen, die in den letzten
Jahren wirklich erfolgreich waren, wie
etwa Dyson, haben alle „out of the box“
gedacht.
Da verlangen Sie aber sehr viel Mut und
Risikobereitschaft…
"
Für uns bedeutet
Nachhaltigkeit
die Reduktion
aufs Wesentliche.
siness Case zu entwickeln. Und das ist
eigentlich das Besondere damals gewesen.
Ich muss auch nach wie vor sagen,
das war einer der größten Coups in der
IT-Branche, die es jemals gegeben hat.
Als Unternehmer müssen sie im Grunde
genommen andersrum anfangen: Wir
dürfen nicht technologische Entwicklungen
entwickeln und uns fragen, wie wir
die an den Mann bekommen, sondern
wir müssen uns anschauen, wie sich die
Bedürfnisse der Menschen, der Kunden
verändern. Was sind deren Ängste, was
sind deren Sehnsüchte, und was bedeutet
das für mein Business? Das können
Sie auf alle Lebens- und Industriebereiche
übertragen.
Das Erkennen von Trends ist so eine Sache:
Dafür braucht es mutige Unternehmer.
Viele haben aber mindestens so große
Angst davor, entweder durch Zaudern
den Anschluss zu verpassen oder mit einer
neuen Ideen daneben zu liegen. Was
sagen Sie zu diesen beiden Ängsten?
Das größte Problem von Unternehmen
ist, dass sie nur in Branchen-Kategorien
denken. Im Grunde genommen
schauen Sie immer nach links und
Wie wir ja alle sehen, werden die Zyklen
der Welt immer kürzer. Und da muss ich
mir als Unternehmer überlegen, wie ich
damit umgehe. Und ich muss dafür Innovationen
schaffen. Es geht nicht nur
darum, mutig zu sein, sondern es geht
im Grunde genommen darum, neue
Verknüpfungen zu entwickeln, um aus
dem bereits Bekannten etwas Neues zu
erschaffen.
Ist Nachhaltigkeit dabei nicht auch schon
ein mutiger Schritt? Das verlangt ja häufig
einen Pfadwechsel und das Verlassen
des gewohnten Trotts.
Für uns bedeutet Nachhaltigkeit die Reduktion
aufs Wesentliche. Weil wir sagen,
diese hippen Funktionen, die derzeit
die ganzen IT-Experten empfehlen,
benötigen wir nicht. Wir brauchen es
nicht, um effizient und effektiv zu sein.
Im Gegenteil, es stört, weil es Fehlerquellen
verursacht und weil es im Übrigen
auch noch eine zeitliche Abnutzung
hat. Das ist für mich auch eine Form von
Nachhaltigkeit. Wenn ich einmal etwas
richtig mache und es auf den Punkt
gebracht habe, dann muss ich es auch
nicht immer wieder mit irgendwelchen
neuen Sicherheits-Updates usw. überarbeiten
und erweitern.
Vielen Dank für das Gespräch! f
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
75
Innovation
Advertorial
Fotos: MAN
MAN
The Next Generation
Wie können Kraftfahrer am komfortabelsten arbeiten,
Digitalisierungsprozesse vereinfacht und die Emissionen
gesenkt werden? Die Transportbranche steht aktuell vor
großen Herausforderungen. Mit der neuen MAN Truck
Generation hat MAN das bestmögliche Fahrzeug für die
Kunden entwickelt, mit dem sie die Marktumbrüche
meistern können.
Roter Pulli und Standard-Jeans:
Dr. Manuel Marx, Leiter der
Gesamtfahrzeugentwicklung bei
MAN, kommt für einen Top-Entwickler
herrlich normal daher: „Wir sind keine
Freaks im Elfenbeinturm, die verrückte
Erfindungen entwickeln“, sagt Marx.
„Unsere Projekte orientieren sich an den
Bedürfnissen der Kunden. Die Ergebnisse
müssen den Nutzen und die Kosten
richtig ausbalancieren, um marktfähig
zu sein.“ Marx hat die vergangenen fünf
Jahre seines Berufslebens vor allem an
der neuen MAN Truck Generation gearbeitet,
die das Unternehmen im Frühjahr
auf den Markt gebracht hat.
