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CRESCENDO 5/18 September-Oktober 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Mit großer Würdigung Leonard Bernsteins und Interviews mit Martin Stadtfeld, Iveta Apkalna und Julian Prégardien.

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Mit großer Würdigung Leonard Bernsteins und Interviews mit Martin Stadtfeld, Iveta Apkalna und Julian Prégardien.

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20 JAHRE<br />

AUSGABE 05/20<strong>18</strong> SEPTEMBER – OKTOBER 20<strong>18</strong><br />

www.crescendo.de 7,90 EURO (D/A)<br />

PREMIUM<br />

AUSGABE<br />

inkl. CD<br />

IVETA APKALNA<br />

Orgelrevolutionärin mit Vision<br />

MUSIK UND<br />

BILDENDE KUNST<br />

Vom Kuss der Schwesternkünste<br />

Leonard<br />

Bernstein<br />

Zum 100. Geburtstag<br />

des Universalgenies<br />

B47837 Jahrgang 21 / 05_20<strong>18</strong><br />

Mit Beihefter CLASS: aktuell<br />

und Special Profil Medien<br />

sowie Sonderseiten der<br />

Deutschen Mozart-Gesellschaft<br />

RUSSISCHE<br />

KAMMER PHILHARMONIE<br />

ST. PETERSBURG<br />

Dirigent Juri Gilbo feiert sein<br />

20-jähriges Jubiläum als künstlerischer<br />

Leiter mit einer großen<br />

Tournee des Orchesters<br />

im Frühjahr 2019.


MET<br />

OPERA<br />

LIVE IM KINO<br />

20<strong>18</strong>/2019<br />

6. <strong>Oktober</strong><br />

AIDA<br />

Giuseppe Verdi<br />

20. <strong>Oktober</strong><br />

SAMSON ET<br />

DALILA<br />

Camille Saint-Saëns<br />

27. <strong>Oktober</strong><br />

LA FANCIULLA<br />

DEL WEST<br />

Giacomo Puccini<br />

10. November<br />

MARNIE<br />

Nico Muhly<br />

15. Dezember<br />

LA TRAVIATA<br />

Giuseppe Verdi<br />

12. Januar<br />

ADRIANA<br />

LECOUVREUR<br />

Francesco Cilea<br />

2. Februar<br />

CARMEN<br />

Georges Bizet<br />

2. März<br />

LA FILLE DU<br />

RÉGIMENT<br />

Gaetano Donizetti<br />

30. März<br />

DIE WALKÜRE<br />

Richard Wagner<br />

11. Mai<br />

DIALOGUES DES<br />

CARMÉLITES<br />

Francis Poulenc<br />

PHOTO: VINCENT PETERS / METROPOLITAN OPERA<br />

Änderungen vorbehalten<br />

C L A S S I C<br />

www.metimkino.de /METimKino /METimKino


P R O L O G<br />

FOTOS TITEL: SUSESCH BAYAT / DG; OLE SPATA; ALEXANDER NEROSLAWSKY<br />

WINFRIED HANUSCHIK<br />

Herausgeber<br />

ZEITENWENDE<br />

Liebe Leser,<br />

haben Sie schon mal eine Morddrohung<br />

erhalten, weil Sie Ihre Meinung geäußert<br />

haben? Nein? Natürlich nicht! Weil es so<br />

etwas bei uns ja nicht gibt. Weil wir ja in<br />

einem Rechtsstaat leben. Weil das Recht<br />

auf freie Meinungsäußerung ja schließlich<br />

im Grundgesetz garantiert ist.<br />

Das dachte ich auch. Bis ich den Text<br />

„Auf einen Kaffee mit Ulrich Matthes“ las:<br />

Er hat die AfD kritisiert. Nicht mehr und<br />

nicht weniger. Und erhielt dafür Morddrohungen<br />

(!). Anonym. Im Internet. Die<br />

AfD kritisiert zwar gern die anderen –<br />

gern auch weit unter der Gürtellinie.<br />

Deren Wähler selbst sind aber offensichtlich<br />

ziemlich dünnhäutig. Und gewaltbereit,<br />

wenn jemand anderer Ansicht ist.<br />

Wie aber sieht es in Österreich aus? Dort<br />

ist „Rechts“ an der Macht. Was das bedeutet,<br />

muss gerade Wolfgang Ambros erleben.<br />

Der Liedermacher hat kürzlich die Rechten<br />

in einem Interview öffentlich kritisiert –<br />

nun fürchtet er um sein Leben. Mitglieder<br />

der österreichischen Regierung fordern<br />

sogar indirekt dazu auf! Können Sie sich<br />

An dieser Stelle<br />

ist keine Abo-CD vorhanden?<br />

Sie sind Premium-Abonnent, aber die CD fehlt?<br />

Dann rufen Sie uns unter 089/85 85 35 48 an.<br />

Wir senden Ihnen Ihre Abo-CD gerne noch einmal zu.<br />

Ihre Abo-CD<br />

PREMIUM EDITION Vol.73<br />

MONIKA JASMINE „FÜNF SEEN LAND“ ACRYL AUF LEINWAND, 120 x 100 cm, 2015<br />

In der Premium-Ausgabe finden Sie nicht nur doppelt so viel Inhalt: mehr Reportagen, Porträts, Interviews und<br />

Hintergründe aus der Welt der Klassik – in einer besonders hochwertigen Ausstattung –, sondern auch unsere<br />

crescendo Abo-CD. Sie ist eine exklusive Leistung unseres crescendo Premium-Abonnements. Premium-Abonnenten<br />

erhalten sechs Mal jährlich eine hochwertige CD mit Werken der in der aktuellen Ausgabe vorgestellten Künstler.<br />

Mittlerweile ist bereits die 73. CD in dieser crescendo Premium-Edition erschienen.<br />

„SONNIGER NEBEL“, ACRYL AUF LEINWAND, 60 x 60 cm<br />

das vorstellen? Nein? Dann lesen Sie selbst:<br />

Wir haben mit Peter Fröstl, seinem<br />

Manager telefoniert (Seite 10).<br />

Von „Musik in der Politik“ nun zur „Politik<br />

in der Musik“. Vielleicht erinnern Sie sich:<br />

Vor einigen Monaten wurde der ECHO<br />

KLASSIK abgeschafft. Versehentlich. Weil<br />

beim ECHO POP die falschen Preisträger<br />

gekürt wurden. Umso mehr freut es mich,<br />

Ihnen mitteilen zu können, dass es einen<br />

neuen Preis für klassische Musik geben<br />

wird. Die Preisträger werden am 14. <strong>Oktober</strong><br />

in Berlin ausgezeichnet. Das ZDF überträgt<br />

zeitversetzt. Wir sind natürlich vor<br />

Ort und berichten auf www.crescendo.de.<br />

17 (siebzehn!) ECHO-Trophäen stehen bei<br />

Günter Hänssler zu Hause im Regal. Wir<br />

schätzen uns seit über 20 Jahren. Er hat mit<br />

seinen Plattenlabels (die nach eigenen<br />

Angaben zu den weltweit erfolgreichsten<br />

unabhängigen zählen) die höchsten Höhen<br />

und tiefsten Tiefen erlebt. Und ist immer<br />

noch da. Helden stehen eben einmal öfter<br />

auf, als sie zu Boden gehen. Klingt einfach,<br />

ist es aber nicht. Lieber Günter, gute Arbeit!<br />

Ich weiß, Ihr Schwaben seid Lob nicht<br />

gewohnt. Aber nach so vielen Jahren muss<br />

das auch mal gesagt werden. Das Special<br />

zum Jubiläum ab Seite 39.<br />

Und noch ein ganz Großer unserer Zunft:<br />

Leonard Bernstein. Am 25. August hätte er<br />

seinen 100. Geburtstag gefeiert. Wir trafen<br />

exklusiv seinen Sohn Alexander in London.<br />

Aus gegebenem Anlass: die besten Medienempfehlungen.<br />

(Ab Seite 14)<br />

Den Themenschwerpunkt widmen wir der<br />

bildenden Kunst, seit jeher eng verwoben<br />

mit der Musik: malende Komponisten und<br />

musizierende Maler. Aktueller Trend: die<br />

Stars der Kunstszene als Bühnenbildner. Das<br />

kann leider auch schiefgehen! (Ab Seite 10)<br />

„Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre<br />

Freiheit“ (Motto der Wiener Secession).<br />

In diesem Sinne<br />

mit herzlichen Grüßen<br />

Ihr Winfried Hanuschik<br />

ONLINE PREMIUM-SERVICES:<br />

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Registrierungscode:<br />

212403<br />

w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong> 3


SONJA LEUTWYLER<br />

ASTRID LEUTWYLER<br />

BENJAMIN ENGLI<br />

P R O G R A M M<br />

HYMNE<br />

AN DIE<br />

SCHÖNHEIT<br />

Kompositionen für Singstimme, Streichinstrument<br />

und Klavier gehören zu den eindringlichsten<br />

Musikstücken des Liedrepertoires. Die Züricher<br />

Mezzosopranistin Sonja Leutwyler hat eine<br />

Auswahl von der Romantik bis zur Moderne<br />

zusammengestellt. Noch stärker als das gewöhnliche<br />

Kunstlied mit Klavierbegleitung richten sich diese<br />

Lieder an das Gefühl, die Empfindung, das Sentiment<br />

– ohne dabei sentimental zu werden. Es begleiten<br />

renommierte Musiker wie Astrid Leutwyler (Violine)<br />

und Benjamin Engeli (Klavier). Eine hervorragender<br />

Überblick in mustergültiger Interpretation.<br />

SM 286<br />

Die CD verlockt mit Werken von Louis Spohr,<br />

Johannes Brahms, Charles Ives, Camille Saint-Saëns,<br />

Felix Petyrek, Czeslaw Marek und Ottorino Respighi.<br />

Eigens für die CD komponierte der Schweizer<br />

Komponist Martin Wettstein das Stück Hymne à la<br />

beauté nach einem Gedicht von Charles Baudelaire.<br />

06<br />

ROMAIN THIERY<br />

Der französische Fotograf<br />

entdeckt an verlassenen Orten<br />

Pianos und Flügel und erweckt<br />

sie mit seinen Bildern zu<br />

neuem Leben.<br />

STANDARDS<br />

03 PROLOG<br />

Der Herausgeber stellt<br />

die Ausgabe vor<br />

06 BLICKFANG<br />

Requiem für ein Klavier<br />

08 OUVERTÜRE<br />

Dr. Goeths Kuriosa<br />

Komponisten-Lieben<br />

Ein Anruf bei …<br />

Peter Fröstl, Manager von<br />

Wolfgang Ambros<br />

Ensemble<br />

Hinter den Kulissen<br />

Klassik in Zahlen<br />

Playlist<br />

Baiba Skride<br />

35 IMPRESSUM<br />

38 RÄTSEL &<br />

REAKTIONEN<br />

86 KOMMENTAR<br />

Axel Brüggemann über<br />

selbstverliebte Superstars<br />

98 HOPE TRIFFT<br />

Alexey Botvinov,<br />

Gründer des Odessa<br />

Classics Festival<br />

14<br />

ALEXANDER<br />

BERNSTEIN<br />

„Das Konzerthaus war unser<br />

Spielplatz.“ Der Sohn des<br />

Jahrhundertkünstlers im<br />

exklusiven Interview.<br />

KÜNSTLER<br />

12 EIN KAFFEE MIT ...<br />

Ulrich Matthes<br />

14 ALEXANDER<br />

BERNSTEIN<br />

Zum 100. Geburtstag<br />

seines Vaters: ein<br />

Gespräch mit dem Sohn<br />

<strong>18</strong> IVETA APKALNA<br />

„Ein Recital soll eine<br />

Geschichte erzählen.“<br />

20 MARTIN<br />

STADTFELD<br />

„Als Pianist schmort man<br />

viel im eigenen Saft.“<br />

22 JULIAN<br />

PRÉGARDIEN<br />

Lieder berühren Menschen<br />

durch direkte Emotionalität<br />

24 BOMSORI KIM<br />

Meine erste große Liebe<br />

war das Klavier<br />

28<br />

NADINE SERRA<br />

Die amerikanische Sopranistin<br />

schafft in ihrem neuen Album den<br />

Spagat zwischen Musical,<br />

Kunstlied und Oper.<br />

HÖREN & SEHEN<br />

25 DIE WICHTIGSTEN<br />

EMPFEHLUNGEN DER<br />

REDAKTION<br />

26 ATTILAS AUSWAHL<br />

Zeitlose Botschaften<br />

34 UNERHÖRTES &<br />

NEU ENTDECKTES<br />

Musikalische Entdeckungen<br />

von der Sowjetunion bis in die<br />

Schweiz<br />

36 LEONARD BERNSTEIN<br />

Happy Birthday!<br />

MOZART!<br />

Die Seiten der Deutschen<br />

Mozart-Gesellschaft<br />

Ein Beihefter mit<br />

eigenen Themen &<br />

Empfehlungen rund um<br />

den Komponisten.<br />

Ab Seite 59<br />

FOTOS: ROMAIN THIERY; SUSESCH BAYAT / DG; PAOLA KUDACKI<br />

www.solo-musica.de<br />

4 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


MONIKA JASMINE „FÜNF SEEN LAND“ ACRYL AUF LEINWAND, 120 x 100 cm, 2015<br />

TASTEN, DIE<br />

DIE WELT BEDEUTEN<br />

Ab 07.09.20<strong>18</strong><br />

54<br />

INT. JOSEPH JOACHIM<br />

VIOLINWETTBEWERB<br />

HANNOVER<br />

Die niedersächsische Hauptstadt<br />

verwandelt sich in ein<br />

Mekka für Geigenvirtuosen<br />

82<br />

BILDENDE KUNST<br />

TRIFFT OPER<br />

Achim Freyers Inszenierung<br />

von Mozarts Zauberflöte an<br />

der Semperoper Dresden – ein<br />

bunter Märchenreigen<br />

94<br />

TALLINN<br />

Eine Stadt wie eine begehbare<br />

Pralinenschachtel:<br />

Hier treffen unterschiedliche<br />

Kulturen wie kleine Preziosen<br />

aufeinander.<br />

Ab 14.09.20<strong>18</strong><br />

ERLEBEN<br />

SCHWERPUNKT<br />

LEBENSART<br />

FOTOS: HELGE KRUECKEBERG; MATTHIAS CREUTZIGER; KAUPO KALDA / TALLINN CITY TOURIST OFFICE & CONVENTION BUREAU<br />

47 DIE WICHTIGSTEN<br />

TERMINE UND<br />

VERANSTALTUN-<br />

GEN IM SOMMER<br />

54 INTERNATIONALER<br />

JOSEPH JOACHIM<br />

VIOLIN-<br />

WETTBEWERB<br />

HANNOVER<br />

Exquisite Geigenkunst<br />

56 RUSSISCHE<br />

KAMMER-<br />

PHILHARMONIE<br />

ST. PETERSBURG<br />

So klingt die russische Seele<br />

Profil Medien<br />

Sonderseiten zum Jubiläum<br />

Ein Interview mit Günter<br />

Hänssler, Meilensteine aus<br />

15 Jahren Firmengeschichte<br />

und ein Blick in die<br />

Zukunft.<br />

Ab Seite 39<br />

75 MUSIK & KUNST<br />

Künstler ohne Grenzen<br />

78 SYNERGIEN<br />

Musik und bildende Kunst<br />

81 WOHER KOMMT<br />

EIGENTLICH ...<br />

... der gelbe Klang<br />

82 KUNST AUF DIE<br />

BÜHNE!<br />

Operninszenierungen von<br />

großen Künstlern<br />

84 INSPIRATION<br />

love in fragments – Spiel<br />

zwischen den Künsten<br />

88 WEINKOLUMNE<br />

John Axelrod über Bacchus<br />

EXKLUSIV<br />

FÜR ABONNENTEN<br />

Hören Sie die Musik zu<br />

unseren Texten auf der<br />

crescendo Abo-CD –<br />

exklusiv für Abonnenten.<br />

Infos auf den Seiten 3 & 58<br />

„SONNIGER NEBEL“, ACRYL AUF LEINWAND, 60 x 60 cm<br />

PREMIUM EDITION Vol.73<br />

90 DYNAMIC<br />

Die Villa Quartara in<br />

Genua beherbergt das<br />

große Plattenlabel<br />

92 STARS KOCHEN<br />

FÜR <strong>CRESCENDO</strong><br />

Das Arcis Saxophon<br />

Quartett mit slowenischer<br />

Krainer Wurst<br />

94 TALLINN<br />

Mit dem Dirigenten<br />

Tnu Kaljuste durch<br />

Estlands Hauptstadt<br />

97 COVER-KUNST<br />

Tina Campos<br />

Berlin Classics präsentiert die<br />

Welterstaufnahme eines<br />

Solo-Orgel programms aus der<br />

Elbphilharmonie Hamburg<br />

mit Titularorganistin Iveta Apkalna:<br />

Light & Dark.<br />

Das Fauré Quartett bereichert<br />

die bewegte Werkgeschichte der<br />

Bilder einer Ausstellung und<br />

Études-Tableaux und besticht durch<br />

phänomenal wendige Klangvielfalt.<br />

www.berlin-classics-music.com<br />

5


O U V E R T Ü R E<br />

Requiem<br />

für ein Klavier<br />

Verlassene Klaviere an verlassenen Orten! Für seine<br />

mittlerweile rund 50 Fotografien umfassende Serie<br />

„Requiem for pianos“ reiste der französische Fotograf<br />

Romain Thiery (siehe auch S. 10) durch halb Europa: In<br />

Belgien, Deutschland, Bulgarien, Rumänien, Spanien, Polen<br />

und der Ukraine stieß er in Ruinen auf verfallene Instrumente<br />

– oft ohne Tasten oder halb zerlegt. Dennoch<br />

strahlen diese Zeugen vergangener Zeiten eine faszinierende<br />

Unerschütterlichkeit aus, scheint an<br />

diesen verlassenen Orten die Musik anderer<br />

Zeiten widerzuhallen und farbenfrohe<br />

Fantasiebilder im Betrachter<br />

anzuregen.<br />

6 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


7<br />

FOTO: ROMAIN THIERY


O U V E R T Ü R E<br />

Dr. Goeths Kuriosa<br />

WIE GROSSE KOMPONISTEN LIEBEN – TEIL 1<br />

Anton Bruckner: der Unbeholfene<br />

„Willst du mit mir gehen? a) Ja, b) Nein, c) Vielleicht“<br />

Anton Bruckners Brief an Josefine Lang von <strong>18</strong>66 liest<br />

sich wie einer dieser in der Schule von Pult zu Pult gereichten<br />

Zettel. So groß seine Sinfonien, so klein sein<br />

Glück in der Liebe: Neun Mal probiert er es bei verschiedenen<br />

jungen Mädchen, neun Mal erhält er eine<br />

Abfuhr. Er bleibt lebenslang unverheiratet.<br />

„Sehr geehrtes, liebenswürdiges Fräulein!<br />

Nicht als ob ich mich mit einer Ihnen befremdenden Angelegenheit an<br />

Sie, verehrtes Fräulein wenden würde, nein, in der Überzeugung, dass<br />

Ihnen längst mein stilles, aber beständiges Harren auf Sie bekannt ist,<br />

ergreife ich die Feder, um Sie zu belästigen. Meine größte und innigste<br />

Bitte, die ich hiermit an Sie, Fräulein Josefine, zu richten wage, ist,<br />

Fräulein Josefine wollen mir gütigst offen und aufrichtig Ihre letzte und<br />

endgültige, aber auch ganz entscheidende Antwort schriftlich zu meiner<br />

künftigen Beruhigung mitteilen und zwar über die Frage: Darf ich auf<br />

Sie hoffen und bei Ihren lieben Eltern um Ihre Hand werben? Oder ist<br />

es Ihnen nicht möglich, aus Mangel an persönlicher Zuneigung mit mir<br />

den ehelichen Schritt zu tun?<br />

Fräulein sehen, dass die Frage ganz entscheidend ist. Das eine oder andere<br />

bitte ich inständigst, mir so bald als möglich, aber gewiss, ebenso<br />

entschieden zu schreiben. Bitte, sagen Fräulein Josefine dies ihren lieben<br />

Eltern, aber sonst niemandem (bitte das strengste Geheimnis bewahren<br />

zu wollen) und wählen sie einen aus den zwei vorgelegten Punkten der<br />

Frage im Einverständnisse mit ihren lieben Eltern. [...] Nochmal meine<br />

Bitte: Wollen Fräulein ganz offen und aufrichtig und ganz entschieden<br />

schreiben, entweder: Ich darf um sie werben oder gänzlich ewige<br />

Absage; kein Mittelding etwa vertrösten oder umschreiben, da bei mir<br />

die höchste Zeit bereits vorhanden ist, zudem wird sich Ihr Gefühl nicht<br />

leicht verändern, weil Fräulein sehr vernünftig sind.<br />

Fräulein dürfen die reine Wahrheit mir unbesorgt sagen, weil selbe in<br />

jedem Falle mir Beruhigung sein wird. Mit Handkuss einer möglichst<br />

baldigen entschiedenen Antwort entgegen harrend. Anton Bruckner<br />

ZITAT DES MONATS<br />

„ICH SPIELE SO GERN<br />

KLAVIER, DASS ICH ES<br />

AUCH UMSONST TUN<br />

WÜRDE. GOTT SEI DANK<br />

WISSEN DAS MEINE<br />

KONZERTAGENTEN<br />

NICHT.“<br />

ARTHUR RUBINSTEIN<br />

HÄTTEN SIE’S GEWUSST?<br />

In die Schlucht geblasen:<br />

Nervlich am Ende trat Anton<br />

Bruckner im Sommer <strong>18</strong>67 eine<br />

Kur in Bad Kreuzen an. Als eines<br />

Mittags böhmische Musikanten<br />

im Kurort aufspielten, wurde<br />

Bruckner erst unruhig, sprang<br />

dann aber auf und war verschwunden.<br />

Man fand ihn tief unten im Wasser stehend in der<br />

damals unzugänglichen Wolfsschlucht. Wie er dort hingekommen<br />

war, wusste er nicht, nur: „Die schreckliche Blaserei von<br />

die böhmischen Musikanten hab i einfach net ausghalten!“ Man<br />

rettete ihn mit Seilen und Leitern.<br />

(Quelle: Hans Commenda: Geschichten um Anton Bruckner, Verlag H. Muck<br />

FOTO: TOURISMUSVERBAND BAD KREUZEN<br />

8 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


O U V E R T Ü R E<br />

KLASSIK<br />

IN ZAHLEN<br />

1 33<br />

Anteil der Kinder in Prozent,<br />

die laut einer aktuellen Studie<br />

der Royal Albert Hall die<br />

Instrumente Waldhorn,<br />

Englischhorn, Fagott oder<br />

Kontrafagott lernen oder<br />

lernen wollen.<br />

Anteil der Kinder in Prozent,<br />

die laut derselben Studie<br />

E-Gitarre oder klassische<br />

Gitarre lernen oder lernen<br />

wollen.<br />

19,1<br />

Aktueller Anteil in Prozent des Audio-<br />

Streamings im Bereich Klassische Musik.*<br />

47,8<br />

Aktueller Anteil des Audio-Streamings<br />

im deutschen Tonträgermarkt<br />

insgesamt in Prozent. Damit hat das<br />

Audio-Streaming im Umsatz erstmals<br />

die CD übertrumpft.*<br />

*Zahlen des Bundesverband Musikindustrie e. V.<br />

NEWSTICKER<br />

+++ Weiter Ärger in Erl: Um die Anschuldigungen gegen den Tiroler Festspielleiter Gustav Kuhn wegen Machtmissbrauch und sexueller<br />

Belästigung war es schon wieder ruhig geworden, da wurden neue Vorwürfe von fünf betroffenen Künstlerinnen laut. Nun zog sich Kuhn bis<br />

zur vollständigen Klärung von allen Ämtern zurück. +++ Konzert nach Takten verkauft: Am 23.11. spielt Geiger und crescendo-Kolumnist<br />

Daniel Hope ein Benefizkonzert zugunsten der Krebsforschung in Heidelberg. Statt Tickets werden allerdings Takte verkauft, von denen nur<br />

die tatsächlich erworbenen (bis 1.220 sind möglich) gespielt werden. +++ Trauer um die „First Lady of Soul“: Ihr Song Respect war eine<br />

Hymne der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Den erweist ihr nun die ganze Welt: Die Soul-Legende Aretha Franklin starb im Alter von<br />

76 Jahren am 16. August in Detroit. +++ Aus für atonales Aufräumen: Das Pilotprojekt der Berliner S-Bahn GmbH, Kriminelle, Trinker,<br />

Junkies und Dealer am Neuköllner Bahnhof Hermannstraße mittels atonaler Musik zu vertreiben, wurde vom Deutschen Musikrat kritisiert:<br />

Es bedeute eine Diskriminierung der Komponistinnen und Komponisten. Die Deutsche Bahn stellte das Projekt bereits vor Beginn wieder ein.<br />

9


O U V E R T Ü R E<br />

Schifoan gegen Rechts<br />

Am heißesten Tag des Jahres stand Wolfgang Ambros’ Austro-Pop-Klassiker Schifoan plötzlich wieder<br />

auf Platz eins der österreichischen Musik-Charts. Ein Anruf bei seinem Manager Peter Fröstl.<br />

crescendo: Herr Fröstl, nach 42 Jahren<br />

schaffte es der legendäre Après-Ski-Song<br />

Schifoan zusammen mit zehn weiteren<br />

Liedern von Wolfgang Ambros ausgerechnet<br />

im Jahrhundertsommer wieder<br />

in die österreichischen Charts. Was war<br />

da los?<br />

Peter Fröstl: Wolfgang Ambros hatte der<br />

Süddeutschen Zeitung im Rahmen eines<br />

Konzerts am Chiemsee ein Interview gegeben,<br />

in dem es neben seinen musikalischen<br />

Plänen auch um seine politische Meinung<br />

ging. Die ist, wie sie immer war: gegen<br />

Rechts und somit in der aktuellen Konstellation<br />

auch kritisch gegenüber der FPÖ.<br />

Darauf gab es in den sozialen Medien Kommentare, wie wir sie von<br />

vor gut 80 Jahren von den Bücherverbrennungen kennen: Man solle<br />

seine Alben verbrennen, wegschmeißen, zerstören. Ein Twitter-Fan<br />

von Ambros hatte diese Kommentare gelesen und rief als Gegenreaktion<br />

zur „Ambros-Challenge“ auf: den Song Schifoan – sozusagen<br />

den „National-Hit“ der Österreicher – durch möglichst viele<br />

Downloads wieder auf Platz eins zu bringen. Das ist gelungen!<br />

Die Geschichte klingt ja erst mal lustig, aber Ambros hat auch<br />

Morddrohungen bekommen?<br />

Mehrere! Und ich auch. Lustig ist das nicht. Ich habe zwei erwachsene<br />

Kinder, aber Wolfgang hat zwei kleine Kinder mit acht Jahren.<br />

Um die macht er sich schon Sorgen – nicht um sich selbst, er kann<br />

sich wehren. Wir haben das dem Innenministerium gemeldet, also<br />

Anzeige erstattet, aber sonst nichts weiter unternommen.<br />

Und wie geht man als Manager mit so einer eskalierenden<br />

Situation um?<br />

Viele Telefonate, viele Interviewanfragen – aber: That’s my daily job!<br />

Nach 36 Jahren im Konzert- und Veranstaltungsbusiness ist man an<br />

Krisenmanagement gewöhnt. In diesem Fall ist es mir aber zudem<br />

ein persönliches Bedürfnis klarzustellen, dass manche, die behaupten,<br />

die „Partei des kleinen Mannes“ zu sein, einfach Unrecht haben.<br />

Peter Fröstl (links), Manager von Wolfgang<br />

Ambros, ist im Umgang mit Krisen erprobt<br />

Sie werfen uns vor, dass wir von Steuergeldern<br />

leben, dabei hat Ambros in seinem<br />

ganzen Leben noch keine Förderungen bekommen.<br />

Da muss ich mich entschieden<br />

wehren!<br />

Dürfen oder sollen sich Künstler auch politisch<br />

einbringen?<br />

Ich glaube, dass Künstler das grundsätzlich<br />

tun. Wolfgang Ambros war immer politisch!<br />

Inzwischen haben auch einige Künstlerkollegen<br />

wie Hubert von Goisern, Rainhard<br />

Fendrich, Christian Kolonovits und<br />

Gregor Seberg ihre Solidarität bekundet. In<br />

Deutschland engagieren sich etwa Herbert<br />

Grönemeyer oder Peter Maffay politisch,<br />

und in Amerika treten Superstars wie Bruce Springsteen und Robert<br />

de Niro gegen Trump auf. Das ist der richtige Weg: aufrütteln und<br />

die Meinung sagen! Das muss einem Künstler zustehen, Missstände<br />

aufzuzeigen!<br />

Wie geht es jetzt weiter?<br />

Das wissen wir noch nicht. Da wir nicht wollen, dass das Ganze<br />

aussieht wie die Erfindung eines Managerhirns, wie ein Promotion-Gag,<br />

werden wir keine weiteren Interviews geben. Das Ganze<br />

ist schlicht und einfach passiert! Nach den Reaktionen der FPÖ auf<br />

das Interview in der Süddeutschen hat sich das einfach verselbstständigt,<br />

eben auch über die digitalen Medien. Wir haben dann irgendwann<br />

gesagt: Jetzt reicht’s! Dass Schifoan am heißesten Tag des<br />

Jahres auf Platz eins stand, ist als Meldung zwar ganz lustig, aber<br />

letztlich auch unwichtig. Wichtig ist die Botschaft, die Ambros gesendet<br />

hat, und die sollte man auch weitertransportieren! Er selbst<br />

wird das auf verschiedene Art auch immer wieder tun: und zwar<br />

nicht nur über Interviews, sondern vor allem über seine Lieder und<br />

das, was er tut! Er ist auch – ganz im Verborgenen – in verschiedenen<br />

Charity-Projekten aktiv. Das sind die Aktionen, die Wolfgang<br />

auszeichnen und weshalb ihm seine Fans nach 47 Jahren auf der<br />

Bühne die Treue halten.<br />

Von Maria Goeth<br />

HINTER DER BÜHNE<br />

Die Welt von crescendo lebt von den Künstlern und Mitarbeitern,<br />

die sie mit Leben füllen. Deshalb der gewohnte Blick hinter die Kulissen der Produktion.<br />

ROMAIN THIERY<br />

Völlig fasziniert waren wir von der Bilderserie „Requiem for pianos“<br />

des französischen Fotografen und Pianisten Romain Thiery (siehe S. 6).<br />

Seine Bilder verlassener Klaviere sind magisch. Kein Wunder, dass<br />

der 30-Jährige bereits an großen internationalen Ausstellungen beteiligt<br />

war, etwa der International PhotoBay in San Francisco, dem Urban<br />

Art Festival New York oder FotoFever Paris. Thiery ist Gewinner des<br />

Prix de la Photo de Paris sowie eines Jury- und Publikumspreises beim<br />

Uzès Photo Festival und eines Bronze Award der Alverton Gallery.<br />

www.romainthiery.fr<br />

FOTOS: FRÖSTL MANAGEMENT; ROMAIN THIERY<br />

10 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


PLAYLIST<br />

Musikalisch ist die lettische Geigerin Baiba Skride für<br />

ihr aktuelles Album nach Amerika gereist. Privat<br />

liebt sie Werke von Mozart bis zur Band „Survivor“.<br />

FOTO: MARCO BORGGREVE<br />

1. Mozart: Messe c-Moll, John Eliot Gardiner<br />

Mozarts c-Moll-Messe mit John Eliot Gardiner höre ich mir immer<br />

an, wenn ich Inspiration oder Aufheiterung brauche. Besonders<br />

die Reinheit der Stimme in dieser Aufnahme begeistert<br />

mich und katapultiert mich schlichtweg in eine andere Welt!<br />

2. Beethoven: Violinsonaten,<br />

David Oistrakh & Lev Oborin<br />

Diese Einspielung ist für mich das Beste, was es in der Kammermusik<br />

für Klavier und Geige gibt. Besonders die 10. Sonate. Das<br />

Album ist voll purer Musikliebe, Hingabe an den Notentext und<br />

Respekt, aber dennoch so persönlich und musikalisch, ohne<br />

dabei Theater zu machen.<br />

3. Béla Bartók: Solosonate für Violine,<br />

Yehudi Menuhin<br />

Diese Sonate ist eines der schwierigsten Stücke für Geige überhaupt,<br />

und wie Menuhin damit umgeht, ist einfach unglaublich.<br />

Ich liebe einfach alles, was Menuhin für und mit Bartók anstellte.<br />

Seine Interpretation ist so aufrichtig und stark.<br />

4. Leoš Janáček: Streichquartette,<br />

Quartetto Energie Nove<br />

Die Streichquartette von Janáček habe ich erst kürzlich für mich<br />

entdeckt. Was für eine unglaublich reiche musikalische Sprache!<br />

Diese Werke sollten mehr Aufmerksamkeit vom Publikum bekommen.<br />

Viel mehr Menschen sollten überhaupt erst mal wissen,<br />

wer Janáček war und was für wunderschöne<br />

Musik er geschrieben hat. Sie geht direkt<br />

in die Seele und bringt einen zum Nachdenken.<br />

In der Einspielung des Quartetto Energie<br />

Nove gefällt mir vor allem die durchgängige<br />

Liebe zum Detail.<br />

5. Survivor: Eye of the Tiger<br />

Eye of the Tiger habe ich immer in meiner<br />

Playlist! Einfach, um meine Unsicherheit<br />

loszuwerden. Und es macht schlichtweg<br />

Spaß, diesen Song zu hören.<br />

Bernstein, Korngold, Rósza: „American<br />

Concertos“, Baiba Skride (Orfeo)<br />

Weniger ist mehr<br />

Antonio Vivaldi<br />

Sechs Sonaten für Cello<br />

und Basso continuo<br />

Jean-Guihen Queyras, Violoncello<br />

Lee Santana, Viola da Gamba<br />

Michael Behringer, Viola da Gamba<br />

Christoph Dangel, Cembalo<br />

Diese mit höchster Inspiration komponierten Cellowerke erinnern uns<br />

daran, in welchem Maße die extravagante und emotionale Brillanz der<br />

vivaldischen Kunst vor allem auf einem unmittelbaren Gespür für die Elemente<br />

in ihrer einfachsten, sogar rohesten Form beruht. Pisendel legte seinem<br />

Lehrmeister einmal den Versuch eines Konzerts vor. Vivaldi reduzierte das<br />

Stück sofort um die Hälfte der Noten; man muss dem Wunder genug Raum<br />

lassen können, in dem es sich manifestieren kann. OLIVIER FOURÉS<br />

© Thomas Dorn<br />

HMM 902278<br />

11<br />

harmoniamundi.com


K Ü N S T L E R<br />

Auf einen Kaffee mit …<br />

ULRICH MATTHES<br />

VON ALEXANDER RAPP<br />

FOTO: ALEXANDER RAPP<br />

12 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


Ulrich Matthes (*1959) ist ein deutscher Schauspieler und Synchronsprecher.<br />