Neben ihm waren insgesamt zirka
2.100 MAN-Mitarbeiter an dem Projekt
beteiligt. Darüber hinaus involvierte
das Unternehmen auch 150 Kunden
aus verschiedenen Ländern, um ihre
76 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
Für jeden Einsatzzweck gibt
es das passende Fahrerhaus,
wobei eine leichte
Bedienbarkeit, Ergonomie
und ein hoher Wohnkomfort
mit genügend Bewegungsfreiheit
im Fokus stehen.
Anforderungen herauszuarbeiten und
in dem neuen Fahrzeug zu integrieren.
„Wir haben die Stärken des MAN-Trucks
deutlich verbessert, seine Schwächen
behoben und ihn mit der neuen EE-Architektur
auf die Zukunft vorbereitet“,
so Marx. „Das hier ist nun der optimal
austarierte Lkw.“
Der Fahrer steht im Mittelpunkt
Dabei konzentrierten sich die Entwickler
von MAN insbesondere auf die Fahrerkabine
und haben sie innen neu entworfen.
Zehn Jahre Forschung und Entwicklung
mit über 740 Testanwendern
haben das ermöglicht. „Wir haben den
Lkw-Fahrer bewusst in den Fokus der
Entwicklung gerückt. Unsere Aufgabenstellung
war: Wie können wir dem Fahrer
seine Tätigkeit erleichtern und außerdem
seinen Wohn- und Schlafkomfort
verbessern?“, erklärt Stephan Schütt,
der als Chefentwickler Kabine / Chassis
für die Modernisierung der Fahrerkabine
verantwortlich war. Das Ergebnis:
Für jeden Einsatzzweck gibt es das passende
Fahrerhaus, wobei eine leichte
Bedienbarkeit, Ergonomie und ein hoher
Wohnkomfort mit genügend Bewegungsfreiheit
im Fokus stehen. Wichtige Punkte,
um neue Mitarbeiter zu gewinnen,
fehlen der Transportbranche in Europa
doch aktuell 50.000 Fahrer.
Neben dem Fahrermangel ist auch die
Digitalisierung eine weitere Herausforderung
für das Transportwesen: „Digitale
Services machen das Geschäft
zwar wesentlich effizienter und helfen,
höhere Margen zu realisieren. Aber die
Kehrseite ist die größere Komplexität,
die vielen unserer Kunden zu schaffen
macht“, so Joachim Drees, Vorstandsvorsitzender
von MAN Truck & Bus. „Und
schließlich ist das Thema Nachhaltigkeit
von entscheidender Bedeutung. Der Gesetzgeber
verlangt eine deutliche Reduzierung
des CO 2
-Ausstoßes. Bis 2025 um
15 Prozent, bis 2030 um 30 Prozent.“
Simplifying Business
Als Antwort auf diesen Transformationsprozess
haben die Mitarbeiter von
MAN eine neue LKW-Baureihe entwickelt,
deren Standardsattelzugmaschine
mit D26-Motor bis zu acht Prozent weniger
Kraftstoff verbraucht, wodurch die
Emissionen und damit die Betriebskosten
gesenkt werden. Außerdem wurde
die Nutzlast verbessert (bis zu 230 Kilogramm
zusätzlich) und die Uptime optimiert.
„Mit MAN ServiceCare bieten wir
ein proaktives Wartungsmanagement
an, mit dem dank vorausschauender
Planung und intelligenter Bündelung
von Wartungsterminen die Fahrzeugverfügbarkeit
nochmals deutlich gesteigert
werden kann“, sagt Drees.
Um sicherzustellen, dass der technische
Standard des neuen Trucks nicht in ein
paar Jahren überholt ist, verwendet das
Unternehmen eine komplett neue Elektronikarchitektur,
die das Nachrüsten
weiterer Sensoren und Funktionen ermöglicht.
Dadurch können alternative
Antriebe, neue Assistenzsysteme oder
Automatisierungsfunktionen integriert
werden. Voll vernetzt bietet der Lkw
eine Infrastruktur, die offen für künftige
digitale Anwendungen ist. „Er [der
Kunde] bekommt von uns das beste Gesamtpaket
am Markt, mit dem wir ihm
seinen Job einfacher machen. Genau
darum geht es. Das meinen wir mit unserem
Markenversprechen: Simplifying
Business.“
Einzigartiges Erlebnis
Welche Dimensionen die Markteinführung
der neuen MAN Truck Generation
hat, wird daran deutlich, dass MAN
nicht nur ein einzelnes Fahrzeugmodell,
sondern das gesamte Produktportfolio
modernisiert hat. Kein leichtes Unterfangen,
ist doch die Entwicklung eines
Lkw komplexer als die eines Automobils.
Der letzte Launch dieser Größenordnung
war für das Unternehmen der
MAN TGA im Jahr 2000. „Ein solches
Ereignis erleben die meisten Mitarbeiter
nur einmal in ihrem Berufsleben. Da ist
es klar, dass sich alles im Unternehmen
über Jahre darauf fokussiert. Schließlich
ist die neue Truck Generation künftig
das Aushängeschild von MAN“, sagt
Drees. f
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
77
Innovation
Driven by
Purpose:
Eine
neue
Ära?
Von Dominic Veken
Die Menschheit steht an
der Schwelle zu einer zweiten
Renaissance: Visionäre
Unternehmen zeigen, welche
Potenziale das Streben nach
Höherem entfalten kann.
Wie mögen wohl die Menschen in 50
oder 100 Jahren über die heutige Zeit
denken und urteilen? Einerseits gab
es Milliarden von Menschen, die täglich
ihren Routinen folgten, streng reguliert
lebten und arbeiteten, um sich
mit imageträchtigen Konsumgütern zu
umgeben, dabei sehnsüchtig auf ihre
Rente warteten und es höchstens am
Wochenende mal so richtig krachen ließen.
Dann gab es Milliarden Menschen,
die sich das alles nicht leisten konnten
und täglich qualvoll um ihr Existenzminimum
kämpfen mussten. Dazu kam
eine globalisierte Industrie, die, angetrieben
von ihrer Profitsucht, Natur und
Mensch als Heizmaterial für den immer
weiter vorangetriebenen Fortschritt verbrauchte.
Aber worin bestand dieser
Fortschritt eigentlich, werden sich künftige
Generationen fragen: in einer rasant
wachsenden Zahl von Depressionen und
Erschöpfungszuständen? In einem größeren
Artensterben, dem Vordringen
von immer mehr Autokraten und Despoten,
dem Wandel des Klimas, dem Clash
der Kulturen?
Wahrscheinlich werden die Menschen
in etwas fernerer Zukunft unsere gegenwärtigen
Handlungsstrategien so
absurd finden wie wir heute die mittelalterlichen
Praktiken des Aberglaubens
und Ablasshandels, der Alchemie, Hexenvertreibung
und Inquisition. Aber
was werden sie dann anders machen,
und wie werden sie anders wirtschaften
als wir heute?
Eine neue Renaissance
Vor mehr als 500 Jahren vollzog sich ein
fundamentaler Wandel im menschlichen
Denken und Handeln: Die Renaissance
stellte vieles auf den Kopf, was vorher
Selbstverständlichkeit war, entdeckte
das Selbst als Mittelpunkt der Welt, befreite
es aus seiner Einfügung in eine
göttliche Ordnung und übertrug ihm
die Verantwortung der Selbst-Bestimmung.
Dieser Schritt leitete ein neues
Zeitalter ein, die Neuzeit, in der Freiheit
und Wohlstand, Glücksmaximierung
und Weltbeherrschung die zentralen
Programmbausteine der Menschheit
wurden. Ein neues Denken bildete den
Rahmen für ein anderes Handeln.
Die Zeit gab nun den Ton an. Sie wurde
knapp und trieb die Entwicklung in
einen Beschleunigungsrausch, der bis
heute andauert, der uns aber mittlerweile
auch rasant an die Grenzen unserer
Möglichkeiten und an die der Welt
bringt. Es knirscht und kracht an allen
Ecken und Enden. Es scheint, als könnten
wir mit dem nun jahrhundertelang
antrainierten neuzeitlichen Denken, das
uns ursprünglich befreite, die selbsterzeugten
Probleme nicht mehr lösen.