Seit 2004 ist er Ensemblemitglied am Deutschen Theater Berlin.<br />

Dem Fernsehpublikum wurde er unter anderem in der Rolle des Joseph<br />

Goebbels im Spielfilm „Der Untergang“ bekannt. Gerade war er an der<br />

Gesamtaufnahme der Werke Conrad Ferdinand Meyers als Hörbuch beteiligt.<br />

crescendo: Herr Matthes, wie ging es bei Ihnen los mit der<br />

Schauspielerei?<br />

Ulrich Matthes: Ich habe schon als Kind zwei, drei große Rollen<br />

im Fernsehen gespielt und wollte bis zu meiner Pubertät Schauspieler<br />

werden. Dann ist allmählich mein politisches Bewusstsein<br />

erwacht, und ich habe fünf Semester Germanistik und Anglistik<br />

auf Lehramt studiert. Es hat sich aber dann doch meine kreative<br />

Ader durchgesetzt.<br />

Ihr politisches Bewusstsein ist Ihnen geblieben.<br />

Ich halte das für selbstverständlich angesichts der Situation<br />

weltweit und in Deutschland, im Besonderen durch die AfD, die<br />

ich für gefährlich halte. Eine harmlose Äußerung in einer<br />

Talkshow, dass ich die AfD nicht so toll finde und sehr an Europa<br />

glaube, war übrigens für ein paar Leute schon Grund genug, mir<br />

eine Morddrohung ins Haus zu schicken.<br />

Wie ist es, einer gesichtslosen Feindschaft gegenüberzustehen?<br />

Das Internet ermöglicht durch die Anonymität wahnsinnige<br />

Exzesse der Aggression, der Wut. Jeder ist heutzutage in der Lage,<br />

einen Shitstorm auszulösen, der zumindest virtuell Menschen<br />

bedroht. Die Demokratie erscheint uns allen als stabil und<br />

unzerstörbar. Etliche Beispiele in Europa – wie Polen und Ungarn<br />

– und der ganzen Welt zeigen aber, wie fragil sie letztlich ist. Jeder<br />

Bürger müsste sich, selbst mit bescheidensten Mitteln, dafür<br />

einsetzen, sie zu stärken. Man muss dazu<br />

nicht gleich in eine Partei eintreten, ein<br />

Gespräch mit den Nachbarn reicht schon.<br />

Sie spielen komplexe Persönlichkeiten,<br />

die oft auf der dunklen Seite des<br />

Spektrums stehen. Wie gehen Sie an<br />

eine Rolle heran?<br />

Ich habe große Freude am Spiel mit der<br />

Sprache, das ist für mich ein wesentlicher<br />

Impuls. Ich entwickle die Rolle aus der Sprache heraus so genau,<br />

so konzentriert, so intensiv wie möglich. Die körperlichen<br />

Impulse entwickeln sich daraus. Bei vielen ist das umgekehrt,<br />

dass sie sich am Anfang sehr schnell eine Körperlichkeit für eine<br />

Rolle zulegen, eine Figur von außen nach innen erarbeiten. Bei<br />

mir geht das eindeutig von innen nach außen. Übrigens ist mir<br />

der musikalische Umgang mit Sprache extrem wichtig.<br />

Spielen Sie auch ein Instrument oder singen Sie?<br />

Ich singe ausschließlich! Ich bin ein eher ungeschickter Mensch,<br />

Basteln und sämtliche Tätigkeiten mit den Fingern habe ich schon<br />

als Kind genervt abgelehnt. Ich war der Schrecken des Werkunterrichts.<br />

Linolschnitt, furchtbar! Diese blöden Weihnachtssterne<br />

aus blauem, rotem, grünem Stanniolpapier, die man für die Eltern<br />

basteln musste, habe ich auch verabscheut. Ich habe ein Dreivierteljahr<br />

versucht, Klavier zu lernen, weil das an sich hochmusikalische<br />

Kind gefördert werden sollte. Gesungen habe ich dafür<br />

immer wie ein Irrer. Später habe ich dann mit großer Leidenschaft<br />

Gesangsunterricht genommen, klassisch wie auch Jazz.<br />

Ich pfeife auch sehr gern. Wenn Sie mir eine Sinfonie von Brahms<br />

oder Schumann, Beethoven oder Mozart vorspielen, kann ich das<br />

Thema mitpfeifen. Bruckner ist schon schwieriger. Wenn ich zu<br />

Hause Musik höre, dann höre ich eher selten wirklich hin,<br />

ICH WAR DER<br />

SCHRECKEN DES<br />

WERKUNTERRICHTS<br />

sondern singe oder pfeife wie eine Rohrammel mit. Gibt es das<br />

Tier überhaupt? Aber dann: In jeder Sinfonie gibt es Stellen, an<br />

denen die Stimmung blitzartig umschlägt. Entweder es tut sich<br />

ein existenzieller Abgrund auf, oder es erhebt sich aus einer<br />

dunklen Grundstimmung ein Hoffnungsschimmer für die<br />

Menschheit oder das kleine Menschlein, das die Sinfonie gerade<br />

hört. Für diese Umschlagmomente habe ich ein stark empfindendes<br />

Ohr. Ich höre sofort auf zu singen und vertiefe mich in den<br />

Moment.<br />

Gehen Sie in die Oper?<br />

Klar! Aber wenn ich die Wahl habe zwischen einem geglückten<br />

Opernabend und einem geglückten Konzertabend, würde ich<br />

Letzteren oft vorziehen. Eine Art Vereinigung mit der Musik<br />

erlebe ich bei sinfonischen Konzerten eher als in der Oper, in der<br />

ich als Theatermensch oft abgelenkt bin durch eine holprige<br />

szenische Umsetzung oder das manchmal mangelhafte schauspielerische<br />

Können der meist herausragenden Sänger. Die Überwältigung<br />

bis zu Tränen und Seligkeit habe ich eher Konzerten zu<br />

verdanken als Opernabenden.<br />

Woran liegt das?<br />

Es ist in der Oper der Eindruck des Hergestellten, des Probierten,<br />

die Möglichkeit des Ausrutschens auf der Bananenschale. Ich<br />

habe mal erlebt, wie Birgit Nilsson als Tosca von der Bühne nicht<br />

mehr hochkam, weil sie sich in ihrem<br />

Kleid verhakt hatte und dann wie eine<br />

Eidechse immer hochmolchte. Darüber<br />

fing sie selbst hysterisch zu lachen an,<br />

und dann natürlich das Publikum. Das<br />

steht für mich symbolisch dafür, was in<br />

der hochheiligen Oper passieren kann.<br />

Dieser gemachte Rahmen, in dem man in<br />

die Seitenkulisse abrauscht, nachdem<br />

man eine große Todesarie gesungen hat, und dann zum Regieassistenten<br />

zischt: „Scheiße, das blöde Kleid“, ist mir als Idee immer<br />

ein bisschen präsent, sodass ich das selbst bei der geglücktesten<br />

Opernaufführung nicht ganz loswerden kann. Ich suche in der<br />

Musik und überhaupt in den Künsten große Momente der<br />

Emphase, auch wenn ich selber spiele. Deshalb waren die<br />

90er-Jahre, in denen die Ironie im Theater überhandgenommen<br />

hat, eine schwierige Phase. So lustig ich Ironie sonst finde, ist sie<br />

im Theater oft ein Umweg, eine Distanzierung von dem, worum<br />

es eigentlich geht.<br />

Das Leben selbst ist oft ironisch.<br />

In der Tat. Neulich zum Beispiel lag in meiner Küche eine tote<br />

Maus. Einfach mitten in der Küche. Herzinfarkt. Spitzmäuse<br />

kriegen durch den geringsten Schrecken einen Herzinfarkt und<br />

fallen tot um. Da bin ich wahrscheinlich gerade in die Küche<br />

gekommen …<br />

… und die Maus dachte: „Oh, der Herr Matthes!“<br />

Ein schöner Tod …<br />

■<br />

„Ulrich Matthes liest Conrad Ferdinand Meyer: Die Hochzeit des<br />

Mönchs“ (Sinus Verlag)<br />

13


K Ü N S T L E R<br />

MEIN VATER<br />

GEHÖRTE<br />

DER GANZEN WELT!<br />

Im August hätte Leonard Bernstein seinen 100. Geburtstag gefeiert.<br />

Wir sprachen exklusiv mit dem Sohn des legendären<br />

Dirigenten, Pianisten und Komponisten, Alexander Bernstein.<br />

VON VERENA FISCHER-ZERNIN<br />

Die Kinder Nina Bernstein Simmons,<br />

Alexander Bernstein und Jamie Bernstein<br />

crescendo: Sie sind der Sohn von<br />

Leonard Bernstein. Was war der<br />

Soundtrack Ihrer Kindheit?<br />

Alexander Bernstein: Meine<br />

Kindheit war voll von seiner Musik.<br />

Mein Vater spielte uns oft das, was<br />

er gerade geschrieben hatte, vor. Es<br />

war sehr aufregend, die Kompositionen<br />

zum ersten Mal zu hören. Und<br />

wir hatten oft spät nachts Partys,<br />

bei denen viel gesungen wurde. Ich<br />

erinnere mich an wunderbare,<br />

unglaublich komische Lieder.<br />

Manchmal spielte mein Vater auch<br />

vierhändig mit jemandem, Mozart<br />

und andere. Es war sehr viel Musik<br />

um uns. Andererseits mochte er es<br />

überhaupt nicht, wenn Musik im<br />

Hintergrund lief. Wenn meine<br />

Schwestern und ich bei den<br />

Hausaufgaben Radio hörten, fand er das komplett unverständlich.<br />

Ihre Eltern hatten so viele berühmte Freunde. Sind Jackie<br />

Kennedy, Mstislaw Rostropowitsch oder Aaron Copland<br />

manchmal in Ihr Zimmer gekommen und haben Ihnen eine<br />

Gutenachtgeschichte vorgelesen?<br />

Das wäre schön gewesen! Sie kamen zu uns, aber …<br />

… nicht bis in Ihr Zimmer! Wo war das eigentlich?<br />

Mitten in New York. In meinen ersten Lebensjahren wohnten wir<br />

in der Nähe der Carnegie Hall. Mein Vater hatte also einen sehr<br />

kurzen Weg zur Arbeit. Später zogen wir in eine sehr schicke<br />

DASS MEIN VATER<br />

BEI DEN FLINTSTONES VORKAM,<br />

BEDEUTETE, DASS ER WIRKLICH<br />

BERÜHMT SEIN MUSSTE!<br />

FOTO: STEVE J. SHERMAN<br />

Wohnung in der Park Avenue – mit<br />

zwei Etagen und einer Terrasse und<br />

einem großartigen Blick über die Stadt.<br />

Dort habe ich die längste Zeit meiner<br />

Jugend verbracht.<br />

Als Sie geboren wurden, war Ihr Vater<br />

bereits ein Star. Wann wurde Ihnen<br />

bewusst, dass er eine Berühmtheit ist?<br />

Es gab die Fernsehserie „The Flintstones“,<br />

die in der Steinzeit spielt. Da<br />

sagte eine Frau zur anderen: „Heute<br />

gehen wir zur Hollyrock Bowl. Ich kann<br />

es kaum erwarten, Leonard Bernstone<br />

zu sehen!“ Dass mein Vater bei den<br />

„Flintstones“ vorkam, bedeutete, dass<br />

er wirklich berühmt sein musste!<br />

Waren Sie stolz?<br />

Sehr!<br />

Er war eine öffentliche Person. Hatten<br />

Sie das Gefühl, ihn teilen zu müssen?<br />

Waren Sie eifersüchtig?<br />

Eifersüchtig nicht. Wir wuchsen schlichtweg in dem Bewusstsein<br />

auf, dass er der Welt gehörte – und uns. Er war sehr familienorientiert<br />

und verbrachte viel Zeit mit uns, nahm uns auf seine Tourneen<br />

und Reisen mit. Es war aufregend und lustig, mit ihm<br />

zusammen zu sein.<br />

Und als Sie ein Teenager waren – in der Zeit, wenn die Eltern<br />

peinlich werden –, dachten Sie manchmal: „Jetzt reicht’s!“?<br />

Oft! Ich frage mich manchmal, warum mein Vater nicht öfter in<br />

meine Schule gekommen ist. Warum hat er sich nicht mehr mit<br />

14 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


Selbstvergessene Hingabe<br />

an die Musik: der große<br />

Leonard Bernstein<br />

FOTO: PAUL DE HUECK, COURTESY OF THE LEONARD BERNSTEIN OFFICE<br />

15


K Ü N S T L E R<br />

meiner Ausbildung auseinandergesetzt, mit Lehrern gesprochen,<br />

an Konferenzen teilgenommen? Aber wenn er mal zu einer<br />

Aufführung von mir gekommen ist, war es mir immer etwas<br />

peinlich. Er stand hinter einer Säule und winkte mir zu oder tat so,<br />

als würde er auf mich schießen. Natürlich haben ihn dauernd alle<br />

angestarrt, denn er war ja Leonard Bernstein.<br />

Bernsteins Werk ist unglaublich facettenreich. Die Deutsche<br />

Grammophon feiert seinen 100. Geburtstag mit mehr als 150<br />

Einspielungen. Sie zeigen seine enorme Bandbreite bezüglich<br />

Stilen und Genres. Er hat Mahler und Beethoven aufgeführt und<br />

natürlich die West Side Story geschrieben, sein wohl bekanntestes<br />

Werk. Aber es gibt auch eine ernste, tiefe, komplexe Seite<br />

seiner Musik. Gab es eine Kluft<br />

zwischen diesen Seiten?<br />

Das glaube ich nicht. Vieles in der<br />

West Side Story kommt von seiner<br />

konzertanten Musik, die genauso<br />

profund ist wie seine Sinfonien.<br />

Umgekehrt findet sich in seinem<br />

konzertanten Schaffen viel Broadway-<br />

und Jazzmusik. Er riss ständig<br />

Grenzen zwischen Stilen und Genres<br />

ein – und natürlich zwischen<br />

Menschen, das war seine Lebensaufgabe.<br />

Viele seiner Werke beschäftigen<br />

sich mit religiösen Themen oder<br />

tragen religiöse, insbesondere<br />

jüdische Titel, etwa Kaddish. Wie<br />

war Bernsteins Beziehung zur<br />

Religion?<br />

Mein Vater war der Sohn eines<br />

Rabbis, der jede Woche strikt in die<br />

Synagoge ging. Er nahm meinen<br />

Vater mit, der dort Sprache, Gebete<br />

und Feiertage kennenlernte. Er<br />

kannte sich also mit dem Judentum<br />

aus. Als Erwachsener hat er die<br />

Religion nicht mehr aktiv praktiziert, aber er war ein sehr spiritueller<br />

Mann und spürte eine sehr persönliche Verbindung zu Gott.<br />

Stark geprägt hat ihn die Kultur des Fragenstellens, die im<br />

Judentum eine große Rolle spielt. Sie hat sein Leben als Künstler<br />

und Lehrer geprägt. Er war ein neugierig Suchender, wollte immer<br />

noch mehr wissen und dieses Wissen mit anderen teilen.<br />

Und er wusste sicher eine Menge!<br />

Das konnte ganz schön anstrengend sein! Wenn er am Tisch saß,<br />

redete er oft sehr lange – über jedes Thema, nicht nur über Musik<br />

oder Religion, sondern auch über Politik, Geschichte und anderes.<br />

Viele seiner Werke basieren auf Texten oder Theaterstücken. Sogar<br />

seine Sinfonien beruhen auf Bibeltexten wie etwa Jeremiah. The<br />

Age of Anxiety beruht auf einem Gedicht von W. H. Auden, die<br />

Serenade – eigentlich ein Violinkonzert – auf Platon. Und natürlich<br />

sind alle Broadwaystücke mit Text. Er liebte die Verbindung<br />

zwischen Sprache und Musik.<br />

Er sagte einmal: „Ich glaube an den Menschen.“ War das sein<br />

Credo?<br />

Absolut. Er liebte Menschen. Deshalb genoss er es, berühmt zu<br />

sein: Denn so konnte er unendlich viele Menschen kennenlernen.<br />

Wenn er gekonnt hätte, hätte er jeden einzeln Menschen auf der<br />

Welt kennengelernt.<br />

Er hasste es, allein zu sein?<br />

Das war so. Er sagte immer, dass er allein nichts genießen kann.<br />

Aber wie konnte er komponieren, wenn er nicht allein sein<br />

konnte?<br />

Das ist das große Paradox. Die Einsamkeit des Komponierens war<br />

Leonard Bernstein – ein neugierig Suchender<br />

sehr schwer für ihn. Meistens komponierte er spät nachts, wenn<br />

niemand mehr wach war. Da war er mit sich allein, legte sich auf<br />

ein Sofa …<br />

… mit seinen „kleinen Soldaten“, wie er seine Bleistifte nannte …<br />

Ja. Und wenn er eine Idee hatte, stand er auf und ging zum Klavier.<br />

Oft merkte er gar nicht, dass es plötzlich sieben Stunden später war<br />

und viele Manuskriptseiten um ihn herumlagen. Broadwaystücke<br />

zu schreiben liebte er, denn das tat er im Team. Auch da komponierte<br />

er zwar allein, aber er konnte die Musik sofort seinen<br />

Mitarbeitern zeigen und mit ihnen im Kontakt sein.<br />

Er liebte es auch, Musik zu vermitteln. Wie viele seiner legendären<br />

„Young People’s Concerts“ haben Sie miterlebt?<br />

Ich denke über 20? Es war immer ein<br />

Riesenspaß, früh morgens dort<br />

hinzugehen, wenn noch niemand da<br />

war und nur die Kamerateams schon<br />

aufbauten. Dann kamen allmählich<br />

die Musiker zur Vorbesprechung.<br />

Manchmal rannte ich dann mit<br />

meiner Schwester Jamie durchs<br />

Konzerthaus, das war wie ein<br />

Spielplatz! Wir kletterten zu den<br />

Beleuchtern hinauf und guckten von<br />

oben runter, gingen hinter die Bühne<br />

zu den Musikern oder zum Übertragungswagen,<br />

von dem aus die<br />

Kameras kontrolliert wurden, und<br />

redeten mit dem Regisseur, Roger<br />

Englander, der ein wunderbarer<br />

Mann war. Dann rannten wir zum<br />

Besprechungsraum zurück, klauten<br />

Sandwiches und hörten kurz zu. Bei<br />

den Proben lernten wir die Musik<br />

FOTO: SUSESCH BAYAT / DG<br />

sehr gut kennen und waren perfekt<br />

vorbereitet, wenn das Konzert<br />

losging.<br />

Haben Sie jemals überlegt, selbst<br />

Musiker zu werden?<br />

Nein. Ich habe Klavierunterricht gehabt, aber ohne Erfolg. Ich war<br />

sehr faul und habe nicht geübt.<br />

Sie sind Schauspieler geworden.<br />

Ich war eine Zeit lang Schauspieler, bin dann aber Lehrer geworden.<br />

Das ist die Verbindung zu meinem Vater. Wir haben viel über<br />

Erziehung, Kunst und deren Verbindung gesprochen. Beides ist<br />

schöpferisch. Er hatte damals die Idee zu dem, was wir heute<br />

„Artful Learning“ nennen …<br />

… eine Methode, nach der Sie heute noch arbeiten.<br />

Die Idee dabei ist, dass Schüler und Lehrer Verbindungen zwischen<br />

den Disziplinen herzustellen lernen. Daraus entwickelt sich<br />

ein tieferes Verständnis vom Lerninhalt, eine intensive Neugierde.<br />

Es geht nicht darum, stumpf etwas zu lernen, die Prüfung zu<br />

bestehen, das Nächste zu machen, einen Job zu bekommen, und<br />

das war’s dann. Sondern da kommt wieder die rabbinische<br />

Tradition ins Spiel: zu fragen und noch mehr zu fragen, neugierig<br />

zu sein und sich inspirieren zu lassen.<br />

Welche politische Position würde Ihr Vater heute beziehen?<br />

Manchmal bin ich froh, dass er nicht hier ist und das alles miterleben<br />

muss. Er würde schreien und schimpfen, leidenschaftlich<br />

komponieren und Kunst machen. Er würde sich noch mehr für<br />

Bildung einsetzen. Er würde weiterkämpfen. Man muss positiv<br />

bleiben und an die Menschen glauben, wie er es tat. Und nie die<br />

Hoffnung aufgeben.<br />

Das Video zum Interview finden Sie unter: www.youtube.de/crescendomagazin<br />

Hörenswerte Neuerscheinungen zum Bernstein-Jubiläum finden Sie auf S. 36.<br />

■<br />

16 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


Aktuelle<br />

NEUHEITEN<br />

bei Sony Music<br />

Jonas Kaufmann<br />

Eine italienische Nacht<br />

Das Berliner Konzert in<br />

der Waldbühne wurde<br />

zum triumphalen Erfolg<br />

für Jonas Kaufmann, Anita<br />

Rachvelishvili und das Rundfunk-<br />

Sinfonieorchester Berlin. Die<br />

zauberhafte „italienische Nacht“<br />

mit populären Arien und Songs<br />

erscheint am 14.9. als CD und<br />

am 28.9. als DVD und Blu-ray.<br />

Yo-Yo Ma<br />

Six Evolutions<br />

Yo-Yo Mas neue, dritte<br />

Einspielung von Bachs sechs<br />

Cello-Suiten ist ein Meisterwerk<br />

und die neue Referenz:<br />

„Welche Kraft hat diese Musik –<br />

noch heute!“ Yo-Yo Ma<br />

Juan Diego Flórez<br />

Bésame Mucho<br />

Eine Hommage an seine Heimat:<br />

Der peruanische Startenor<br />

Juan Diego Flórez singt südamerikanische<br />

Lieder, stilvoll<br />

begleitet von befreundeten<br />

Musikern.<br />

www.jonaskaufmann.com<br />

www.yo-yoma.com<br />

www.juandiegoflorez.com<br />

www.benjaminappl.com<br />

Benjamin Appl<br />

Bach<br />

Der junge deutsche Bariton<br />

Benjamin Appl und Concerto<br />

Köln präsentieren Arien und<br />

Musik aus Bach-Kantaten und<br />

der Matthäus-Passion.<br />

Bach Meisterwerke<br />

33 große Aufnahmen<br />

Dem 333. Geburtstag von<br />

Johann Sebastian Bach widmet<br />

Sony Classical diese limitierte<br />

und preisgünstige Edition mit<br />

33 herausragenden Aufnahmen<br />

von Glenn Gould, Murray<br />

Perahia, Nikolaus Harnoncourt,<br />

Swjatoslaw Richter, Nuria Rial<br />

u.v.a.<br />

Leif Ove Andsnes<br />

Chopin: Ballades & Nocturnes<br />

Andsnes verschränkt die<br />

vier Balladen Chopins mit drei<br />

Nocturnes aus unterschiedlichen<br />

Schaffensperioden zu einem<br />

spannenden neuen Hörerlebnis.<br />

www.andsnes.com<br />

Leonard Bernstein<br />

His Greatest Recordings<br />

Am 25.8.20<strong>18</strong> wäre Leonard Bernstein 100 Jahre alt geworden.<br />

16 seiner berühmtesten Aufnahmen gibt es jetzt in dieser<br />

limitierten Edition – mit Originalcover und zum Super-Preis.<br />

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K Ü N S T L E R<br />

ORGELREVOLUTION<br />

Iveta Apkalna war die erste Orgelstudentin in Lettland nach dem Zerfall der<br />

streng atheistischen Sowjetunion. Heute bringt sie regelmäßig das Instrument in der<br />

Hamburger Elbphilharmonie zum Erbeben.<br />

VON VERENA FISCHER-ZERNIN<br />

rescendo: Perfekte Frisur, Etuikleid, Designerhandtasche<br />

… Wenn ich Sie ansehe, verstehe ich, dass sogar<br />

die Modezeitschrift Vogue über Sie geschrieben hat. Über eine<br />

Organistin! Für Puristen muss das an ein Sakrileg gegrenzt<br />

haben.<br />

Iveta Apkalna: Aber dem Instrument hat es genützt! Seit einigen<br />

Jahren erlebt die Orgel eine richtige Revolution. Früher sagten die<br />

großen Festivals regelmäßig, Orgelkonzerte sind nicht rentabel.<br />

Inzwischen nehmen sie sie ins Programm. Und ich hoffe, dass ich<br />

dazu beigetragen habe.<br />

Wie kam das?<br />

Ich habe immer an einen bestimmten Stil geglaubt und für ihn<br />

gekämpft. Meine Programme wurden oft zensiert. Poulencs<br />

Orgelkonzert und Saint-Saëns’ Orgelsinfonie, das kennen die Leute.<br />

Ich liebe beide Werke sehr, aber es gibt so viel mehr fantastische<br />

Orgelmusik.<br />

Crossover? Blockbuster-Filmmusik?<br />

Das wäre nicht ich. Nur wenn ich mir treu bleibe, kann ich auch<br />

das Publikum erreichen. Die Authentizität ist entscheidend.<br />

Die Authentizität liegt in der Programmwahl?<br />

Genau. Man muss nicht alles von der Renaissance bis in die<br />

Gegenwart spielen. Bei Signierstunden rede ich mit den Leuten<br />

und frage sie, was ihnen gefallen hat und was nicht. Das bestärkt<br />

mich in meiner Erkenntnis: Es geht darum, das eigene Repertoire<br />

zu finden. Ein Recital soll eine Geschichte erzählen. Danach suche<br />

ich bei jedem Konzert, auch als Hörerin, und natürlich auch bei<br />

meinen CD-Einspielungen.<br />

Im <strong>September</strong> erscheint Ihr Album „Light and Dark“, die erste<br />

Orgel-Soloaufnahme aus der Elbphilharmonie. Sie haben dafür<br />

fast nur Werke zeitgenössischer oder wenig bekannter Komponisten<br />

gewählt, ähnlich wie bei Ihrem Debüt als Titularorganistin<br />

des Hauses. Nun ist es ja eine Sache, so ein Programm live zu<br />

erleben, aber eine ganz andere, es zu Hause aufzulegen.<br />

Da ist mir nicht bange. Ich denke an diejenigen, die die Orgel<br />

hören wollen und noch nicht in der Elbphilharmonie waren.<br />

Außerdem ist das Publikum viel klüger und weniger konservativ,<br />

als manche Veranstalter meinen. Gerade ältere Leute sagen mir oft,<br />

dass ihnen das Zeitgenössische am besten gefallen hat.<br />

Ohne Sendungsbewusstsein geht es wohl nicht. Wie kamen Sie<br />

überhaupt dazu, Orgel zu spielen?<br />

Das kann man nicht planen. Es liegt mir im Blut. Meine Mutter ist<br />

Pianistin, mein Großvater und Urgroßvater waren Musiklehrer und<br />

Organisten. Aber das wusste ich als Kind nicht. Man hat es mir nicht<br />

erzählt, damit ich es nicht ausplaudere. Orgel hatte ja mit Kirche zu<br />

tun, und Lettland war ein sowjetisches Land, Atheismus war vom<br />

Staat verordnet. Wer zum Gottesdienst ging, machte sich verdächtig.<br />

Dann konnten Sie vor der Wende nicht Orgel lernen?<br />

Nein, aber gleich danach. Die Musikschule in meiner Heimatstadt<br />

Rezekne hat die erste Orgelklasse in Lettland eingerichtet. Ich war<br />

die erste Orgelstudentin.<br />

Sie hätten doch auch einfach mit Klavier weitermachen können.<br />

Mir hat beim Klavier das Körperliche gefehlt. Als Kind wollte ich<br />

Tänzerin werden. Oder Eiskunstläuferin. Das habe ich immer<br />

geliebt, ich habe manchmal die Schule geschwänzt, um zum<br />

Schlittschuhlaufen zu gehen. Ich machte immerzu Luftsprünge und<br />

Drehungen!<br />

Sie haben als 16-Jährige bei dem Gottesdienst gespielt, den Papst<br />

Johannes Paul II. in Lettland besuchte. Seither waren Sie immer<br />

wieder Pionierin: 2005 haben Sie als erste Organistin den ECHO<br />

Klassik als „Instrumentalistin des Jahres“ gewonnen. Und nun<br />

sind Sie Titularorganistin der Elbphilharmonie. Das klingt fast<br />

wie Bundespräsidentin. Wie geht es Ihnen mit dem Amt?<br />

Es ist immer noch ein Hochgefühl, als wären wir noch in der<br />

Eröffnungsphase. Diese Festlichkeit ergreift mich jedes Mal, wenn<br />

ich herkomme.<br />

Wie läuft das praktisch, haben Sie einen Schlüssel für die<br />

Elbphilharmonie?<br />

Überhaupt nicht! Es ist nicht einfach, da das Haus sehr stark<br />

ausgelastet ist. Meine Übezeiten bekomme ich zugeteilt. Für mein<br />

Konzert im November kann ich am 22. August von 23 bis 3 Uhr<br />

morgens üben.<br />

Nehmen Sie jemanden mit, der den Klang abhört?<br />

Das mache ich immer allein. Das ist Erfahrungssache, da muss<br />

man auch mal scheitern. Es hat viel mit Klangvorstellung zu tun.<br />

Man hört sich selbst ja viel weniger als ein Streicher oder Bläser. In<br />

der Elbphilharmonie ist die Orgel sehr hoch. Ich sitze ganz unten<br />

und weiß nicht genau, wie es in Etage 15 klingt.<br />

Was halten Sie von der viel diskutierten Akustik?<br />

Ich finde es gut, dass der Saal wenig Nachhall hat. 2,3 Sekunden<br />

Nachhallzeit, das ist perfekt. Die Musik verschwimmt nicht. Man<br />

muss halt sehr gut vorbereitet sein.<br />

Für so einen riesigen Saal braucht es ein großes Klangvolumen.<br />

Wird der Klang mit zunehmender Lautstärke nicht leicht hart?<br />

Seltsamerweise nicht. Dieses Instrument entwickelt eine Wärme,<br />

die man im ganzen Körper spürt.<br />

Ist Ihnen die Orgel der Elbphilharmonie stilistisch variabel genug?<br />

Sie kann einfach alles. Man fühlt sich wie ein Kind im Bonbonladen!<br />

Manche Organisten nehmen dann von allem, um den ganzen<br />

Reichtum in einer halben Stunde zu zeigen. Da<br />

wird dem Publikum irgendwann schlecht. Alle<br />

Register ziehen, das mache ich nie!<br />

■<br />

Schostakowitsch, Gubaidulina u. a.: „Light & Dark“, Iveta Apkalna<br />

(Berlin Classics)<br />

<strong>18</strong> w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


DIE ORGEL KANN EINFACH ALLES.<br />

MAN FÜHLT SICH WIE EIN KIND IM<br />

BONBONLADEN!<br />

Die Orgelprogramme von<br />

Iveta Apkalna wurden oft zensiert<br />

FOTO: PETER HUNDERT<br />

19


K Ü N S T L E R<br />

ESOTERISCH UND<br />

ROMANTISCH<br />

Über einem Teller Penne all’arrabiata bei seinem Lieblingsitaliener<br />

verrät Pianist Martin Stadtfeld, wie ihn Bach inspirierte und mit welchem Trick<br />

man schon als Kind Spaß an komplexen Fugen findet.<br />

VON KATHERINA KNEES<br />

FOTO: HENNING ROSS / SONY CLASSICAL<br />

20 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


C<br />

rescendo: Man sagt: „Essen hält Leib und Seele<br />

zusammen.“ Brauchen Sie außer Ihrer Lieblingspasta<br />

täglich auch eine Portion Bach?<br />

Martin Stadtfeld: Irgendwie schon. Meine Beziehung zu Bachs<br />

Musik war schon ganz früh besonders innig. Mein Klavierlehrer<br />

Hubertus Weimer und ich haben im Unterricht auf die Fugen<br />

immer ganz simple Texte gedichtet,<br />

die mir sie als Kind sofort vertraut<br />

und menschlich gemacht haben.<br />

Zum Beispiel für die Fuge in Cis-<br />

Dur: „Jetzt kann ich endlich in Cis-<br />

Dur komponier’n, hurra, hurra!“ Es<br />

fängt also einer an und freut sich<br />

darüber, dass man durch die wohltemperierte<br />

Stimmung nun auch in<br />

Cis-Dur komponieren kann, und<br />

dann steigt einer nach dem anderen<br />

ein und freut sich mit ihm. So hat<br />

mir mein Lehrer Bach beigebracht!<br />

Was genau hat den kleinen Martin<br />

Stadtfeld an Bachs Klangwelt so<br />

in den Bann gezogen?<br />

Als ich Hubertus Weimer zum ersten<br />

Mal das C-Dur-Präludium von<br />

Bach vorgespielt habe, hat er gesagt<br />

„Komm, hör mal auf zu spielen, hör<br />

einfach mal zu.“ Dann hat er mir<br />

das Stück nicht mit gebrochenen<br />

Akkorden vorgespielt, sondern hat<br />

sie immer komplett angeschlagen.<br />

Diese Spannungen, die da zu hören<br />

waren, haben mich sofort total fasziniert<br />

– sie sind für mich der Inbegriff<br />

von Musik. Wenn man über<br />

seine Kindheit nachdenkt, realisiert<br />

man manchmal, dass man die<br />

Dinge heutzutage ganz anders sieht<br />

als damals. Aber Musik ist für mich<br />

nach wie vor ein Spannungsfeld<br />

von Harmonien. Einer meiner Lieblingssätze stammt von<br />

Kierkegaard: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“<br />

Seit ein paar Jahren nehmen Sie vor allem die späten Kompositionen<br />

von Johann Sebastian Bach unter die Lupe. Was entdecken<br />

Sie darin?<br />

Durch meine Auseinandersetzung mit Bachs Spätwerk habe ich<br />

noch mal einen ganz neuen Blick auf seine Musik gewonnen, denn<br />

seine späten Stücke sind sehr speziell. Die Goldberg-Variationen<br />

sind sozusagen der Eintritt in sein Spätwerk. Das ist ein sehr populäres<br />

Stück und für jeden noch gut nachvollziehbar. Die späteren<br />

Werke sind dann eher in der Kontemplation entstanden. Da war es<br />

ihm völlig egal, was man über ihn dachte. In dem Zustand der inneren<br />

Einsamkeit in den letzten Lebensjahren kam Bach in einen<br />

Zustand, in dem der Wunsch nach Anerkennung komplett von ihm<br />

abgefallen ist.<br />

In welchen Werken ist das für Sie besonders deutlich zu spüren?<br />

Das Musikalische Opfer ist zum Beispiel bis heute ein ziemlich unbeliebtes<br />

Werk. Ich habe es kürzlich mal im Konzert gespielt, und es<br />

„DAS LEBEN WIRD VORWÄRTS GELEBT<br />

UND RÜCKWÄRTS VERSTANDEN“, IST<br />

MEIN LIEBLINGSSATZ VON KIERKEGAARD<br />

hat ganz irritierte Reaktionen ausgelöst. Manche Leute haben gesagt:<br />

„Das ist doch kein Bach!“ – als hätte ich mit der Musik irgendetwas<br />

angestellt. Sie ist sehr komplex, diese Klangwelt, mit den kompliziertesten<br />

Kanons. Die Musik ist esoterisch und romantisch und fasziniert<br />

mich sehr, ist aber total schwer zu vermitteln. So kam ich auf<br />

meine Ideen, für das neue Album eigene Kanons zu schreiben, die<br />

ich in Bachs Zyklus eingeflochten<br />

habe.<br />

Wie war es, das Projekt, an dem<br />

Sie so lange intensiv gefeilt<br />

haben, einzuspielen?<br />

Die zwei Wochen vor Aufnahmebeginn<br />

sind schrecklich. Da schlafe<br />

ich total schlecht und träume nur<br />

noch davon und mache mir tausend<br />

Gedanken, eine furchtbare<br />

Zeit. Aber wenn man dann mit<br />

dem bewährten Team zusammen<br />

ist und anfängt zu arbeiten, ist alles<br />

super. Es ist so wichtig, dass man<br />

sich gut kennt und dass man sich<br />

wohlfühlt und loslässt. Früher<br />

habe ich immer gedacht, ich muss<br />

eine Aufnahme schaffen und dann<br />

kann ich danach mit mir zufrieden<br />

sein. Mittlerweile habe ich verstanden,<br />

dass es darum geht, währenddessen<br />

glücklich und mit sich im<br />

Einklang zu sein. Was dann danach<br />

mit der Aufnahme passiert und ob<br />

sie jemandem gefällt, ist völlig egal.<br />

Sie komponieren nicht nur eigene<br />

„Improvisationen“ und Kadenzen,<br />

sondern spielen auch in einer<br />

eigenen Stimmung. Wie klingt die<br />

Stadtfeld-Stimmung?<br />

Ich habe mich vorher viel mit historischen<br />

Stimmungen beschäftigt<br />

und daraus eine eigene Stimmung<br />

entwickelt, die nur drei veränderte Töne hat. Das macht aber sehr<br />

viel aus, weil man dadurch drei reinere Grundharmonien bekommt<br />

– und das hat immer einen doppelten Einfluss: Es gibt eine Harmonie,<br />

die durch die Veränderung reiner wird, und eine, die dadurch<br />

spannungsgeladener und schwebender wird. So bringt man viele<br />

neue Farben ins Spiel.<br />

Machen Sie das immer selbst, oder lassen Sie stimmen?<br />

Ich treffe die Stimmer immer vor dem Konzert und stimme das Instrument<br />

mit ihnen gemeinsam, damit sie wissen, warum sie machen<br />

sollen, worum ich sie bitte. Das ist oft ein sehr schöner Prozess. Als<br />

Pianist schmort man sowieso viel im eigenen Saft und hat wenig mit<br />

anderen zu tun. Deshalb empfinde ich es auch als große Bereicherung,<br />

unterwegs immer wieder neue Instrumente kennenzulernen.<br />

Durch jedes Instrument lerne ich etwas Neues,<br />

manchmal nur durch ein paar Töne. Und plötzlich<br />

denke ich: „Diese Stelle habe ich noch nie so<br />

wahrgenommen.“ <br />

■<br />

„Homage to Bach“, Martin Stadtfeld (Sony)<br />

21


K Ü N S T L E R<br />

MUSIK DER<br />

VERSTÖRUNG<br />

Wie ein Prisma, das die Musik in ihre Einzelbestandteile auffächert –<br />

der Tenor Julian Prégardien hat eine Bearbeitung von Franz Schuberts<br />

Winterreise durch den Komponisten Hans Zender eingespielt.<br />

VON GUIDO KRAWINKEL<br />

FOTO: MARCO BORGGREVE<br />

22 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


Zum Cover seines neuen Albums<br />

wurde Julian Prégardien von<br />

Gustave Courbets Selbstporträt<br />

Der Verzweifelte inspiriert<br />

Weit aufgerissene Augen, die Haare zerzaust, ein verzweifelter,<br />

irrsinnig intensiver, fast schon wahnsinniger<br />

Blick, die eigenen Hände halten den Kopf fest: Das Bild auf dem<br />

Cover des neuen Albums von Tenor Julian Prégardien irritiert,<br />

verstört. Vielleicht genauso wie Hans Zenders Bearbeitung des<br />

Liederzyklus Die Winterreise von Franz Schubert, die Prégardien<br />

zusammen mit der Deutschen Radiophilharmonie Saarbrücken<br />

Kaiserslautern eingespielt hat.<br />

„Es gibt ein Vorbild für dieses Cover“, verrät der 34-Jährige im<br />

Interview: „Das Bild Der Verzweifelte von Gustave Courbet. Dieses<br />

Bild hat etwas davon, wie ich mir den Winterreisenden vorstelle.“<br />

Entstanden ist das Motiv ganz spontan beim Fotoshooting für das<br />

Cover und dennoch sagt es mehr aus, als manch tiefschürfende<br />

Analyse: „Wenn man verstört auf dieses Bild reagiert, dann hat es<br />

eine Wirkung, die auch Franz Schuberts Musik haben kann. Früher<br />

wirkte diese pure, nur von einem Hammerklavier begleitete Musik<br />

vielleicht genauso irritierend wie die Zender-Fassung heute.“<br />

2015 hat Prégardien die Winterreise mit fast 31 Jahren zum<br />

ersten Mal öffentlich gesungen, zweifellos ein Wagnis: „Dass jüngere<br />

Sänger, zumal Tenöre, sich mit der Winterreise präsentieren,<br />

ist eher selten“, zumal man für dieses Werk eine gewisse Lebensreife<br />

mitbringen müsse, „um das auch intellektuell zu durchleuchten.<br />

Wenn ein junger Mann mit einigermaßen naiver, nicht zu<br />

kammersängerartiger Stimme das singt, dann finde ich die Fallhöhe<br />

sehr, sehr hoch. Es geht um eine gewisse Wahrhaftigkeit und<br />

Glaubwürdigkeit dessen, was da auf der Bühne passiert.“<br />

Und mit der „komponierten Interpretation“, wie Hans Zender<br />

seine Fassung betitelt, wird diese Fallhöhe sicher nicht geringer.<br />

Prégardien findet sie epochal, doch dem Publikum und gerade dem<br />

Sänger verlangt sie einiges ab. „Ich stehe 80 Minuten allein auf der<br />

Bühne.“ Eigentlich sei die Winterreise ja kein dramatisches Werk, so<br />

Prégardien, aber seine Interpretation zehre von dieser Erfahrung<br />

mit Zenders Version bis heute. Im Vorfeld hatte er sich auch andere<br />

szenische Versionen angeschaut und kam zum Fazit: „Die Winterreise<br />

verträgt einiges.“<br />

Das muss sie bei Zender auch, denn mit der heilen Kunstlied-<br />

Idylle, wie sie vielfach zelebriert wird, hat sie in seiner Fassung<br />

nicht mehr viel zu tun. „Man kann sich das vorstellen, als würde<br />

der Klaviersatz Schuberts durch ein Prisma geschickt und aufgespalten<br />

in einzelne, artikulatorische, melodische und semantische<br />

Bestandteile. Es ist ein sehr experimentelles Werk. Manchmal<br />

klingt es nach einem einfachen Arrangement, manchmal klingt es<br />

wie Musik des 21. Jahrhunderts. Die Gesangsstimme bleibt dabei<br />

fast gleich wie bei Schubert, es gibt nur wenige klangliche Verfremdungen.“<br />

Hinzu kommt bei Zender die szenische Komponente, die auf<br />

dem Album zwar nicht sichtbar ist, für Prégardien bei seiner Interpretation<br />

aber immer mitschwingt: „Ich glaube, dass das Liedrepertoire<br />

wie kein anderes Repertoire das Potenzial hat, die Menschen<br />

durch direkte Emotionalität zu berühren.“ Prégardien will<br />

das erfahrbar machen, „auch für ein Publikum, das nicht intellektuell<br />

vorgeprägt ist. Es soll keine intellektuelle Leistung sein, von<br />

etwas berührt zu werden, nur weil man weiß, dass es einen berühren<br />

muss.“ Das Vorurteil gegenüber der Gattung, dass Liedgesang<br />

aufgrund komplizierter Texte und komplizierter Musik eben gleich<br />

doppelt unzugänglich sei, lässt er nicht gelten: „Ich glaube, dass<br />

Schubert es schafft, Lyrik auf eine Art in Musik zu übersetzen, die<br />

berührt, auch ohne dass man das Versmaß oder die Andeutungen<br />

im Text nachvollziehen muss. Durch die Musik wird die Lyrik<br />

schon in gewisser Weise interpretiert, und zwar so, dass sie verständlicher<br />

wird.“<br />

Für Prégardien ist das eine Lebensaufgabe, eine, die ihre Wurzeln<br />

in den ersten Erfahrungen als Sänger hat. „Ohne die Limburger<br />

Domsingknaben gäbe es in der Familie Prégardien keine Sänger.<br />

Und auch ohne den Kammerchor Stuttgart wäre ich heute nicht der<br />

Sänger, der ich bin. Neben der familiären Disposition ist er der<br />

Nährboden, auf dem meine Karriere gewachsen ist.“ Deshalb engagiert<br />

er sich auch für den musikalischen Nachwuchs. Im Gedenken<br />

an seinen verstorbenen Großvater hat er an vier Limburger Kindergärten<br />

das Projekt „Canto elementar“ ins Leben gerufen: Senioren<br />

gehen dorthin und singen Volkslieder. Ziel ist, dass Musik „wieder<br />

Teil des Alltags wird, aber nicht nur Musik, auch ganz allgemein die<br />

schönen Künste“.<br />

Denen widmet sich Prégardien, der seit einiger Zeit auch als<br />

Professor an der Münchner Musikhochschule lehrt, mit ganzer<br />

Kraft. Allein in der Zeit vor der Aufnahme hat Prégardien die<br />

Winterreise innerhalb von drei Monaten 15 Mal gesungen – in<br />

verschiedensten Besetzungen: mit Hammerklavier und Spezialisten<br />

für historische Aufführungspraxis, mit einer Koryphäe wie<br />

Gerhard Oppitz, mit einem Gitarrenduo, in einer Bearbeitung für<br />

Bläserquintett und Akkordeon – und außerdem an ganz verschiedenen<br />

Orten: vom Wohnzimmer über die Hotellobby bis zum<br />

Kirchenraum. Für den Tenor war das eine spannende und bereichernde<br />

Erfahrung. „Ich hoffe, dass das Stück mich bis zum Ende<br />

begleitet.“ <br />

■<br />

Hans Zender: „Schuberts Winterreise“, Julian Prégardien,<br />

Deutsche Radio Philharmonie, Robert Reimer (Alpha).<br />

Das Album erscheint am 5.10.20<strong>18</strong><br />

Track 6 auf der crescendo Abo-CD: Die Wetterfahne<br />

23


K Ü N S T L E R<br />

GANZ GROSSE GEFÜHLE<br />

Warum die koreanische Geigerin Bomsori Kim Musikwettbewerbe liebt<br />

und ihr erster Auftritt ein positiver Schock war.<br />

VON DOROTHEA WALCHSHÄUSL<br />

Am liebsten würde<br />

Bomsori Kim durch<br />

ihre Musik mit der<br />

ganzen Welt<br />

kommunizieren<br />

Newcomer<br />

Für viele Künstler<br />

sind Wettbewerbe<br />

ein notwendiges<br />

Übel. Für Bomsori<br />

Kim waren sie eine<br />

beglückende Inspirationsquelle<br />

bei ihrem Weg<br />

auf die großen Bühnen.<br />

So findet sich kaum ein Wettbewerb, an dem die brillante<br />

Geigerin nicht erfolgreich teilgenommen hat – Höhepunkte<br />

wie den ersten Preis beim ARD-Musikwettbewerb 2013 und den<br />

zweiten Preis bei der International Henryk Wieniawski Violin Competition<br />

inklusive. Doch es war weniger der Ehrgeiz, der Kim leitete,<br />

als ihre Sehnsucht nach internationaler musikalischer Erfahrung.<br />

„Die Vorbereitung auf die vielen Wettbewerbe und meine Erlebnisse<br />

dort haben mich in meiner Entwicklung extrem beeinflusst“, erklärt<br />

Kim. Dabei habe sie nicht nur gelernt, sich in sehr kurzer Zeit ein<br />

umfangreiches Repertoire zu erarbeiten, sondern auch, mit den verschiedensten<br />