Die logische Konsequenz kann da nur
lauten, ein neues Denken zu initiieren,
das den Rahmen sprengt, in dem wir
operieren, das eine völlig neue Perspektive
eröffnet. So wie die Renaissance die
heiligen Kühe des Mittelalters schlachtete,
müsste eine erneute Zeitenwende viele
unserer heutigen Selbstverständlichkeiten
auf die Müllhalde der Geschichte
verfrachten. Damit wäre der Weg frei
gemacht für ein Zeitalter, in dem die
Absurdität unseres heutigen Vorgehens
plötzlich offensichtlich würde und die
sinnvolle Neuausrichtung zur zwangsläufigen
Folge. Doch worin bestehen die
uns behindernden heiligen Kühe?
Der Philosoph Charles Taylor hat in seinem
epochalen Werk „Die Quellen des
Selbst“ einige überkommene Selbstverständlichkeiten
der Neuzeit freigelegt.
Zwei davon sind im diesem Kontext
entscheidend: zum einen der omnipräsente
Utilitarismus. Wir bewegen uns
gegenwärtig in einem engmaschigen
Mittel-Zweck-Gewebe, das uns mit
seiner quantifizierbaren Rationalität
jederzeit den Weg zur maximalen Lösung
weist: ein in sich abgeschlossenes
System, das jedwede Gegenperspektive
ausschließt. Damit zusammenhängend
hat sich die „Bejahung des gewöhnlichen
Lebens“ als Generalmoral globalen
Handelns durchgesetzt. Produktion
und Reproduktion sind demnach unser
alleiniger profaner Lebenszweck, der
den Vorteil hat, ebenso mit einer quantifizierbaren
Rationalität abgebildet werden
zu können. Alles andere ist da bes-
78 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
tenfalls Esoterik und schlimmstenfalls
gefährlich. Das nicht Quantifizierbare
wird in irrationale Bereiche wie den der
Religion abgeführt, wo es mittlerweile
unübersehbar Blüten treibt. Qualitative
Unterscheidungen wie die Idee eines
höheren Lebens und Strebens wurden
hierbei einfach zugunsten der quantitativen
Konzepte größtmöglicher Zahlen
geopfert. Die Vorstellung des „Höheren“
als Sinngeber und Leitinstanz wurde
quasi wegrationalisiert. Das Resultat:
Die Menschen stürzen sich „kopfüber in
ihr homogenes Universum der rationalen
Berechnung“ (Taylor).
Etwas Höherem dienen
Wenn wir an diesem Zustand etwas
ändern wollen, müssen wir das grundlegend
tun. Wir müssen dem Qualitativen
gegenüber dem Quantitativen
wieder zu seinem Recht verhelfen, die
Unterscheidung von Pflicht und Neigung
aufgeben und eine riesengroße
Bresche schlagen für die Begeisterung,
sich etwas Größerem, Höherem zu widmen,
darin einen Sinn zu erkennen und
sich dafür zu engagieren mit allem, was
man ist und was man hat. Großartige
Unternehmen tun heute genau das: Sie
widmen sich einem großen, manchmal
sogar ehrenvollen Sinn – und machen
Unternehmenszwecke wie „Umsatz“
oder „Gewinn“ zum nachgelagerten Erfüllungsgehilfen:
• SpaceX hat die Besiedlung des Mars
in den nächsten zwanzig, dreißig Jahren
zu seiner Mission auserkoren
• Viva con Agua ermöglicht die Wasserversorgung
in Problemgebieten
• Starbuck’s will seine Cafés zum „Third
Place“ (neben Arbeit und Zuhause) in
unserem Leben machen
• Lego arbeitet dafür, dass das gute
Spielen auf der Welt triumphiert
• Google verfolgt das Ziel, uns alle Informationen
der Welt zugänglich machen
Gewiss kann man unterschiedlicher
Meinung darüber sein, ob dies alles
unmittelbar zur Verbesserung der Welt
führt. Meine These aber ist: In den genannten
Fällen tut es dies zumindest
mittelbar, weil jedes Unternehmen, das
aus dem reinen Mittel-Zweck-Utilitarismus
ausbricht und deutlich mehr verfolgt
als die Maximierung der finanziellen
Profite, zu einem Übertritt in das
neue Zeitalter beiträgt. In das Zeitalter
des Sinns, in dem die heiligen Kühe des
Utilitarismus und der „Bejahung des gewöhnlichen
Lebens“ ersetzt werden.
Die große Lust des
Lebens und
Arbeitens besteht
dann nicht im
Maximieren von
Materiellem und
Erlebnissen,
sondern in der
Begeisterung und
der Leidenschaft
beim Folgen
„höherer“ Tugenden.
Die Pointe ist: Unternehmen und Menschen,
die „Driven by Purpose“ sind,
die einen „höheren“ Sinn in den Mittelpunkt
ihres Wirkens stellen, eröffnen
eine neue Perspektive. Wo diese Perspektive
genau hinführen wird, können
wir noch nicht wissen. Wir können aber
annehmen, dass sie uns deutlich mehr
Möglichkeiten gibt, mit den Problemen
der Neuzeit umzugehen – und uns zugleich
die Kraft einer intrinsischen
Motivation bereitstellt, die uns mit der
Energie zur Veränderung und Verbesserung
der Welt versorgt. Die große Lust
des Lebens und Arbeitens besteht dann
nicht im Maximieren von Materiellem
und Erlebnissen, sondern in der Begeisterung
und der Leidenschaft beim Folgen
„höherer“ Tugenden.
Die Wiederentdeckung von Sinn, von
Höherem und Größerem im ökonomischen
und lebenspraktischen Alltag
bietet uns die Möglichkeit, die Menschheit
in eine völlig neue Ära, in ein neues
Zeitalter zu überführen – so wie beim
Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit,
nur sehr viel kondensierter. Darin liegt
ein enormes Begeisterungspotenzial.
Lassen Sie es uns gemeinsam nutzen! f
Foto: The Cheroke / stock.adobe.com
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
79
Innovation
FORSCHUNGSNEWS
ENERGIEWENDE
Foto: hiLyte
Fotos: Steve Suib / uconn.edu
Bild oben:
Grüne Batterie
Bild unten:
Neuer Katalysator
Grüne Batterien erhellen die Dritte
Welt
Forscher des Start-ups hiLyte haben
eine grüne Batterie für die Dritte Welt
entwickelt, die für Licht sorgen oder
Smartphones laden kann. So sollen Power
Banks, die herkömmliche Batterien
benötigen, und umweltbelastende Kerosinlampen
abgelöst werden. Die ersten
Batterien dieser Art werden gerade von
Familien in Tansania getestet.
Die hiLyte-Lösung setzt auf leicht zu
beschaffende, preiswerte Ausgangsmaterialien.
Zunächst füllen die Besitzer
Eisenfolie, Kohlenstofffilz und Kaffeefilterpapier
in die Kammern der Batterie.
Dann gießen sie Wasser, in das
Eisensulfat eingerührt wird, in den
Stromspeicher. Diese Flüssigkeit saugt
das Filterpapier auf, sodass die Eisenfolie
langsam aufgelöst wird. Bei diesem
Prozess werden Elektronen frei, die sich
als elektrischer Strom nutzen lassen.
Altbatterie taugt als Dünger
Die Nutzer des Stromspeichers können
diesen über einen USB-Anschluss zur
Versorgung von elektronischen Geräten
wie Smartphones und Laptops und
von Leuchtdioden nutzen. Eine Lampe,
die zum Lesen und Lernen am Abend
ausreicht, leuchtet damit fünf Stunden
lang. Zum Schluss befindet sich in der
Batterie Eisen(II)Sulfat, das zwar ätzend
ist, aber als Dünger genutzt werden
kann.
Eine Ladung kostet zwölf Cent
von Kerosin, das zudem nur für die Beleuchtung
reicht.