Rahmenbedingungen umzugehen. „Ich habe ganz<br />

unterschiedliches Publikum kennengelernt und auch schwierige Seiten<br />

erfahren. Manchmal waren die Leute unkonzentriert, manchmal<br />

sogar zynisch. Das war ein gutes, ein hartes Training. Seither schockt<br />

mich nichts mehr“, bekennt Kim und lacht.<br />

Die Zeit der Wettbewerbe ist vorbei, und längst ist die preisgekrönte<br />

Solistin international gefragt. Dabei stand am Anfang ihrer<br />

musikalischen Geschichte gar nicht die Geige. „Meine erste große<br />

Liebe war das Klavier“, erzählt Kim. Die Tochter einer Pianistin<br />

bekam schon mit vier Jahren Klavierunterricht. Als der Wunsch<br />

nach einem anderen Instrument aufkam, wurde es die Geige: „Auf<br />

diesem Instrument kannst du singen und den Klang verändern wie<br />

bei der menschlichen Stimme“, schwärmt Kim, „Das liebe ich sehr.“<br />

In der Mittelschule stieß sie schließlich auf andere begabte Jugendliche.<br />

Damals trat Kim<br />

auch zum ersten Mal<br />

vor Publikum auf – eine<br />

prägende Erfahrung:<br />

„Das war ein Schock im<br />

positiven Sinne. Denn<br />

ich habe gemerkt, was<br />

für starke Gefühle ich<br />

bei den Menschen mit Musik auslösen kann“.<br />

Bis heute spornt die 28-jährige Kim das zu Höchstleistungen<br />

auf ihrem Instrument an: „Ich will durch meine Musik mit der<br />

ganzen Welt kommunizieren!“ Das Rüstzeug dazu hat sie bei ihren<br />

Studien an der Seoul National University und der Juilliard School in<br />

New York erworben. Die beste Vorbereitung auf das Konzertleben<br />

aber waren für Kim tatsächlich die Wettbewerbe: „Jeder einzelne<br />

Auftritt ist für mich wie ein Wettbewerb, jedes Konzert steht für sich<br />

und ist in diesem Moment das Wichtigste, in das ich alles hineinlege.<br />

Als Musiker hast du in diesem Augenblick genau eine einzige<br />

Chance. Da gibt es keine weitere Runde und du hast keinerlei Wahl:<br />

Das Publikum erwartet schlicht das Beste von dir.“<br />

Bomsori Kim ist dafür bestens gewappnet: Mit Virtuosität,<br />

Präsenz, Klarheit und einem warmen, fülligen Geigenton ist Kim<br />

eine agile Gestalterin des Moments. Das beweist die koreanische<br />

Musikerin auch auf ihrem Debütalbum, auf dem sie zusammen mit<br />

dem Warsaw National Philharmonic Orchestra einen berührenden<br />

Bogen zwischen zwei Schlüsselwerken der osteuropäischen Konzertliteratur<br />

schlägt: dem Zweiten Violinkonzert von Henryk Wieniawski<br />

und dem Ersten Violinkonzert von<br />

Dmitri Schostakowitsch.<br />

■<br />

Wieniawski & Schostakowitsch, Bomsori Kim, Jacek Kaspszyk, Warsaw<br />

National Philharmonic Orchestra (Warner)<br />

FOTO: WARNER CLASSICS<br />

24 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


HÖREN & SEHEN<br />

Die besten CDs, DVDs & Vinylplatten des Monats von Oper über Jazz bis Tanz<br />

Attila Csampais Auswahl (Seite 26)<br />

crescendo-Empfehlungen lesen und direkt kostenlos dabei anhören?<br />

Kein Problem: Auf www.crescendo.de finden Sie unsere Rezensionen mit direktem Link zum Anhören!<br />

S. & A. Leutwyler, B. Engeli<br />

Faszination<br />

der Schönheit<br />

Schon als Kinder spielten Sonja und<br />

Astrid Leutwyler gemeinsam als Violinduo<br />

oder im Streichquartett. Seit Sonja<br />

als Opern- und Konzertsängerin gefragt<br />

ist, befinden sich die Schwestern aus<br />

Zürich auf der Suche nach neuem Kammermusikrepertoire.<br />

Auf ihrer CD,<br />

einer Hommage an die Schönheit, ist<br />

eine Reihe selten aufgeführter Werke<br />

für Gesang, Streicher und Klavier zu<br />

hören. Als heller, flexibler Mezzosopran<br />

beeindruckt Sonja Leutwyler etwa in<br />

Liedern von Spohr und Brahms, einer<br />

Elegie von Massenet oder Charles Ives’<br />

meditativer Komposition Sunrise. Subtil<br />

begleiten sie ihre Schwester Astrid, der<br />

Pianist Benjamin Engeli und weitere<br />

Kammermusikpartner wie die Bratschistin<br />

Hanna Weinmeister und der Cellist<br />

Benjamin Nyffenegger. Eine besondere<br />

Entdeckung ist Martin Wettsteins<br />

Hymne an die Schönheit, ein von großer<br />

Klangintensität aufgeladenes Stück, das<br />

eigens für dieses Album geschrieben<br />

wurde. CK<br />

KAMMER-<br />

MUSIK<br />

„Hymne à la beauté. Works for<br />

Voice and Instruments“, Sonja<br />

Leutwyler, Astrid Leutwyler,<br />

Benjamin Engeli (Solo Musica)<br />

Track 3 auf der crescendo<br />

Abo-CD: Élégie für Mezzosopran,<br />

Violoncello und Klavier<br />

von Jules Massenet<br />

FOTO: MARCO BORGGREVE<br />

25


H Ö R E N & S E H E N<br />

Empfehlungen von Attila Csampai<br />

BACHS ZEITLOSE BOTSCHAFTEN<br />

… erklingen in der Auswahl unseres Chefrezensenten<br />

BACH – GULDA – CLAVICHORD<br />

The Mono Tapes (Berlin Classics)<br />

Im Jahr 1978 ließ Friedrich Gulda, der zuvor in<br />

seinen Konzerten das intime Clavichord wiederbelebt<br />

hatte, zur Selbstkontrolle einige<br />

Mono-Mitschnitte seines Bach-Spiels auf dem<br />

Instrument anfertigen. Später schenkte er dieses<br />

private Material seinem Schüler Thomas Knapp. Der wiederum ließ<br />

es jahrelang liegen, bevor er sich entschloss, Guldas elektrisierendes<br />

Bach-Spiel professionell restaurieren zu lassen. Als Meisterstück des<br />

Bach-Interpreten Gulda galt bisher seine glasklare Deutung des<br />

Wohltemperierten Klaviers in den Jahren 1972 und 1973 auf dem<br />

großen Bösendorfer-Flügel. In der vorliegenden Auswahl aber wirkt<br />

der 48-jährige Gulda noch befreiter, noch wilder und radikaler.<br />

Durch die „hautnahe“ Mikrofonierung direkt über den Saiten des<br />

Clavichords wird dessen intimer Charakter massiv verstärkt: So<br />

wechselt die Klangfarbe zwischen lautenähnlicher Anmut, zitherartigem<br />

Vibrato und synthetischer Schärfe, und Guldas rasende<br />

Tempi verleihen den ausgewählten Präludien und Fugen (aus Band<br />

II) einen ganz neuen, geradezu brisanten, sinnlich-bohrenden Charakter.<br />

Wir erleben die faszinierende Dialektik von mathematischer<br />

Logik und virtuoser Spielfreude, von strengster Architektur und<br />

lustvollem Bewegungsdrang. Der Overdrive, mit dem er das Präludium<br />

der Englischen Suite Nr. 2 abschnurren lässt, ist elektrisierend<br />

und enthüllt mit aberwitziger Fingerakrobatik die unfassbare<br />

Modernität dieser Musik: So prickelnd, so aufsässig, so quicklebendig<br />

und abgefahren klang Bach noch nie.<br />

JOSEF MYSLIVEČEK: VIOLIN CONCERTOS,<br />

SINFONIA & OUVERTURE<br />

Leila Schayegh, Collegium 1704, Václav Luks<br />

(Accent)<br />

Josef Mysliveček (1737–1781) war der Sohn<br />

eines Müllers in Prag. Doch statt den elterlichen<br />

Betrieb zu übernehmen, zog er 1763 nach<br />

Italien und wurde zum erfolgreichsten Komponisten der neapolitanischen<br />

Opera seria. 29 Opern brachte er auf die Bühne, verfasste<br />

55 Sinfonien, neun Violinkonzerte und zahlreiche andere<br />

Werke, bevor ihn eine Syphilis-Erkrankung früh dahinraffte. Er<br />

war mit den Mozarts befreundet und beeinflusste auch den jungen<br />

Mozart durch seinen frischen, impulsiven, dramatisch-lebendigen<br />

Stil. Dennoch ist er heute so gut wie vergessen. Daher war die Entscheidung<br />

des Prager Barockensembles Collegium 1704 und seines<br />

Leiters Václav Luks, dem Klassik-Pionier endlich ein komplettes<br />

Album zu widmen, längst überfällig: Für die drei Violinkonzerte,<br />

die Mysliveček 1772 für Wien komponierte, verpflichtete man die<br />

renommierte Schweizer Barockgeigerin Leila Schayegh, die diese<br />

(den Mozart-Konzerten schon ziemlich ähnlichen) Arbeiten mit<br />

wunderbar kernigem, prägnant-klarem Ton und frischen, pulsierenden<br />

Tempi als frühe Meisterwerke einer neuen, durchaus<br />

opernhaften, von ständigen Impulswechseln getragenen Konzertform<br />

ausweist. Das ähnlich entschieden und lebendig aufspielende<br />

21-köpfige Prager Collegium unterstreicht Myslivečeks herausragende<br />

Bedeutung auch in den beiden nervös vorwärts drängenden<br />

Sinfonien.<br />

FRANZ SCHUBERT: OKTETT<br />

Isabelle Faust, Anne Katharina Schreiber, Danusha<br />

Waskiewicz, Kristin von der Goltz u. a.<br />

(harmonia mundi)<br />

Track 7 auf der crescendo Abo-CD: Menuett Nr. 3.<br />

Aus: Fünf Menuette mit sechs Trios D. 89 von Franz<br />

Schubert<br />

Oktette sind eine Rarität im klassischen Repertoire, und Schuberts<br />

Beitrag aus dem Jahr <strong>18</strong>24 ist das wohl bekannteste Werk der Gattung.<br />

Er wolle sich „auf diese Art den Weg zur großen Sinfonie<br />

bahnen“, schrieb er in einem Brief, und tatsächlich ist das für fünf<br />

Streicher und drei Bläser gesetzte sechssätzige Opus ein wunderbares<br />

Mittelding zwischen Kammermusik, Divertimento und<br />

Sinfonie und ein zutiefst beseeltes, freundliches Meisterwerk. Jetzt<br />

haben die Geigerin Isabelle Faust und sieben Mitstreiter aus dem<br />

Umkreis des Freiburger Barockorchesters es auf historischem<br />

Instrumentarium wiederbelebt und dabei die anrührende Schönheit,<br />

die Intimität und den Farbenreichtum dieses „Feuerwerks an<br />

Einfällen, Gefühlslagen und Klangeindrücken“, so Faust im Booklet,<br />

in feinsten dynamischen Schattierungen herausdestilliert.<br />

Man erlebt ein akustisch gedämpftes Konzert innerer Stimmen,<br />

ein nobles Achtergespräch empfindsamster, zärtlich kommunizie­<br />

ZEICHNUNG: STEFAN STEITZ<br />

26 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


ender Individuen, wobei die spezifischen Klangcharaktere des Naturhorns von <strong>18</strong>02 und<br />

der Wiener Klarinetten von <strong>18</strong>20 dem Ganzen eine defensive Intensität und einen unwiderstehlichen<br />

Zauber verleihen: So spürt man auf Schritt und Tritt, dass sich hinter der<br />

Maske des Heiteren Abgründe des Schmerzes und der Trostlosigkeit verbergen.<br />

LISZT: ATHANOR, TOTENTANZ, PIANO CONCERTOS<br />

Beatrice Berrut, Czech National Symphony Orchestra, Julien Masmondet<br />

(Aparté)<br />

Track 2 auf der crescendo Abo-CD: Klavierkonzert Nr. 2 A-Dur S. 125.<br />

II. Allegro moderato von Franz Liszt<br />

In „seriösen“ Musikkreisen gilt Franz Liszt bis heute als zweifelhafte<br />

Größe. Man akzeptiert ihn als einen der größten Klaviervirtuosen des<br />

19. Jahrhunderts, als Komponist ist er nach wie vor umstritten. So dient sein reiches Klavierwerk<br />

vielen Pianisten noch immer als reines Virtuosenfutter. Die junge Schweizer<br />

Pianistin Beatrice Berrut hält ihn dagegen für einen Revolutionär: Auf ihrem zweiten<br />

Liszt-Album rückt sie seine beiden Klavierkonzerte und den Totentanz in ein völlig neues<br />

Licht, befreit alle drei Werke vom Hautgout des Effektvollen und Zirzensischen. Dabei<br />

interessiert sie vor allem die revolutionäre Formidee der beiden Konzerte, ihr Reichtum<br />

an neuen aufregenden Klangfarben und die neuartige Dialogstruktur zwischen Solist und<br />

Orchester, und so durchlebt sie im Wechselspiel mit dem auf Augenhöhe agierenden<br />

Tschechischen Nationalen Sinfonieorchester unter Julien Masmondet drei unterschiedliche<br />

Traumreisen eines poetischen Subjekts, also drei sinfonische Dichtungen mit obligatem<br />

Klavier. Dass Berrut den dämonisch-sinistren, in schönste Poesie sich verwandelnden<br />

Totentanz an den Anfang stellt, verleiht dem exzellenten Album noch eine besondere<br />

bizarr-fantastische Note: Und endlich erstrahlen diese drei lange verschmähten Meisterwerke<br />

in ihrer Anmut, ihrer Schönheit, ihrem neuartigen Klangzauber.<br />

ARAM KHACHATURIAN: PIANO CONCERTO, CONCERTO-RHAPSODY<br />

Stepan Simonian, Staatsorchester Rheinische Philharmonie, Daniel Raiskin<br />

(cpo)<br />

Stepan Simonian ist ein in Moskau und in Hamburg ausgebildeter<br />

armenischer Pianist und ein Virtuose mit großem Potenzial: Er versteht<br />

es, auch komplexe Strukturen sinnfällig und verständlich umzusetzen<br />

und das innere Programm der jeweiligen Musik zum Sprechen<br />

zu bringen. Schon seine Debüt-CD mit den Toccaten von Bach (bei Genuin) war sensationell,<br />

denn so klar, so kontrapunktisch geschärft und zugleich so lebendig hatte man sie<br />

vorher nicht gehört. Jetzt hat der 37-Jährige das Klavierkonzert seines Landsmanns Aram<br />

Chatschaturjan eingespielt, mit energischer Unterstützung des russischen Dirigenten<br />

Daniel Raiskin und der hochmotivierten Rheinischen Philharmonie, und auch dieses<br />

unterschätzte Meisterwerk aus dem Jahr 1936 sehr sinnfällig und einleuchtend zum<br />

Leben erweckt. Das hochvirtuose, sehr spektakuläre Werk kombiniert mit kindlicher<br />

Spielfreude die romantische Tradition mit armenischer Folklore und den stählernen<br />

Rhythmen der sowjetischen Moderne, und Simonian gelingt es mühelos, die aufgeladene,<br />

zwischen überschäumender Motorik und magischem Lyrismus pendelnde Kontrastdramaturgie<br />

in ein durchaus unterhaltsames, stringentes Gesamtkonzept zu zwingen.<br />

Genauso souverän meistert er auch die späte, ähnlich subversive Konzert-Rhapsodie aus<br />

dem Jahr 1967.<br />

SLIXS: QUER BACH 2<br />

(Hey!Classics)<br />

SLIXS ist ein ostdeutsches Vokalsextett, das alle musikalischen Stile von<br />

Blues, Rock, Jazz bis Weltmusik virtuos beherrscht und das schon 2014<br />

mit seinem ersten, nur <strong>18</strong> Minuten langen Bach-Album für Furore<br />

sorgte. In „Quer Bach 2“ haben die sechs Vokalartisten nunmehr 15<br />

Sätze aus sieben Werken Bachs zu einem 48-minütigen A-cappella-Reigen<br />

zusammengefasst: Im Mittelpunkt stehen die in ein echtes Schlaflied verwandelte Aria<br />

plus sieben Goldbergvariationen, die jetzt plötzlich zu leben, zu atmen, menschlich zu agieren<br />

beginnen. Wie SLIXS hier in das Innere der jeweiligen Stücke eindringt und mit welcher<br />

zärtlichen Innigkeit sie Bachs strenge Strukturen in reine Seelen-Seismografie verwandeln,<br />

das hat kaum noch etwas mit dem heiteren Dabadaba-Scat der Swingle Singers zu tun.<br />

Da findet eine geradezu magische Intimisierung der Musik statt und ein in schönste Vokalfarben<br />

getauchter kontemplativer Zauber, der die wahre Schönheit, Humanität und Gottesnähe<br />

dieser Musik spüren lässt. In den letzten vier Tracks überbieten sie sich selbst und<br />

dringen in Bereiche vor, die man der menschlichen Stimme nicht zutraute.<br />

27<br />

Erweitern Sie<br />

Ihren Hörizont!<br />

Der neue Maßstab<br />

in Sachen<br />

Raum und Klang.<br />

5/<strong>18</strong><br />

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MEHR KLANGFASZINATION


H Ö R E N & S E H E N<br />

„There’s a Place for Us“,<br />

Nadine Sierra,<br />

Royal Philharmonic<br />

Orchestra, Robert Spano<br />

(Deutsche Grammophon)<br />

Nadine Sierra<br />

Von Belting<br />

bis Belcanto<br />

Optisch wirkt Nadine Sierra ein bisschen wie die<br />

Opernversion von „J. Lo“, mit der sie die puerto-ricanischen<br />

Wurzeln teilt und den Ehrgeiz. „90 Prozent<br />

meiner Karriere bestehen aus harter Arbeit“, sagt die<br />

30-jährige Sopranistin. Ihr größtes Vorbild und „absolute<br />

Göttin“ ist Mariella Devia, Italiens ungekrönte<br />

Belcanto-Königin. Als Gilda in Verdis Rigoletto fand<br />

Sierra bereits an der Met Beachtung. Auf ihrem Debütalbum<br />

schlägt sie ein Kapitel amerikanischer Musikgeschichte<br />

auf, mischt Musical, Kunstlied und Oper und<br />

demonstriert dabei ihre technische Vielschichtigkeit –<br />

von schmetterndem Belting, der Standardtechnik der<br />

Popstars, bis hin zum Belcanto. Bekanntes von Bernstein,<br />

Strawinsky, Villa-Lobos steht neben Unbekanntem<br />

wie Marias Arie aus der Oper The Cows of<br />

Apollo von Christopher Theofanidis. Und Jeannie with<br />

the Light Brown Hair von Stephen Foster, der mit Liedern<br />

aus den Südstaaten sehr erfolgreich war und dennoch<br />

<strong>18</strong>64 im Alter von 38 Jahren mit nur 38 Cent in<br />

der Tasche starb. Auch ein amerikanisches Schicksal.<br />

TPR<br />

FOTO: PAOLA KUDACKI<br />

GESANG<br />

Gabriel Schwabe<br />

Ein neuer Herausforderer<br />

Schumanns Opus 129 darf man getrost zum musikalischen Tafelsilber<br />

der deutschen Romantik zählen. Entsprechend haben sich sämtliche<br />

Platzhirsche der Cellistenzunft bereits damit verewigt. Mit dem<br />

30-jährigen Gabriel Schwabe wirft ein neuer Herausforderer den<br />

Bogen in den Ring. Seine Lesart zeichnet sich durch einen kultiviertkantablen<br />

Ton und hörbare Musizierfreude aus. Die lyrischen<br />

Momente sind von großer Intensität, nur den schnelleren Passagen<br />

und dem unteren Register fehlt es an Kontur und der letzten Sicherheit.<br />

Auch das Orchesterspiel und das Dirigat von Lars Vogt bleiben<br />

eher im Ungefähren. Umso erfreulicher gelingen die Zugaben: Mit<br />

dem Pianisten Nicholas Rimmer als kongenialem Klavierpartner entlockt<br />

Schwabe den Duostücken Schumanns eine mitreißende Frische<br />

und Vitalität zwischen romantischer Süffigkeit<br />

und schalkhaftem Witz. FS<br />

KAMMER-<br />

MUSIK<br />

Schumann: „Cello Concerto, Works for Cello and Piano“,<br />

Gabriel Schwabe, Nicholas Rimmer, Royal Northern Sinfonia,<br />

Lars Vogt (Naxos)<br />

Track 5 auf der crescendo Abo-CD: Sonate op. 70.<br />

Adagio und Allegro<br />

Klaus Wüsthoff<br />

Bittere Parabel<br />

ORCHES-<br />

TER<br />

Den hätten wir uns diesen Sommer gewünscht: Regen. Verdorrte<br />

Bäume, vertrocknete Wiesen – so sieht es auch anfangs in Die Regentrude<br />

aus. Diese muss befreit werden, um den Menschen wieder<br />

Regengüsse schenken zu können. Theodor Storms gleichnamiges Mittsommermärchen<br />

inspirierte Klaus Wüsthoff bereits in den 1960er-Jahren<br />

zu Ballettmusik. Als sinfonische Dichtung mit Sprechtexten wird<br />

diese zu einer bitteren Parabel auf unsere Zeit. In der Rivalität zwischen<br />

der Regentrude und dem Feuermann bringt Wüsthoff seine tiefe<br />

Besorgnis über die zunehmende Erderwärmung zum Ausdruck. Mit<br />

szenischem Gestus lässt die Schauspielerin Martina Gedeck als Erzählerin<br />

die Musik zu einem Märchenbuch in Tönen werden, das mal nach<br />

Gershwin, mal nach Strawinsky klingt. Das Brandenburgische Staatsorchester<br />

Frankfurt führt jenen Natursegen als<br />

lebendigen Regentanz auf. Da vibrieren die<br />

Schlegel auf dem Xylofon wie Regentropfen,<br />

und die Streichermelodien fließen in Sturzbächen<br />

abwärts. JG<br />

Klaus Wüsthoff: „Die Regentrude“, Martina Gedeck, Brandenburgisches<br />

Staatsorchester Frankfurt, Ulrich Kern (klanglogo)<br />

28 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


KAMMER-<br />

MUSIK<br />

Isabel Gehweiler und Aljaž Cvirn<br />

Leise Töne<br />

Schon zu Studienzeiten an der Zürcher Hochschule der Künste<br />

empfanden es die Cellistin Isabel Gehweiler und der Gitarrist<br />

Aljaž Cvirn beim gemeinsamen Musizieren als überaus wohltuend,<br />

mit ihren relativ leisen Instrumenten in dieser Besetzung auch<br />

leise spielen zu dürfen; seit 2016 wirken sie als festes Duo zusammen.<br />

Auf ihrer CD präsentieren sie Bearbeitungen von Schuberts<br />

Arpeggione-Sonate D 821 und Vivaldis Cellosonate in a-Moll, die so<br />

bekannt sind und doch durch die Gitarre reizvolle neue Klangfarben<br />

hinzugewinnen. Auch in der Sonate für Cello und Gitarre des<br />

Brasilianers Radamés Gnattali und im Spanischen Tanz Nr. 5 von<br />

Enrique Granados kosten Gehweiler und Cvirn den Reiz der<br />

Nuancen ihres leisen Zusammenspiels voll aus. Sie selbst erleben<br />

es, wie sie sagen, als „Befreiung vom<br />

sprichwörtlichen Lärm der Welt“. JH<br />

Schubert, Gnattali, Vivaldi: „Sonaten für Violoncello und<br />

Gitarre“, Isabel Gehweiler, Aljaž Cvirn (Solo Musica)<br />

Track 8 auf der crescendo Abo-CD: Arpeggione Sonata<br />

D. 821. III. Allegretto von Franz Schubert<br />

Dénes Várjon<br />

Nachtspaziergang<br />

Maurice Ravels Gaspard de la nuit so unbefangen zu spielen, dass<br />

man als Hörer zu keiner Zeit an die technische Herausforderung<br />

denkt, sondern geradezu naiv einen Klangrausch genießt, gleicht<br />

einem Gebirgsabstieg im Abenddunkel, bei dem man erst im<br />

Morgenlicht erkennt, wie gefährlich steil und schmal der Pfad<br />

war. Dénes Várjon gelingt dieses Kunststück. Eingebettet hat er<br />

seine Interpretation in hochromantische, aber von jeder Sentimentalität<br />

befreite Schumannsche Fantasiestücke op. 12, die<br />

dadurch mehr nach spätem als frühem Schumann klingen, und –<br />

die Überraschung des Albums – Bartóks Zyklus Im Freien: Oft<br />

genug eingespielt, aber selten so einprägsam und so atmosphärisch<br />

wie sonst vielleicht nur bei Andreas Haefliger. Als Programm<br />

entwickeln diese drei Nachtschattenstücke<br />

bei Várjon zudem die<br />

Dynamik eines durchgehenden Keith-<br />

Jarrett-Improvisationsabends. JFL<br />

Maurice Ravel, Robert Schumann, Béla Bartók:<br />

„De la nuit“, Dénes Várjon (ECM New Series)<br />

SOLO<br />

Berliner Blockflöten Orchester<br />

Orientalische<br />

Klänge<br />

ORCHES-<br />

TER<br />

Das Berliner Blockflöten Orchester besteht<br />

seit 1948 und wird seit 2012 von dem renommierten<br />

Blockflötisten Simon Borutzki geleitet.<br />

Die wahrscheinlich erste CD-Aufnahme<br />

für dieses exotische Ensemble vereint Stücke<br />

vom 17. bis zum 21. Jahrhundert, die sich durch<br />

orientalische Klänge auszeichnen. Dazu gehören<br />

Klassik-Hits wie das Rondo Alla Turca von<br />

Mozart oder die Ouvertüre von Rossinis<br />

L’italiana in Algeri. Mit Jabal Ram von Sören Sieg<br />

ist auch eine Originalkomposition für Blockflötenorchester<br />

vertreten. Das Berliner<br />

Orchester spielt die Stücke mit viel Humor<br />

und Gelassenheit. Der besondere Klang des<br />

Ensembles, der an eine lebendige und differenzierte<br />

Orgel erinnert, sowie die Vielfarbigkeit<br />

eröffnen einen neuen Blick auf diese Musik. LXR<br />

„Alla turca“, Berliner Blockflöten Orchester, Simon Borutzki<br />

(klanglogo)<br />

Maria Callas<br />

Rebellische Violetta<br />

„Wenn jemals eine Sängerin und eine Rolle füreinander bestimmt waren,<br />

dann Maria Callas und Violetta“, schwärmte der amerikanische Kritiker John<br />

Ardoin. 65 Mal verkörperte die Primadonna assoluta des 20. Jahrhunderts<br />

Verdis tragische Edelkurtisane auf der Bühne und verlieh ihr Würde, emanzipatorische<br />

Kraft und erschütternde Intensität: Ihre einzige Studioproduktion<br />

von La traviata (neben sechs Live-Mitschnitten) entstand bereits im<br />

November 1953 in Turin für das italienische Label Fonit Cetra. Diese Mono-<br />

Produktion ist jetzt wieder auf Vinyl greifbar, als Analog-Transfer des digitalen<br />

Remasters von 2014. Sie zeigt die 30-jährige, sehr jugendlich und frisch<br />

wirkende Callas im Vollbesitz ihrer vokalen Kräfte und noch an der Seite<br />

von weniger illustren Mitstreitern, die sie mit ihrer Power und ihrer unbeschreiblichen<br />

Gestaltungskunst fast zu Statisten degradiert. Neben ihren<br />

späteren legendären Live-Mitschnitten der Oper unter Carlo Maria Giulini<br />

1955 und in Lissabon 1958 kann man hier ihre atemberaubende vokale Präzision<br />

in der Gestaltung feinster Details mit der<br />

überwältigenden Ausdruckskraft einer noch<br />

nicht vollständig gezähmten Stimme erleben,<br />

also als eine fast rebellische Violetta. AC<br />

Giuseppe Verdi: „La traviata“, Maria Meneghini Callas,<br />

Francesco Albanese, Ugo Savarese, Orchestra Sinfonica di<br />

Torino della Radio Italiana e Coro Cetra, Gabriele Santini<br />

(Warner Classics)<br />

VINYL<br />

FOTO: ERIO PICCAGLIANI<br />

29


H Ö R E N & S E H E N<br />

Inga Fiolia<br />

Glinka en miniature<br />

Wie schon Victor Ryabchikov vor 20 Jahren bei seiner längst<br />

vergriffenen Aufnahme für das schwedische Label BIS Records<br />

teilt auch die junge Inga Fiolia das Klavierwerk Michail Glinkas<br />

auf nach Variationen, denen sie ein schönes, hörenswertes<br />

erstes Album widmete, und Tänzen; Album Nummer drei<br />

wird Einzelstücke um die vier großen musikalischen Essays<br />

unter dem Titel „Grüße an die Heimat“ umfassen. Die Kleinteiligkeit<br />

und oftmals mangelnde Originalität der 44 Walzer,<br />

Mazurken, Boleros und Contredanses, Polonaisen oder Polkas<br />

ermüdet manchmal doch etwas. Eine Mischung der Gattungen<br />

wäre wohl sinnvoll gewesen bei einer erneuten<br />

Gesamtaufnahme. Um etwas längere Stücke wie die immerhin<br />

achtminütige Walzer-Fantasie h-Moll ist man froh. Außerdem<br />

bemüht sich Inga Fiolia erfolgreich um<br />

ein feines Spektrum an Klangfarben sowie<br />

Abwechslung durch Modifikationen in Agogik<br />

und Dynamik. KLK<br />

FOTO: IRA FIOLIA<br />

SOLO<br />

Glinka: „Complete Piano Works 2, Dances“, Inga Fiolia<br />

(Grand Piano)<br />

Otis Redding<br />

In den Regionen der Seele<br />

Drei Tage bevor er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben<br />

kam, nahm er den Dauerbrenner Dock Of The Bay auf. Otis<br />

Redding war erst 26 und befand sich im kometenhaften<br />

Aufstieg. Anfang 1968 erschien die Single und eroberte<br />

alle Charts. Das war das erste Mal, dass dies einer posthumen<br />

Veröffentlichung gelang. Zwei Grammys gab es,<br />

und von all dem hatte der „King of Soul“ nichts mehr.<br />

Genau 50 Jahre ist das her, Anlass genug, aus den damals<br />

letzten Aufnahmen ein „neues“ Album zu kreieren, so<br />

wie es vielleicht Redding selbst getan hätte. Allesamt führen<br />

die Songs von Pop, R&B über Soul und Gospel in die<br />

Regionen der Seele, deren Resonanz Gänsehaut auslöst.<br />

Sich zu erinnern, was für eine unglaubliche Bandbreite,<br />

welche Gefühlstiefe, welch ausdrucksstarkes Timbre<br />

seine Stimme hatte, ist eine Wiederentdeckung<br />

wert. Gepfiffen hat er die Bay-Melodie<br />

nur, weil der Text noch nicht fertig war. SELL<br />

Otis Redding: „Dock of the Bay. Sessions“<br />

(Volt Records)<br />

Miles Davis Quintet<br />

Miles in Paris<br />

JAZZ<br />

FOTO: WARNER MUSIC<br />

Für die Musik zu seinem S/W-Filmklassiker<br />

Ascenseur pour l’échafaud verpflichtete Regisseur<br />

Louis Malle den amerikanischen<br />

Startrompeter Miles Davis. Der improvisierte<br />

am 4./5. Dezember 1957 in Paris mit seinem<br />

Quintett den kompletten Soundtrack in einer<br />

einzigen Nachtsession. Malle verwendete<br />

davon nur zehn kurze Tracks, die aber die entscheidenden<br />

Sequenzen der düsteren Story atmosphärisch enorm verdichten.<br />

Miles setzte die melancholische Grundstimmung des<br />

schwarzen Krimis durch seinen supercoolen Modal Jazz genial<br />

um und definierte so auch den Zeitgeist der späten 1950-er<br />

Jahre musikalisch neu: Jetzt, nach 60 Jahren, ist endlich das<br />

gesamte klingende Material inklusive aller Outtakes auf zwei<br />

neu gemasterten CDs und mit einem aufwendig edierten<br />

Booklet veröffentlicht. Und selbst wenn man den Film nicht<br />

kennt, ist man augenblicklich gebannt und verzaubert von der<br />

Intensität, der rigorosen Wahrhaftigkeit, der Empfindungstiefe<br />

seiner niemals alternden Botschaften. AC<br />

Miles Davis Quintet: „Ascenseur pour l’échafaud“ (Fontana)<br />

30 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


FOTO: BR KLASSIK<br />

Als neuer Abonnent erhalten<br />

Sie diese CD (siehe S. 58)<br />

„Edita Gruberová“, Münchner<br />

Rundfunkorchester (BR Klassik)<br />

Track 9 auf der crescendo Abo-CD:<br />

Ah! Se un’urna è a me. Aus:<br />

Beatrice di Tenda von Vincenzo Bellini<br />

GESANG<br />

Claudio Bohórquez & Péter Nagy<br />

Ausdrucksstark und temperamentvoll<br />

Mit ihrer Einspielung von Brahms’ Cellosonaten und Arrangements<br />

einiger Ungarischer Tänze gelingt es Claudio Bohórquez am Cello und<br />

Péter Nagy am Klavier, nicht nur zwei elementare Ausdrucksformen<br />

von Brahms’ Musik – Gesang und Tanz – miteinander zu verknüpfen,<br />

sondern auch das vermeintlich ernsthafte Genre der Kammermusik<br />

mit jenem der leichteren Unterhaltungsmusik zu verbinden. Während<br />

Bohórquez durch einen satten, sonoren Klang, einen wunderschön<br />

singenden Ton und intonatorische Sicherheit beeindruckt,<br />

brilliert Nagy durch ein Feuerwerk musikalischer Klangfarben. Mit<br />

Edita Gruberová<br />

Brillante Spitzentöne<br />

Von einer der bestdokumentierten Sängerinnen unserer Zeit so viele unveröffentlichte<br />

Aufnahmen zu finden, dass sie eine ganze CD füllen, dürfte nicht<br />

leicht sein. Umso größer ist die Freude an diesem Programm, das Edita Gruberová<br />

in exemplarischen Live-Aufnahmen aus München zeigt und einen<br />

packenden Querschnitt durch ihr Repertoire liefert. Über die ungebrochene<br />

Bravour und Virtuosität kann man auch hier nur staunen. Alles, was man mit<br />

der Künstlerin verbindet, ist in reichem Maße geboten: brillante Spitzentöne<br />

und Koloraturen, glasklare Tongebung, Pianokultur bis in die höchsten Lagen,<br />

verbunden mit unverwechselbarer Farbgebung und gestalterischer Autorität.<br />

Eine Trouvaille selbst für eingefleischte Fans sind die Arien von Mozart, Händel<br />

und Michael Haydn, aber auch das Belcanto-Dreigestirn ist bestens vertreten.<br />

Das Münchner Rundfunkorchester unter wechselnder Leitung bietet<br />

gepflegte Divenbegleitung. Knapp 75 Minuten „Grubi“ in Hochform; was gibt<br />

es Schöneres! FS<br />

KAMMER-<br />

MUSIK<br />

sensiblem Anschlag lotet er sämtliche Facetten pianistischer Spieltechnik<br />

aus und lässt bei aller Virtuosität niemals den Verdacht der<br />

Effekthascherei aufkommen. US<br />

Brahms: „Opus 38 & 99“, Claudio Bohórquez, Péter Nagy<br />

(Berlin Classics)<br />

Track 4 auf der crescendo Abo-CD: Sonate für Pianoforte<br />

und Violoncello F-Dur op. 99. II. Adagio affettuoso von<br />

Johannes Brahms<br />

Samstag, 29. <strong>September</strong>, 20.00 Uhr<br />

Eröffnungsabend<br />

»Klangerfühlt«<br />

Alliage Quintett, Dr. Franz Alt (Festvortrag)<br />

Sonntag, 30. <strong>September</strong>, 11.00 Uhr<br />

Matinée I<br />

Werke von Mozart, Liszt, Schumann,<br />

Beethoven, Chopin, Rachmaninov<br />

Viktoria Hirschhuber (Klavier),<br />

Lika Bibileishvili (Klavier)<br />

Sonntag, 30. <strong>September</strong>, 19.30 Uhr<br />

Grandioser Auftakt<br />

Werke von Psathas, Koppel, Cangelosi /<br />

Grubinger, Jobim, Ishii, Sánches-Verdú,<br />

Aho/arr. Rundberg<br />

Martin Grubinger (Percussion),<br />

Martin Grubinger sen. (Percussion),<br />

Per Rundberg (Klavier)<br />

Montag, 1. <strong>Oktober</strong>, 19.30 Uhr<br />

STEGREIF.konzert<br />

»Genrefrei« Projekt #freebrahms<br />

Das besondere Orchesterkonzert am<br />

besonderen Ort mit dem<br />

STEGREIF.orchester Berlin<br />

Dienstag, 2. <strong>Oktober</strong>, 19.30 Uhr<br />

Liederabend mit Chor<br />

Werke von Schubert und Lauridsen<br />

Brigitte Geller (Sopran),<br />

Florian Prey (Bariton), Birgitta Eila (Klavier),<br />

Ulrich Eisenlohr (Klavier),<br />

Morten Lauridsen (Klavier und Komposition),<br />

Chamber Choir of Europe, Nicol Matt (Leitung)<br />

Mittwoch, 3. <strong>Oktober</strong>, 11.00 Uhr<br />

Matinée II<br />

Lyrik von Goethe, Wedekind, Brecht, Kästner,<br />

kombiniert mit Schlagern und Chansons<br />

Julia von Miller (Gesang),<br />

Anatol Regnier (Lesung und Rezitation),<br />

Frederic Hollay(Klavier)<br />

Mittwoch, 3. <strong>Oktober</strong>, 19.30 Uhr<br />

Kammermusiksoirée<br />

»Klangreicher Forellenteich« Schubert<br />

Forellen-Quintett, original und reflektiert<br />

Werke von Schumann, Lazic, Cruixent,<br />

Räihälä, Resch, Schachtner, Schubert<br />

Lena Neudauer (Violine), Wen-Xiao Zheng (Viola),<br />

Danjulo Ishizaka (Violoncello),<br />

Rimck Stotijn (Kontrabass), Silke Avenhaus (Klavier)<br />

Donnerstag, 4. <strong>Oktober</strong>, 19.30 Uhr<br />

Liederabend Kasarova<br />

Werke von Berlioz, Rachmaninoff,<br />

Tchaikovsky<br />

Vesselina Kasarova (Sopran),<br />

Iryna Krasnovska (Klavier)<br />

Freitag, 5. <strong>Oktober</strong>, 11.00 Uhr<br />

Abschlusskonzert<br />

Meisterkurs für Gesang<br />

Siegfried Jerusalem (Tenor),<br />

Henning Lucius (Klavier)<br />

Freitag, 5. <strong>Oktober</strong>, 19.00 Uhr<br />

Kirchenkonzert<br />

»Messiah« Oratorium von Händel (engl. Sprache)<br />

Robin Johannsen (Sopran),<br />

Marie-Henriette Reinhold (Alt), Robin Tritschler (Tenor),<br />

Markus Eiche (Bass), Gaechinger Cantorey,<br />

Hans-Christoph Rademann (Leitung)<br />

Künstlerischer Leiter:<br />

Florian Prey<br />

Detailliertere Informationen<br />

erhalten Sie über unsere<br />

Internet seite oder unseren<br />

Prospekt.<br />

Herbstliche Musiktage Bad Urach<br />

Stiftung bürgerlichen Rechts<br />

Hermann-Prey-Platz 1<br />

Telefon 07125 156571<br />

info@herbstliche-musiktage.de<br />

www.herbstliche-musiktage.de


H Ö R E N & S E H E N<br />

Paul Juon (<strong>18</strong>72–1940) gehört zu den kompositorischen Größen,<br />

die zu Lebzeiten sehr erfolgreich waren, heute jedoch<br />

nahezu vergessen sind. Seine opulente Tonsprache erinnert<br />

an Brahms, weist jedoch auch Züge der russischen Spätromantik<br />

auf. Neben Orchesterwerken und Klavierstücken<br />

schrieb der Schweizer russischer Abstammung vor allem<br />

Kammermusik, so auch Litaniae, eine sonatenähnliche Tondichtung<br />

für Klaviertrio, die das Trio Boulanger auf seinem<br />

KAMMER-<br />

MUSIK<br />

Boulanger Trio<br />

Dem Vergessen entrissen<br />

FOTO: STEVEN HABERLAND<br />

Tchaikovsky, Juon: „Piano Trios“,<br />

Boulanger Trio (Avi)<br />

aktuellen Album mit Peter Tschaikowskys Klaviertrio kombiniert<br />

hat. Die drei Musikerinnen sind fasziniert davon, „wie<br />

Juon dem Klaviertrio neue Farben entlockt, wenn er, zum<br />

Beispiel, die Streicher in Doppelgriffen wie ein Orchester<br />

erscheinen lässt“. Sie widmen sich dieser Musik mit Präzision<br />

und Leidenschaft, ohne jedoch zu überziehen. Auch bei<br />

Tschaikowsky überzeugt das Ensemble gleichermaßen durch<br />

poetischen Ausdruck und Temperament. MV<br />

JAZZ<br />

Live-Konzerte<br />

Audiophile Outtakes<br />

Die Bauer-Tonstudios in Ludwigsburg stehen seit Jahrzehnten für<br />

hochwertige, audiophile Musikproduktionen. Seit fünf Jahren veranstalten<br />

sie im hauseigenen Aufnahmeraum Live-Konzerte vor<br />

handverlesenem Publikum, die in rein analoger Direct-to-2-track-<br />

Technik aufgezeichnet und auf <strong>18</strong>0-g-Vinyls gepresst werden. 35<br />

solcher streng limitierten LP-Alben mit renommierten Jazzern<br />

aus aller Welt sind mittlerweile erschienen und von der Fachkritik<br />

gefeiert worden. Von 14 dieser Live-Events gibt es nun eine<br />

Jubilee Edition auf zwei LPs, die aber im Unterschied zu üblichen<br />

Samplern lauter bislang unveröffentlichte Aufnahmen enthalten,<br />

die es aus Platzgründen nicht auf die Originalalben schafften.<br />

Wer also schon einige der begehrten Studio-Konzerte besitzt,<br />

erhält hier keine Doubletten, sondern neue, musikalisch gleichwertige<br />

Outtakes dieser fantastisch klingenden, intime Wohnzimmeratmosphäre<br />

verströmenden Analogaufnahmen. Zugleich<br />

ist der Sampler ein wunderbarer<br />

Appetizer für die Vielfalt und Qualität<br />

der Edition und der hier versammelten<br />

Jazz-Größen. AC<br />

Studio-Konzert: „Jubilee Edition 2013-20<strong>18</strong>“<br />

(Neuklang)<br />

Jacques Arcadelt<br />

Vokale Pracht<br />

der Renaissance<br />

ALTE<br />

MUSIK<br />

Chansons, Madrigale und Motetten auf drei CDs – und doch bieten<br />

sie nur einen Ausschnitt aus dem Lebenswerk des flämischen<br />

Renaissance-Komponisten Jacques Arcadelt. Seine Werke sind<br />

keine Neuentdeckung, bereits zu Lebzeiten erlangte Arcadelt<br />

Berühmtheit. Jahrhunderte später wurde er zum Vorbild für<br />

Pierre-Louis Dietsch und Franz Liszt, deren Motetten nach Arcadelt<br />

die Aufnahme bereichern. Es musizieren die Cappella Mediterranea,<br />

das Ensemble Doulce Mémoire und, aus der heute belgischen<br />

Heimatstadt von Arcadelt stammend, der Chœur de<br />

Chambre de Namur. Allesamt Spezialisten für Alte Musik, präsentieren<br />

sie je eine Gattung und damit je eine CD der Aufnahme, die<br />

berückend die kompositorische Vielfalt Arcadelts dokumentiert.<br />

Ihr kann man auch anhand des ausführlichen<br />

Booklets nachspüren. UH<br />

Jacques Arcadelt: „Madrigali, Chansons, Motetti“,<br />

Cappella Mediterranea, Doulce Mémoire, Chœur de<br />

Chambre de Namur (Ricercar)<br />

Track 1 auf der crescendo Abo-CD: Salve Regina a 5<br />

32 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


Moritz Eggert<br />

Hintergründig<br />

Wenn man den Namen Eggert liest, muss<br />

man immer mit einem rechnen: mit allem.<br />

Der Musiker ist stets an mehreren Fronten<br />

unterwegs, als umtriebiger, pointierter Pianist,<br />

Autor, Hochschullehrer und Aktivist.<br />

Auf diesem Album ist er in seiner eigentlichen<br />

Profession als Komponist zu hören,<br />

der weder stilistische noch inhaltliche<br />

Berührungsängste kennt. Bestes Beispiel:<br />

Ballack, du geile Schnitte, ein fast viertelstündiger,<br />

für Sopran und Klavier vertonter<br />

Auszug aus dem Gästebuch der Homepage<br />

des Fußballers Michael Ballack. Das Ergebnis<br />

ist gleichermaßen absurd wie ernst und<br />

hintergründig. Moritz Eggert beherrscht<br />

die Kunst, auch Banales aus dem Alltag<br />

künstlerisch zu transformieren, einen Ohrwurm<br />

genauso wie nervige Klangtapeten.<br />

Und: Kunstlied kann er auch, wie sechs<br />

2011 komponierte Lieder beweisen. Eggert<br />

und Martin Tchiba am Klavier präsentieren<br />

diese Musik ebenso wirkungsvoll wie die<br />

großartig singende Irene Kurka. Das ist<br />

einfach nur geil! GK<br />

Moritz Eggert: „Ohrwurm.<br />

Klavierlieder“,<br />

Irene Kurka, Martin<br />

Tchiba, Moritz Eggert<br />

(Spektral)<br />

NEUE<br />

WELTEN<br />

Eduard Künneke<br />

Pfiffig-rasant<br />

Noch pirscht sich der junge Operettenboom<br />

lieber an Paul Abraham heran als an<br />

Eduard Künneke. Das muss sich schnell<br />

ändern, denn auch dieser wollte im Nationalsozialismus<br />

nicht auf jazzige Saxofone<br />

und gestopfte Bläser verzichten. Von Herz<br />

über Bord gab es nach der Züricher Uraufführung<br />

1935 über 500 Vorstellungen in<br />

ganz Deutschland. Der Plot über eine<br />

Profi schwimmerin, die ihr Beziehungsleben<br />

umkrempelt, damit gleich zwei Paare<br />

glücklich macht und sich eine hohe Erbschaft<br />

sichert, hätte mit kleinen Veränderungen<br />

genauso gut in die frühe BRD<br />

gepasst. Die WDR-Aufnahme in der ruhmreichen<br />

Operetten-Reihe wird den pfiffigrasanten<br />

Anforderungen glänzend gerecht.<br />

Liedhafte Melodien über einem unerhört<br />

variantenreichen Orchester, das wie in Der<br />

Vetter aus Dingsda Jazz, Latino-Rhythmen,<br />

Schlager und Singspiel bravourös zusammenschmeißt,<br />

wecken Lust auf mehr Künneke<br />

zwischen Lockender Flamme und Großer<br />

Sünderin. DIP<br />

Eduard Künneke:<br />

„Herz über Bord“, WDR<br />

Funkhausorchester,<br />

Wayne Marshall<br />

(Capriccio)<br />

OPERETTE<br />

Elise Neumann<br />

Ein Panorama<br />

spanischer Tänze<br />

Die Gitarristin Elise Neumann vereint Bach<br />

und Castelnuovo-Tedesco. Weder Bach<br />

noch der italienische Pianist Castelnuovo<br />

haben Gitarre gespielt, Bach hat auch<br />

nichts für Gitarre geschrieben. Castelnuovo<br />

allerdings traf auf seinem Lebensweg<br />

die Gitarrenlegende Andrés Segovia. Er<br />

ließ sich von Segovias Spiel so beeindrucken,<br />

dass es diesem ein Leichtes war, ihn<br />

zu überzeugen, jenes damals schmale<br />

Gitarrenrepertoire durch Werke aus seiner<br />

Feder zu erweitern. Heute sind Castelnuovos<br />

zahlreiche Stücke fester Bestandteil<br />

der Gitarrenliteratur. Mit Bachs Lautensuite<br />

BWV 997 leitet Elise Neumann<br />

einfühlsam warmherzig zur Meditation an<br />

und imaginiert mit der Suite Escarramán<br />

von Castelnuovo in nuancenreichen, leisen<br />

Tönen und kraftvollen Akzenten ein Panorama<br />

spanischer Tänze. Castelnuovo<br />

setzte es nach einer theatralischen Satire<br />

von Cervantes über den spanischen Robin<br />

Hood in Töne. SELL<br />

Bach & Castelnuovo-<br />

Tedesco: „Guitar Music“,<br />

Elise Neumann<br />

(Carpe Diem Records)<br />

SOLO<br />

Bestbesetzung<br />

Mehr als 80 Engelmusikanten mit ihren legendären<br />

elf weißen Punkten auf grünen Flügeln gehören<br />

zum weltberühmten Grünhainichener Orchester.<br />

Kult seit 1923. Zum Sammeln und Verschenken.<br />

Damit das Konzerterlebnis nie zu Ende geht.<br />

Erhältlich über autorisierte Fachhändler auf dem<br />

Online-Marktplatz von Wendt & Kühn unter<br />

WWW.WENDT-KUEHN.DE<br />

Wendt & Kühn KG<br />

Chemnitzer Str. 40 · 09579 Grünhainichen<br />

Telefon (037294) 86 286


H Ö R E N & S E H E N<br />

Unerhörtes & neu Entdecktes<br />

von Christoph Schlüren<br />

VERMÄCHTNISSE<br />

Unser Autor machte einzigartige musikalische Entdeckungen<br />

von der Sowjetunion über Böhmen bis in die Schweiz<br />

Emil Gilels und Swjatoslaw Richter waren die beiden überragenden<br />

Pianistenpersönlichkeiten der Sowjetunion. Beide<br />

werden mit neuen Editionen gefeiert: Richter mit einer<br />

umfassenden Liszt- und Chopin-Rundschau auf zwölf CDs<br />

(dazu noch etwas Szymanowski) bei Hänssler Profil, und Gilels –<br />

unter dessen Händen laut Yefim Bronfman „das Klavier klang wie<br />

ein Orchester“ – mit einer Sensation: auf den sogenannten „Lost<br />

Recordings“ werden fünf Solorecitals der Jahre 1975–1980 aus dem<br />

Amsterdamer Concertgebouw präsentiert.<br />

Überflüssig zu erwähnen, dass der Perfektionsgrad bei Gilels<br />

live höher ist als bei den meisten berühmten Kollegen im Studio,<br />

dass die Schönheit und Beherrschung des Klangs sich auf einer<br />

Ebene bewegt, die mit Michelangeli verglichen werden darf. Seine<br />

Domäne Beethoven ist reich vertreten – und lebendiger als im Studio!<br />

Auch Brahms, Prokofjew, Chopin, Liszt, Ravel und Scriabin<br />

werden ausgiebig gewürdigt, doch am meisten verblüfft und verzaubert<br />

bis heute Gilels’ traumwandlerische Stilsicherheit und dramatische<br />

Kraft bei Mozart (Fondamenta, 5-CD-Box).<br />

Dass zwischen Bekanntheitsgrad und musikalischer Klasse<br />

kein nachvollziehbarer Zusammenhang besteht, beweisen nicht nur<br />

Fälle wie Eduard Erdmann und Ignace Tiegerman. Walter Rehberg<br />

(1900–1957) war zusammen mit Edwin Fischer der<br />

feinste Pianist der Schweiz. Nun stellt APR auf drei<br />

CDs erstmals Polydor-Aufnahmen Rehbergs aus<br />

den Jahren 1925–1937 vor, darunter 1928 eine der<br />

bis heute großartigsten Deutungen von Schuberts<br />

Wanderer-Fantasie. Besondere Hervorhebung verdienen<br />

auch eine Haydn-Sonate in G-Dur,<br />

Chopins Polonaise-Fantaisie, Schumanns<br />

Fantasie und Rehbergs mit feinen Dissonanzen<br />

aufgeladene, tänzerisch fesselnde Eigenkompositionen.<br />

Oder, hinreißend!, Webers<br />

Aufforderung zum Tanz und Johann-Strauß-<br />

Arrangements, außerdem Brahms, Grieg<br />

und eine komplette CD mit Liszt. Gesanglich<br />

Inniges und virtuose Freude in vollendeter<br />

Harmonie: Rehberg war ein ganz großer Musiker, der<br />

nun, in exzellentem Remastering, endlich wiederentdeckt<br />

werden kann.<br />

Wie das Klavierspiel hat sich auch die Orchesterkultur<br />

sehr verändert, von der geistigen Erfassung<br />

hin zur polierten Perfektion. Zum 75-jährigen Bestehen legt das<br />

Orchestre de Chambre de Lausanne bei Claves ein 7-CD-Album mit<br />

seinen sechs Chefdirigenten vor: vom legendären Victor Desarzens<br />

(Leiter des Orchesters von 1942 bis 1973) über Armin Jordan,<br />

Lawrence Foster und López Cobos bis zu Christian Zacharias und<br />

Joshua Weilerstein. An einigen exemplarisch ausgewählten Haydn-<br />

Sinfonien ist zu beobachten, dass der sogenannte Fortschritt eine<br />

Gewinn-Verlust-Rechnung auf Kosten der lyrischen und farblichen<br />

Mannigfaltigkeit ist. Highlights: Desarzens mit den Solisten Samson<br />

François und Aurèle Nicolet in Mozart-Konzerten und mit Raritäten<br />

der Schweizer Meister Zbinden und Frank Martin, Foster mit<br />

Enescu, Zacharias mit Chopin und Weilerstein mit Golijovs zauberhafter<br />

Night of the Flying Horses.<br />

Einer der überragenden Dirigenten der vergangenen vier Jahrzehnte<br />

war der vor einem Jahr einem Krebsleiden erlegene Tscheche<br />

Jiří Bělohlávek (1946–2017), dem wir nicht nur maßstabsetzend<br />

idiomatische Aufnahmen von Werken Smetanas, Dvořáks, Suks,<br />

Janáčeks und Martinůs verdanken, sondern auch von Mozart. Die<br />

8-CD-Box „Recollection“ bei Supraphon bildet nicht nur das Spektrum<br />

seiner Karriere von den Anfängen, sondern auch seine stilistische<br />

Breite ab. Neben Mozarts Prager Symphonie in erlesenster<br />

Balance und beispielhafter dynamischer Durchdringung<br />

sind es natürlich die Meisterwerke der böhmischen Kultur,<br />

die den Hörer an diese einzigartige Musikerpersönlichkeit<br />

heranführen sollen.<br />

Absoluter Höhepunkt jedoch ist die CD-Erstveröffentlichung<br />

von Bělohláveks legendärem<br />

Janáček-Album mit der Brünner Philharmonie<br />

von 1977: Taras Bulba und die Sinfonietta,<br />

Letztere mit echtem Militärtrompetenklang,<br />

scharf und schlank, durchsichtig<br />

wie sonst nie, in einem Satz: die großartigste<br />

Aufnahme von Janáčeks Sinfonietta,<br />

die je gemacht wurde.<br />

n<br />

„Polydor recordings 1925–1937“,<br />

Walter Rehberg (apr)<br />

„The Lost Recordings“, Emil Gilels (Fondamenta)<br />

„75 ans Orchestre de Chambre de Lausanne“ (Claves)<br />

„Recollection“, Jiří Bělohlávek (Supraphon)<br />

„Sviatoslav Richter plays Liszt und Chopin“<br />

(Hänssler Profil)<br />

34 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


IMPRESSUM<br />

VERLAG<br />

Port Media GmbH, Rindermarkt 6, 80331 München<br />

Telefon: +49-(0)89-74 15 09-0, Fax: -11<br />

info@crescendo.de, www.crescendo.de<br />

Port Media ist Mitglied im Verband Deutscher Zeitschriftenverleger<br />

und im AKS Arbeitskreis Kultursponsoring<br />

HERAUSGEBER<br />

Winfried Hanuschik | hanuschik@crescendo.de<br />

VERLAGSLEITUNG<br />

Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de<br />

ART DIRECTOR<br />

Stefan Steitz<br />

REDAKTIONSLEITUNG<br />

Dr. Maria Goeth (MG)<br />

REDAKTION „ERLEBEN“<br />

Ruth Renée Reif (RR)<br />

SCHLUSSREDAKTION<br />

Maike Zürcher<br />

KOLUMNISTEN<br />

John Axelrod, Axel Brüggemann, Attila Csampai (AC),<br />

Daniel Hope, Christoph Schlüren (CS), Stefan Sell (SELL)<br />

MITARBEITER DIESER AUSGABE<br />

Roland H. Dippel (DIP), Verena Fischer-Zernin (VFZ), Jasmin Goll (JG),<br />

Ute Elena Hamm (UH), Klaus Härtel (KH), Julia Hartel (JH), Klaus Kalchschmid (KLK),<br />

Sina Kleinedler (SK), Katherina Knees (KK), Corina Kolbe (CK), Guido Krawinkel (GK),<br />

Jens Laurson (JFL), Anna Mareis (AM), Teresa Pieschacón Raphael (TPR),<br />

Alexander Rapp (LXR), Barbara Schulz (BS), Antoinette Schmelter-Kaiser (ASK),<br />

Fabian Stallkencht (FS), Uta Swora (US), Mario Vogt (MV), Dorothea Walchshäusl (DW),<br />

Walter Weidringer (WW)<br />

VERLAGSREPRÄSENTANTEN<br />

Tonträger: Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de<br />

Kulturbetriebe: Dr. Cornelia Engelhard | engelhard@crescendo.de<br />

Touristik & Marke: Heinz Mannsdorff | mannsdorff@crescendo.de<br />

Verlage: Hanspeter Reiter | reiter@crescendo.de<br />

AUFTRAGSMANAGEMENT<br />

Michaela Bendomir | bendomir@portmedia.de<br />

GÜLTIGE ANZEIGENPREISLISTE<br />

Nr. 2 1 vom 09.09.2017<br />

DRUCK<br />

Westermann Druck, Georg-Westermann-Allee 66, 38104 Braunschweig<br />

VERTRIEB<br />

PressUp GmbH, Wandsbeker Allee 1, 22041 Hamburg<br />

www.pressup.de<br />

ERSCHEINUNGSWEISE<br />

crescendo ist im Zeitschriftenhandel, bei Opern- und Konzert häusern, im Kartenvorkauf<br />

und im Hifi- und Tonträgerhandel erhältlich. Copyright für alle Bei träge bei Port Media<br />

GmbH. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des Verfassers, nicht<br />

unbedingt die der Redaktion wieder. Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise,<br />

nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Für unverlangt eingesandte Manuskripte<br />

und Fotos wird keine Gewähr übernommen.<br />

ABONNEMENT<br />

Das crescendo Premium-Abo umfasst sieben Ausgaben inklusive „crescendo<br />

Festspiel-Guide“ und zusätzlich sechs exklusive heftbegleitende Premium-CDs und kostet<br />

EUR 55,- pro Jahr inkl. MwSt. und Versand (Stand: 01.01.2017). Versand ins europ. Ausland:<br />

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Verbreitete Auflage:<br />

74.190 (lt. IVW-Meldung 1I/20<strong>18</strong>)<br />

ISSN: 1436-5529<br />

geprüfte Auflage<br />

(TEIL-)BEILAGEN / BEIHEFTER:<br />

CLASS: aktuell; Profil Medien; Deutsche Mozartgesellschaft; Tiroler Festspiele Erl<br />

DAS NÄCHSTE <strong>CRESCENDO</strong><br />

ERSCHEINT AM 16. OKTOBER 20<strong>18</strong>.<br />

crescendo<br />

unterstützt<br />

Komponistenhäuser<br />

Von bescheiden bis mondän<br />

Zwei Zimmer plus Kabinett, eine Küche, feuchte Wände: So war die Wiener<br />

Wohnung, in der Franz Schubert bis zu seinem Tod <strong>18</strong>28 mit der Familie<br />

seines Bruders lebte und arbeitete. Ganz anders Richard Wagner: Nach Jahren<br />

„wie ein Flüchtling in der Welt“ ließ er sich <strong>18</strong>72 in Bayreuth Wahnfried<br />

als „dauernden Heerd“ errichten: einen repräsentativen Bau im Stil oberitalienischer<br />

Palladio-Villen. Als Spektrum von bescheiden bis mondän stellen<br />

Bodo Plachta (Text) und Achim Bednorz (Bilder) insgesamt 30 Komponistenhäuser<br />

vor: Vom 17. bis ins 20. Jahrhundert, sowohl in Städten wie auf<br />

dem Land vermitteln sie als biografisch-architektonische „Visitenkarten“<br />

Eindrücke vom Leben und Werk berühmter Musiker.<br />

Kaum ein Beispiel hat die Zeiten unverändert<br />

überdauert, vieles wurde rekonstruiert und zusammengetragen.<br />

Dennoch ist die Aura von Bach, Mahler,<br />

Mozart, Orff oder Puccini allerorten spürbar.<br />

Zusätzlich zu informativen Texten und vielen Fotos<br />

finden sich im Anhang alle Anlaufstellen mit (Internet-)Adresse.<br />

ASK<br />

Bodo Plachta und Achim Bednorz: „Komponistenhäuser“ (DVA)<br />

Wagner-Vereine und Wagnerianer heute<br />

Vereinswagnerei<br />

Richard Wagner selbst konnte sie einst zu Propagandazwecken gut<br />

gebrauchen, aber nicht einmal ihm waren sie geheuer. Heute gibt es sie<br />

überall, aber sie leiden extern an einer sich verändernden Opernwelt, in<br />

der Bayreuths Nimbus verblasst, und intern an Mitgliederschwund: die mal<br />

verspotteten, mal bewunderten Wagner-Vereine und Wagnerianer. Elfie<br />

Vomberg arbeitet in ihrer Dissertation nach einem historischen Abriss<br />

Facetten und Aspekte der Wagner-Verehrung zwischen heimeliger Ersatzfamilie<br />

und elitärem Kreis heraus, durchleuchtet erstmals den Richard<br />

Wagner Verband International e. V. soziologisch<br />

und fördert dabei aktuelle Unterschiede zwischen<br />

den USA, Japan und Deutschland zutage. Ein Buch<br />

für Hardcore-Wagnerianer ist diese wissenschaftliche<br />

Studie gewiss nicht, trotz der durchaus lesefreundlichen<br />

Sprache, aber die Ergebnisse sind<br />

relevant und aufschlussreich für alle Opernfans.<br />

WW<br />

Elfi Vomberg: „Wagner-Vereine und Wagnerianer<br />

heute“ (Königshausen & Neumann)<br />

Birgit Nilsson<br />

Humorvolle Erinnerungen<br />

Porträtfilme über Sänger sind oft weihevoll preisend und thematisieren<br />

gerne, warum welcher Tenor das hohe C länger gehalten hat als die Partnerin.<br />

So auch hier. Aber wann immer es in dieser Dokumentation Birgit<br />

Nilsson in einer TV-Show zu sehen gibt, muss man schmunzeln über die<br />

humorvolle Sängerin, etwa wenn sie barfuß die Pedale der alten Heimorgel<br />

bedient, die die Fünfjährige einst geschenkt bekam, und sich bei einem<br />

schwedischen Volkslied selbst begleitet. Ausschnitte aus Fernsehsendungen<br />

der 1960er-Jahre zeigen eine facettenreiche Lady Macbeth, Aida<br />

oder Toscas Vissi d’arte – auf dem Bauch liegend! Am Ende erzählt Nina<br />

Stemme, die jüngst den mit einer Million Dollar dotierten Birgit-Nilsson-<br />

Preis erhielt, wie fein durchdringend noch 1996 die<br />

Stimme der 78-Jährigen bei einem gemeinsamen<br />

Lied die Dorfkirche des Geburtsorts erhellte. Das<br />

sagt mehr über die Einzigartigkeit dieses Jahrhundert-Soprans<br />

als jede beflissene Äußerung von Kollegen.<br />

KLK<br />

Thomas Voigt, Wolfgang Wunderlich:<br />

„Birgit Nilsson – A League of Her Own“ (Unitel)<br />

BUCH<br />

FILM<br />

35


H Ö R E N & S E H E N<br />

FOTO: SONY CLASSICAL<br />

HAPPY BIRTHDAY, LENNY!<br />

Zum 100. Geburtstag des großen Komponisten, Dirigenten, Pianisten und<br />

Musikpädagogen Leonard Bernstein steht die Klassikwelt kopf! Eine<br />

Unmenge von Neuerscheinungen feiert das Universalgenie. Wir haben<br />

einige besonders lohnenswerte für Sie ausgesucht.<br />

Die Schülerin<br />

Sie hatte als Kind Bernstein dirigieren sehen und wusste sofort: „Genau<br />

das will ich auch machen.“ Aber: „Frauen dirigieren keine Orchester“,<br />

hieß es. Erst Leonard Bernstein selbst nahm Marin Alsop vorurteilsfrei<br />

als Schülerin in Tanglewood an und bildete sie aus. Abgesehen vom<br />

Komponisten selbst hat Alsop den einzig vollständigen Zyklus von<br />

Leonard Bernsteins Sinfonien eingespielt. Daneben finden sich in der<br />

Box Bernsteins Orchesterwerke, die Messen und, erstmals zu hören:<br />

verschiedene Bernstein-Weltersteinspielungen.<br />

Marin Alsop: „Leonard Bernstein 19<strong>18</strong> – 1990. The complete Naxos<br />

Recordings“ (Naxos)<br />

Der Komponist<br />

„Der Dirigenten-Anteil meines Lebens wird schnell abnehmen und das Komponieren immer mehr<br />

Raum einnehmen“, schrieb Bernstein 1950 an seinen Verleger. Diese Box mit 26 CDs und 3 DVDs<br />

vereint alle seine Kompositionen von Broadway über Oper bis zu den Sinfonien und Filmmusiken.<br />

Bernstein: „Complete Works“ (Deutsche Grammophon)<br />

36 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


Der Magnet<br />

Das Label C Major hat gleich eine ganze Galerie<br />

von Bernstein-DVDs im Angebot. Darunter<br />

findet sich etwa sein Dirigat der Wiener<br />

Philharmoniker mit Sinfonien von Jean Sibelius<br />

oder Haydn, seine Auftritte und Vorträge beim<br />

Schleswig-Holstein Musik Festival, die<br />

Dokumentation „Leonard Bernstein – Larger<br />

than Life“ und alle 52 Episoden seiner Young<br />

People’s Concerts auf <strong>18</strong> DVDs.<br />

andrea kauten<br />

savaria symphony orchestra<br />

ádám medvecki conductor<br />

Das gesamte Programm unter: www.cmajor-entertainment.com<br />

Die Legende<br />

Würde man eine Rechnung aufmachen, wie viel<br />

Bernstein in dieser Box steckt, wäre selbst die schon<br />

lang. Auf nicht weniger als 121 CDs, 36 DVDs<br />

sowie einer Blu-ray Audiodisc finden sich sämtliche<br />

Einspielungen des Dirigenten Bernstein für DG und<br />

Decca, darunter so legendäre Aufnahmen wie<br />

Wagners Tristan und Isolde, Bizets Carmen und natürlich<br />

sämtliche Sinfonien von Beethoven und Mahler.<br />

SM 284<br />

„Leonard Bernstein – Complete Recordings on Deutsche Grammophon<br />

and Decca“ (Deutsche Grammophon)<br />

Das Genie<br />

Die Entscheidung fällt leicht: Man will sie<br />

alle haben! Box 1 mit den wichtigsten Einspielungen<br />

als „bester Pianist unter den<br />

Dirigenten“ (Arthur Rubinstein), Box 2<br />

mit sechs Vorlesungen aus seiner Zeit in<br />

Harvard sowie Box 3 mit Referenzaufnahmen<br />

Bernsteins als Dirigent,<br />

Komponist und Pianist aus den 50er- und<br />

60er-Jahren.<br />

Leonard Bernstein: „The Pianist“, „At Harvard“,<br />

„His Greatest Recordings“ (Sony)<br />

Hermann Götz<br />

Nr. 2 B-Dur op. <strong>18</strong><br />

Johannes Brahms<br />

Nr. 1 d-Moll op. 15<br />

Ebenbürtige Meisterwerke<br />

in hervorragender Interpretation<br />

Der Mensch<br />

Diese neue Bernstein-Biografie wirkt durch ihre<br />

Abschweifungen und Zeitsprünge zwar etwas patchworkhaft,<br />

liest sich aber frisch. Das Buch enthält auch einige Kapitel mit<br />

Erinnerungen berühmter Persönlichkeiten wie Christa Ludwig,<br />

Kurt Rydl oder – auch kritisch! – Gundula Janowitz.<br />

Außerdem: Bernsteins eigene Worte etwa zu den<br />

Begräbnissen seiner Freunde John F. Kennedy oder Karl Böhm.<br />

Michael Horowitz: „Leonard Bernstein. Magier der Musik.<br />

Die Biografie“ (Amalthea Verlag)<br />

Auf ihrer neuen CD präsentiert die ungarischschweizerische<br />

Pianistin Andrea Kauten das<br />

erste Klavierkonzert von Johannes Brahms<br />

sowie das zweite seines Zeitgenossen Hermann<br />

Goetz – zwei meisterhafte Kompositionen, die<br />

sich perfekt ergänzen. Goetz ´ Konzert von <strong>18</strong>76<br />

wurde als „effektvoll ohne Effekthascherei,<br />

gediegen und doch im besten Sinne modern“<br />

beschrieben; man lobte „das Verhältnis der<br />

glänzenden Klavierpartie zu der meisterhaft<br />

behandelten Begleitung des Orchesters“.<br />

Lenny online<br />

Ein Muss für alle Bernstein-Fans: www.leonardbernstein.com/at100<br />

Diese Website bündelt alle Informationen, Veranstaltungen und Neuigkeiten rund um den Jubilar.<br />

Auf der Seite des amerikanischen Fernseh- und Radiosenders WGBH geht’s multimedial zu:<br />

Auf bernstein.classical.org finden sich unzählige Videos, Fotos, Audio-Streams, Interviews und Briefe –<br />

auch bisher unveröffentlichtes Archivmaterial und attraktiv neu Aufbereitetes.<br />

37<br />

www.solo-musica.de


R Ä T S E L<br />

& R E A K T I O N E N<br />

GEWINNSPIEL<br />

Wer verbirgt sich hinter diesem Text?<br />

WAGNER KLAPPT<br />

AUCH OHNE TEXT<br />

crescendo freut sich über die lebhaften Diskussionen,<br />

die auf seiner Facebook-Seite entbrennen.<br />

So zum Beispiel über unseren Post hinsichtlich des jüngsten<br />

Skandals in Bayreuth: Roberto Alagna sagte sein<br />

Lohengrin-Debüt bei den Bayreuther Festspielen ab.<br />

Warum? Ganz einfach: Aus Zeitmangel hatte er seinen<br />

Text nur bis zum zweiten Akt einstudiert.<br />

„Man bezeichnete mich als den Erben Beethovens“<br />

„Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien<br />

und Helden Wache hielten!“ Dieses Zitat stammt natürlich nicht<br />

von mir. Ich wurde zwar als Sohn einer recht musikalischen<br />

Familie geboren, doch mein Vater spielte im Tanzlokal auf, wo<br />

sicherlich keine besonders edlen und mythischen Gestalten<br />

anwesend waren. Ich war dafür von klein auf von Musik umgeben,<br />

bekam früh Klavierstunden und bald darauf auch Unterricht<br />

im Komponieren.<br />

Meine ersten Werke schrieb ich nur unter Pseudonym, teilte<br />

ihnen höhere Opuszahlen zu, und es kam nicht selten vor, dass<br />

ich sie aus Selbstzweifel heraus verbrannte. Die internationale<br />

Musikszene wurde dank zweier wundervoller Förderer auf mich<br />

aufmerksam, und schon bald bezeichnete man mich als den<br />

Erben Beethovens. Und so konnte ich meinen Lebensunterhalt<br />

auch ohne eine feste Anstellung bestreiten und wurde als Traditionalist<br />

bewundert und verehrt.<br />

Beeinflusst von Palestrina, Händel, Bach, Beethoven und<br />

Schumann schuf ich doch ein unabhängiges und eigenständiges<br />

Gesamtwerk, das in drei große Schaffensperioden aufgeteilt werden<br />

kann. Ein besonderes Zeugnis ist die Aufnahme meines<br />

eigenen Klavierspiels, das man trotz äußerst schlechter Qualität<br />

bis heute hören kann!<br />

RÄTSEL LÖSEN UND<br />

SIR NEVILLE MARRINER<br />

GEWINNEN!<br />

Was ist hier gesucht? Wenn Sie die Antwort<br />

kennen, dann nehmen Sie an der Verlosung<br />

teil unter www.crescendo.de/mitmachen.<br />

Sie können die CD-Box gewinnen:<br />

„Sir Neville Marriner: The London Recordings. Academy of St Martin<br />

in the Fields (Capriccio)“. Einsendeschluss ist der 21.9.20<strong>18</strong>. Die Gewinner<br />

unseres letzten Gewinnspiels sind Simone Dohn aus Gschwend und<br />

Markus Heerdt aus Steinfurt. Die Lösung lautete: Max Reger.<br />

ABB.: JOSEPH KARL STIELER <strong>18</strong>20<br />

Die folgenden Kommentare wurden im Original und<br />

ohne Rechtschreibkorrektur übernommen.<br />

Alexander Crössmann Das mit dem Partie lernen ist halt<br />

so ein Hund ...<br />

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Olivia Konstanz Tja, der eigentliche Skandal ist, dass ein<br />

Debut in Bayreuth stattfindet..ich glaube die Geschichte aber<br />

nicht.... ich glaube es hat mit der Regie zu tun<br />

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Andreas Goemmel Ein klassisches Berg-Prophet-Problem.<br />

Ich hätte einfach „Tosca“ gegeben. (Das wäre auch mal was<br />

„Frisches“ für den Hügel gewesen.)<br />

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Wendelin Seit wann ist bei Wagner der Text von Interesse?<br />

Er hätte den dritten Akt doch einfach solmisieren können.<br />

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Stefan Siedler Aber wer hat Karten wegen Alanga bestellt?<br />

Man bestellt Karten für Bayreuth und ist froh, wenn man welche<br />

bekommt. Vielleicht gibt es Leute, die wegen einen Sänger dann<br />

ihre Karten weiter veräußern.<br />

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Micha El Wedding Ein Fall für den Heimatminister, vielleicht<br />

kann der einspringen und singen.<br />

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Alfred Gross „Lohengin“? Da hat es den Texter von „crescendo“<br />

wohl mächtig mitgenommen :-).<br />

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crescendo Huch, DANKE für den Hinweis und soeben korrigiert.<br />

Ja, nach solchen Meldungen denkt man vielleicht wirklich<br />

eher an „Gin“ ;-)<br />

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FOTO ALIX LAVEAU<br />

38 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


15 JAHRE<br />

PROFIL<br />

MEDIEN<br />

WWW.HAENSSLERPROFIL.DE<br />

MEILENSTEINE<br />

Eine Erfolgsgeschichte<br />

auf Tonträger<br />

ZUM JUBILÄUM<br />

Eine Sonderedition auf 15 CDs<br />

GÜNTER HÄNSSLER:<br />

„Ich suche die<br />

magischen Momente“


J U B I L Ä U M<br />

Profil-Firmengründer Günter Hänssler über Erfolg, Rückschläge und Aufbruch<br />

„Ich bin kein Mann<br />

des Konjunktivs“<br />

VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL<br />

Günter Hänssler<br />

40 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


crescendo: Dem Schwaben muss ich diese Frage stellen. Haben<br />

Sie heute schon Ihre 17 ECHOS abgestaubt?<br />

Günter Hänssler: Noch nicht. Aber meine Haushälterin schimpft<br />

immer, wenn ich wieder eine neue Trophäe mit nach Hause bringe.<br />

Ich darf sie nur bei Editionen mitnehmen, wenn der Künstler nicht<br />

auf der Bühne war.<br />

Alles fing 1919 mit einem kleinen Lied an …<br />

… Auf Adlers Flügeln getragen von Anni von Viebahn, ein geistliches<br />

Gedicht, das mein Großvater, Friedrich Hänssler, vertonte,<br />

das aber keiner drucken wollte. So gründete er in Stuttgart einen<br />

Verlag. Neben eigenen Kompositionen veröffentlichte er Kirchenlieder<br />

und Werke jüdischer Komponisten wie Felix Mendelssohn<br />

Bartholdy. Nach öffentlichen Diffamierungen wurde der Verlag<br />

1941 verboten.<br />

Nur kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhielt Ihr<br />

Großvater 1945 von den Alliierten die Lizenz zur Wiederaufnahme<br />

seiner Arbeit.<br />

Ja, ab 1950 ist mein Vater langsam eingestiegen. Als junger Mann<br />

wäre er fast an Tuberkulose gestorben. Bei meinem Großvater war<br />

das eine ganz kleine Veranstaltung mit zwei, drei Mitarbeitern. Bei<br />

meinem Vater hat sich der Verlag sprunghaft entwickelt …<br />

… mit Chor- und Gesangbüchern. Es heißt, der erste Band der<br />

Liederbuch-Reihe „Jesu Name“ wurde mehr als eine Million Mal<br />

gedruckt.<br />

Die Liederbücher und Helmuth Rilling haben sehr zu dem Erfolg<br />

und, wenn Sie so wollen, zu der Marke beigetragen. Rilling war<br />

eines Tages in den 50er-Jahren in den Laden gekommen auf der<br />

Suche nach Noten für seinen damals kleinen Gächinger Chor.<br />

Großzügig hat ihm mein Vater einen Satz Noten geschenkt. Daraus<br />

wurde eine Freundschaft. Mein Vater gründete 1975 mit Laudate<br />

ein Plattenlabel für vorrangig sakrale klassische Musik, aus dem<br />

später hänssler CLASSIC hervorging. 1976 machte Rilling für ihn<br />

die erste Platten-Box mit geistlicher Musik der Bach-Familie, die<br />

sich erstaunlich gut verkaufte. Später kamen die Kantaten dazu.<br />

Sie waren damals 15 Jahre alt. Lust aufs Verlagsgeschäft?<br />

Damals auf keinen Fall, obwohl zu Hause interessante Menschen<br />

ein- und ausgingen. Vom Ministerpräsidenten Baden-Württembergs<br />

Hans Filbinger, dessen Sicherheitsleute vor dem Haus Wache<br />

schoben, bis hin zu Charles Colson, dem ehemaligen Berater von<br />

Nixon.<br />

Der eine stürzte Ende der 1970er über seine NS-Vergangenheit,<br />

der andere über die Watergate-Affäre.<br />

Meine Eltern und Großeltern haben den Nationalsozialismus<br />

radikal abgelehnt. Das hatten sie auch mir vermittelt. Dass die<br />

Alliierten zum Aufbau eines funktionierenden Staatswesens im<br />

Nachkriegsdeutschland auf Leute zurückgegriffen haben, die<br />

intelligent waren und Verwaltungserfahrung hatten, war mir<br />

damals noch nicht bewusst. Colson kam für einige Jahre in den<br />

Knast und fand dort zum Glauben. Er lud 1979 meinen Vater zu<br />

einem „National Prayer Breakfast“ in Washington ein, einem<br />

Gebetsfrühstück für Politiker, das dann im baden-württembergischen<br />

Landtag, 1981 auch im Bundestag etabliert wurde mit<br />

Philipp Jenninger (CDU) und Hans-Jochen Vogel (SPD).<br />

Soviel ich weiß, sind auch Gregor Gysi (PDS), Günther Beckstein<br />

(CSU) und Otto Schily (SPD) zum Frühstücken und Beten<br />

nach Amerika gereist. Schily war zu Gast beim Justizminister<br />

John Ashcroft aus der Administration Bushs.<br />

Ja, erstaunlich. Politiker mit unterschiedlichen politischen<br />

Sichtweisen fühlen sich in gemeinsamen christlichen Werten<br />

verbunden.<br />

Zur Einweihung des neuen Hänssler-Verlagshauses in Holzgerlingen<br />

2000 kam Avi Primor, der langjährige Botschafter Israels<br />

in Deutschland.<br />

Ein sehr guter Freund meines Vaters. Mein Vater hatte viele Bücher<br />

zum Thema Israel herausgebracht, zum Teil im Auftrag des<br />

israelischen Außenministeriums.<br />

Zu diesem Zeitpunkt waren auch Sie längst Teil des Familienunternehmens.<br />

Was hatte Sie zum Umdenken gebracht?<br />

Aufgewachsen bin ich mit Bach, aber in der Pubertät wollte ich<br />

Led Zeppelin hören. Immer wenn ein Fest gefeiert wurde, bin ich<br />

aufgetreten. Heute singe ich im Gospel-Chor meiner Kirche.<br />

Außerdem studierte ich BWL, dazu einige Semester Philosophie.<br />

Ich sah, dass mein Vater – ein exzellenter Pianist und Musikwissenschaftler<br />