Sprit aus CO 2
?
Forscher haben einen Katalysator entwickelt,
der CO 2
leichter, billiger und effektiver
als bisher in wertvolle Produkte
wie Treibstoffe umwandelt.
Konkret hat das Team um Yongtao
Meng, der inzwischen an der Stanford
University forscht, eine elektrochemische
Zelle entwickelt, die mit einem
porösen, schaumartigen Katalysator
gefüllt ist, der wiederum aus Eisen und
Nickel hergestellt wurde. Beide Metalle
sind auf der Erde reichlich vorhanden
und daher billig.
Das heute am besten funktionierende
Verfahren, CO 2
elektrochemisch zu verändern,
benötigt einen Kat, der Platin
enthält. Das verteuert die Technik, sodass
sie bislang weit entfernt ist von der
Rentabilität.
Der neue Kat ist nicht nur weitaus billiger
als der platinhaltige, er ist auch effektiver.
Er wandelt nahezu 100 Prozent des
eingesetzten CO 2
in CO um. „Ein gutes
Umwandlungsverfahren hat eine Effektivität
von 90 bis 95 Prozent“, sagt Institutsdirektor
Steve Suib. Doch diese Prozesse
seien oft instabil, benötigten hohe
Spannungen und seien teuer. „Das alles
vermeidet die neue Technik“, so Suib.
Jetzt wird an einer industriell einsetzbaren
Lösung gefeilt.
Die Batterie kostet nach derzeitiger
Kalkulation einmalig zwölf Dollar. Pro
Ladung sind zum Kauf der Ausgangsmaterialien
noch einmal zwölf Cent nötig.
Das ist weitaus billiger als der Einsatz
80 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
Innovation
TIERSCHUTZ
„Leder“ ohne Tierhäute
Evonik hat in ein Start-up zur nachhaltigen
Herstellung biotechnologischer
Materialien investiert, die vom Leder
inspiriert sind, jedoch die Verwendung
von Tierhäuten überflüssig machen.
Die richtungsweisende Technologie von
Modern Meadow produziert über einen
Fermentationsprozess mit Hefezellen
tierfreies Kollagen, ein Protein, das ein
natürlicher Bestandteil von Tierhäuten
ist.
Die Geschäftsidee hat Zukunft: Die
Nachfrage der Verbraucher nach
nicht-tierischen Produkten steigt rasant.
Der Markt für tierisches und
künstliches Leder wird auf 190 Milliarden
US-Dollar geschätzt, mit zahllosen
Anwendungen wie in der Automobil-,
Schuh-, Möbel-, Bekleidungs- und Taschenindustrie.
Biologisch produziertes Kollagen
Grundsubstanz ist Kollagen: Das ist in
vielen Anwendungsbereichen zu finden,
die weit über jene von lederähnlichen
Materialien hinausgehen. Als das
am häufigsten vorkommende Protein
im menschlichen Körper kann es auch
für pharmazeutische und medizinische
Anwendungen eingesetzt werden. Kollagen
fördert die Wundheilung, steuert
die Geweberegeneration und kann die
Haut revitalisieren.
Die jetzt beschlossene Kooperation mit
Evonik erlaubt es dem Start-up, die Produktion
auf einen kommerziellen Maßstab
zu bringen und gleichzeitig bestehende
Prozesse zu optimieren. Die neue
Technologie eröffnet zahlreiche Möglichkeiten,
lederähnliche Materialien
mit neuen Eigenschaften zu schaffen,
wie beispielsweise durch ein geringeres
Gewicht, neue Verarbeitungsformen
oder Musterungen.
Roboterfische ersetzen Tierversuche
Jedes Jahr werden bis zu 450.000 Fische
in Tierversuchen eingesetzt, nur um
herauszubekommen, ob die Turbinen
von Wasserkraftwerken fischverträglich
sind. Diesem Treiben hat der Gesetzgeber
jetzt Einhalt geboten. Künftig könnten
Roboterfische genauso gut Informationen
über Strömungsbedingungen
und zu erwartende Schädigungen von
Fischen in europäischen Flusskraftwerken
geben.