– viel von Musik verstand, aber sich mit dem Vertrieb<br />

schwertat. Also bin ich noch als Student mit dem Täschle herumgezogen<br />

und habe erste Vertriebsstrukturen aufgebaut. Das wurde<br />

besonders wichtig, als mein Vater in die Bach-Projekte einstieg,<br />

den „teuersten Waldspaziergang seines Lebens“, wie er sagt.<br />

Erzählen Sie!<br />

Beim Spaziergang hatten er und Helmuth Rilling ausgemacht, bis<br />

DAS IST PROFIL<br />

THOMAS FEY<br />

Carl Philipp Stamitz: Werke für Viola d’amore<br />

und Orchester. Gunter Teuffel – Viola d’amore,<br />

Heidelberger Sinfoniker, Thomas Fey (2004)<br />

„Das erste Produkt bei Profil! Thomas Fey kam mich<br />

besuchen. Ich kannte ihn noch von unserem ersten<br />

Projekt 1996 bei hänssler CLASSIC, eine Johann-<br />

Christian-Bach-Aufnahme. Mir gefiel seine Herangehensweise,<br />

seine Energie. Die Mannheimer Schule<br />

um Stamitz passte natürlich zu ihm.“<br />

CHRISTIAN THIELEMANN<br />

Richard Strauss: Konzert für Horn und Orchester.<br />

Robert Langebein, Staatskapelle Dresden, Christian<br />

Thielemann<br />

„Es war höchste Zeit, dass wir der Sächsischen<br />

Staatskapelle Dresden, die viele Werke von<br />

Richard Strauss zur Uraufführung gebracht hatte,<br />

mit Christian Thielemann ein Denkmal setzten.“<br />

Anton Bruckner: Symphonie Nr. 8: Staatskapelle Dresden,<br />

Christian Thielemann (2017)<br />

„Es gibt magische Momente und einen solchen hört man<br />

hier zwischen Christian Thielemann und der SSD.“<br />

Verlagssonderveröffentlichung 41


J U B I L Ä U M<br />

1985 die Aufnahmen von Bachs Kantatenwerk fertigzustellen –<br />

über 200 Kantaten auf 100 Langspielplatten. Was auch geschah und<br />

wofür sie mit dem „Grand Prix du Disque“ geehrt wurden. 1989<br />

schafften wir es, mit Rilling einen Exklusivvertrag abzuschließen.<br />

Unser erstes Projekt auf dieser Basis war die Messa per Rossini, an<br />

der Verdi und zwölf weitere Komponisten mitgewirkt haben. Die<br />

hat sich verkauft wie verrückt. 35.000 Stück! Traumzahlen.<br />

Einen weiteren Rekord feierten Sie mit der „Edition Bachakademie“,<br />

das erhaltene Werk Johann Sebastian Bachs auf 172 CDs<br />

mit Helmuth Rilling. Dann aber kam der Zusammenbruch.<br />

Der neue Firmensitz in Holzgerlingen wurde teurer als geplant.<br />

Die moderne, computergesteuerte Kommissionierungsanlage<br />

funktionierte nicht wie gewünscht. Zudem ging in den USA ein<br />

AUFGEWACHSEN BIN ICH MIT BACH,<br />

ABER IN DER PUBERTÄT<br />

WOLLTE ICH LED ZEPPELIN HÖREN<br />

großer Musikkunde in die Insolvenz. 2002 wurde der Verlag von<br />

der SCM (Stiftung Christliche Medien) übernommen. Für mich<br />

und meinen Vater war das sehr schwierig.<br />

Auch Sie waren betroffen.<br />

Das war ein Schnitt in meinem Leben. Vorher hatte ich zwei<br />

Sekretärinnen und eine Assistentin. Von heute auf morgen musste<br />

ich die Pakete wieder selber auf die Post tragen. Da waren nicht<br />

wenige Verletzungen dabei. Wenn man sich nicht dauerhaft frei<br />

davon macht, raubt man sich Lebensqualität. Wie heißt es so<br />

schön: Wer keine Täler sah, schätzt der die Höhe?<br />

2003 gründeten Sie in Neuhausen die Profil Medien GmbH.<br />

Das war leicht und schwer zugleich. Ein ehemaliger Geschäftspartner,<br />

lange Chef im einstigen Bertelsmann Club und nun in einem<br />

kleinen Verlag, sprach mich an. Der Verlag schrieb Verluste, hatte<br />

aber einen interessanten Katalog. Das Label war also zu groß, um<br />

es sterben zu lassen, und zu klein, um profitabel zu sein. Da bin ich<br />

eingestiegen mit meinen Kontakten zu Künstlern, Vertrieben und<br />

der Presse. Es war ein sehr großes, persönliches Risiko, die ersten<br />

zehn Jahre waren sehr anstrengend.<br />

Angetrieben hatte Ihren Vater immer der Wunsch, „dass das<br />

Evangelium von Jesus Christus gelesen, gesehen, gehört,<br />

gesungen, gemailt und gechattet wird“. Was war es bei Ihnen?<br />

In seinem christlichen Verlag konnte er seinen Glauben zum Beruf<br />

machen. Mit Profil wollte ich ein Klassik-Label etablieren. Ich<br />

wusste: Nur ein Label mit eindeutigem Wiedererkennungseffekt<br />

hat eine Chance auf dem CD-Markt. Ein freundlicher Mensch von<br />

der Presse sagte über mich, ich sei der Sternstundensammler. Ich<br />

suche die „magischen Momente“ der klassischen Musik, unvergessene<br />

Konzerterlebnisse. Es sind oft Live-Mitschnitte. Da ist noch<br />

mehr Adrenalin drin. Viel Zeit verbringe ich in den Archiven der<br />

Rundfunkanstalten, beiße mich durch die Bestände oder setze<br />

meine „Trüffelsucher“ an, ehemalige Mitarbeiter von ARD-Anstalten<br />

oder von Plattenfirmen. So brachte ich eine Günter-Wand-Edition<br />

heraus, entdeckte ein Quartett von Swjatoslaw Richters Vater,<br />

der komponierte und vom russischen Geheimdienst erschossen<br />

wurde, gebe Editionen der Staatskapelle Dresden und der Semperoper<br />

heraus, u. a. mit Christian Thielemann, Bernard Haitink,<br />

Sir Colin Davis. Trotz berühmter Namen frage ich mich bei jeder<br />

Aufnahme: Ist Substanz da?<br />

22 CDs allein umfasst Ihre aktuelle Tschaikowsky-Edition, mit<br />

russischen Aufnahmen der 1930er bis 1950er aus dem Bolshoi-<br />

Theater. Half da auch die politische Situation, der Fall des<br />

Eisernen Vorhangs?<br />

Weniger. Es ist hauptsächlich das gute Netzwerk, das man sich in<br />

all den Jahren aufgebaut hat. Auch für die Dino Lipatti Collection.<br />

Die wurde ein Hit, das hätte ich ihr so nicht zugetraut. EMI hatte<br />

DINU LIPATTI<br />

COLLECTION<br />

100th anniversary edition<br />

(10 CD-Box | 2017)<br />

„Wir hatten das große Glück, an nicht<br />

(mehr) erhältliche Aufnahmen heranzukommen.<br />

Ohne das ‚Last Recital‘, das die<br />

EMI seinerzeit erfolgreich vermarktete,<br />

wäre das nie so gut gelaufen. Der Katalog<br />

der EMI ist großartig. Die Firma hatte<br />

mithin die besten Mitarbeiter, auch in<br />

USA und UK.“<br />

JUKKA-PEKKA SARASTE<br />

Beethoven: Symphonies 4/5. WDR Sinfonieorchester,<br />

Jukka-Pekka Saraste<br />

Brahms: Symphonies 1–4. WDR Sinfonieorchester,<br />

Jukka-Pekka Saraste (3 CDs | 20<strong>18</strong>)<br />

„Von Semyon Bychkov hatte ich bereits einiges<br />

veröffentlicht. Der Kontakt zu seinem Nachfolger<br />

beim WDR, Saraste, kam über den Orchester-<br />

Manager Siegwald Bütow, den ich noch vom BR<br />

kannte. Das Denken in Zyklen ist uns beiden<br />

nicht fremd. Deshalb die Symphonien von<br />

Brahms und Beethoven.“<br />

R U D O L F<br />

BUCHBINDER<br />

W. A. Mozart: Piano Concertos.<br />

Wiener Symphoniker, Rudolf Buchbinder<br />

(9 CD-Box | 2014)<br />

„Ich habe Rudi Buchbinder leider<br />

nie persönlich kennengelernt, aber<br />

natürlich oft gehört. Einst ein<br />

‚Wunderkind‘, schaffte er es<br />

dauerhaft auf die ganz großen<br />

Bühnen. Ein Zufall wollte es, dass<br />

ich die Vermarktung dieser<br />

wunderbaren Box im Ausland<br />

unterstützen bzw. übernehmen<br />

konnte.“<br />

42 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


„Sternstundensammler“<br />

Günter Hänssler<br />

schließlich vor Jahren einiges veröffentlicht.<br />

Über Zahlen wird in der Branche so ungern gesprochen. Was ist<br />

ein Hit?<br />

Für die Kollegen kann ich das nicht sagen, aber wenn Sie nicht<br />

mindestens 1.000 CDs absetzen, dann sollten Sie erst gar nicht<br />

anfangen. Bis etwa 4.000 CDs verkauft man oft. Fünfstellige Zahlen<br />

sind Sonderphänomene. Heute ganz wichtig: das Streaming- und<br />

Download-Geschäft. Musik wird immer konsumiert werden. Der<br />

eine braucht den Raum, Bruckner in exzellenter Klangqualität.<br />

Dem anderen reicht die Opernarie mal schnell vom Smartphone<br />

aus über Spotify.<br />

Wissen Sie nun, was sich verkauft?<br />

Man lernt es abzuschätzen, kann aber auch danebenliegen. Es<br />

macht keinen Sinn, dass man ein „special interest product“ im<br />

kniehohen Stapel bei Dussmann oder Beck platziert. Wenn wir mit<br />

der Staatskapelle Die chinesische Flöte von Ernst Toch machen,<br />

dann weiß ich, dass das kein Renner wird. Mit Thielemann und<br />

Bruckner 8 gleicht sich das wieder aus.<br />

Ist es dann Thielemann, der zieht?<br />

Christian Thielemann ist ein toller Musiker. Ich fühle mich im<br />

höchsten Maße geehrt, mit ihm veröffentlichen zu dürfen. Aber<br />

auch er verkauft Strauss, Wagner, Bruckner besser als ein Pfitzner<br />

Klavierkonzert. Was hilft: Thielemann ist in Dresden, in Salzburg<br />

bei den Osterfestspielen und in Bayreuth. Das ergibt Synergien für<br />

die Öffentlichkeitsarbeit.<br />

Ihre Bruckner <strong>18</strong> CD-Box kam in Japan in die Charts. Warum<br />

ausgerechnet dort?<br />

Es bleibt eine Kunst, die Mentalität eines Musikhörers richtig<br />

einzuschätzen. In Japan besonders. Beim Vertrieb muss man den<br />

Benimm-Codex sehr genau kennen. Japaner lieben Mahler und<br />

Bruckner. Mit dem Vokalwerk Bachs waren wir in Japan nicht so<br />

erfolgreich wie in Korea, wo es 20 Millionen Christen und eine<br />

große Chortradition gibt.<br />

Im <strong>September</strong> 2015 trafen Sie eine große Entscheidung.<br />

Um es genau zu sagen: am 30. August 2015 um 24 Uhr. Ich habe<br />

das Label hänssler CLASSIC zurückerworben bzw. die Rechte,<br />

Marke, Bestände und Pflichten. Beide Labels behalten ihre<br />

Programmphilosophie. Mein 91-jähriger Vater war sehr glücklich.<br />

Bilanz von 30 Jahren im Musikgeschäft: 17 ECHOS, 13<br />

Grammy-Nominierungen und mehr als 800 CDs.<br />

Noch ist das Jahr nicht zu Ende und wir hatten bereits 98 Veröffentlichungen!<br />

Ich freue mich auf die Bach-Aufnahmen mit den<br />

vom Spiritus Rector Kussmaul geprägten historisch informierten<br />

Berliner Philharmonikern, den Berliner Barocksolisten sowie<br />

Frank Peter Zimmermann. Auf die nächsten Veröffentlichungen<br />

mit der Staatskapelle Dresden und Werken von Strauss und<br />

Bruckner unter Christian Thielemann, auf die Choralmotetten der<br />

Bach-Familie mit Frieder Bernius und hoffe, dass das Projekt mit<br />

Händels Concerti grossi op. 3 mit den Berliner Barock Solisten<br />

unter Reinhard Goebel klappt.<br />

F R A N K P E T E R<br />

ZIMMERMANN<br />

Johann Sebastian Bach: Violinkonzerte<br />

BWV 1041, 1042, 1052, 1060. Frank<br />

Peter Zimmermann, Serge Zimmermann,<br />

Berliner Barock Solisten (2017)<br />

„Ich mag Menschen, die authentisch<br />

sind und nicht durch Äußerlichkeiten<br />

auffallen möchten. Frank Peter<br />

Zimmermann ist so. Sehr konzentriert,<br />

sehr bescheiden. Ich weiß: Nicht jeder<br />

Konzertbesucher kann musikalisch<br />

zwischen ‚sehr gut‘ und ‚genial‘<br />

unterscheiden, vielen ist die Optik die<br />

wichtigste Kategorie. Zimmermann ist<br />

für mich genial. Für ihn verzichte ich<br />

liebend gerne aufs Dekolletee.“<br />

BERNARD HAITINK<br />

Weber: Ouvertüre „Oberon“, Beethoven:<br />

Konzert D-Dur op. 61, Brahms:<br />

Symphonie Nr. 1. Frank Peter Zimmermann,<br />

Staatskapelle Dresden, Bernard<br />

Haitink (2016)<br />

„Bernard Haitink wie auch Frank<br />

Peter Zimmermann sind in der<br />

Champions League der Klassik der<br />

Olymp. Das sind keine Musiker, die<br />

ihre Karriere einer Homestory zu<br />

verdanken haben, sondern stille Stars.<br />

Ich war mir nicht sicher, ob sie die<br />

Aufnahmen freigeben. Musiker hören<br />

ja immer genau hin und wollen<br />

manchmal nicht mehr mit älteren<br />

Aufnahmen assoziiert werden. Doch<br />

sie haben sie freigegeben!“<br />

K A R L R I C H T E R<br />

EDITION<br />

Johann Sebastian Bach. Solistengemeinschaft<br />

der Bachwoche Ansbach,<br />

Münchner Bach-Chor, Münchner<br />

Bach-Orchester, Karl Richter<br />

(6 CD-Box | 2014)<br />

„Mit Karl Richter bin ich groß<br />

geworden. Immer wieder habe ich<br />

mir seine Matthäuspassion von 1958<br />

angehört! Leider waren viele seiner<br />

Aufnahmen mit diesen fantastischen<br />

Solisten nicht mehr erhältlich. Ich bin<br />

kein Mann des Konjunktivs und habe<br />

sie wieder veröffentlicht. Sicher<br />

kommt mir mein Elternhaus zugute,<br />

dass ich seit frühester Jugend mit<br />

solch genialer Musik aufwachsen<br />

durfte.“<br />

Verlagssonderveröffentlichung 43


J U B I L Ä U M<br />

Wir gratulieren Profil!<br />

„Lieber Günter.<br />

Wir gratulieren Dir ganz herzlich zum 15-jährigen Bestehen von Profil<br />

Medien. Profil Medien – Edition Günter Hänssler steht für Qualität und<br />

exzellente Inhalte und partnerschaftlich gelebte Zusammenarbeit. Wir<br />

freuen uns auf die nächsten Jahre mit Euch!“<br />

Hannes Kraus, Michael Neumann & das<br />

Klassik-Team von Dussmann –<br />

das KulturKaufhaus in Berlin<br />

Helmuth Rilling<br />

„Ich finde es ganz unglaublich, wie ihr es geschafft habt, ein so breites,<br />

internationales Echo zu erreichen.“<br />

Helmuth Rilling, Dirigent<br />

„Congratulations from all of us at BBC Music Magazine on Profil<br />

Hänssler’s 15th birthday. From your BBC Music Magazine Awardwinning<br />

recording of Wagner’s Lohengrin in 2010 to your incredible<br />

collaborations with Helmuth Rilling and many, many more fantastic<br />

recordings besides, Profil Hänssler has been a mark of the finest quality<br />

– and we are proud to call ourselves friends of this wonderful label.“<br />

Oliver Condi, BBC Music Magazine<br />

„Der Hänssler hat wirklich ein besonderes Profil, das schon immer<br />

und speziell seit 15 Jahren – er soll so bleiben, dann bleiben wir ihm<br />

auch verbunden – herzlichen Glückwunsch!“<br />

Stefan Lang, Deutschlandfunk Kultur<br />

„Herrn Günter Hänssler samt dem hervorragenden Profil-Team möchte<br />

ich sehr herzlich weiterhin so viel Energie und Einsatz für die Bewahrung<br />

der überlieferten Tonträgervermächtnisse als auch die künftig genauso<br />

selbstverständliche unermüdliche Neugier auf Neues wünschen. Ein<br />

goldenes Händchen gehört eben auch dazu. Auch dafür wird Profil in<br />

Fachkreisen zu Recht gerühmt. Ad multos annos!“<br />

Dr. Ingobert Waltenberger, Online Merker<br />

„15 Jahr Profil! Dem Gründer des Labels, Günter Hänssler, sei dazu<br />

herzlichst gratuliert und für seinen unermüdlichen Einsatz gedankt. Er<br />

hat die Klassikwelt um ein unverwechselbares und ganz besonderes<br />

Angebot bereichert, eben um ein Label mit einem deutlichen Profil.“<br />

Remy Franck, Chefredakteur<br />

www.pizzicato.lu, Präsident ICMA<br />

„Ich gratuliere Profil zu 15 Jahren – eine echte Erfolgsstory von Günter<br />

Hänssler, der mit Weitsicht agiert – und vor allem künstlerisch und<br />

langfristig denkt. Als Interpret fühlt man sich wunderbar getragen!“<br />

Gerd Schaller, Dirigent<br />

ZUSAMMENFÜHRUNG<br />

BEIDER LABELS<br />

hänssler CLASSIC & Profil Edition<br />

Günter Hänssler (2015)<br />

„Ich denke, mein Vater wie auch ich haben<br />

das regelrecht als Wunder empfunden. Sie<br />

müssen sich das so vorstellen, wie wenn<br />

eine Mutter ihr Kind, das sie von Herzen<br />

geliebt hat, aufgeben musste. Und jetzt<br />

kommt es wieder zurück! Hätte mich<br />

jemand ein Jahr zuvor gefragt, ob dies je<br />

stattfinden würde, hätte ich das als<br />

unrealistische Träumerei abgetan. Jemand<br />

ganz da oben hat es gut mit mir gemeint.“<br />

ANA-MARIJA<br />

MARKOVINA<br />

CPE Bach. The complete works for piano<br />

solo. Ana-Marija Markovina (26 CDs | 2014)<br />

„Die Initiative kam durch das hänssler<br />

CLASSIC-Team und ich habe die Idee<br />

begeistert aufgegriffen. Ana-Marija<br />

Markovinas Einspielung aller Klavierwerke<br />

hat unsere CPE Bach-Edition inzwischen<br />

auf insgesamt 54 CDs heranwachsen<br />

lassen. Sie ist die vollständigste ihrer Art<br />

und wäre ohne diese unfassbare Leistung<br />

von Ana-Marija Markovina niemals möglich<br />

gewesen.“<br />

JOSEPH SCHMIDT<br />

A Song Goes Round The World.<br />

Ein Lied geht um die Welt.<br />

Joseph Schmidt (2004)<br />

„Wir haben in der Familie immer<br />

einen Bezug zu jüdischen Künstlern<br />

gehabt. Joseph Schmidt war ein<br />

österreichischer Opernsänger und<br />

1930 in Deutschland sehr bekannt.<br />

Er musste fliehen und starb in<br />

einem Internierungslager, nachdem<br />

man ihn falsch behandelt hatte.<br />

Zum 100. Geburtstag veröffentlichten<br />

wir die CD. Es ist die bestverkaufte<br />

Sänger-CD bei Profil, gut<br />

fünfstellig an Einheiten.“<br />

44 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


„15 Jahre Profil-Jubiläum, lieber Günter, ist auch für mich ein Grund zu<br />

feiern, denn Du hast mich vor 15 Jahren als Tonmeister in Dein Team<br />

geholt. Nicht nur, dass ich als Dienstleister für Dich natürlich gerne<br />

arbeite, entstand in den Jahren eine tiefe Freundschaft und ein beiderseitiges<br />

Einverständnis, Musik zu produzieren, die ein besonderes Profil<br />

vermittelt. Aufnahmen, ob live oder Studio, die eines gemeinsam haben:<br />

emotional zu berühren. Lass uns daran weiterarbeiten. Dein Holger.“<br />

Holger Siedler, Tonmeister, VDT,<br />

CEO THS Medien<br />

„Ich gratuliere Günter Hänssler und Profil zu 15 Jahren hervorragender<br />

Arbeit für die Musik und bedanke mich für die immer perfekte,<br />

unkomplizierte und sympathische Zusammenarbeit.“<br />

Friedemann Wuttke, Gitarrist<br />

„Profil Edition Günter Hänssler! Das Logo lässt mich immer an Messingschilder<br />

an der Haustür denken. So abwegig ist dieser Vergleich nicht.<br />

Denn bei Hänssler kommt man ja immer irgendwie auch nach Hause,<br />

findet sich bei vielen Produktionen dieser ersten 15 Jahre in der sicheren<br />

Umgebung der eigenen musikalischen Erfahrungen wieder, auf denen die<br />

lebenslange Liebe zur Musik gründet. Ich freue mich auf die nächsten<br />

15 Jahre.<br />

Rüdiger Winter, Operalounge.de<br />

„Lieber Günter, im Rückblick auf 15 Jahre Profil Medien mit im wahrsten<br />

Sinne des Wortes profilierten Veröffentlichungen, vielfachen Auszeichnungen,<br />

dem Rückerwerb von Hänssler CLASSIC und zuletzt der<br />

Gründung eines eigenen Vertriebs kommt es mir vor, als gelte es,<br />

mindestens 25 Jahre zu feiern. Ich bewundere Günter Hänssler für sein<br />

Schaffen – und seinen Esprit. Ihm und allen Mitarbeitern herzlichen<br />

Glückwunsch und weiterhin viel Erfolg!“<br />

Marcus-Johannes Heinz, Geschäftsführer,<br />

Aktiv Musik Marketing GmbH & Co. KG<br />

Dr. Steffen<br />

Lieberwirth<br />

„Ein Label hat sich profiliert, weil hier noch inhaltliche Tiefe Anklang<br />

sowie angemessenen Raum finden kann und eben deshalb weithin<br />

anerkennend gewürdigt wird.“<br />

Dr. Steffen Lieberwirth, ehem. Musikchef MDR<br />

Kultur, Herausgeber Edition Staatskapelle<br />

Dresden & Semperoper Edition<br />

„Lieber Herr Hänssler, ich werde nie unsere allererste Begegnung<br />

vergessen und bin stolz auf unsere vielen gemeinsamen Projekte:<br />

herzlichsten Glückwunsch!!!“<br />

Christiane Meininger, Meininger Trio<br />

„Lieber Günter, zu Deinem Firmenjubiläum die allerbesten Glückwünsche.<br />

In den 15 Jahren hast Du uns viele wunderbare musikalische<br />

Geschenke gemacht. Ich freue mich auf viele weitere Jahre der<br />

Zusammenarbeit mit Dir – mach weiter so!<br />

Mit den besten Grüßen, Norbert“<br />

Norbert Richter, Einkaufsleiter Klassik, jpc-Schallplatten-Versandhandelsgesellschaft<br />

mbH<br />

Mehr Gratulationen von Künstlern, Partnern und<br />

Wegbegleitern finden Sie auf www.Haensslerprofil.de.<br />

GERD SCHALLER<br />

Anton Bruckner. Complete Symphonies.<br />

Gerd Schaller (<strong>18</strong> CD-Box | 20<strong>18</strong>)<br />

„Ich erinnere mich, wie ich um 1999 mit dem<br />

damaligen WDR Orchester-Manager Herrn<br />

Höppner und Sofia Gubaidulina in Cannes<br />

beim Abendessen war. Er meinte, man könne<br />

kaum Dirigenten der jüngeren Generation für<br />

ein Bruckner-Dirigat einladen. Gerd Schaller<br />

lernte ich in Dresden nach Gesprächen mit der<br />

SSD kennen. Unser erstes Projekt war eine<br />

Goldmark-Oper, für die er einen ECHO<br />

erhielt. Derzeit steht die Aufnahme von<br />

Bruckners Streichquintett F-Dur an, das Gerd<br />

für großes Sinfonieorchester instrumentiert<br />

hat. Auch die Rekonstruktion des Finalsatzes<br />

von Bruckners Neunter ist ein Meisterstück.“<br />

HELMUTH RILLING<br />

Die kompletten Werke von Johann Sebastian<br />

Bach. Die Edition Bachakademie.<br />

Helmuth Rilling (172 CDs)<br />

„Ich werde immer wieder gefragt: Laufen<br />

solche Boxen heute noch? Ja, tun sie! Sie sind<br />

das Rückgrat des hänssler CLASSIC-Katalogs.<br />

Unsere Bach-Edition ist an Vollständigkeit<br />

nicht zu toppen, es sei denn, jemand findet<br />

die Kantatenjahrgänge, die verloren gingen.<br />

Neben Helmuth Rilling wirkt hier das Who’s<br />

Who der Musikgeschichte mit! Dietrich<br />

Fischer-Dieskau, Peter Schreier, Arleen<br />

Auger, Julia Hamari, Andreas Schmidt,<br />

Christine Schäfer, Matthias Goerne, Thomas<br />

Quasthoff, Isabelle Faust, Christoph Poppen,<br />

Hille Perl, Eva Kirchner, Christoph Prégardien,<br />

Evgeni Koroliov, Trevor Pinnock u. v. a.“<br />

GÜNTER WAND<br />

EDITION<br />

„Günter Wand war lange ein unterschätzter<br />

Dirigent. Nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

in Köln zum GMD ernannt, hielt er<br />

sich von der Oper weitgehend fern, weil<br />

man sich mehr mit der Inszenierung als mit<br />

der Musik beschäftigte. Er bestand auf fünf<br />

Proben. Das Publikum spürte diese Liebe<br />

zum Detail, die Wands Bruckner- und<br />

Haydn-Interpretationen einzigartig<br />

machte. Es gab regelrechte Pilgerfahrten<br />

zu seinen Konzerten. Auch Beethovens<br />

5. Klavierkonzert mit Emil Gilels oder das<br />

Prokofjew-Violinkonzert mit Edith<br />

Peinemann sind für mich Sternstunden. Ich<br />

möchte sie immer wieder hören. Sie<br />

überstehen jede Zeit.“<br />

Verlagssonderveröffentlichung 45


WIE GEHT ES WEITER?<br />

TRIO CÉNACLE &<br />

GEORGES SCHMITT<br />

Das Trio Cénacle um die deutsche Sopranistin Evelyn Czesla, den<br />

niederländischen Bassbariton Nico Wouterse und die luxemburgische<br />

Pianistin Michèle Kerschenmeyer deckt einen Schatz auf: die Mélodies,<br />

Romances und Chansons von Georges Schmitt, einem deutsch-französischen<br />

Komponisten (<strong>18</strong>21–1900) aus Trier, der sich in Paris für die<br />

„wahre“ Kirchenmusik einsetzte und ein reiches Liedschaffen hinterließ.<br />

(1)<br />

MIKI AOKI & THE TOKYO STORY<br />

Die japanische Pianistin Miki Aoki, Exklusiv-Künstlerin von Hänssler/Profil,<br />

hat im Nachlass ihres Vaters Takanobu Saito (1924–2004), der in seiner<br />

Heimat ein bekannter Filmmusikkomponist war, spannende Musik<br />

entdeckt. (4)<br />

DIE HISTORISCHE<br />

AUFNAHME<br />

Shura Cherkassky (Klavier), 10 CD-Box<br />

Den „letzten Zar des Klaviers“ nannte man Shura Cherkassky,<br />

dessen schillerndes Privatleben seinerzeit mit gleicher<br />

Aufmerksamkeit verfolgt wurde wie seine Begabung. 1909 in<br />

Odessa geboren, floh er mit der Familie 1923 vor der<br />

<strong>Oktober</strong>revolution in die USA, wo seine fulminante Karriere<br />

begann. Nach Kriegsende trat er in Salzburg, Lugano oder<br />

Berlin unter anderen mit Herbert von Karajan auf. Die<br />

Aufnahmen stammen vorwiegend aus den 50er- und<br />

60er-Jahren. Sie geben einen Einblick in Cherkasskys weit<br />

gespanntes Repertoire, das von Rameau über Mozart und<br />

Chopin bis zu Rachmaninow reichte. (2)<br />

1<br />

2 3<br />

4 5<br />

6<br />

DER KLASSIKER:<br />

MOZART AUS STUTTGART<br />

Mozart – Dan Ettinger, Stuttgarter Philharmoniker,<br />

Hagai Yodan (Klavier)<br />

„Danny und Dan“ nannte man sie vor einigen Jahren an der Staatsoper<br />

Unter den Linden: Daniel Barenboim und seinen Assistenten Dan<br />

Ettinger. Auf einem Video hatte Barenboim das Multitalent aus Israel<br />

erlebt und 2003 nach Berlin engagiert. Ettinger ist nicht nur ein<br />

ausgezeichneter Pianist. Als Bariton glänzte er u. a. in den Rollen des Don<br />

Giovanni, Conte Almaviva und Papageno. „Aus dem Klavierspieler ist ein<br />

Sänger geworden und aus dem Sänger ein Dirigent, dessen größte Liebe<br />

Mozart ist!“, beschreibt Ettinger seinen Werdegang. 2015 wurde er zum<br />

Chefdirigenten der Stuttgarter Philharmoniker ernannt. (5)<br />

MIT SPANNUNG ERWARTET …<br />

… die Neuaufnahme von Händels Concerti grossi op. 3 mit den<br />

Berliner Barock Solisten unter Rainhard Goebel, die sich, laut<br />

Günter Haenssler, „durch alles von der früheren Aufnahme mit<br />

Iona Brown und der Academy of St Martin in the Fields<br />

unterscheiden wird. Historisch informiert, schnell …“ (6)<br />

… und: 2026 hätte Karl Richter, der 1981 starb, seinen 100.<br />

Geburtstag gefeiert. Über Jahrzehnte waren seine Bach-Aufführungen<br />

Kult, in Amerika ebenso wie in Japan und sogar in<br />

Moskau. München wurde durch ihn zum Mekka der Bach-Pflege.<br />

Die Jubiläums-Box wird auch unveröffentlichte Aufnahmen<br />

enthalten. (3)<br />

Impressum: PROFIL MEDIEN GmbH | Hauffstr. 41 | 73765 Neuhausen | Tel. +49-(0)7158-987 85 22 | info@haensslerprofil.de | www.haensslerprofil.de | Geschäftsführer: Günter Hänssler<br />

Fotonachweise: Profil Medien; Aldercraft Wikimedia; MDR<br />

46 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


ERLEBEN<br />

Die wichtigsten Termine und Veranstaltungen im <strong>September</strong> und <strong>Oktober</strong> im Überblick (ab Seite 48)<br />

Himmel voller Geigen über Hannover: der 10. Internationale Joseph Joachim Violinwettbewerb (Seite 54)<br />

Die Russische Kammerphilharmonie St. Petersburg präsentiert ihr spannendes Programm mit Sahne-Sound (Seite 56)<br />

15. <strong>September</strong> bis 26. <strong>Oktober</strong>, Erfurt<br />

6. INT. TANZTHEATER<br />

FESTIVAL ERFURT<br />

Unter dem Motto „Kulturelle Vielfalt“ lädt das Tanztheater<br />

Erfurt zum Festival. Tänzerinnen und Tänzer aus aller Welt<br />

zeigen ihre Sicht auf gesellschaftlich relevante Themen. Die<br />

Mechanismen von Macht und Kontrolle lässt der Choreograf<br />

Edan Gorlicki aus Israel die Spieler in seiner Kreation The Players<br />

testen. Sie übertrumpfen einander im Imponieren, Tricksen<br />

und Prahlen und veranschaulichen die effektive Kraft manipulativer<br />

Strategien. Die Echodrama Cultural Group aus Griechenland<br />

greift auf eine Vorlage des neugriechischen Erzählers<br />

Alexandros Papadiantis zurück, der mit seinen Figuren die tragischen<br />

Folgen schlechter sozialer Verhältnisse und bitterer<br />

Lebenserfahrungen schildert. In Eros-Iros, benannt nach einem<br />

Roman Papadiantis’, zeigen die Tänzer, wie das soziale Umfeld<br />

durch Unterdrückung und Manipulation wahre Gefühle zerstören<br />

kann. Die Gastgeber mit der Choreografin Ester Ambrosino<br />

stellen in Konsequenzen (Foto) die Frage nach den Folgen<br />

unseres Daseins, unserer Entscheidungen und unseres<br />

Handelns. Die Produktion reflektiert gegenwärtige Themen<br />

wie die Not der Schutzsuchenden, Ausgrenzung, Klimawandel<br />

und Sexualität. Am Ende allerdings steht Hoffnung: Amal von<br />

Medhat Aldaabal und Davide Complani erzählt vom Ankommen<br />

in einer neuen Gesellschaft.<br />

Erfurt, Theater Erfurt, www.tanztheaterfestival-erfurt.de<br />

FOTO: LUTZ EDELHOFF<br />

47


E R L E B E N<br />

<strong>September</strong> / <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong><br />

DIE WICHTIGSTEN<br />

VERANSTALTUNGEN AUF<br />

EINEN BLICK<br />

Ihr persönlicher Navigator für Premieren, Konzerte und Festivals<br />

PREMIEREN<br />

7.9. BONN THEATER<br />

Der Kaiser von Atlantis / V. Ullmann<br />

8.9. DARMSTADT STAATSTHEATER<br />

L’Orfeo / C. Monteverdi<br />

8.9. HAMBURG STAATSOPER<br />

Così fan tutte / W. A. Mozart<br />

9.9. AACHEN THEATER<br />

La forza del destino / G. Verdi<br />

9.9. DARMSTADT STAATSTHEATER<br />

Saint François d’Assise / O. Messiaen<br />

9.9. FRANKFURT AM MAIN OPER<br />

Tri sestry / P. Eötvös<br />

9.9. KASSEL OPER<br />

I Capuleti e i Montecchi / V. Bellini<br />

9.9. MAINZ STAATSTHEATER<br />

Der Ring an einem Abend /<br />

Loriot, R. Wagner<br />

12.9. FRANKFURT AM MAIN OPER<br />

Lost highway / O. Neuwirth<br />

13.9. BASEL (CH) THEATER<br />

König Arthur / H. Purcell, J. Dryden<br />

13.9. BERLIN NEUKÖLLNER OPER<br />

Die Weise von Liebe und Tod /<br />

M. Giesen, F. Gerhardt<br />

14.9. HALLE OPER<br />

Messa da Requiem / G. Verdi<br />

15.9. GIESSEN STADTTHEATER<br />

Mala Vita / U. Giordano<br />

15.9. HALLE OPER<br />

#BIZARR / M. Sedláček<br />

15.9. LINZ (AT) LANDESTHEATER<br />

Tristan und Isolde / R. Wagner<br />

15.9. REGENSBURG THEATER<br />

Nabucco / G. Verdi<br />

16.9. BREMEN THEATER<br />

Fidelio / L. van Beethoven<br />

16.9. WIEN (AT) VOLKSOPER<br />

Die Csárdásfürstin / E. Kálmán<br />

21.9. BRAUNSCHWEIG<br />

STAATSTHEATER Moskau, Tscherjomuschki<br />

/ D. Schostakowitsch<br />

21.9. DESSAU ANHALTISCHES THEA-<br />

TER King Arthur / J. Dryden, H. Purcell<br />

22.9. HOF THEATER Rigoletto / G. Verdi<br />

22.9. KIEL OPER<br />

Die Stumme von Portici / D.-F.-E. Auber<br />

22.9. SALZBURG (AT)<br />

LANDESTHEATER<br />

Wiener Blut / J. Strauß<br />

23.9. KÖLN OPER<br />

Mare Nostrum / M. Kagel<br />

27.9. LEIPZIG OPER<br />

Paddington Bear’s First Concert /<br />

H. Chappell<br />

<strong>18</strong>. bis 21. <strong>Oktober</strong>, Donaueschingen<br />

„Thinking Things“<br />

Transformation<br />

Im Sommer 2016 hielt die Komponistin Isabel Mundry sich in München<br />

auf. Sie erlebte die unwirkliche Atmosphäre, als ein Amokläufer<br />

neun Menschen tötete. Im Internet entdeckte sie ein Handyvideo.<br />

Es zeigte den Täter auf dem Dach, der von einem Anwohner<br />

angebrüllt wurde. Mundry war von der gewaltvollen Sprache des<br />

Mannes ebenso irritiert wie von der ruhigen Reaktion des Täters.<br />

„Viele haben die Stimme des Anwohners für die des Täters gehalten,<br />

was mich sehr beschäftigt hat“, erläutert sie ihr Vorhaben, den<br />

Dialog so lange und unterschiedlich auszugestalten, bis andere<br />

Seiten und Aspekte aus ihm hervortreten. „Transformation eines<br />

Augenblicks“ nennt sie ihr Werk im Untertitel. Bei den Musiktagen<br />

kommt es mit dem Ensemble Modern und den Stuttgarter Vokalsolisten<br />

zur Uraufführung. „Roboter und Medienarchäologie,<br />

Filterblasen und Gewalt“ hat der künstlerische Leiter Björn Gottstein<br />

als Thema gewählt. Florian Hecker und Marcus Schmickler<br />

untersuchen den Eigenklang der Geräte im Freiburger Experimentalstudio<br />

des SWR und lassen die Maschinen für sich sprechen.<br />

„Thinking Things“ bringt auch Georges Aperghis aus dem IRCAM,<br />

dem Forschungsinstitut für Akustik/Musik in Paris. Im letzten Teil<br />

seiner Maschinen-Trilogie befasst er sich mit Visionen wie Kriegen,<br />

die allein von Robotern geführt werden.<br />

Donaueschingen, verschiedene Spielorte, www.swr.de/donaueschingen<br />

FOTO: GEORGES APERGHIS / DONAUESCHINGER MUSIKTAGE<br />

27.9. LINZ (AT) LANDESTHEATER<br />

Lazarus / D. Bowie<br />

28.9. BASEL (CH) THEATER<br />

Pelléas et Mélisande / C. Debussy<br />

28.9. FREIBURG THEATER<br />

Eugen Onegin / P. I. Tschaikowsky<br />

29.9. CHEMNITZ THEATER<br />

Siegfried / R. Wagner<br />

29.9. DRESDEN SEMPEROPER<br />

Moses und Aron / A. Schönberg<br />

29.9. FLENSBURG STADTTHEATER<br />

Singin‘ In The Rain / N. H. Brown,<br />

A. Freed<br />

29.9. HALLE OPER<br />

L‘Africaine / G. Meyerbeer<br />

29.9. HANNOVER STAATSOPER<br />

West Side Story / L. Bernstein<br />

29.9. KAISERSLAUTERN PFALZ-<br />

THEATER Faust (Margarethe) / C. Gounod<br />

29.9. LEIPZIG OPER<br />

The Girl of the Golden West / G. Puccini<br />

29.9. MAINZ STAATSTHEATER<br />

Le Nozze de Figaro / W. A. Mozart<br />

29.9. STUTTGART STAATSOPER<br />

Lohengrin / W. Wagner<br />

30.9. ALTENBURG LANDESTHEATER<br />

Der Vogelhändler / C. Zeller<br />

30.9. BERLIN KOMISCHE OPER<br />

Die tote Stadt / E. W. Korngold<br />

30.9. NÜRNBERG STAATSTHEATER<br />

Krieg und Frieden / S. Prokofjew<br />

1.10. AUGSBURG THEATER<br />

Der Freischütz / C. M. von Weber<br />

5.10. BERLIN DEUTSCHE OPER<br />

Wozzeck / A. Berg<br />

6.10. BERLIN DEUTSCHE OPER<br />

Nacht bis Acht / François Sarhan<br />

6.10. ERFURT THEATER<br />

Fra Diavolo / D.-F.-E. Auber<br />

6.10. NÜRNBERG STAATSTHEATER<br />

Catch Me If You Can / T. McNally<br />

7.10. BERLIN STAATSOPER UNTER<br />

DEN LINDEN Medea / L. Cherubini<br />

7.10. BONN THEATER<br />

Xerxes / G. F. Händel<br />

7.10. KAISERSLAUTERN PFALZTHEA-<br />

TER Die Comedian Harmonists /<br />

G. Greiffenhagen, F. Wittenbrink<br />

11.10. MÜNCHEN GÄRTNERPLATZ-<br />

THEATER Dantons Tod / G. von Einem<br />

12.10. BERLIN STAATSOPER<br />

UNTER DEN LINDEN<br />

Usher / C. Debussy, A. Van Parys<br />

13.10. BRAUNSCHWEIG<br />

STAATSTHEATER<br />

Der fliegende Holländer / R. Wagner<br />

13.10. DRESDEN SEMPEROPER<br />

48 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


FOTOS: OFS-CREUTZIGER; MERSEBURGER ORGELTAGE; MARIE-LAURE BRIANE; STEVEN HABERLAND; JAVIER DEL REAL; HANS ENGELS; PR; DARIO ACOSTA / DG; TRUI HANOULLE; DON CARABAS / DG; HILLE PERL; KATRIN SCHILLING; PETERADAMIK<br />

13. <strong>Oktober</strong><br />

DRESDEN SATYRICON<br />

Leichtfertig zog der fahrende Schüler die Ungnade<br />

des phallischen Gottes Priapus auf sich. So<br />

gerät er immer wieder in Situationen akuter Impotenz.<br />

Erotische Tollheiten und Intrigen durchziehen<br />

Petronius’ Abenteuer- und Schelmenroman<br />

Satyricon. Er durchmisst alle Schichten der<br />

Gesellschaft zur Zeit Kaiser Neros und enthüllt<br />

den Menschen in all seiner heillosen Widersprüchlichkeit. Lustvoll, obszön,<br />

derb und mit vielen Opernzitaten versehen, komponierte Bruno Maderna<br />

im Jahr seines Todes 1973 seine Veroperung des antiken Textes. In<br />

selbstherrlicher Manier produzieren sich die Teilnehmer eines Nachtmahls<br />

im Hause Trimalchios, eines ehemaligen Sklaven und Lustknaben,<br />

voreinander. Politisch, finanziell und sexuell herrscht Trimalchio über seine<br />

Gäste. Georg Schmiedleitner setzt Madernas grellbunten Bilderbogen<br />

der Dekadenz in Kooperation mit den Salzburger Festspielen in Szene.<br />

Dresden, Semperoper, 13. (Premiere), 17., <strong>18</strong>. und 20.10., www.semperoper.de<br />

8. bis 16. <strong>September</strong><br />

48. MERSEBURGER ORGELTAGE<br />

Franz Liszt kam mit der Kutsche aus Weimar angereist.<br />

Er hatte den Neubau der Merseburger<br />

Domorgel mit großer Aufmerksamkeit verfolgt.<br />

Der damals noch junge Meister Friedrich Ladegast<br />

aus Weißenfels hatte den Auftrag erhalten,<br />

das „Riesenwerk“ hinter der prächtigen barocken<br />

Orgelwand (Foto) mit ihren musizierenden<br />

Engeln zu erneuern. Ladegast wurde mit der Orgel berühmt, und Liszt<br />

komponierte für die Einweihung <strong>18</strong>55 seine Fantasie und Fuge über den<br />

Choral Ad nos, ad salutarem undam. Im großen Orgelkonzert in der Domstadt<br />

an der Saale lässt Domorganist Michael Schönheit das Weihekonzert<br />

noch einmal erklingen. Mit Orgelkonzerten, Motetten, musikalischen<br />

Meditationen und einer großen Musiknacht feiern die Orgeltage<br />

die 200. Wiederkehr von Ladegasts Geburtstag.<br />

Merseburg, verschiedene Spielorte, www.merseburger-orgeltage.de<br />

<strong>18</strong>. <strong>September</strong><br />

MÜNCHEN LA STRADA<br />

Zum 25. Todestag von Federico Fellini kommt<br />

Marco Goeckes begeistert aufgenommenes Ballett<br />

La Strada wieder auf den Spielplan. Bereits<br />

1966 hatte sich Mario Pistoni von Fellinis Film<br />

über den Schausteller Zampanò, seine Assistentin<br />

Gelsomina und den Seiltänzer Matto zu einer<br />

Choreografie inspirieren lassen, für die Nino<br />

Rota seine Filmmusik zu einer Ballettsuite arrangierte. Pistoni fand damals<br />

zu einer poetischen Erzählweise, um die Geschichte der Entfremdung in<br />

moderner Zeit darzustellen. Goecke setzt bei seiner Choreografie auf viele<br />

langsame Passagen, in denen er den Tanz auf ein Minimum an Bewegung<br />

vermindert, und auf starke Effekte. Ihm gehe es um „das Künstlerdasein,<br />

die Armut, um Gefühle, die man nicht ausdrücken kann und das Bereuen<br />

am Schluss“. Vor allem die Reue über die vertane Liebe choreografiert<br />

Goecke ganz vorn an der Rampe, den direkten Blicken der Zuschauer ausgesetzt.<br />

München, Gärtnerplatztheater, <strong>18</strong>. und 23.9., 6., 10., 27. und 29.3. sowie 3., 7.<br />

und 11.4., www.gaertnerplatztheater.de<br />

14. <strong>September</strong> bis 7. <strong>Oktober</strong><br />

20. WEIDENER MAX-REGER-TAGE<br />

Beim Besuch der Festspiele in Bayreuth erwachte<br />

in Max Reger der Wunsch, Musiker zu<br />

werden. Das Boulanger Trio (Foto) mit der Pianistin<br />

Karla Haltenwanger, der Geigerin Birgit<br />

Erz und der Cellistin Ilona Kindt schlägt bei seinem<br />

Bayreuth-Auftritt einen Bogen von Reger,<br />

dem vollendeten Traditionalisten, zu Maurice Ravel, dem Klassiker der<br />

Moderne. Schlüsselwerke aus Regers reichhaltigem Schaffen präsentiert<br />

die Jubiläumsausgabe. Im Eröffnungskonzert wenden sich Hinrich Alpers<br />

und Markus Becker am Klavier Reger und Bach zu, der für Reger die unerschöpfliche<br />

Quelle abendländischer Musik bildete. Das Kuss Quartett<br />

stellt Regers Kammermusik mit der seines anderen großen Vorbilds<br />

Beethoven vor. Die Sopranistin Frauke May und der Pianist Bernhard<br />

Renzikowski lassen Reger als Liedkomponisten erleben. Und im Abschlusskonzert<br />

präsentiert Bernhard Haas Reger als Orgelkomponisten.<br />

Weiden, Bayreuth u. a., , www.max-reger-tage.de<br />

Bis <strong>18</strong>. <strong>September</strong><br />

MUSIKFEST BERLIN<br />

„With music I can open a heart / as easily as you<br />

can open a door / and reach right in“, singt der<br />

Fremde in George Benjamins Oper Into the Little<br />

Hill. Benjamin erhielt bereits als Schüler Kompositionsunterricht<br />

bei Olivier Messiaen. Entscheidend<br />

für sein Opernschaffen war die Begegnung<br />

mit dem Dramatiker Martin Crimp. „Die Art, wie<br />

Martin Crimp das Moderne mit dem Alten mischt, hat für mich einen magischen<br />

Zauber“, betont er. Für Into the Little Hill griff Crimp auf die Sage<br />

vom Rattenfänger von Hameln zurück und gestaltete eine Parabel über die<br />

Macht der Musik. Das Musikfest Berlin gibt Einblicke in Benjamins Musikschaffen.<br />

Das Mahler Chamber Orchestra bringt Into the Little Hill unter<br />

Benjamins Leitung konzertant zur Aufführung. Und die Berliner Philharmoniker,<br />

deren Composer in Residence Benjamin in der Saison 20<strong>18</strong>/19 ist,<br />

spielen mit ihm am Pult sein Orchesterwerk Palimpsest.<br />

Berlin, verschiedene Spielorte, www.berlinerfestspiele.de<br />

13. <strong>Oktober</strong><br />

125 JAHRE MÜNCHNER PHILHARMONIKER<br />

Mit Gustav Mahlers Achter Sinfonie feiern die<br />

Münchner Philharmoniker ihr 125-jähriges Bestehen.<br />

1910 brachten sie das gigantische Werk zur<br />

Uraufführung. Mahler selbst stand am Pult und<br />

war überzeugt: „So was hat die Welt bis jetzt<br />

noch nicht erlebt.“ Acht Gesangssolisten, drei<br />

Chöre und weit über 100 Instrumentalisten erweckten<br />

die Partitur mit überwältigender Klangfülle zum Leben. Seine<br />

Gründung verdankt das Orchester der Privatinitiative von Franz Kaim, dem<br />

Sohn des Klavierfabrikanten, der den neuen Klangkörper primär für die<br />

Präsentation von „Novitäten“ vorsah. Im ersten Konzert in München am<br />

14. <strong>Oktober</strong> <strong>18</strong>93 unter der Leitung von Hans Winderstein stand eine Uraufführung<br />

von Bernhard Stavenhagen, dem letzten Schülers Liszts, auf dem<br />

Programm. Das Festkonzert leitet Chefdirigent Valery Gergiev.<br />

München, Philharmonie am Gasteig, www.muenchnerphilharmoniker.de<br />

12. <strong>September</strong><br />

FRANKFURT AM MAIN LOST HIGHWAY<br />

David Lynchs verstörender Film Lost Highway<br />

dient als Vorlage für das gleichnamige Musiktheaterstück<br />

von Olga Neuwirth. Mit der Literaturnobelpreisträgerin<br />

Elfriede Jelinek erarbeitete<br />

sie den Text. Wie in der Filmvorlage Situationen<br />

sich unwirklich verschieben, die Zeit ihre<br />

Richtung verliert und Identitäten sich auflösen,<br />

so gestaltet sie auch ihre Musik als ein Geflecht aus Überblendungen sich<br />

verändernder Tonräume. Einbezogen sind elektronische Klänge sowie<br />

vielfältige stimmliche Ausdrucksmöglichkeiten. Der Einsatz von Video<br />

lässt die Wirklichkeit immer wieder ins Unwirkliche kippen und erzeugt<br />

ein bedrohliches Gefühl des Ausgeliefertseins. Unter der Regie von Yuval<br />

Sharon agieren Schauspieler, Sänger und Vokalkünstler. Es spielt das Ensemble<br />

Modern (Foto) unter Karsten Januschke.<br />

Frankfurt am Main, Bockenheimer Depot, 12. (Premiere), 16., 17., 19., 21. und<br />

23.9., www.oper-frankfurt.de<br />

49


E R L E B E N<br />

Bis 23. <strong>September</strong>, Bonn<br />

„unendlich das Elend / unendlich das Leid“<br />

österreichisches<br />

ensemble<br />

für neue musik<br />

FOTO: ANDREAS HECHENBERGER UND MARKUS SEPPERER<br />

Dreimal G, dann Es – mit gewaltigen Schlägen beginnt Beethoven seine<br />

Fünfte Sinfonie. So klopfe das Schicksal an die Pforten, habe er gesagt, und<br />

damit bekam die Sinfonie ihren Namen. Das Beethovenfest nimmt ihn als<br />

Motto. Die Musikwelt blieb vom Schicksal nicht verschont. Doch gab gerade<br />

die Musik immer wieder Kraft, sich dagegen aufzulehnen. Der Pianist<br />

Paul Wittgenstein verlor im Ersten Weltkrieg den rechten Arm und<br />

vergab Aufträge für Klavierwerke für die linke Hand. Alexandre Tharaud<br />

spielt mit dem Beethoven Orchester Bonn das Konzert, das Maurice Ravel<br />

für Wittgenstein schrieb. Musik schenkte Hoffnung, auch in finstersten<br />

Zeiten. Olivier Messiaen brachte im Gefangenenlager Görlitz 1940<br />

sein Quatuor pour la fin du temps zur Aufführung. Das österreichische<br />

ensemble für neue musik stellt es mit Constantin Regameys Quintett<br />

auf sein Programm. Regamey konnte das Stück 1944 im besetzten Warschau<br />

sogar heimlich aufführen. „Am 27. und 28. April 1945 schleppte<br />

sich ein Menschenstrom von 20.000 Dachauer Schutzhäftlingen an uns<br />

vorüber – unendlich war der Strom / unendlich das Elend / unendlich das<br />

Leid“, schrieb Karl Amadeus Hartmann auf den Innentitel seiner Klaviersonate<br />

27. April 1945. All seine Verzweiflung und Anklage legte er in die<br />

Musik. Das Beethoven Orchester Bonn kombiniert sie mit der Kammeroper<br />

Der Kaiser von Atlantis des in Auschwitz ermordeten Viktor<br />

Ullmann.<br />

Bonn, verschiedene Spielorte, www.beethovenfest.de<br />

Satyricon / B. Maderna<br />

13.10. ESSEN AALTO MUSIKTHEATER<br />

Carmen / G. Bizet<br />

13.10. KASSEL OPER<br />

Falstaff / G. Verdi<br />

13.10. STUTTGART STAATSOPER<br />

Shades of White / J. Cranko<br />

13.10. WIEN (AT) VOLKSOPER<br />

Zar und Zimmermann / G. A. Lortzing<br />

14.10. KÖLN OPER Salome / R. Strauss<br />

14.10. WIEN (AT) STAATSOPER<br />

Les Troyens / H. Berlioz<br />

15.10. WIEN (AT) THEATER AN DER<br />

WIEN Alcina / G. F. Händel<br />

KÜNSTLER<br />

PIERRE-LAURENT AIMARD<br />

8., 9.9. Lucerne (CH),<br />

Kirchensaal MaiHof<br />

12.9., 1.10. Hamburg, Elbphilharmonie<br />

13., 17.9. Berlin, Philharmonie<br />

15.9. Berlin, Haus des Rundfunks<br />

23.9. Frankfurt am Main, Alte Oper<br />

3.10. Köln, Philharmonie<br />

AKADEMIE FÜR<br />

ALTE MUSIK BERLIN<br />

6.10. Tübingen, Stiftskirche<br />

10.10. Berlin, Philharmonie<br />

IVETA APKALNA<br />

16.9. Frankfurt am Main, Alte Oper<br />

21., 22., 23.9. Berlin, Konzerthaus<br />

7.10. München, Jesuitenkirche<br />

St. Michael<br />

BALTIC SEA PHILHARMONIC<br />

<strong>18</strong>.9. München, Herkulessaal<br />

20.9. Halle an der Saale, Händel Halle<br />

22.9. Usedom, Historisch-Technisches<br />

Museum Peenemünde<br />

DANIEL BARENBOIM<br />

9.9., 10.10. Berlin, Pierre Boulez Saal<br />

20.9., 9.10. Berlin, Philharmonie<br />

7., 8., 12.10. Berlin, Staatsoper Unter<br />

den Linden<br />

LISA BATIASHVILI<br />

8.9. Grafenegg (AT), Wolkenturm<br />

5., 6., 7.10. München, Philharmonie<br />

13.10. Frankfurt am Main, Alte Oper<br />

DANIEL BEHLE<br />

16.9. Frankfurt am Main, Alte Oper<br />

23., 27., 30.9. München,<br />

Nationaltheater<br />

28.9., 7.10. Stuttgart, Oper<br />

RAFAŁ BLECHACZ<br />

23.9. Coesfeld, Theater<br />

11.10. Dortmund, Konzerthaus<br />

CLAUDIO BOHÓRQUEZ<br />

8., 14.9. Zermatt (CH), St. Mauritius<br />

9.9. Martigny (CH),<br />

Fondation Pierre Gianadda<br />

17.9. Bückeburg, Schloss<br />

26.9. Kronberg im Taunus, Stadthalle<br />

30.10. Rutesheim, Halle Bühl 2<br />

BOULANGER TRIO<br />

<strong>18</strong>.9. Bayreuth, Klaviermanufaktur<br />

Steingraeber & Söhne<br />

28.9. Berlin, Konzerthaus<br />

BRANDENBURGISCHES<br />

STAATSORCHESTER<br />

8.9. Frankfurt an der Oder, Konzerthalle<br />

14.9. Neuruppin, Kulturkirche<br />

16., 21., 23., 30.9., 6., 7., 11., 12.10.<br />

Frankfurt an der Oder, Konzerthalle<br />

30.9. Schwedt an der Oder,<br />

Uckermärkische Bühnen<br />

13.10. Potsdam, Nikolaisaal<br />

14.10. Brandenburg an der Havel,<br />

CulturCongressZentrum<br />

MORITZ EGGERT<br />

6.10. Donaueschingen, Gewölbekeller<br />

der Kunst- und Musikschule<br />

9.10. Hamburg, resonanzraum St. Pauli<br />

BENJAMIN ENGELI<br />

7.9. Basel (CH), Musical Theater<br />

16.9. Raron (CH), Burgkirche<br />

ENSEMBLE<br />

INTERCONTEMPORAIN<br />

10.9. Berlin, Pierre Boulez Saal<br />

13.9. Berlin, Universität der Künste<br />

ENSEMBLE MODERN<br />

7.9. Schwaz (AT), SZentrum<br />

9.9. Schwaz (AT), Vier und Einzig<br />

10., 14.9. Frankfurt am Main,<br />

Hochschule für Musik<br />

12., 16., 17., 19., 21., 23.9.<br />

Frankfurt am Main,<br />

Bockenheimer Depot<br />

14.9. Innsbruck (AT), Universität<br />

15.9. Frankfurt am Main,<br />

Hochschule für Musik<br />

16.9. Frankfurt am Main, Alte Oper<br />

20., 28.9. Frankfurt am Main, Alte Oper<br />

22.9. Meersburg, vineum bodensee<br />

28.9. München, Prinzregententheater<br />

10.10. Frankfurt am Main, Haus der<br />

50 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


FOTOS: OFS-CREUTZIGER; MERSEBURGER ORGELTAGE; MARIE-LAURE BRIANE; STEVEN HABERLAND; JAVIER DEL REAL; HANS ENGELS; PR; DARIO ACOSTA / DG; TRUI HANOULLE; DON CARABAS / DG; HILLE PERL; KATRIN SCHILLING; PETERADAMIK<br />

Bis 30. <strong>September</strong><br />

NIEDERSÄCHSISCHE MUSIKTAGE<br />

Das ganze aristokratische Europa richtete seinen<br />

Blick auf Versailles. Hier waren die Angehörigen<br />

der großen Familien des französischen<br />

Adels versammelt und formierten sich zur Société<br />

du cour. Feste wurden gefeiert und immer<br />

war Musik dabei. Louis XIV. liebte die Musik,<br />

und seine Hofmusiker mussten ihn vom Lever<br />

bis zum Coucher begleiten. „Gambiste de la chambre du Roi“ war Marin<br />

Marais. Im Rahmen der Musiktage unter dem Motto „Beziehungen“ tragen<br />

Hille Perl auf der Viola da Gamba und Lee Santana auf der Laute seine<br />

Kompositionen vor und tauchen ein in die höfische Welt des Sonnenkönigs,<br />

in der vor allem eines gefragt war: glänzende Beziehungen.<br />

Niedersachsen, verschiedene Spielorte, www.musiktage.de<br />

30. <strong>September</strong><br />

BERLIN DANIIL TRIFONOV<br />

„Es gibt einen besonderen Moment, wenn man<br />

die Musik wirklich spürt“, sagt der Pianist Daniil<br />

Trifonov, „und alle auf dem Podium zu einem<br />

Ganzen werden.“ Dieser Moment stellte sich<br />

ein, als er 2016 mit einer fulminanten Interpretation<br />

von Rachmaninows Drittem Klavierkonzert<br />

sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern<br />

gab. Trifonov wurde 1991 in Nischni Nowgorod in eine Musikerfamilie<br />

geboren. 2011 gewann er den Rubinstein-Klavierwettbewerb in Tel Aviv<br />

und den Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau. Innerhalb kürzester Zeit<br />

spielte er sich mit technischer Brillanz und musikalischer Ausdruckskraft<br />

an die Weltspitze. Für die Spielzeit 20<strong>18</strong>/19 kehrt er als Artist in Residence<br />

nach Berlin zurück. In seinem ersten Konzert mit Stipendiaten der<br />

Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker wendet er sich Klavierkonzerten<br />

von Bach, Strawinsky und Schnittke zu.<br />

Berlin, Kammermusiksaal der Philharmonie, www.berliner-philharmoniker.de<br />

22. <strong>September</strong> bis 13. <strong>Oktober</strong><br />

25. USEDOMER MUSIKFESTIVAL<br />

Das Baltic Sea Philharmonic (Foto) vereint Musiker<br />

aus allen Ländern der Ostsee. Vor zehn<br />

Jahren wurde es vom Usedomer Musikfestival<br />

gegründet. Unter der Leitung von Kristjan Järvi<br />

eröffnet es die 25. Ausgabe des Festivals. „Nordic<br />

Pulse“ ist das Programm überschrieben, das<br />

Musik aus Estland, Finnland, Lettland, Litauen<br />

und Polen präsentiert. Zu entdecken gibt es Mountains.Waters.(Freedom)<br />

des litauischen Komponisten Gediminas Gelgotas, das Järvi 2015 zur Uraufführung<br />

brachte, den eruptiven Satz aus der Rock Symphony von<br />

Imants Kalniņš aus Riga, der bereits in den 1960er-Jahren begann, klassische<br />

Musik und Rock zu verweben, und Järvis eigenes Werk Aurora.<br />

Drei Wochen lang lockt die Vielfalt der Musikkulturen in malerisch gelegene<br />

Schlösser, prachtvolle Bauten der Kaiserbäder und stimmungsvolle<br />

Kirchen. Und in der Jubiläumsausgabe sind alle zehn Ostsee-Länder vertreten.<br />

Usedom, verschiedene Spielorte, www.usedomer-musikfestival.de<br />

12. <strong>Oktober</strong><br />

BERLIN USHER<br />

„Ich betrachte mich als lyrische Komponistin“,<br />

sagt Annelies Van Parys. „Gesang und Instrumentalmusik<br />

sind bei mir eng verbunden.“ So<br />

hegte sie schon früh den Wunsch, für das Musiktheater<br />

zu schreiben. Mit „Ruhe“ unternahm<br />

sie 2007 ihren ersten Schritt. 2010 arbeitete sie<br />

sich an Iannis Xenakis’ Drama Oresteia entlang,<br />

um in dessen Brüche und Spalten jenen Teil der Sage einzufügen, den Xenakis<br />

nicht erzählt. 2012 erfolgte die Begegnung mit Debussy. Und 2015<br />

ließ sie sich von Hitchcock zu der Oper Private View anregen. In Usher<br />

Internationales Orgelfestival<br />

7. bis 21. <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong><br />

Iveta Apkalna, Vittorio Ghielmi, Luca Pianca,<br />

Katja Stuber, Ensemble „L‘ Accademia Giocosa“,<br />

Dorothee Oberlinger, Kalevi Kiviniemi, Jean Guillou<br />

und Peter Kofler<br />

www.muenchner-orgelherbst.de<br />

www.facebook.com/muenchner.orgelherbst<br />

Jesuitenkirche St. Michael<br />

Neuhauser Straße 6 | 80331 München<br />

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Kulturprogramm 20<strong>18</strong> /2019<br />

Höhepunkte<br />

Martin Grubinger<br />

29. Sep <strong>18</strong> · 20.00 · BASF-Feierabendhaus, LU<br />

Hille Perl · „Die Kunst der Fuge“<br />

24. Okt <strong>18</strong> · 20.00 · BASF-Feierabendhaus, LU<br />

Carolin Widmann · Münchener Kammerorchster<br />

26. Okt <strong>18</strong> · 20.00 · BASF-Feierabendhaus, LU<br />

Vilde Frang · DSO Berlin · Robin Ticciati<br />

24. Nov <strong>18</strong> · 20.00 · BASF-Feierabendhaus, LU<br />

Arcadi Volodos<br />

22. Jan 19 · 20.00 · BASF-Feierabendhaus, LU<br />

Janine Jansen · Henning Kraggerud · Camerata Salzburg<br />

05. Feb 19 · 20.00 · BASF-Feierabendhaus, LU<br />

Fazıl Say · casalQuartett<br />

19. Mrz 19 · 20.00 · BASF-Feierabendhaus, LU<br />

Isabelle Faust · Orchestre des Champs-Élysées ·<br />

Philippe Herreweghe<br />

26. Mrz 19 · 20.00 · BASF-Feierabendhaus, LU<br />

Informationen und Tickets erhalten Sie unter Tel. 0621- 60 99911, an allen eventim-VVK-Stellen,<br />

unter www.basf.de/kultur, auf www.facebook.de/BASF.Kultur oder Twitter: @BASF_Kultur.<br />

51<br />

20717334_Crescendo_Anzeige_01_90x126.indd 1 02.08.<strong>18</strong> 08:34


E R L E B E N<br />

28. <strong>September</strong> bis 13. Januar, Essen<br />

„Unheimlich real“<br />

Ubaldo Oppi: „Die Frau des Künstlers vor venezianischer<br />

Kulisse“, 1921<br />

Vor der Bucht von San Marco in Venedig malte Ubaldo Oppi 1921<br />

seine Frau (Bild). Nach Anfängen im Jugendstil und den Erfahrungen<br />

des Ersten Weltkrieges wandte er sich einer klassischen Ästhetik<br />

plastischer, klarer Formen zu. Im Jahr darauf schloss er sich Novecento<br />

an, einer Vereinigung von Künstlern verschiedener Stilrichtungen,<br />

die sich gegen die Moderne stellten und ihr Heil in der<br />

Rückkehr zur alten Akademie mit ihrem Zeichnen nach Gipsplastiken<br />

sahen. „Unheimlich real“ betitelt das Museum Folkwang seine<br />

Ausstellung mit Bildern von Oppi, Antonio Donghi und Felice Casorati<br />

sowie Vertretern der Pittura Metafisica wie Giorgio de Chirico,<br />

Carlo Carrà und Giorgio Morandi. Der Titel ist doppeldeutig. Unheimlich<br />

real sind die Bilder, die unter dem Eindruck der Entmenschlichung<br />

durch den Krieg das Fremde und Rätselhafte hinter<br />

den Dingen zeigen: den Schmerz, der an einer Straßenecke oder<br />

den Wänden eines Zimmers verborgen ist. Unheimlich real ist aber<br />

auch der Weg, den diese Künstler mit ihren Bildern beschreiten.<br />

Die ehemals surrealistische Bedrohlichkeit der leeren Räume wandelt<br />

sich zu schwermütiger Romantik. Was die Maler mit der Rückkehr<br />

zur Tradition, zum Klassischen, zur großen Vergangenheit erstrebten,<br />

war echte Italianitá. Und dieses nationalistische Pathos<br />

wurde von den faschistischen Politikern nur zu gern aufgegriffen.<br />

Essen, Museum Folkwang, www.museum-folkwang.de<br />

Deutschen Ensemble Akademie<br />

ENSEMBLE RESONANZ<br />

7.9. Rostock, Halle<br />

13., 14., 23., 25.9. Hamburg,<br />

resonanzraum St. Pauli<br />

16.9. Bonn, World Conference Center<br />

26.9., 11., 12., 13., 14.10. Hamburg,<br />

Elbphilharmonie<br />

30.9. Hannover, NDR Landesfunkhaus<br />

16.10. Stuttgart, Kultur- und<br />

Kongresszentrum<br />

FRANCO FAGIOLI<br />

MUSEUM FOLKWANG / CARLO BARONI<br />

30.9., 3., 6., 9.10. Hamburg, Staatsoper<br />

FAURÉ QUARTETT<br />

<strong>18</strong>.9. Mannheim, Reiss-Engelhorn-<br />

Museum<br />

20.9. München, Hochschule für Musik<br />

21.9. Hannover, Niedersächsisches<br />

Landesmuseum<br />

22.9. Tettnang, Neues Schloss<br />

GAECHINGER CANTOREY<br />

9.9. Stuttgart, Kultur- und Kongresszentrum<br />

Liederhalle<br />

29.9. Naumburg a.d. Saale,<br />

Stadtkirche St. Wenzel<br />

5.10. Bad Urach, Amanduskirche<br />

ISABEL GEHWEILER<br />

20.9. Winterthur (CH), Insurance Circle<br />

21.9. Zürich (CH), Hombis Salon<br />

GOLDMUND QUARTETT<br />

6.10. Wolfratshausen, Loisachhalle<br />

12.10. Höchstädt, Schloss<br />

14.10. Landsberg am Lech,<br />

Agrarbildungszentrum<br />

MARTIN GRUBINGER<br />

29.9. Ludwigshafen,<br />

BASF-Feierabendhaus<br />

30.9. Reutlingen, Stadthalle<br />

12.10. Berlin, Komische Oper<br />

16.10. Wolfsburg, Scharoun Theater<br />

DANIEL HOPE<br />

6.10. Berlin, Konzerthaus<br />

8.10. Berlin, Philharmonie<br />

JONAS KAUFMANN<br />

22.9. Bad Wörishofen, Kurhaus<br />

24.9. Wien (AT), Konzerthaus<br />

26.9. Linz (AT), Brucknerhaus<br />

1.10. Wiesbaden, Kurhaus<br />

BOMSORI KIM<br />

23.10. Berlin, Konzerthaus<br />

EVGENY KISSIN<br />

10.9. Bremen, Die Glocke<br />

ALEXANDER KRICHEL<br />

23., 24., 25., 26.9. Bremen, Die Glocke<br />

28.9. Dresden, Frauenkirche<br />

ASTRID & SONJA LEUTWYLER<br />

21., 22., 23.9. Küsnacht (CH), Seehof<br />

SABINE MEYER<br />

7., 8.10. Hohenems (AT),<br />

Markus-Sittikus-Saal<br />

ANNE-SOPHIE MUTTER<br />

20.9. Berlin, Philharmonie<br />

23.9. Landsberg am Lech, Erzabtei<br />

Sankt Ottilien<br />

VÍKINGUR ÓLAFSSON<br />

7.9. Berlin, Kulturkaufhaus Dussmann<br />

10.10. Düsseldorf, Tonhalle<br />

<strong>18</strong>.10. Hamburg, Laeiszhalle<br />

bündeln sich nun alle diese Schritte. Debussy hinterließ seine Oper La<br />

chute de la maison Usher nach Edgar Allan Poe unvollendet. Van Parys<br />

schreibt sich in das Material ein, um aus dem Fragment ein Musiktheaterstück<br />

um Roderick Ushers Wahnsinn zu entwickeln. Philippe Quesne<br />

setzt es mit David Oštrek als Roderick Usher und Marit Strindlund am<br />

Pult in Szene.<br />

Berlin, Staatsoper Unter den Linden, 12. (Premiere), 14., 16., 19., 21., 24., 26.<br />

und 31.10., www.staatsoper-berlin.de<br />

16. <strong>September</strong><br />

ROSTOCK MARCUS BOSCH<br />

MENAHEM PRESSLER<br />

20., 21.9. Magdeburg, Theater<br />

26.9. Berlin, Pierre Boulez Saal<br />

RUNDFUNKCHOR BERLIN<br />

15.9. Berlin, St.-Matthäus-Kirche<br />

16.9. Berlin, Philharmonie<br />

6.10. Berlin, Konzerthaus<br />

7.10. Potsdam, Nikolaisaal<br />

SCHUMANN TRIO<br />

9.9. Mainz, Landesmuseum<br />

15.9. Diez an der Lahn, Schloss<br />

19.10. Linz (AT), Brucknerhaus<br />

26.9. Bardowick, St. Nikolaihof<br />

7.10. Hohenems (AT),<br />

Markus-Sittikus-Saal<br />

9.10. Hamburg, Elbphilharmonie<br />

13.10. Kriens (CH), Hotel Pilatus-Kulm<br />

CHRISTOPH SIETZEN<br />

<strong>18</strong>.9. Berlin, Piano Salon Christophori<br />

22.9. Luxembourg (LU), Philharmonie<br />

24.9. Wien, (AT), Stephansdom<br />

25.9. Salzburg (AT), Mozarteum<br />

1.10. München, Milla Club<br />

10.10. Salzburg (AT), Festspielhaus<br />

MARTIN STADTFELD<br />

21.9. Oberursel, Stadthalle<br />

27.9. Halle, Franckesche Stiftungen<br />

14.10. Tutzing, Schloss<br />

CAMILLE THOMAS<br />

16., 17., 19.9. Rostock, Volkstheater<br />

29.9. Kronberg, Kronberg Academy<br />

DÉNES VÁRJON<br />

9.9. Bonn, World Conference Center<br />

16.9. Bonn, Rotunde<br />

28.9. München, August Everding Saal<br />

KLAUS FLORIAN VOGT<br />

23., 27., 30.9. München, Nationaltheater<br />

2., 13.10. Hamburg, Staatsoper<br />

12.10. Berlin, Deutsche Oper<br />

ARCADI VOLODOS<br />

1.10. Bernkastel-Kues, Kloster<br />

3.10. Bienne (CH), Logensaal<br />

5.10. Ascona (CH), Chiesa del Collegio<br />

Papio<br />

Mit Sergej Prokofjews Sinfonischem Konzert für<br />

Violoncello und Orchester op. 125 aus dem Jahr<br />

1952 gibt Marcus Bosch sein Debüt als Conductor<br />

in Residence bei der Norddeutschen Philharmonie<br />

Rostock. Solistin ist Camille Thomas<br />

(Foto). Sie hegt eine besondere Leidenschaft für<br />

die russische Musik, wie sie mit ihrem ersten Album<br />

„A Century of Russian Colours“ bekannte. Fünf philharmonische<br />

Konzerte dirigiert Bosch in der Spielzeit 20<strong>18</strong>/19, und in allen widmet er<br />

sich Prokofjew. Der Zweiten Sinfonie, die Prokofjew 1924 unter dem<br />

Schock der für immer verloren geglaubten Heimat schrieb, gehören seine<br />

Auftritte im <strong>Oktober</strong>.<br />

Rostock, Volkstheater, www.volkstheater-rostock.de<br />

52 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


FOTOS: OFS-CREUTZIGER; MERSEBURGER ORGELTAGE; MARIE-LAURE BRIANE; STEVEN HABERLAND; JAVIER DEL REAL; HANS ENGELS; PR; DARIO ACOSTA / DG; TRUI HANOULLE; DON CARABAS / DG; HILLE PERL; KATRIN SCHILLING; PETERADAMIK<br />

21. <strong>September</strong> bis 7. <strong>Oktober</strong><br />

HEIDELBERG U. A. MODERN TIMES<br />

„Die Zeit will uns nicht mehr! Diese Zeit will sich<br />

erst selbstständige Nationalstaaten schaffen!“<br />

Der polnische Graf Chojnicki in Joseph Roths<br />

Roman Radetzkymarsch benennt die Katastrophe,<br />

die dem Zusammenbruch der Donaumonarchie<br />

folgt. Unter der Überschrift „19<strong>18</strong>“ fängt das Festival<br />

der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz<br />

die Stimmung um den Untergang jenes Vielvölkerreichs ein. Im<br />

Eröffnungskonzert unter Benjamin Reiners wandelt sich Johann Strauß’<br />

Kaiserwalzer zum Totentanz und erinnert an Rudi Stephan. <strong>18</strong>87 in Worms<br />

geboren, war er die große musikalische Hoffnung, ehe er 28-jährig im<br />

Ersten Weltkrieg fiel. Seine Musik für Orchester in einem Satz lässt in bedrohlichen<br />

Untertönen die Tragödie ahnen.<br />

Heidelberg, Ludwigshafen, Mannheim, verschiedene Spielorte,<br />

www.staatsphilharmonie.de<br />

13. <strong>September</strong>, Kinostart<br />

„Mackie Messer – Brechts<br />

Dreigroschenfilm“<br />

Szene aus „Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“<br />

„Denken Sie sich einmal aus, dass diese Reminiszenzen eines alten<br />

Zuhälters in Ihren schönen Theatern frivol und nackt aus dem<br />

Schallplattentrichter quellen sollen“, wetterte am 20. August 1930<br />

auf der Hamburger Generalversammlung des Reichsverbandes der<br />

Deutschen Filmtheaterbesitzer der Vorsitzende gegen eine Verfilmung<br />

der Dreigroschenoper. Am 21. Mai hatte der Verlag Felix Bloch<br />

Erben im Einvernehmen mit Bertolt Brecht und Kurt Weill mit der<br />

Nero-Film AG den Vertrag über die Verfilmung abgeschlossen.<br />

Brecht begann im Sommer mit der Arbeit. Er wollte die gesellschaftskritische<br />

Stoßrichtung verstärken und eine neue Art von Film<br />

verwirklichen. Das war nicht im Sinne der Filmfirma. Sie ließ ihr eigenes<br />

Drehbuch erstellen und produzierte den Film nach ihren Vorstellungen.<br />

Dagegen erhoben Brecht und Weill am 30. <strong>September</strong><br />

Klage vor dem Landgericht I Berlin. Joachim Lang greift Brechts Exposé<br />

sowie seine Schriften zum Prozess auf. In seinem Film verwebt<br />

er Fiktion und Realität. Der Filmtext für Brecht, den Lars Eidinger<br />

verkörpert, beruht auf Zitaten aus Brechts Werk und Leben. Zu den<br />

weiteren Mitwirkenden zählen Hannah Herzsprung, Tobias Moretti<br />

und Joachim Król. Für die Choreografie zeichnet Eric Gauthier verantwortlich.<br />

Er kreiert die großen Szenen und bringt auch seine<br />

Company in die Schauspieler-Crew ein.<br />

Kinostart 13. <strong>September</strong>, www.zeitsprung.de<br />

FOTO: STEPHAN PICK / WILD BUNCH GERMANY<br />

KONZERT-HIGHLIGHT HERBST 20<strong>18</strong><br />

zum 100. Geburtstag von<br />

LEONARD BERNSTEIN<br />

Über 200 Mitwirkende<br />

RICCARDO MINASI Dirigent<br />

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Liebe <strong>CRESCENDO</strong>-Leser-/innen, wir schenken Ihnen<br />

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telefonisch +43 662 873154 oder per Email tickets@mozarteum.at<br />

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13. November 20<strong>18</strong> · Großes Festspielhaus · 19.30 Uhr · mozorch.at<br />

Riccardo Minasi Chefdirigent<br />

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Samstag, 20. <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>, 20.00 Uhr<br />

München, Herkulessaal der Residenz<br />

9. Orff-Tage der Bayerischen Philharmonie<br />

KLAZZ BROTHERS<br />

Solisten, Chöre, Ensembles und Kammerorchester<br />

der Bayerischen Philharmonie<br />

Mark Mast Dirigent und Gesamtleitung<br />

www.bayerische-philharmonie.de<br />

Karten: 59 / 49 / 39 / 32 / 24 €, ermäßigt 50 %<br />

Telefon +49 89 120 220 320 | info@bayerische-philharmonie.de | www.muenchenticket.de<br />

20. Weidener Max-Reger-Tage<br />

14. <strong>September</strong> bis 7. <strong>Oktober</strong><br />

zum Motto: „Schlüsselwerke“<br />

u. a. mit Tianwa Yang, Boulanger Trio,<br />

Kuss Quartett und Bernhard Haas<br />

www.maxregertage.de<br />

Telefon 0961 81-4122<br />

53


E R L E B E N<br />

Sergey Dogadin<br />

LIEBESERKLÄRUNG<br />

AN DIE GEIGE<br />

Im <strong>Oktober</strong> verwandelt der 10. Internationale Joseph Joachim Violinwettbewerb Hannover<br />

die Stadt 16 prall gefüllte Tage lang in ein Mekka für talentierte Virtuosen mit Persönlichkeit.<br />

VON DOROTHEA WALCHSHÄUSL<br />

Für Liebhaber exquisiter Geigenkunst lohnt sich im <strong>Oktober</strong> ein<br />

Ausflug nach Hannover. 16 Tage lang dreht sich beim 10. Internationalen<br />

Joseph Joachim Violinwettbewerb Hannover alles um das<br />

formvollendete Instrument mit dem warm singenden Ton. In verschiedenen<br />

Wettbewerbsrunden werden herausragende Geigerinnen<br />

und Geiger aus aller Welt ein vielseitiges Repertoire präsentieren.<br />

Der Gewinner erhält neben dem Preisgeld von 50.000 Euro für<br />

drei Jahre eine Guadagnini-Geige als Leihgabe der Fritz Behrens<br />

Stiftung, verschiedene Debütkonzerte und eine Album-Einspielung,<br />

die weltweit vertrieben wird – ein beachtliches Paket zum<br />

Start einer internationalen Karriere, wie sie unter anderem die<br />

Preisträger Nemanja Radulović, Robert Chen oder Antje Weithaas<br />

erreichen konnten.<br />

Der Joseph Joachim Violinwettbewerb findet seit 1991 alle<br />

drei Jahre unter der künstlerischen Leitung von Prof. Krzysztof<br />

Wegrzyn in Hannover statt und zählt zu den wichtigsten und<br />

höchst dotierten Wettbewerben für Violine<br />

weltweit. Veranstaltet von der Stiftung<br />

Niedersachsen, ist er den vielen Facetten<br />

der Kunst des Geigenspiels und dem mannigfaltigen<br />

Repertoire gewidmet, das für<br />

INTERNATIONALER<br />

JOSEPH JOACHIM VIOLINWETTBEWERB<br />

11. bis 27. <strong>Oktober</strong> in Hannover<br />

Informationen und Kartenservice:<br />

www.jjv-hannover.de<br />

dieses Instrument bis heute komponiert wurde. Dabei stehen<br />

sowohl solistische als auch kammermusikalische und sinfonische<br />

Werke auf dem Programm. Entsprechend vielseitig sind die Teilnehmer<br />

gefordert. Erstmals seit Bestehen des Wettbewerbs werden<br />

sich die besten sechs Teilnehmer 20<strong>18</strong> in zwei Finalrunden beweisen<br />

– zum einen als Primaria oder Primarius in einem Streichquintett<br />

von Mozart oder Beethoven an der Seite des renommierten<br />

Kuss Quartetts, zum anderen mit einem frei gewählten Konzert<br />

für Violine und Sinfonieorchester, begleitet durch die NDR<br />

Radiophilharmonie unter Leitung von Andrew Manze.<br />

Die Vorauswahl durch die Jury wurde bereits getroffen. Insgesamt<br />

39 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Alter zwischen 16<br />

und 27 Jahren aus 16 Nationen sind eingeladen, im <strong>Oktober</strong> in<br />

Hannover ihr Bestes zu geben. Auch was ihre Betreuung vor Ort<br />

anbelangt, hat der hochkarätige Wettbewerb in vielerlei Hinsicht<br />

Maßstäbe gesetzt und spannende und innovative Konzepte etabliert.<br />

So haben die Teilnehmer etwa die<br />

Möglichkeit, vor der ersten Bewertung<br />

bereits zweimal vor Publikum zu spielen,<br />

um sich an die Atmosphäre zu gewöhnen.<br />

Zudem werden sie in Gastfamilien unter­<br />

54 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


19075874362<br />

19075874362 19075874362<br />

#9<br />

9<br />

Die Trophäen<br />

#<br />

13<br />

FOTOS: OLE SPATA (3)<br />

Die Jury<br />

BEETHOVEN &<br />

SCHOSTAKOWITSCH<br />

DER ZYKLUS SÄMTLICHER SINFONIEN<br />

MIT DER DRESDNER PHILHARMONIE UND<br />

MICHAEL SANDERLING<br />

gebracht, damit sie sich zwischen den anspruchsvollen Wettbewerbsrunden bestmöglich<br />

erholen können.<br />

Der Namensgeber des Wettbewerbs Joseph Joachim war eine der wichtigsten<br />

Künstlerpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Joachim, der als Konzertmeister in<br />

Hannover wirkte und von dort aus seine internationale Karriere startete, war ein<br />

ebenso brillanter Virtuose wie begnadeter Musikant. <strong>18</strong>31 in Kittsee bei Pressburg<br />

geboren, machte der begabte Geiger bald von sich reden. So brachte der erst Zwölfjährige<br />

<strong>18</strong>44 unter der Leitung von Mendelssohn in London das lange in Vergessenheit<br />

geratene Violinkonzert von Ludwig van Beethoven zur Aufführung – ein großer<br />

Erfolg, an den viele weitere anknüpften. Nicht ohne Grund standen Komponisten<br />

wie Schumann, Dvořák oder Brahms in engem Austausch mit Joachim und widmeten<br />

ihm ihre Violinkonzerte. Gleichwohl Joachim über eine beeindruckende Technik<br />

verfügte, prägte er ein neues künstlerisches Ideal. So schrieb der Musikforscher<br />

Wilhelm Joseph von Wasielewski: „Joachim will nicht Virtuose im herkömmlichen<br />

Sinne, er will Musiker vor allen Dingen sein.“<br />

Dieses Verständnis prägt auch den Wettbewerb, der Musikerpersönlichkeiten<br />

sucht, deren Ausdruckskraft und Interpretationsgabe weit über rein technisches<br />

Können hinausreicht. Großes Talent, packende Virtuosität und eine überzeugende<br />

Persönlichkeit – das sind die Hauptzutaten, die es braucht, um im<br />

Joseph Joachim Violinwettbewerb Erfolg zu haben, ergänzt durch starke Nerven<br />

und die nötige Portion Selbstvertrauen, um über fünf Runden hinweg eine konstante<br />

Leistung abrufen zu können. Noch laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren,<br />

doch schon jetzt ist sicher: Auch 20<strong>18</strong> verspricht der Wettbewerb wieder das<br />

zu werden, was er bei den vergangenen neun Mal bereits unter Beweis stellte –<br />

eine Liebeserklärung an die Geige und eine große Chance für die talentiertesten<br />

Musiker unserer Generation.<br />

All jenen, die es im <strong>Oktober</strong> nicht nach Hannover schaffen, bleibt ein Trost:<br />