Wissenschaftler der Universität Magdeburg
entwickeln dazu teilautonome Robotersysteme
und Simulationsmodelle,
die den Einsatz lebender Fische für Gutachten
reduzieren und langfristig vermeiden
sollen. „Die Behörden schreiben
aufgrund der Europäische Wasserrahmenrichtlinie
vor, für Wasserkraftanlagen
an Fließgewässern per Gutachten
nachzuweisen, dass die Anlagen für
Fische und andere Flussfauna passierbar
sind“, erläutert Stefan Hoerner
vom Institut für Thermodynamik und
Strömungsmechanik der Universität
Magdeburg. „Dafür wurden allein 2015
450.000 Fische, meist aus Wildfängen,
eingesetzt.“ Für die Tiere bedeute das
extremen Stress, und die Mortalität
liegt, wenn es sehr gut läuft, bei rund
zehn Prozent.
Die künftigen Roboterfische werden
eine Fülle an Druck- und Beschleunigungssensoren
besitzen. Die damit bei
ihrem Einsatz in Wasserkraftwerken
erfassten Daten erlauben es den Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern
dann, ohne Tierversuche Vorhersagen
und Hochrechnungen zu Schädigungsrisiken
zu treffen.
Bild oben:
Leder ohne Tierhäute
Bild mitte:
Modern Meadow entwickelt
lederartige Werkstoffe
Bild unten:
Tests an Prototypen des
Roboterfisches im Wasserkanal
Foto: Jana Dünnhaupt / Universität Magdeburg Foto: Evonik
Foto: Evonik
Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
81
Innovation
guter
Letzt
Zu
Grafik: Grafik: strichfiguren.de strichfiguren.de stock.adobe.com
/ stock.adobe.com
Das Büroklammer-
Dilemma
Die meisten Probleme
auf der Welt sind von
Menschen verursacht.
Das scheint unstrittig.
Aber wie lösen wir sie?
Nicht wenige argumentieren,
dass künstliche Intelligenz
rationalere und
damit bessere Entscheidungen
treffen würde. Kritiker
fürchten, dass wir
dabei die Kontrolle über
die intelligenten Maschinen
verlieren. Mag
sein, aber gehen wir noch einen Schritt zurück: Wer
sagt eigentlich, dass KI Probleme besser lösen kann?
Der britische Philosoph Nick Bostrom ist in einem absurd-genialen
Gedankenspiel genau dieser Frage nachgegangen.
Was ist, wenn wir einem Supercomputer die
einfache Aufgabe stellen würden: Bitte produziere so
viele Büroklammern wie möglich. Büroklammern sind
ein einfaches Produkt. Daran kann die KI Produkt-,
Beschaffungs- und Verteilungs-Prozesse üben. Und
tatsächlich legt der Supercomputer im Experiment los.
Mit unerbittlicher Effizienz erweitert und optimiert
die KI sich selbstständig und wird zur weltgrößten
Produktionsanlage für Büroklammern. Zur Intelligenz
gehört dabei auch, dass sie nicht nur die Produktivität
steigert, sondern eben auch die Effizienz der Produktion.
Um ihren Auftrag zu erfüllen, konsumiert die Maschine
daher sämtliche planetaren Metallreserven und
verarbeitet sie zu Büroklammern. Auf der Suche nach
weiteren Rohstoffen zerlegt sie anschließend Autos,
Gebäude und alles, was metallisch ist. Immer noch ist
die Effizienz nicht ausgereizt: Die Maschine entwickelt
Innovationen dahingehend weiter, dass sie jede Form
von Materie in Elementarteilchen zerlegt und für die
Produktion nutzbar macht. Dazu zählt natürlich auch
alles Leben auf der Erde, einschließlich der Menschheit.
Am Ende des Gedankenexperiments ist unser Planet
eine leblose Büroklammerhalde. f
IMPRESSUM
UmweltDialog ist ist ein unabhängiger Nachrichtendienst
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Dr. Elmer Lenzen (V.i.S.d.P.), Sonja Scheferling,
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82 Ausgabe 13 | Mai 2020 | Umweltdialog.de
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