Der komplette Wettbewerb von den ersten Vorrunden bis zum krönenden Finale<br />

wird via Livestream im Internet übertragen.<br />

n<br />

55<br />

BEETHOVEN<br />

BEETHOVEN<br />

SYMPHONY SYMPHONY NO. 9NO. 9 NO. 9 9<br />

&& SHOSTAKOVICH<br />

& & SHOSTAKOVICH<br />

SYMPHONY SYMPHONY NO. 13<br />

13NO. 13<br />

DRESDNER<br />

DRESDNER<br />

PHILHARMONIE<br />

PHILHARMONIE<br />

MICHAEL<br />

MICHAEL<br />

SANDERLING<br />

SANDERLING<br />

Beethovens Neunte mit Schostakowitschs<br />

„Babi Jar“ zu konfrontieren, Menschenliebe<br />

und Massaker: Auf dieses Wagnis haben<br />

sich Chefdirigent Michael Sanderling und<br />

die Dresdner Philharmonie mit ihrer<br />

neuesten CD eingelassen.<br />

Diese ist bereits die fünfte Neuerscheinung<br />

der Gesamteinspielung aller Sinfonien<br />

beider Meister.<br />

ERSCHEINT AM<br />

21. SEPTEMBER 20<strong>18</strong><br />

#9<br />

13<br />

Beethoven:<br />

Sinfonie Nr. 9 d-Moll<br />

Schostakowitsch:<br />

Sinfonie Nr. 13 b-Moll<br />

„Babi Jar“<br />

Michael Sanderling | Dirigent<br />

Dresdner Philharmonie<br />

dresdnerphilharmonie.de


E R L E B E N<br />

Orchester Juri Gilbo mit Mischa Maisky<br />

SAHNEKLANG<br />

Neben breitem Repertoire, namhaften Solisten und hoher Präsenz hat die<br />

Russische Kammerphilharmonie St. Petersburg seit fast drei Jahrzehnten vor allem eins:<br />

den ganz besonderen Streicherklang ihrer Heimat.<br />

VON UTE ELENA HAMM<br />

Wer den Namen „Russische Kammerphilharmonie St. Petersburg“<br />

wörtlich nimmt, wird gleich mehrfach überrascht. Überraschung<br />

Nummer eins: Meist sind zwar nur 40 Musiker auf der Bühne, das<br />

hindert die Kammerphilharmonie aber nicht daran, ganz groß aufzuspielen.<br />

Es gibt keine Epoche, keine Gattung, die nicht im Repertoire<br />

zu finden ist. Auch Uraufführungen gehören dazu, wie zum<br />

Beispiel die des Trompetenkonzerts von Enjott Schneider im <strong>Oktober</strong><br />

20<strong>18</strong>.<br />

Konzertiert wird dicht getaktet in den kleinen und auch den<br />

ganz großen Konzertsälen Deutschlands. Darüber hinaus wird<br />

kaum ein Festival ausgelassen. Auch europa- und weltweit ist das<br />

Orchester präsent, meist mit namhaften Solisten im Schlepptau.<br />

Innerhalb von 28 Jahren hat sich die Russische Kammerphilharmonie<br />

ein Renommee erspielt, auf das sie zu Recht stolz ist. Und<br />

die gerade begonnene Saison steht den vorangegangen in nichts<br />

nach: Schon der Sommer war gut gefüllt mit Konzerten, gleich zu<br />

Beginn stand der Auftritt beim Rheingau<br />

Musik Festival zusammen mit Nils Landgren.<br />

Unter den weiteren Solisten für diese<br />

Spielzeit finden sich etwa Nigel Kennedy,<br />

Mischa Maisky, Gabor Boldoczki, Francesco<br />

RUSSISCHE KAMMERPHILHARMONIE<br />

ST. PETERSBURG<br />

Januar & Februar 2019<br />

Informationen und Kartenservice:<br />

www.chamberphilharmonic.com<br />

Tristano, Giora Feidman, Ute Lemper, Lilya Zilberstein, Sergei<br />

Nakariakov und Nikolai Tokarev – und mit Matthias Schlubeck<br />

wird sogar ein Panflötist dabei sein.<br />

„Bald auch in Ihrer Nähe“ – betrachtet man den Konzertkalender<br />

der Russischen Kammerphilharmonie, stehen die Chancen gut,<br />

dass dieses fast schon geflügelte Versprechen eingelöst wird: Denn<br />

so deutschland- und österreichweit präsent ist kaum ein anderes<br />

Orchester. Neben Auftritten in der Elbphilharmonie, dem Gewandhaus<br />

Leipzig und anderen großen Sälen ist die Russische Kammerphilharmonie<br />

Teil vieler regionaler Kulturprogramme. Das gilt auch<br />

für die große Tournee des Orchesters im Januar und Februar 2019<br />

zusammen mit dem russischen Geiger Dmitri Berlinsky. Rund 20<br />

Konzerte wird es in Deutschland und in Österreich geben mit Werken<br />

von Niccolò Paganini – ein Programm wie gemacht für den<br />

Violinvirtuosen, der seine internationale Karriere als jüngster Preisträger<br />

des Paganini-Wettbewerbs in Genua begann.<br />

Gegründet wurde die Russische Kammerphilharmonie<br />

1990 von Absolventen<br />

des St. Petersburger Staatskonservatoriums,<br />

und auch Dmitri Berlinsky stammt<br />

ursprünglich aus dieser Stadt, heute lebt<br />

56 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


NEUERSCHEINUNG<br />

Weltpremiere Aufnahme von Mark Anthony<br />

Turnages Shadow Walker mit Vadim Repin &<br />

Daniel Hope, Borusan Istanbul Philharmonic<br />

Orchestra, Dirigent Sascha Goetzel<br />

FOTOS: ROZA ZAH; ELENA MARTYNYUK<br />

Dmitri Berlinsky<br />

und lehrt er in den USA. Und das ist die zweite Überraschung:<br />

Denn die Russische Kammerphilharmonie St. Petersburg hat ihren<br />

Sitz seit Anfang des Jahrtausends in Frankfurt am Main. Sie versteht<br />

sich als kultureller Botschafter ihres Heimatlands.<br />

Mit ihren exzellenten Musikern bezeugt sie nicht nur das hohe<br />

Niveau der russischen Musikausbildung, sondern möchte das, was<br />

die meisten Musiker des Orchesters seit der Kindheit an prägte,<br />

auch außerhalb Russlands präsent halten: die russische Musik –<br />

und den russischen Klang, den „Sahneklang“ der St. Petersburger<br />

Geigenschule. Die meisten Streicher der Russischen Kammerphilharmonie<br />

haben in St. Petersburg studiert, und zwei der Orchestermusiker<br />

entstammen sogar angesehenen St. Petersburger Konzertmeister-Dynastien.<br />

Der Russischen Kammerphilharmonie gelingt<br />

damit der Balanceakt zwischen Tradition und Innovation, denn sie<br />

scheut sich weder vor traditionellem Repertoire noch vor unkonventionellen<br />

Programmen.<br />

International ist aber nicht nur ihr Erfolg, sondern auch sie<br />

selbst: Die Musiker stammen aus Russland und all den anderen<br />

Ländern der ehemaligen Sowjetunion, vereinzelt aber auch aus<br />

Deutschland, England, Japan, Australien, Kolumbien und Israel.<br />

Ihren Ruf als internationales Spitzenorchester verdankt die Russische<br />

Kammerphilharmonie vor allem der Arbeit von Juri Gilbo. Er<br />

feiert in dieser Saison sein 20-jähriges Jubiläum als künstlerischer<br />

Leiter – und er schwärmt gerade von diesem besonderen Streicherklang.<br />

Romantische Musik könne er sich ohne diesen Klang gar<br />

nicht mehr vorstellen. Auch Juri Gilbo ist gebürtiger St. Petersburger<br />

und wurde stark von den Musiktraditionen seiner Heimat<br />

geprägt. Er ist übrigens von Haus aus Geiger und Bratschist, als<br />

Dirigent genießt er aber nicht nur den Lieblingsklang seines<br />

Orchesters, sondern ihm liegt zudem besonders die Freude am<br />

gemeinsamen Musizieren am Herzen. Und der Erfolg beweist, dass<br />

diese sich in den vielfältigen und überraschenden Programmen<br />

mühelos auch auf das Publikum überträgt.<br />

n<br />

57<br />

Live Aufnahme aus dem Musikverein, Wien<br />

Turnage Shadow Walker Concerto for<br />

Two Violins & Orchestra<br />

Berlioz Symphonie Fantastique<br />

ONYX4<strong>18</strong>8<br />

www.borusansanat.com<br />

www.onyxclassics.com<br />

www.facebook.com/onyxclassics<br />

www.prestoclassical.co.uk


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Abb.: Portmedia Verlag; Strezhnev Pavel / fotolia.com<br />

58 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


SCHWERPUNKT<br />

MUSIK & KUNST<br />

L’art pour l’art geht auch so: Wie sich Maler, Bildhauer und Komponisten seit jeher inspirieren (Seite 76)<br />

Wenn sich Philosophie, Musik und bildende Kunst umarmen, entsteht daraus: love in fragments (Seite 84)<br />

Künstler ohne Grenzen<br />

VON STEFAN SELL<br />

Paul Klee Pablo Picasso Francisco de Goya<br />

Frauenbilder<br />

1924 malte Paul Klee<br />

mit dem Bild „Besessenes<br />

Mädchen“<br />

ein verstörendes<br />

Frauenbild. 76 Jahre<br />

später entdeckte der<br />

Schweizer Komponist<br />

Thüring Bräm<br />

das Porträt in der Baseler Fondation<br />

Beyeler und komponierte dem Ensemble<br />

Sortisatio Ein musikalisches<br />

Skizzenblatt für Paul Klee.<br />

Sitzende Frauen waren bei<br />

Picasso ein häufiges Motiv.<br />

Der tschechische Multiinstrumentalist<br />

und Bandleader<br />

Alexej Fried schrieb<br />

nicht nur nach Picassos Vorlage<br />

ein Guernica-Quintett, aus<br />

der „Sitzenden Frau“ (1927)<br />

wurde 1969 The Nude – ein<br />

Stück für Trompete, Flöte und<br />

Big Band.<br />

Enrique Granados<br />

war nicht nur<br />

Komponist, sondern<br />

ebenso ein<br />

begnadeter Maler.<br />

Zudem besaß er einige Originale<br />

Goyas. Ob nackt oder angezogen,<br />

Goya verlieh der schönen Spanierin<br />

„Maja“ auf zwei Bildern Ewigkeit.<br />

Tonmaler Granados ließ sie in<br />

seinen Tonadillas (Theaterliedern)<br />

als „La maja de Goya“ klingen.<br />

Gitarrenbilder<br />

Der Baseler Komponist Christian<br />

Henking hat als Fotograf<br />

auch einen „Blick“ für den<br />

Klang. Sillis, ein Stück für Gitarre<br />

solo, schrieb er 1992 zu<br />

einem der bekanntesten Bilder<br />

Klees aus dem Jahre 1929:<br />

„Haupt- und Nebenwege“.<br />

Seither haben Klees glitzernder<br />

Nil und seine Sonne Ägyptens<br />

zu klingen begonnen.<br />

1969 wartete Paul McCartney<br />

im Krankenhaus auf die Geburt<br />

seiner Tochter Mary.<br />

Dort sah er ein Poster<br />

von Picassos „Der alte<br />

Gitarrenspieler“ an<br />

der Wand und versuchte<br />

herauszufinden,<br />

welchen Akkord<br />

der alte Mann greift.<br />

Wieder zu Hause,<br />

schrieb er einen<br />

Song, der für das Akkordspiel nur<br />

zwei Finger braucht.<br />

Im Prado hängt Goyas „Der<br />

Blinde mit der Gitarre“: Ein<br />

umherreisender, Gitarre<br />

spielender Geschichtenerzähler<br />

schart eine Traube<br />

von Zuhörern um sich.<br />

Goyas 80-teiliger Bilderzyklus<br />

„Los Caprichos“<br />

erfreut sich noch größerer<br />

Beliebtheit. Der italienische<br />

Komponist Mario Castelnuovo-Tedesco<br />

vertonte 24<br />

davon – für Gitarre.<br />

Vogelbilder<br />

Heute singen<br />

die Vögel auf<br />

Paul Klees Bild<br />

„Zwitscher-Maschine“<br />

im New<br />

Yorker MoMA. Dort inspirierte<br />

die Vogelmaschinerie den<br />

chinesischen Komponisten Tan<br />

Dun. Er destillierte aus seinem<br />

Museumsbesuch die kurze<br />

Sinfonie Death and Fire.<br />

Als Apollinaire erstmals Picassos<br />

Atelier aufsuchte, fand er eine<br />

Abwesenheitsnotiz vor: „Bin im<br />

Bistro“, unterzeichnet mit „Der<br />

Vogel von Bénin“. Virgil Thomson<br />

hatte diesen „Vogel“ persönlich<br />

kennengelernt. Mit dem Titel<br />

„Bugles and Birds“ schuf er 1940<br />

ein Porträt des Künstlers als<br />

Klavierstück.<br />

Oft finden sich in Vogeltiere<br />

verwandelte Wesen in Goyas<br />

Werk. Die Eule in „Der<br />

Schlaf der Vernunft gebiert<br />

Ungeheuer“ fliegt da an ganz<br />

prominenter Stelle, denn<br />

Goya selbst ist vermutlich<br />

der Sitzende auf diesem Teil<br />

seiner „Caprichos“. Hans<br />

Werner Henze widmet ihm den<br />

dritten Satz seiner Caprichos,<br />

einer Fantasie für Orchester.<br />

75


M U S I K & K U N S T<br />

MUSIK<br />

&<br />

KUNST<br />

76 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


Modernes Theater, altes Gewand:<br />

Markus Lüpertz’ Bühnenbild zu<br />

Robert Schumanns Szenen aus Goethes<br />

Faust an der Berliner Staatsoper<br />

FOTO: HERMANN UND CLÄRCHEN BAUS<br />

77


M U S I K & K U N S T<br />

MUSIK<br />

KÜSST<br />

BILDENDE<br />

KUNST<br />

Über die Jahrhunderte hinweg<br />

sind Musik und bildende Kunst<br />

beständig im Gespräch.<br />

Ab dem Fin de siècle verweben<br />

sie sich immer extremer.<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

Anfang März 1968 reist Marcel Duchamp nach Toronto<br />

zu John Cage. Auf der Bühne des Ryerson Theatres spielen<br />

die beiden Schach. Das Brett ist mit Kontaktmikrofonen<br />

ausgestattet. Sobald ein Spieler eine Figur bewegt,<br />

werden Klänge hörbar, die entsprechend der Bewegung auf dem<br />

Brett variieren, und auf Bildschirmen erscheinen oszilloskopische<br />

Bilder. „Reunion“ markiert den Extrempunkt einer Verschränkung<br />

von Musik und bildender Kunst, die um die Wende zum<br />

20. Jahrhundert an enormer Dynamik gewinnt und deren Wurzeln<br />

weit zurückreichen.<br />

Leonardo da Vinci wurde berühmt als Maler der „Mona<br />

Lisa“. Seine Zeitgenossen sahen ihn möglicherweise anders. Denn<br />

Leonardo soll auch „göttlich“ gesungen und sich dabei auf der Lira<br />

da Braccio begleitet haben. Als Naturforscher stellt er Überlegungen<br />

an zur Ausbreitung des Schalls und zur Funktionsweise des<br />

Gehörs. Seine Notizbücher enthalten Konstruktionszeichnungen<br />

von Musikmaschinen und Trommeln, die von Kutschenrädern<br />

angetrieben werden.<br />

Die Künstler der italienischen Renaissance genießen hohes<br />

Ansehen. Sie werden geachtet für ihr enzyklopädisches Wissen<br />

und ihre vielfältigen Begabungen. Giorgione, der den Freskenschmuck<br />

einiger Palastfassaden am Canal Grande in Venedig<br />

schafft, bevor die Pest ihn hinwegrafft, glänzt in Gesellschaft als<br />

Sänger und Lautenspieler. Auch der Maler Tintoretto spielt in seiner<br />

Jugend die Laute und widmet sich der Erfindung neuer Instrumente.<br />

Albrecht Dürer, der um jenes Ansehen ringt, das er in<br />

Italien bei seinen Kollegen bestaunt hat, stellt sich gern im Kreis<br />

von Musikern dar. Unverständliche Aufzeichnungen aus seinem<br />

Nachlass wurden als deutsche Orgeltabulatur entziffert.<br />

Doppel- und Mehrfachbegabungen sind keine Seltenheit.<br />

Zumeist bricht das Kunstwollen jedoch in einem Genre durch.<br />

Dominique Ingres, der mit seinen sinnlichen Aktdarstellungen<br />

Berühmtheit erlangt, lernt von seinem Vater zeichnen und geigen.<br />

Während seines Kunststudiums an der Akademie von Toulouse<br />

spielt er im Sinfonieorchester der Stadt. Auch Felix Mendelssohn<br />

und seine Schwester Fanny begleitet er auf der Geige. Mendelssohn<br />

selbst besitzt ein Talent fürs Schreiben, fürs Zeichnen und<br />

fürs Musizieren. Sein Leben bestimmt die Musik. Doch nach dem<br />

plötzlichen Tod der Schwester und kurz vor seinem eigenen sucht<br />

er Trost im Zeichnen und Aquarellieren.<br />

Eugène Delacroix, der große Meister der französischen<br />

Romantik, zeigt in seiner Jugend ebenfalls eine Vorliebe für die<br />

Musik. Er ist ein guter Geigenspieler, träumt sogar von einer<br />

Musikerlaufbahn und verkehrt in Paris in Musikerkreisen. Mit<br />

78 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


FOTO: EDDY MELTZER<br />

Die Visualisierung der Klänge: Die Oper Der Sieg über die Sonne als interdisziplinäre Kooperation zwischen dem Komponisten Michail W. Matjuschin<br />

und dem Maler Kasimir Malewitsch bei einer Aufführung im Rahmen der Art Basel 2015<br />

Chopin verbindet ihn eine enge<br />

Freundschaft. „Chopin hat mir Beethoven<br />

vorgespielt, göttlich schön“,<br />

schwärmt er und nennt ihn den echtesten<br />

Künstler, dem er je begegnet<br />

sei. Chopin dagegen ist für die anderen<br />

Künste nicht zu gewinnen. „Sein<br />

Geist kann sich nur in Musik ausdrücken“, erkennt George Sand.<br />

Aber auch Chopin erinnert sich an „köstliche Augenblicke“, die er<br />

mit Delacroix verbrachte.<br />

Die Romantik strebt nach Entgrenzung und der Herrschaft<br />

frei schöpferischer Fantasie. Aber es sind die Angehörigen der<br />

Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich jenem künstlerischen<br />

Zusammenwirken öffnen, das der Musikphilosoph Theodor<br />

W. Adorno als „Verfransung“ bezeichnet. Was sie eint, ist der<br />

Drang nach Aufbruch. Neues wollen sie schaffen, die akademische<br />

Zeichnung, den alten Ton und die abgenutzten Worte zerschlagen.<br />

In Russland wird der Maler, Grafiker und Komponist Michail<br />

Matjuschin zu einer zentralen Gestalt. Er arbeitet an einem „erweiterten<br />

Sehen“ und den Möglichkeiten der Visualisierung von Klängen.<br />

1913 komponiert er die erste futuristische Oper Sieg über<br />

die Sonne, die in der Ausstattung von Kasimir Malewitsch in St.<br />

DIE AVANTGARDE ÖFFNET SICH<br />

DEM KÜNSTLERISCHEN<br />

ZUSAMMENWIRKEN, SIE EINT DER<br />

DRANG NACH AUFBRUCH<br />

Petersburg uraufgeführt wird. „Die<br />

neuen Zeichen der Zukunft“ möchte<br />

Matjuschin schaffen.<br />

Das verbindet ihn mit Arnold<br />

Schönberg und der Wiener Avantgarde,<br />

die mit den Künstlern der<br />

Secession ebenfalls einen neuen Begriff<br />

von Kunst verwirklichen wollen. Im Januar 1911 besucht<br />

Wassily Kandinsky in München ein Konzert von Schönberg. Er ist<br />

so beeindruckt, dass er ihm spontan einen Brief schreibt: Schönberg<br />

habe in seinem Werk das verwirklicht, wonach er „so eine<br />

große Sehnsucht“ habe. Auch für Schönbergs Bilder begeistert er<br />

sich und lädt ihn zur Beteiligung an der Ausstellung des Blauen<br />

Reiters ein. So wichtig jedoch Schönberg das Malen zu Anfang war,<br />

nach seiner Selbstfindung als Komponist 1912 gibt er es fast gänzlich<br />

auf.<br />

In Paris wird Erik Satie, den Jean Cocteau liebevoll als „ein<br />

seltsames, wie vom Himmel gefallenes Etwas“ betrachtet, zur treibenden<br />

Kraft. Cocteau bringt ihn mit Pablo Picasso zusammen.<br />

Gemeinsam erarbeiten sie das Ballett Parade. Satie komponiert<br />

mit seiner Musik die Geräusche der Bewegungen auf einem Jahrmarkt.<br />

Und Picasso entwirft ein Bühnenbild, das „im Stück mit­<br />

79


M U S I K & K U N S T<br />

1<br />

2<br />

3 4<br />

5<br />

Kunst ist eben doch grenzenlos: Musiker und bildende Künstler haben sich immer inspiriert. Beeindruckende Beweise: 1) Felix Mendelssohn<br />

Bartholdy: Blick aus Reichels Garten auf das winterliche Leipzig 2) György Ligeti: Artikulation 3) Paul Klee: Das Vokaltuch der Kammersängerin<br />

Rosa Silber 4) Albrecht Dürer: Dudelsack-Spieler 5) Pablo Picasso: Vorhang für das Ballett „Parade“ von Erik Satie und Jean Cocteau<br />

spielt, anstatt nur zuzuschauen“. Das Ballett wird am <strong>18</strong>. Mai 1917<br />

von Sergei Diaghilevs Compagnie der Ballets Russes uraufgeführt.<br />

Für das Publikum ist es ein „kubistischer Schock“, für den Dichter<br />

Guillaume Apollinaire der neue Geist.<br />

Die Ideen, Experimente und Theorien der Avantgarde erweisen<br />

sich als unendlich fruchtbar. Sie öffnen Räume und Wege mit<br />

immer neuen Verzweigungen. Im<br />

Verlauf des 20. Jahrhunderts werden<br />

DIE FORMEL MUSIK ENTFALTET<br />

SICH IN DER ZEIT, DAS<br />

KUNSTWERK IM RAUM<br />

ERFÄHRT IM 20. JAHRHUNDERT<br />

EINE UMKEHRUNG<br />

die Verbindungen zunehmend enger,<br />

und man sucht die gegenseitige Inspiration.<br />

Als Paul Klee zum Blauen Reiter<br />

nach München kommt und sich<br />

mit Kandinsky anfreundet, besucht er<br />

als begeisterter Opernliebhaber auch<br />

die Oper. Sein Bild Das Vokaltuch<br />

der Kammersängerin Rosa Silber, das<br />

auf eine Sängerin oder auf Richard<br />

Strauss’ Rosenkavalier anspielt, inspiriert in den 1950er-Jahren<br />

Hans Werner Henze zu seinem gleichnamigen Ballett. Henze<br />

überträgt Klees zarte, spitzenähnliche Darstellung in Musik. Kandinsky<br />

wiederum verwandelt für eine szenische Aufführung von<br />

Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung in Dessau 1928 dessen<br />

musikalische Beschreibungen zurück in Bilder.<br />

Seine abstrakten Gemälde dienen auch als Anregung für<br />

Anestis Logothetis bei der Entwicklung seiner grafischen Notation.<br />

Logothetis entwirft im elektronischen Studio des WDR in<br />

Köln 1959 die Komposition „Struktur-Textur-Spiegel-Spiel“. Um<br />

die musikalischen Momente zu verdeutlichen, reicht ihm das<br />

Fünfliniensystem nicht aus, und er entwickelt eine „Klangcharakterschrift“.<br />

Damit finden grafische Elemente Eingang in die Partitur,<br />

die in der Folge selbst zum Kunstwerk wird. György Ligeti<br />

arbeitet mit dem Grafiker Rainer<br />

Wehinger, um für seine ebenfalls im<br />

Kölner Studio entstandene Tonband-<br />

Collage Artikulation eine Hörpartitur<br />

zu erstellen. Und Josef Anton Riedl<br />

schafft 1960 mit seinen „optischen<br />

Lautgedichten“ Musik zum Sehen.<br />

Musik entfaltet sich in der Zeit,<br />

das Kunstwerk im Raum. Diese einfache<br />

Formel erfährt im 20. Jahrhundert<br />

eine Umkehrung. Komponisten<br />

setzen sich intensiv mit dem Raum auseinander, seinem Klang<br />

und seiner Wirkung. Es öffnet sich der Weg zur Klangkunst, der<br />

Klanginstallation und der Klangskulptur. Robin Minard beginnt<br />

1994 seine Werkreihe Silent Music. Hunderte kleiner Lautsprecher<br />

wachsen mit ihren Kabeln wie Efeu an den Wänden empor. Aus<br />

den Lautsprechern tönen hohe, ruhige Klänge. Die Besucher sind<br />

eingeladen, in den Raum, der zum Hör-Raum wird, hineinzulauschen.<br />

<br />

■<br />

80 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


WOHER KOMMT<br />

EIGENTLICH …<br />

… der gelbe Klang ?<br />

VON STEFAN SELL<br />

Kandinskys Improvisation III<br />

(Konzert) wurde durch Musik von<br />

Schönberg inspiriert<br />

ABB.: WASSILY KANDINSKY / IMPRESSION III (CONCERT) / GOOGLE ART PROJECT<br />

Sind gregorianische Gesänge<br />

blau? Pulsiert Bach in Orangerot,<br />

wie Hélène Grimaud sagt? In<br />

Weimar war das Orchester <strong>18</strong>42<br />

unschlüssig darüber, was es mit der<br />

Anweisung seines Kapellmeisters Liszt<br />

anfangen sollte: „Meine Herren, ich<br />

bitte Sie, ein wenig mehr Blau! Das verlangt<br />

diese Tonart!“ Improvisierte Chopin<br />

am Klavier, glaubte George Sand,<br />

„la note bleue“ zu hören. Und bei Brentano heißt es: „Golden weh’n<br />

die Töne nieder.“ Können Töne farbig sein?<br />

Inder, Araber und Chinesen konnten sich das ebenso vorstellen<br />

wie Pythagoras, der in Farben und Musik schlicht Verwandte sah.<br />

Leonardo da Vinci, der selbst Musik machte, wusste: Die Musik ist<br />

die „Schwester der Malerei“. Im 17. Jahrhundert ließ Isaac Newton<br />

das Licht sich in einem Glasprisma, vielleicht auch in einem Regentropfen,<br />

brechen und erkannte in den dort sichtbar werdenden sieben<br />

Farben (Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo und Violett) die<br />

Parallelität zu den sieben hörbaren Tönen C, D, E, F, G, A, H und<br />

entdeckte einen klingenden Regenbogen.<br />

Wenn man die Geschichte des Farbenhörens durchstreift,<br />

begegnen einem überall Tonseher und Farbhörer. Farbenhören<br />

ist eine synästhetische Wahrnehmung, ein „Mitempfinden“, ein<br />

„Zusammenwahrnehmen“. Es wird geschätzt, dass 25 Prozent aller<br />

Menschen diese Fähigkeit besitzen. Die meisten verbinden Klänge<br />

mit Farbvorstellungen. György Ligeti war überzeugt: „Dur-Akkorde<br />

sind rot oder pink, Moll-Akkorde irgendwo zwischen grün und<br />

braun“. Rimsky-Korsakow erschien C-Dur weiß. Und Duke Ellington<br />

machte die Erfahrung: „Ich höre eine Note von einem in der<br />

Band, und sie hat eine Farbe. Dann höre ich die gleiche Note von<br />

jemand anderem gespielt, und sie hat eine andere Farbe. Wenn<br />

Harry Carney spielt, ist D dunkelblaues Sackleinen. Wenn Johnny<br />

Hodges spielt, wird es zu hellblauem Satin.“<br />

Der Mathematiker und Jesuitenpater Castel erfand eine<br />

„Augenorgel“, wie Telemann sie 1739 in einem kurzen Traktat<br />

beschrieb, „mit der Kunst, Klänge und alle Arten von Musik zu<br />

malen“. Telemann hatte Castel in Paris kennengelernt und das Wunderinstrument<br />

in Augenschein genommen. Castel ordnete zwölf<br />

Tönen zwölf Farben zu. Spielte man auf der Klaviatur, zeigte jede<br />

Taste auf einem Fächer oder auf bemaltem Glas eine andere Farbe.<br />

Aus dem Farbenspiel erklang „Musik für die Augen“, wie Voltaire<br />

es nannte. Später entwickelte sich diese Idee zu einem frühen Vorläufer<br />

der Lightshow: „Es stellen sich<br />

die Farben an der Wand dar und vermischen<br />

sich, wenn viele Töne zusammen<br />

gegriffen werden, auf unzählige Arten.“<br />

Der russische Tonmaler Skrjabin<br />

sah C-Dur „natürlich als rot, ganz klar,<br />

keine Frage“. Für ihn war Musik mehrdimensional,<br />

äußerte sich auf allen Ebenen<br />

der Wahrnehmung. Er entwickelte aus<br />

der Idee Castels ein eigenes Farbklavier,<br />

für das er das Orchesterwerk Prométhée schrieb. In einer Kammerfassung<br />

in seinem Moskauer Wohnzimmer sorgte das Werk 1911<br />

zwar für Aufsehen, blieb aber ohne seine Lichtstimme. Erst 1915<br />

kam das Werk in der Carnegie Hall inklusive Licht zur Aufführung.<br />

Damit aber der Klang gelb wurde, musste ein „Maler des<br />

Klangs“ die Bühne betreten: „Gelb klingt wie eine immer lauter<br />

geblasene Trompete (scharf) oder wie ein in die Höhe gebrachter<br />

Fanfarenton“, definierte Kandinsky und hatte für jede Farbe eine<br />

solche Definition zur Hand. Am 1. Januar 1911 besuchte er erstmals<br />

ein Konzert von Schönberg und malte daraufhin seine Improvisation<br />

III (Konzert), in der das Gelb dominiert. Aus einem intensiven<br />

Briefwechsel mit Schönberg erwuchs eine enge Beziehung von<br />

Maler und Komponist, bei der die Rollen nie eindeutig scheinen.<br />

1912 komponierte Kandinsky eine „Bühnenkomposition“<br />

aus Farbe, Licht, Tanz und Ton, die er Der gelbe Klang nannte,<br />

und schrieb: „Der musikalische Teil wurde von Thomas von Hartmann<br />

übernommen.“ Der russische Freund und Komponist erinnert<br />

sich: „Die Musik dazu schrieb ich, aber nur entwurfsweise, da<br />

die letzte Form und die Orchestrierung von der Art des Theaters<br />

abhängen würde, das das Stück abnahm.“ Zu Lebzeiten kam es zu<br />

keiner Uraufführung. Später verliehen anstelle von Hartmann so<br />

illustre Personen wie Gunther Schuller, Anton Webern und Alfred<br />

Schnittke dem „Gelb“ seinen musikalischen Klang.<br />

Noch im Kompositionsjahr fanden sich alle im Almanach Der<br />

Blaue Reiter wieder: Der Cello und Klavier spielende Maler Kandinsky<br />

fungierte mit Franz Marc als Herausgeber. Der malende<br />

Komponist Arnold Schönberg veröffentlichte seine Komposition<br />

Herzgewächse, seine Malkunst und einen Textbeitrag, der Prometheus<br />

von Skrjabin war durch einen legendären Aufsatz des Musikkritikers<br />

und Komponisten Leonid Sabanejew vertreten, Thomas<br />

von Hartmann durch seinen Beitrag Über Anarchie in der Musik,<br />

und last but not least fand sich darin ein Abdruck von Kandinskys<br />

Der Gelbe Klang.<br />

■<br />

81


M U S I K & K U N S T<br />

Ein beredtes Überangebot an Bildern: Parsifal an der Hamburger Staatsoper in der Inszenierung von Achim Freyer<br />

FOTOS: STAATSOPER HAMBURG / HANS JOERG MICHEL<br />

KUNST FÜR DIE GROSSE BÜHNE<br />

Mittlerweile gehört es fast in die Vita eines bildenden Künstlers: Ob William Kentridge, Georg Baselitz, Ólafur Elíasson<br />

oder jüngst Neo Rauch – sie alle haben auch Kunst für die Opernbühne geschaffen.<br />

VON JASMIN GOLL<br />

Das Interesse der Opernhäuser an den Größen der Malerei,<br />

Architektur und Plastik ist groß. Schließlich lechzt<br />

man nach neuen Lesarten, nach Experimenten und<br />

ästhetischer Innovation auf der Bühne. Ganz neu ist das<br />

nicht. Friedrich Schinkel mit seinem berühmten Sternenhimmel<br />

für Die Zauberflöte, Giorgio De Chirico oder Pablo Picasso haben<br />

das bereits vor Jahrzehnten gewagt. In der zweiten Hälfte des letzten<br />

Jahrhunderts heuerte man dann verstärkt „theaterexterne“<br />

Künstler wie bildende Künstler oder Filmregisseure an. Auch sie<br />

sollen sich am Opernkanon abarbeiten und die Oper mit ihrer<br />

Bildwelt konfrontieren.<br />

Einen Maler statt eines Bühnenbildners für eine Opernproduktion<br />

zu engagieren, sei „eine andere Geschichte“, meint Markus<br />

Lüpertz. Der Maler ist vielfältig interessiert, schreibt Gedichte,<br />

hat eine Band und liebt die Oper. Seit den 1980er-Jahren entwirft<br />

er hin und wieder Bühnenbilder und Kostüme für Opernproduktionen<br />

– ab <strong>Oktober</strong> sind Arbeiten von ihm in einer Produktion von<br />

Vicente Martín y Solers Una cosa rara am Theater Regensburg zu<br />

sehen. Denn das, was auf der Bühne entsteht, sind für ihn Bilder,<br />

„Bilder, in denen plötzlich Menschen leben – der Traum eines<br />

jeden Künstlers“. Damit hat er sich nicht immer Freunde gemacht.<br />

Bei einer seiner ersten Arbeiten für die Oper – Jules Massenets<br />

Werther am Theater Ulm 1983 – fand die Premiere schlussendlich<br />

konzertant statt, nachdem sich die Sänger weigerten, im Bühnenbild<br />

und den Kostümen des Malers aufzutreten. Für ihn seien die<br />

Sänger damals nur „Farben, die singen“, gewesen. „Sicherlich ist das<br />

für Regisseure und Sänger manchmal nicht unproblematisch, weil<br />

sie plötzlich Bestandteil eines Kunstwerks werden und nicht ihre<br />

Individualität als Sänger behalten dürfen, sondern sich in gewisser<br />

Weise den Vorstellungen eines Künstlers anpassen müssen.“ Und<br />

diese Vorstellungen entspringen Lüpertz’ Fantasie, denn: „Ich will<br />

keine nachgebaute Realität. Ich will schon das Bewusstsein, dass es<br />

etwas Künstliches ist, etwas Gebautes, dass es Kulisse ist.“ Und so<br />

ist auf der Bühne eine Bildsprache zu sehen, die in bunten Farben<br />

und einfachen Formen überzeichnet, Kunsträume erschafft, ja niemals<br />

die Realität abzubilden versucht – gemäß Lüpertz’ Haltung:<br />

„Ich hasse die Wahrheit der Kunst. Weil sie langweilig ist. Die weiß<br />

ja jeder.“ Insgeheim träumt er von einer eigenen Regiearbeit: „Den<br />

Ring, Bayreuth, ich, Regie und Bühnenbild. Die Regie, das wäre<br />

ein großer Pinsel, mit dem man dann die Leute in sein Bild einfügt,<br />

damit sie sich dann auch nach meinen Bewegungsvorstellungen<br />

anordnen. Das wäre eine Vollendung.“<br />

Achim Freyer erfüllt sich den Traum dieses Jahr zum dritten<br />

Mal – nach Los Angeles und Mannheim schmiedet er den Ring<br />

82 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


Märchenhaft:<br />

W. A. Mozarts<br />

Die Zauberflöte in<br />

der Inszenierung<br />

von Achim Freyer<br />

an der Semperoper<br />

Dresden<br />

Robert Schumanns<br />

Szenen aus Goethes<br />

Faust an der<br />

Staatsoper Unter<br />

den Linden.<br />

Bühnenbild und<br />

Kostüm von Markus<br />

Lüpertz: Künstlichkeit<br />

ist Programm!<br />

FOTOS: MATTHIAS CREUTZIGER; HERMANN UND CLÄRCHEN BAUS<br />

des Nibelungen im November auch in Seoul. Freyer ist in der Oper<br />

„Gesamtkünstler“: Inszeniert, entwirft Bühnenbild, Kostüme und<br />

Lichtkonzept, doch bevor er für die Bühne arbeitete, war er Maler.<br />

Er lernte bei Bertolt Brecht, verließ das Metier der Malerei jedoch<br />

relativ früh und hat mit fast 45 Jahren Bühnenerfahrung zu einer<br />

Theatersprache gefunden, die absolut charakteristisch ist. Er geht<br />

vom Bild aus, verwendet Skizzen der Bühne<br />

wie ein Storyboard und schreibt seine<br />

Gedanken zur Szenerie dazu. Seine Sänger<br />

wandeln durch Fantasieräume, die mal<br />

schwarz-weiß, mal komplett mit Spiegeln,<br />

mal mit Neonleuchten ausgekleidet sind<br />

und jegliche Spielmöglichkeiten offen lassen,<br />

aber sie zugleich einschränken, weil da<br />

oft kein Halt scheint in der Weitläufigkeit, in<br />

der Abstraktion. Die Figuren sind der Realität<br />

entrückt. Manchmal meint man, sich im<br />

Zirkus wiederzufinden.<br />

Fantasievolle Gewänder, exzentrische<br />

Schminke, kryptische Gesten. Realistischpsychologisch<br />

durchdrungen ist dieses Spiel<br />

nicht. Vielmehr findet das Theater hier zu<br />

einem neuen Ausdruck, einer bildhaften<br />

Sprache. Das Bildangebot ist riesig, zugleich wird die Bühne zum<br />

Spiegel, in dem sich der Zuschauer auf sich selbst zurückgeworfen<br />

sieht und sich seine eigene Interpretation zusammenpuzzeln muss.<br />

AKTUELLE TERMINE<br />

Markus Lüpertz<br />

Bühnenbild & Kostüme<br />

„Una cosa rara“, Premiere<br />

27.10., Theater Regensburg<br />

Achim Freyer Inszenierung<br />

„Der Freischütz“, Wiederaufnahme<br />

28.09., Oper Stuttgart<br />

„Messa da Requiem“, Wiederaufnahme<br />

<strong>18</strong>.10., Deutsche Oper Berlin<br />

„Die Zauberflöte“, Wiederaufnahme<br />

20.10., Semperoper Dresden<br />

„Szenen aus Goethes Faust“, Premiere<br />

28.10., Staatsoper Hamburg<br />

Denn wenn Freyer etwas ablehnt, dann sind es eindeutige Setzungen<br />

oder gar aktuelle Bezüge. Dadurch haben seine Inszenierungen kein<br />

Verfallsdatum und laufen auch Jahrzehnte später noch (sein „Freischütz“<br />

von 1980 ist seit <strong>September</strong> wieder in Stuttgart zu sehen).<br />

Doch was bringt’s unterm Strich? Theater funktioniert anders<br />

als Malerei. Manchmal mangelt es an der Dynamik, die das Theater<br />

braucht. Die Regie „malt“ Standbilder. Die<br />

Musik macht das schon. Das Bühnenportal<br />

wird zum Bilderrahmen. Aber was für<br />

Bilder! Wenn in Anselm Kiefers zerfurchten<br />

Landschaften plötzlich Trümmerfrauen<br />

umherirren, dann wird die Aufführung<br />

eher zur ästhetischen Erfahrung anstatt<br />

zu einer Erzählung, der der Zuschauer folgen<br />

soll. Diese Kunst scheint sich außerhalb<br />

des Wettkampfes um die hellsichtigste und<br />

aktuellste Interpretation zu bewegen. Sie<br />

bleibt bei sich selbst. Hier sucht das Theater,<br />

mit künstlerischen Mitteln seinen Kunstcharakter<br />

zu perfektionieren, sich ästhetisch<br />

neu zu erfinden, uns ästhetisch neu zu überwältigen.<br />

Mit dem Effekt, dass man an den<br />

Bildern klebt und bemerkt, welche Augentiere<br />

wir Menschen doch sind. Wie sehr wir uns doch in Zeiten<br />

von Instagram und Pinterest dem Visuellen hingeben. Und in dem<br />

Moment glotzen wir nicht mehr nur, wir denken. <br />

■<br />

83


M U S I K & K U N S T<br />

LIEBES-<br />

FRAGMENTE<br />

„Liebeserklärung: Neigung des Liebenden, das geliebte<br />

Wesen mit verhaltener Erregung und ausgiebig über seine<br />

Liebe, es selbst, ihn selbst und sie beide ins Bild zu setzen.“<br />

(Roland Barthes)<br />

VON SINA KLEINEDLER<br />

Ein Plädoyer zweier Künstlerpaare für die romantische Vorstellung von Liebe: love in fragments. Hier beflügeln sich<br />

Musik, Bildhauerei, Tanz, Literatur und Theater, anstatt einander zu illustrieren<br />

Von A wie Abhängigkeit bis Z wie Zugrundegehen beleuchtet<br />

der Philosoph Roland Barthes in seinem 1977 erschienenen<br />

Werk Fragmente einer Sprache der Liebe lexikalisch<br />

Aspekte der vielleicht größten Macht der Welt. Das Buch<br />

wurde nun zum Ausgangspunkt eines ungewöhnlichen Projekts<br />

zweier Künstlerpaare: Cellist Alban Gerhardt und Violinistin Gergana<br />

Gergova, Bildhauer und Maler Alexander Polzin und Regisseurin<br />

und Choreografin Sommer Ulrickson entwickelten love in<br />

fragments, ein interdisziplinäres Bühnenstück über die Liebe.<br />

Die Kooperation entstand aus der Freundschaft der Paare.<br />

Gerhardt erinnert sich: „Ich lernte Alexander Polzin kennen und<br />

war sofort begeistert von seiner Kunst. Irgendwann waren wir dann<br />

zu einer Aufführung des Stückes Fear To Go seiner Partnerin Sommer<br />

Ulrickson eingeladen, und es war mit das Beste, was ich je an<br />

Theater gesehen habe. Da die beiden mich und meine Frau ebenfalls<br />

gehört hatten, beschlossen wir, zusammen etwas zu kreieren.“<br />

In Fear To Go thematisierte Ulrickson verschiedene Aspekte der<br />

Angst, für das gemeinsame Projekt musste ein neues Thema gefunden<br />

werden. Es wurde die Liebe: „Das bietet sich an bei zwei Paaren!“<br />

Alexander Polzin war es, der Roland Barthes’ Werk mit ins<br />

Spiel brachte: „Fragmente einer Sprache der Liebe befindet sich im<br />

Graubereich zwischen Literatur und Philosophie, es ist im Grunde<br />

ein Plädoyer für eine romantische Vorstellung von Liebe. Und was<br />

könnte besser geeignet sein, um diese romantischen Vorstellungen<br />

zu untersuchen, als unterschiedliche Kunstmedien wie Musik, Bildhauerei,<br />

Tanz, Literatur und Theater? Dass diese Künste sich auf<br />

Augenhöhe begegnen, nicht einander illustrierend, sondern beflügelnd,<br />

ist das große Abenteuer, auf das wir uns einlassen.“<br />

Im visuellen Fokus steht Polzins Bühnenskulptur a sight for sore<br />

eyes. Die 2,40 Meter große Skulptur zeigt zwei nackte, sich umar­<br />

84 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


mende Körper und stellte den Bildhauer vor besondere Schwierigkeiten:<br />

„Sie besteht aus transparentem Gießharz, aus dem man sonst<br />

Dinge macht, die maximal 30 bis 40 Zentimeter groß sind.“<br />

Für Polzin ist die Verschmelzung von bildender Kunst und<br />

Musik kein Neuland, er arbeitete bereits mit großen Komponisten<br />

wie György Kurtág und Helmut Lachenmann zusammen und entwarf<br />

Bühnenbilder, unter anderem für den Parsifal der Salzburger<br />

Osterfestspiele: „Meine autonome Arbeit als Bildhauer und Maler<br />

befindet sich in einem ständigen imaginären oder auch konkreten<br />

Austausch mit anderen Künsten, vor allen Dingen mit Musik. Seit<br />

ich denken kann, war Musik bei der Arbeit und im Atelier präsent.“<br />

Die musikalische Auswahl trafen Alban Gerhardt und Gergana<br />

Gergova. Jörg Widmanns Duos für Geige und Cello, Auszüge<br />

aus Bachs Solostücken für beide Instrumente, Transkriptionen seiner<br />

zweistimmigen Inventionen, aber auch von den Schauspielern<br />

FOTO: MATT JOLLY AT SNAPE MALTINGS<br />

gesungene Popsongs sind Teil des Programms. love in fragments<br />

bringt die Musiker in ungewohnte Spielsituationen. Haben Sie<br />

schon einmal eine im Liegen spielende Violinistin gesehen? Oder<br />

einen Cellisten, der mit einer Dame auf dem Schoß eine Bach-Suite<br />

interpretiert? Gergova und Gerhardt stehen, gehen, liegen und<br />

werden von den Choreografen bewegt, während sie nicht nur die<br />

Musik, sondern auch die Bühne (be-)spielen. Diesen Herausforderungen<br />

stellt sich Alban Gerhardt mit Humor: „Es ist auf jeden<br />

Fall nicht schlecht, auch mal im Liegen oder Stehen aufgetreten zu<br />

sein, da weiß man, dass nichts passieren kann,<br />

IN EINER<br />

AUFFÜHRUNG<br />

KOMMT IM BESTEN<br />

FALL NICHT NUR<br />

DAS HIRN,<br />

SONDERN AUCH<br />

DAS HERZ IN<br />

BEWEGUNG<br />

auch wenn mal ein Stachel wegrutscht oder<br />

ein Stuhl zusammenbricht. Aus seiner eigenen<br />

Komfortzone herauszugehen ist wichtig.“<br />

Im Mai trafen sich die Künstler zu einer<br />

ersten intensiven Probenphase in Snape Maltings,<br />

der alten Malzfabrik, die Benjamin Britten<br />

im englischen Städtchen Aldeburgh für<br />

sein Festival zum Konzertsaal umbauen ließ.<br />

„Es ist wie in einem Chemielabor“, setzt Polzin<br />

zu einem ungewöhnlichen Vergleich an:<br />

„Bis man anfängt zu proben, ist alles Theorie.<br />

Man hat auf einem großen Tisch Barthes’<br />

Text und viele Ergebnisse von Untersuchungen<br />

und Forschung zum Thema Liebe. Erst<br />

wenn das Experiment beginnt, schüttet man all diese unterschiedlichen<br />

Zutaten zusammen und schaut, welche Reaktionen passieren,<br />

welche neuen Stoffe entstehen.“ Für Polzin endet sein Anteil<br />

am Experiment nicht mit der „Ablieferung“ der Skulptur: „Es handelt<br />

sich bei der Bühnenskulptur nicht um eine normale Form des<br />

Bühnenbildes, sondern um eine Skulptur, die auch unabhängig ihre<br />

eigene Wertigkeit hat. So wie die Musikstücke, die auch autonom<br />

in einem Konzert vorgetragen werden können, kann meine Skulptur<br />

auch autonom ausgestellt werden, hat aber einen Mehrwert im<br />

Kontext der Aufführung. Ich habe verschiedene Möglichkeiten, mit<br />

ihr umzugehen, sie zu behandeln und einzubeziehen, in sie hineingedacht.<br />

Die lege ich aber nicht sofort offen. Ich bin selbst neugierig,<br />

was die Performer und Musiker auf der Bühne damit machen.“<br />

Dass die Skulptur mehr als ein Bühnenbild ist, spürt auch<br />

Alban Gerhardt deutlich: „Neben so einer Statue zu sitzen, ist sehr<br />

berührend. Sie ist wunderschön, auch ihre Haptik und die verschiedenen<br />

Beleuchtungen. In diesem Moment spielt man anders. Das ist<br />

die Idee des Ganzen: Dass die Kunstformen sich gegenseitig inspirieren<br />

und das Gesamtwerk vom Publikum so noch besser verstanden<br />

und aufgesogen werden kann. Man versteht die Musik teilweise besser,<br />

wenn man nicht nur die ganze Zeit Musik hört, und man versteht<br />

die teilweise philosophischen Texte deutlicher, wenn sich das Gehirn<br />

bei Musik entspannen kann oder neu herausgefordert wird.“<br />

Der nächste Schritt vor der offiziellen Uraufführung im März<br />

2019 in New York – und bevor das Stück hoffentlich auch bald in<br />

Deutschland zu erleben sein wird – ist eine zweite intensive Probenphase,<br />

in der die verschiedenen Fragmente in der Symbiose weiter<br />

fokussiert werden. Polzin hat das Wunschziel der Künstler klar<br />

vor Augen: „Künstlerische Medien können in der Lage sein, Denkprozesse<br />

anzuschieben, die sonst nicht ohne Weiteres stattfinden<br />

würden. Diese Prozesse sind bei einer künstlerischen Umsetzung<br />

untrennbar mit emotionalen Vorgängen verbunden. In einer Aufführung<br />

kommt im besten Fall nicht nur das Hirn in Bewegung,<br />

sondern auch das Herz. Das ist es, was wir uns wünschen.“ ■<br />

85


M E I N U N G<br />

Der Axel-Brüggemann-Kommentar<br />

NEIN ZUM ZICKENALARM!<br />

Selbstverliebte Superstars und prekäre Arbeitsverhältnisse an den Stadttheatern<br />

– es läuft etwas schief in der Welt der Klassik! Ein Kommentar zur Zweiklassengesellschaft –<br />

und einem falschen Grundgedanken.<br />

Irgendwas läuft falsch in dieser wunderschönen, aufgeregten und<br />

zum Teil sehr mit sich selbst beschäftigten Welt der klassischen<br />

Musik. Zum einen ganz oben, dort, wo atemberaubende Gagen<br />

gezahlt und Klassikkünstler als Götter verehrt werden, zum andern<br />

ganz unten, an den deutschen Stadttheatern, wo die Finanzlage prekär<br />

ist. Die Kluft zwischen Superstars, die zuweilen nicht mehr zu<br />

wissen scheinen, wer ihr Publikum ist und wer ihre Gagen bezahlt,<br />

und dem täglichen Überlebenskampf der Theater in den Städten<br />

ist kaum noch zu verstehen. Was beide Extreme eint, ist der schleichende<br />

Realitätsverlust, kein Verständnis dafür, dass einem Großteil<br />

der Menschen die Klassikbranche weitgehend egal ist und dass alte<br />

Privilegien endgültig auf den Prüfstand gehören.<br />

Noch vor wenigen Jahren<br />

haben es viele Klassikkünstler als<br />

Auftrag verstanden, genau jene<br />

Menschen als neues Publikum<br />

zu gewinnen, die noch nicht mit<br />

dem Klassikvirus infiziert waren.<br />

Wir sahen Musiker, die ihre Kunst<br />

erklärten, sie zu den Menschen<br />

brachten, wir erlebten, wie Stadttheater<br />

ihre Türen öffneten, sich<br />

der Debatte stellten und in sozialen Netzwerken aus ihrer eigenen<br />

Blase treten wollten. Inzwischen hat sich das verändert. Dabei hat<br />

sich das Grundproblem eher verschärft: Viele Menschen glauben,<br />

dass ein Leben ohne klassische Musik durchaus auch ein Leben<br />

sein kann. Das Feuilleton berichtet kaum noch über Premieren und<br />

Konzerte, stellt kaum noch Klassikkünstler vor. Und auch im Fernsehen<br />

wird hart um jede Klassiksendung gerungen. Jede Opernaufführung<br />

oder Musik-Doku muss sich vor dem Tatort, Polit-Reportagen<br />

oder Spielshows legitimieren.<br />

Mit der Klassik-Berichterstattung verhält es sich inzwischen<br />

so wie mit der in den sozialen Netzwerken: Sie hat sich in die Blase<br />

der Fachpresse verabschiedet und kreist dort hauptsächlich um<br />

sich selbst. Umso nötiger wäre es, dass Intendanten, Künstler und<br />

Journalisten wieder das hochhalten, worum es in der Musik geht:<br />

Menschlichkeit, Fairness und Respekt.<br />

Aber besonders die großen Klassikstars scheinen von ihrer allgemeinen<br />

Bedeutungslosigkeit nur wenig mitzubekommen. Wie<br />

DEN GRÖSSTEN TEIL DER<br />

WELTBEVÖL KERUNG<br />

INTERESSIEREN UNSERE KLASSIK-STARS<br />

EINFACH NICHT. DESHALB WÄRE MEHR<br />

DEMUT ANGEBRACHT<br />

auch? Sie werden für horrende Gagen durch die ganze Welt geflogen,<br />

übernachten in Luxushotels, davor stehen eine Handvoll Groupies,<br />

die sie bejubeln, und auch am Ende einer Vorstellung hören<br />

sie nichts als Applaus. Rote Teppiche, wohin sie gehen! Gleichzeitig<br />

merken sie, dass so ziemlich alle ihre Forderungen von Intendanten<br />

oder Konzertveranstaltern erfüllt werden: vietnamesische Kokosmilch<br />

in der Garderobe? Kein Problem! Nur Fünf-Sterne-Hotels<br />

ohne Teppichboden? Natürlich, Maestro! Keine Interviews mit der<br />

lokalen Presse? Klar, das wäre ja unter ihrer Würde! Die Unterwäsche<br />

soll vor der Vorstellung noch schnell gewaschen werden (gibt<br />

es wirklich!)? Sicher doch! Ja, es gibt sogar Künstler, die ernsthaft<br />

erwägen, nur noch am Nachmittag aufzutreten, weil sie nicht wissen,<br />

was sie bis zum Abend einer<br />

Aufführung tun sollen. Liebe Leute,<br />

bei aller Verehrung: Geht’s noch?<br />

Sicher, es wäre falsch, alle<br />

Klassikstars über einen Kamm zu<br />

scheren. Aber die wachsende Exaltiertheit<br />

bei gleichzeitigem Verschwinden<br />

der breiten Aufmerksamkeit<br />

ist schon frappierend. Zum<br />

Teil kommt einem diese Welt wie<br />

ein verzogenes Kind vor. Begründet wird alles damit, dass Künstler<br />

Hochleistungssportler seien, sich auf ihre Auftritte fokussieren<br />

müssen, dass ihnen nichts zugemutet werden könne, was den<br />

Abend gefährdet. Viele Veranstalter reagieren mit vorauseilendem<br />

Gehorsam, oft bis zur Selbstaufopferung, um alle noch so absurden<br />

Wünsche zu erfüllen. Die Solisten scheinen Götter zu sein, und deshalb<br />

wird jeder Auftritt zum Gottesdienst. Warum, verdammt, ist es<br />

aus der Mode gekommen, den modernen Diven und Divos einfach<br />

mal zu sagen: „Nein, dann eben nicht!“?<br />

Kaum ein Hochleistungssportler wird umgarnt wie unsere<br />

Klassikkünstler. Leichtathleten oder Kanuten bei Olympischen<br />

Spielen waschen ihre Klamotten sehr wohl selbst, wohnen im olympischen<br />

Dorf und wissen, dass sie Werbefiguren für ihren Sport sind.<br />

Okay, im Fußball mag das anders sein. Aber auch, wenn das Diventum<br />

hier ebenso nervt, ist es Fakt, dass die meisten Profi-Kicker das<br />

Geld, das sie verdienen, auch wieder einspielen. Allein die Trikots,<br />

die mit den Namen Neymar oder Ronaldo verkauft werden, zei­<br />

ZEICHNUNG: STEFAN STEITZ<br />

86 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


gen, dass diese Sportler weltweite Superstars sind. Ich habe noch<br />

nie einen Klassikfan mit einer Dirigenten-Devotionale oder einem<br />

Sopran-Sonnenhut gesehen. Die Wahrheit ist: Den größten Teil der<br />

Weltbevölkerung interessieren unsere Klassikstars einfach nicht.<br />

Deshalb wäre ein bisschen mehr Demut durchaus angebracht.<br />

Was vielen Klassikkünstlern nicht klar zu sein scheint, ist, dass<br />

auch ihre überdurchschnittlichen Gagen von 20.000 bis zu 40.000<br />

Euro pro Abend nicht vom Publikum refinanziert werden. Selbst<br />

bei teuren Eintrittskarten reichen die Einnahmen am Ende eines<br />

Abends eben nicht für Orchestermusiker, Dirigenten, mehrere<br />

Solisten, das Hauspersonal und die Technik.<br />

Es gibt kaum ein Orchesterkonzert –<br />

und erst recht keine Opernproduktion –,<br />

bei der die Superstar-Gagen refinanziert<br />

werden können. Die Elbphilharmonie<br />

braucht die Stadt Hamburg, die Salzburger<br />

Festspiele das Land Salzburg, die Berliner<br />

Philharmonie den Bund. Nicht einmal<br />

durch Beteiligung von Radio- oder TV-<br />

Übertragungen oder großzügigen Sponsoren<br />

lassen sich Klassikgalas refinanzieren.<br />

Am Ende sind es alles Steuerzahler,<br />

die diese Art der Kunst und ihren Starkult<br />

mitfinanzieren. Wohl gemerkt: Es geht<br />

nicht darum, dass unsere Künstler weniger<br />

verdienen sollen. Aber vielleicht wäre es<br />

hilfreich, wenn sie sich wenigstens darüber<br />

bewusst wären, woher ihre Gagen eigentlich<br />

kommen. Da wird man ja wohl erwarten<br />

dürfen, dass am Tag vor einem Konzert<br />

Interviews gegeben werden, dass Künstler<br />

sich gegenüber Mitarbeitern von Konzerthäusern<br />

und Veranstaltern weitgehend<br />

normal verhalten, dass sie verstehen, dass<br />

jedes Gewerk in einem Haus ebenfalls viel,<br />

hart und leidenschaftlich arbeitet. Dass<br />

die Welt nicht allein um sie kreist. Ja, dass<br />

einem Großteil der Welt ziemlich egal ist,<br />

was an einem Opernabend passiert.<br />

Trotzdem beharren viele Künstler<br />

auf ihren längst überkommenen Privilegien.<br />

Auch, weil kaum einer den Mut aufbringt,<br />

einfach mal Nein zu sagen. „Nein,<br />

dann suchen wir uns einen anderen Tenor“,<br />

„Nein, dann dirigiert ein Dirigent, der am<br />

Isabel Gehweiler (Violoncello)<br />

Aljaž Cvirn (Gitarre)<br />

Originalkomposition und Bearbeitungen<br />

Die ungewöhnliche Kombination von Violoncello<br />

und Gitarre sorgt für aparte Klänge und schafft<br />

eine zauberhafte Intimität. Das subtil aufeinander<br />

abgestimmten Zusammenspiel von Isabel Gehweiler<br />

(Violoncello) und Aljaž Cvirn (Gitarre) macht Werke<br />

von Vivaldi, Schubert, Granados und Gnattali zu<br />

einem überzeugend neuartigem Hörerlebnis.<br />

www.solo-musica.de<br />

Ende auch mit dem Publikum feiert“, „Nein, dann drehen wir die<br />

Doku lieber mit jemandem, der nicht so satt ist wie Sie, der noch<br />

Leidenschaft hat“. Weder Veranstalter noch Medien und erst recht<br />

nicht das Publikum müssen sich absurde Gagen-Forderungen,<br />

gigantischen Zickenalarm oder Arroganz gefallen lassen. Die Klassikbranche<br />

ist groß genug, um neue Künstler zu entdecken, statt für<br />

immer und ewig auf die satten Altstars zu setzen.<br />

Der Zustand an der Klassikspitze wird umso absurder, je mehr<br />

man in die Niederungen der deutschen Stadttheater blickt. Denn<br />

hier passiert genau das Gegenteil. An vielen Häusern herrscht finanzieller<br />

Notstand. Von der typisch deutschen Idee des Ensembletheaters<br />

ist schon lange nicht mehr viel übrig. Selbst ein Cavaradossi<br />

oder eine Traviata werden heute meist nicht mehr aus dem eigenen<br />

Ensemble besetzt, sondern mit Gästen.<br />

Und auch bei kleineren Rollen greifen manche Häuser inzwischen<br />

lieber auf Billiglöhner zurück als auf eigenes Personal. Sie<br />

engagieren Studenten – entweder aus dem eigenen Opernstudio<br />

oder von der Hochschule – für Dumping-Gagen und verprellen<br />

langjährige Mitarbeiter. Die Nachwuchskünstler werden mit dem<br />

Versprechen gelockt, dass sie durch ein Engagement Aufmerksamkeit<br />

bekommen oder dass genau dieser Auftritt ihr großes „Sprungbrett“<br />

sein könnte. Die Wahrheit ist, dass derartige Verpflichtungen<br />

einfach nur billig sind! Gleichzeitig torpedieren sie das, was das<br />

deutsche Stadttheater einst ausgemacht hat: Häuser, an denen Sänger<br />

langfristig gefördert wurden, an denen Stimmen sich ausprobieren<br />

konnten, an denen gemeinsam mit einem Generalmusikdirektor<br />

am richtigen Repertoire getüftelt wurde.<br />

Die Zustände sind an vielen Häusern prekär. Dabei ist die<br />

monatliche Gage für Sänger an sich schon beschämend gering –<br />

weniger als 1.500 Euro sind keine Seltenheit. Im Besetzungsbüro<br />

vieler Häuser geht es zu wie auf dem Basar:<br />

ANZEIGE<br />

SM 285<br />

Sänger, die lange an einem Haus waren,<br />

werden gekündigt, bevor ihr Vertrag unbefristet<br />

weiterlaufen würde. Freischaffende<br />

Sänger werden in einen aggressiven Preiskampf<br />

untereinander verwickelt: „Ah, Sie<br />

wollen 1.000 Euro pro Auftritt inklusive<br />

Proben? Wir haben da eine andere schöne<br />

Stimme, die macht es für 600 Euro.“ Auch<br />

hier würde es ums Nein-Sagen gehen. In<br />

diesem Fall nicht vonseiten der Intendanz,<br />

sondern vonseiten der Sänger. Die aber<br />

scheinen derart unter Druck zu stehen,<br />

dass sie bereit sind, ihre Würde und ihre<br />

Existenz für die Hoffnung auf ein bisschen<br />

Ruhm zu verkaufen. Dabei ist mir kein Fall<br />

bekannt, in dem ein Einspringer in Greifswald<br />

jemals für die Bühnen dieser Welt<br />

entdeckt wurde. Also, bitte, liebe Künstler:<br />

Seid solidarisch und sagt unter diesen<br />

Bedingungen einfach Nein.<br />

Gleichzeitig ist auch an vielen städtischen<br />

Bühnen, gerade in der Intendanz<br />

und Dramaturgie, eine merkwürdige Weltfremdheit<br />

zu beobachten. Oft wird gar<br />

nicht mehr klar, für wen da gespielt wird.<br />

Für die Künstler selber, die das Theater –<br />

und dagegen ist ja gar nichts zu sagen – als<br />

Raum der Freiheit und des Experiments<br />

verstehen? Dann aber wäre es nötig, das<br />

Publikum bei diesem Experiment mitzunehmen,<br />

sich der Debatte zu stellen, die<br />

ganze Stadt zur ästhetischen Werkstatt zu<br />

verwandeln. Dieser Prozess aber ist nur<br />

selten zu beobachten.<br />

Stattdessen setzt sich immer mehr eine Attitüde nach dem<br />

Motto „Wir sind die Künstler, und wenn ihr nicht versteht, was wir<br />

tun, seid ihr zu blöde“ durch. Manche Theater scheinen auch nur<br />

noch zu spielen, um den Kulturpolitikern zu gefallen. Sie schielen<br />

auf Auslastungszahlen, schließen Ränge, verkaufen ein halb volles<br />

Auditorium als „ausverkauft“ und versuchen, jede noch so absurde<br />

Sparmaßnahme umzusetzen. Ich glaube, für einige Intendanten<br />

geht es inzwischen oft nur noch darum, ihre eigene Haut zu retten,<br />

nicht um die künstlerische Qualität ihres Hauses.<br />

Mich erinnert die Klassikszene immer mehr an eine sich selbst<br />

bestätigende Blase, die sich immer weiter von jenen verabschiedet,<br />

die nicht Teil dieser Blase sind. Das Problem aber ist, dass wir genau<br />

auf diese Menschen angewiesen sind, da sie den Klassikbetrieb mitfinanzieren.<br />

Da die Klassik eine gesellschaftliche Größe ist, die von<br />

der gesamten Gesellschaft – auch von jenen, die nicht in Opern und<br />

Konzerte gehen – mitgetragen wird. Und dieser Verantwortung sollten<br />

sich alle bewusst sein und sich darauf besinnen, worum es in<br />

der Musik eigentlich geht: um Kommunikation, einen humanistischen<br />

Grundgedanken, um produktiven und fairen Streit, um Experimente,<br />

Risiko und vor allen Dingen um Leidenschaft. ■<br />

87


John Axelrods Weinkolumne<br />

ORGIASTISCH UND<br />

VERFÜHRERISCH<br />

Komponisten, bildende Künstler und natürlich Weinbauern:<br />

Alle lieben Bacchus!<br />

ZEICHNUNG: STEFAN STEITZ<br />

Bacchus ist dieser wunderbar altertümliche,<br />

vielfach künstlerisch dargestellte Gott der<br />

Ausschweifung. Man muss ihn einfach gern<br />

haben – und bildende Künstler wie Komponisten<br />

taten und tun das! Neben all den<br />

anderen Figuren aus der Antike und der<br />

Bibel, die in Kunst und Musik gewürdigt<br />

werden, hat Bacchus immer einen besonderen<br />

Touch. Vielleicht, weil er einfach mehr<br />

Spaß macht.<br />

Der Danse Bacchanale von Saint-Saëns<br />

mag das Stück der Wahl sein, wenn es um<br />

Musik und visuelle Künste geht. Das Konzertstück<br />

steht in direkter Verbindung zu<br />

Bacchus und ist berühmt für seine Exotismen,<br />

Kastagnetten, Moll-Tonleitern und<br />

Fanfaren. Aber ich möchte Sie auch für das<br />

selten gespielte Cortège de Bacchus aus Delibes’<br />

Ballett Sylvia aufmerksam machen. In<br />

diesem Werk steckt alle Pracht des<br />

französischen Balletts, es berauscht<br />

aber auch mit einem unwiderstehlichen<br />

6⁄8-Takt.<br />

Der Bacchus von Caravaggio,<br />

dieses Meisterwerk des sogenannten<br />

„Chiaroscuro“, ist mustergültig<br />

für das Spiel mit dem<br />

Kontrast zwischen Licht und<br />

Dunkel. Der italienische Maler<br />

machte diese Technik zu seinem<br />

dominanten Stilelement,<br />

indem er Schatten noch stärker<br />

verdunkelte und seinen Motiven<br />

in gleißendem Licht Plastizität<br />

verlieh.<br />

Diesen Bacchus malte Caravaggio zwischen<br />

1597 und 1598 in einem eher friedlichen<br />

Lebensabschnitt (im Gegensatz zu seinem<br />

Kleinen kranken Bacchus, den er in der<br />

Genesungsphase nach einer Krankheit<br />

malte). Es handelt sich dabei um das Porträt<br />

eines jungen Mannes als griechischer Gott.<br />

Bacchus ist in weiße Gewänder mit schwarzem<br />

Gürtel gekleidet, dessen Ende er in der<br />

rechten Hand hält. In der linken hat er ein<br />

volles Weinglas, als würde er dem Betrachter<br />

anbieten, am Gelage teilzuhaben. Auf<br />

dem Tisch vor ihm stehen eine Obstschale<br />

und eine dickbäuchige Weinflasche, der<br />

interessanterweise unterstellt wird, eine<br />

Reflexion des Malers widerzuspiegeln.<br />

Bacchus ist gesund, muskulös, sogar<br />

üppig, mit dunklen Augenbrauen, geröteten<br />

Wangen, aufgequollenem Gesicht und einer<br />

gewissen Weiblichkeit, wie eine japanische<br />

Geisha beim Bade. In seinen<br />

Augen leuchtet nichts als angetrunkenes<br />

Verlangen. Das Obst auf dem<br />

Tisch, vor allem der Granatapfel,<br />

symbolisiert Sünde und verlorene<br />

Unschuld. Das alles ist verkörperte<br />

Begierde, die den Betrachter<br />

anregt, vom „Liebestrank“ zu<br />

versuchen.<br />

Es gibt zwei Weine mit<br />

Bezug zu Caravaggio. Der<br />

Proprietor’s Reserve von Forchini,<br />

ein Zinfandel, ist ein preisgekrönter<br />

Wein für echte Kenner. Er hat<br />

eine tiefviolette Farbe mit Aromen<br />

von Schokolade, Orangenschale und<br />

geröstetem Pistazien-Nugat, mit einem seidigen,<br />

spritzigen und fruchtigen Körper<br />

sowie Noten von Apfel, Anis, Zeder, Honig<br />

und Pfeffer im Abgang. Leider ist dieser<br />

Wein in Europa nicht ganz einfach zu<br />

bekommen.<br />

IN DEN AUGEN VON<br />

CARAVAGGIOS BACCHUS<br />

LEUCHTET ANGETRUNKENES<br />

VERLANGEN<br />

Probieren Sie ansonsten den preisgünstigen<br />

und ebenso wunderbar trinkbaren<br />

„Caravaggio“ von Marsovin, einen<br />

Cabernet Sauvignon, der den namensgebenden<br />

Bacchus ebenfalls auf dem Label trägt.<br />

Marsovin grüßt aus Malta, wo Caravaggio<br />

selbst eine Zeit lang lebte, bevor er wegen<br />

Verletzung eines Ritters ins sizilianische Exil<br />

fliehen musste. Marsovin war ein Pionier<br />

des Weinbaus auf Malta. Heute ist er bei vielen<br />

Liebhabern für Maltas herausragendsten<br />

Rotwein bekannt. Der „Caravaggio“ ist<br />

ein reichhaltiger, runder Rotwein mit intensiven,<br />

reifen Waldfruchtaromen von<br />

Schwarzer Johannisbeere und Brombeere<br />

und einem diskreten Minzschokoladen-<br />

Unterton. Er schmeckt, wie Bacchus aussieht:<br />

wunderbar dekadent. Entkorken Sie<br />

ihn, legen Sie Delibes’ Cortège auf und warten<br />

Sie auf die Ankunft der Gottheit! ■<br />

John Axelrod ist Generalmusikdirektor und Geschäftsführer des Real Orquesta Sinfónica de Sevilla und erster Gastdirigent des Orchestra Sinfonica di Milano „Giuseppe Verdi“. Nebenbei schreibt er<br />

Bücher und sorgt sich um das Wohl des crescendo-Lesergaumens. Außerdem schreibt er einen englischsprachigen Blog zum Thema Wein und Musik: www.IamBacchus.com. Übersetzung: Maria Goeth.<br />

Infos zum Wein von Forchini finden Sie hier: www.forchini.com; zum „Caravaggio“ von Marsovin hier: www.marsovin.com<br />

88 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


LEBENSART<br />

Best of Baltikum: Ein musikalischer Spaziergang mit Dirigent Tõnu Kaljuste durch Tallinn (Seite 94)<br />

Künstlerin Tina Campos hat das crescendo CD-Cover gestaltet.<br />

Eine maritime Hommage an den Sommer (Seite 97)<br />

Chormusik hat in Estland eine über hundertjährige<br />

Tradition. Weil Chöre und Chorfestivals die<br />

Menschen einander näherbringen. Eine Idee, die<br />

aufgeht: Musik als – buchstäblich – farbenfrohes Band<br />

FOTO: MAILI SAIA / TALLINN CITY TOURIST OFFICE & CONVENTION BUREAU<br />

89


L E B E N S A R T<br />

Teufelsgeiger, Palazzi und<br />

amouröse Eskapaden<br />

In den verwinkelten Gassen von Genua stößt man auf das Erbe Paganinis ebenso<br />

wie auf das des Komponisten und „Playboys“ des Barock, Alessandro Stradella.<br />

Und über allem thront seit 40 Jahren die Villa des Labels Dynamic.<br />

VON CORINA KOLBE<br />

Blick über die historische Altstadt auf den Hafen von Genua<br />

Von oben betrachtet erscheint Genua wie ein riesiges<br />

Labyrinth. Im Gewirr der verschachtelten Gassen,<br />

in denen sich viele Touristen im Nu verlaufen, kann<br />

man die prunkvollen Palazzi erahnen, die als<br />

UNESCO-Weltkulturerbe geschützt sind. Das<br />

Haus, in dem 1782 der exzentrische Geiger und Komponist Niccolò<br />

Paganini zur Welt kam, fiel dagegen der Abrissbirne zum<br />

Opfer. Ein ganzes Altstadtviertel sei Anfang der 1970er-Jahre dem<br />

Erdboden gleichgemacht worden, bedauert Alberto Dellepiane,<br />

der in seinem Büro in der Villa Quartara von den Hügeln über<br />

Genua bis zum Meer schauen kann. Für seine Plattenfirma Dynamic,<br />

die in diesem Herbst ihr 40-jähriges Bestehen feiert, spielt<br />

Paganini von Anfang an eine wichtige Rolle.<br />

Dellepianes Schwiegervater Pietro Mosetti Casaretto, ein<br />

Chirurg und begeisterter Geiger, übernahm 1978 von dem Musikwissenschaftler<br />

Edward Neill ein unabhängiges kleines Label, das<br />

bis dahin nur sporadisch Platten veröffentlicht hatte. Unter der<br />

neuen Leitung machte sich Dynamic bald mit Instrumentalaufnahmen<br />

aus dem <strong>18</strong>. und 19. Jahrhundert international einen<br />

Namen.<br />

„Viele Künstler gingen bei uns ein und aus, sie gehörten praktisch<br />

zur Familie“, erinnert sich Dellepiane. Auf der ersten LP<br />

erschienen Paganinis Variationen über Barucabà, interpretiert von<br />

dem weltbekannten Violinisten Salvatore Accardo. Dellepiane<br />

baute später mit italienischem Opernrepertoire ein zweites wichtiges<br />

Standbein auf. Auch seine Frau Cristina, die Tochter des Gründers,<br />

arbeitet in der Firma mit.<br />

In der von Pinien umgebenen Villa Quartara, wo der Alltagstrubel<br />

der Stadt nicht zu spüren ist, richtete Mosetti Casaretto<br />

1985 ein eigenes Tonstudio ein. In einem Saal mit einer kunstvoll<br />

bemalten Decke hatte sogar ein Kammerorchester Platz. Zu seinem<br />

Jubiläum hat das Label gerade die erste Gesamtaufnahme der<br />

Werke Paganinis auf 40 CDs herausgebracht. Leonidas Kavakos<br />

spielte im Dynamic Studio beispielsweise alle Stücke für Solo-Violine<br />

ein, Luigi Alberto Bianchi und Maurizio Preda widmeten sich<br />

seinem umfangreichen Werk für Geige und Gitarre.<br />

Die Krise in der Tonträgerindustrie ist allerdings auch an<br />

Dynamic nicht spurlos vorübergegangen. Mittlerweile werden die<br />

CDs außer Haus aufgenommen und über die Kanäle des größeren<br />

Labels Naxos vertrieben. Auch früher wich man gelegentlich schon<br />

auf andere Orte aus. Die Aufnahmen der Violinkonzerte mit Massimo<br />

Quarta entstanden vor fast 20 Jahren im Teatro Carlo Felice.<br />

Zu der Gelegenheit kam Paganinis Lieblingsgeige „Il Cannone“<br />

zum Einsatz. Das legendäre Instrument von Giuseppe Guarneri<br />

„del Gesù“ spielte der „Teufelsgeiger“ von <strong>18</strong>02 bis zu seinem Tod<br />

<strong>18</strong>40. Per Testament vermachte er es der Stadt Genua. Ein Team<br />

90 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


Alberto & Cristina Dellepiane<br />

Villa Quartara<br />

Teatro Carlo Felice<br />

Santa Maria delle Vigne<br />

FOTOS: XEDUM; MAURIZIO BEATRICI;<br />

aus erfahrenen Konservatoren achtet heute streng darauf, dass es<br />

nicht überstrapaziert wird.<br />

Mit einer Standseilbahn gelangen wir von der Villa Quartara<br />

ins Stadtzentrum zurück. Nicht nur das Opernhaus, das im Krieg<br />

stark beschädigt und erst 1991 wiedereröffnet<br />

wurde, erinnert daran, dass<br />

Genua eine bedeutende Musikstadt ist.<br />

Hierhin flüchtete sich vor über 300 Jahren<br />

der Komponist Alessandro Stradella,<br />

der wegen seiner amourösen Eskapaden<br />

überall verfolgt wurde. Selbst der<br />

lokale Adel, der ihn mit offenen Armen<br />

empfing, konnte ihn nicht vor seinen<br />

Feinden schützen. 1682 wurde er in einer der engen Gassen von<br />

einem Auftragskiller ermordet. Sein Grab befindet sich nur ein<br />

paar Ecken entfernt in der prächtig ausgeschmückten Kirche Santa<br />

Maria delle Vigne.<br />

Mit der abenteuerlichen Vita des Playboys beschäftigt sich<br />

Salvatore Sciarrino in seiner neuen Oper Ti vedo, ti sento, mi perdo,<br />

die in der Regie von Jürgen Flimm nach der Uraufführung an der<br />

Mailänder Scala kürzlich an der Staatsoper Unter den Linden in<br />

Berlin zu sehen war.<br />

Mehr als 100 Jahre nach dem Meuchelmord trat der junge<br />

DER „TEUFELSGEIGER“<br />

WIRD HIER MIT DEM<br />

KULT-GITARRISTEN JIMI HENDRIX<br />

VERGLICHEN<br />

Paganini im Dezember 1794 in der Basilica auf. Im selben Jahr<br />

hatte er als Elfjähriger sein Solistendebüt im Kloster des Heiligen<br />

Filippo Neri gefeiert. Als wir dort ankommen, sind die Türen verschlossen,<br />

doch ein freundlicher Priester lässt uns ein. Von der<br />

Empore aus bewundern wir prächtige<br />

barocke Gemälde und vergoldete Stuckdekorationen.<br />

Ein paar Gassen weiter kommt uns<br />

zufällig die chinesische Geigerin Bin<br />

Huang entgegen, die 1994 den ersten<br />

Preis des Paganini-Wettbewerbs gewonnen<br />

hat. Wenig später erleben wir im<br />

Palazzo Tursi, wie sie „Il Cannone“<br />

einen warmen, runden Klang entlockt. Wie andere Dynamic-<br />

Künstler tritt die Virtuosin Ende <strong>Oktober</strong> beim Paganini Genova<br />

Festival auf. „Paganini zieht nach wie vor ein großes Publikum<br />

an“, sagt Alberto Dellepiane. „Wenn seine Musik gespielt wird, ist<br />

der Saal voll.“ Vom 19. <strong>Oktober</strong> bis 10. März nächsten Jahres ist im<br />

Palazzo Ducale die Ausstellung „Paganini Rockstar“ zu sehen. Der<br />

„Teufelsgeiger“ wird hier mit dem Kult-Gitarristen Jimi Hendrix<br />

verglichen. In Restaurants der Stadt kann man sich zwischendurch<br />

mit Ravioli stärken, die nach einem handschriftlich überlieferten<br />

Rezept des Komponisten zubereitet werden. <br />

■<br />

91


L E B E N S A R T<br />

Slowenische<br />

Krainer Wurst<br />

<strong>CRESCENDO</strong> –<br />

HIER KOCHEN DIE STARS<br />

„EIN AUSSENSEITER-<br />

INSTRUMENT<br />

WIE DAS SAXOFON<br />

IST EINE<br />

RIESENCHANCE,<br />

DIE LEUTE<br />

IMMER WIEDER<br />

DAMIT ZU<br />

ÜBERRASCHEN“<br />

ARCIS SAXOPHON<br />

QUARTETT<br />

FOTOS: MARIA GOETH<br />

92 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


ARCIS SAXOPHON QUARTETT<br />

Was für eine ungewöhnliche Besetzung innerhalb der klassischen Musik!<br />

Seit 2009 begeistert das Arcis Saxophon Quartett mit seiner Leidenschaft<br />

und seinem breiten Repertoire: von Bearbeitungen älterer Werke über<br />

Originalkompositionen aus dem 19. und 20. Jahrhundert bis zu zeitgenössischen<br />

Werken, die zum Teil speziell für das Ensemble komponiert wurden.<br />

Gastgeber und Blockflötist Stefan Temmingh (rechts im Bild) mit drei der Musiker des<br />

Arcis Saxophon Quartetts: Claus Hierluksch, Jure Knez und Ricarda Fuss<br />

•<br />

SLOWENISCHE KRAINER WURST<br />

Speisekartoffeln<br />

Zwiebeln<br />

1 EL Butterschmalz<br />

ggf. etwas Brühe<br />

4 große Krainer Würste<br />

Salz<br />

Petersilie<br />

scharfer Senf<br />

1. Die Kartoffeln mit Schale kochen. Dann in Scheiben schneiden.<br />

2. Die Zwiebeln in Butterschmalz andünsten und die Kartoffelscheiben dazugeben.<br />

Mit Wasser oder Brühe aufgießen.<br />

3. Würste in kaltes Wasser geben und kurz aufkochen lassen.<br />

Sofort von der Platte nehmen und etwa 10 Minuten ziehen lassen.<br />

4. Kartoffeln salzen und zu den Würsten servieren. Mit Petersilie garnieren, scharfen Senf dazu reichen.<br />

Das Video zum Rezept finden Sie unter: www.youtube.de/crescendomagazin<br />

93


L E B E N S A R T<br />

3<br />

1<br />

2<br />

4<br />

5<br />

8<br />

6 7<br />

9<br />

FOTOS: KADI-LIIS KOPPEL / TALLINN CITY TOURIST OFFICE & CONVENTION BUREAU (3); KAUPO KALDA; MARIA GOETH<br />

1) Schloss Katharinenburg aus der Zeit des russischen Kaiserreichs 2) Marktfrau vor dem Restaurant Olde Hansa 3) Postkartenmotiv im Hafen<br />

4) Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundert 5) Alexander-Newski-Kathedrale 6) Souvenir, Souvenir: traditionelle estnische Strickwaren 7) UNESCO<br />

Weltkulturerbe: Talliner Rathausplatz mit gotischem Rathaus 8) Kulinarisches Estland 9) So bunt wie das Land: mittelalterliches Gassengewirr<br />

94 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


EIN SPANNENDER SCHMELZTIEGEL<br />

UNTERSCHIEDLICHER KULTUREN!<br />

Tallinn<br />

Tõnu Kaljuste, Chorleiter und Dirigent, wohnt Tür an Tür mit Arvo Pärt<br />

in der Hauptstadt Estlands. Er mag vor allem ihren unabhängigen Geist.<br />

Eine Liebeserklärung an eine bunte Stadt.<br />

VON MARIA GOETH<br />

FOTO: KAUPO KIKKAS / ECM RECORDS<br />

Steigt man in Estlands Hauptstadt Tallinn<br />

aus dem Flugzeug, katapultiert<br />

einen allein schon die Sprache der<br />

Ortsansässigen in eine fesselnde neue<br />

Welt, die den rauen, aber sympathischen,<br />

fremdartigen, aber behaglichen Soundtrack<br />

für die Reise bilden wird: Diese bis ins<br />

Unendliche rollenden „Rrrrrrr“s, diese unfassbaren<br />

Anhäufungen von Vokalen und Umlauten!<br />

Da lockt Werbung etwa zur „maniküür“<br />

oder mit „köögimööbel“ zum Kauf von Küchenmobiliar,<br />

bevor man mit „väljapääs“ den Ausgang<br />

erreicht. Aber es geht noch besser: „Jääär“<br />

steht für einen Gletscherrand, „kuuüür“ für die Monatsmiete.<br />

Schon nach kurzer Zeit – in diesem kleinen baltischen Staat<br />

scheint alles irgendwie kleiner, nahbarer, atmosphärischer – erreicht<br />

man die Innenstadt. Sie wirkt wie eine begehbare Pralinenschachtel!<br />

Verspielte, pastellfarbene Häuschen und mittelalterliche Kaufmannsresidenzen<br />

säumen das Labyrinth aus verwinkelten, kopfsteingepflasterten<br />

Gassen, über denen unzählige gut erhaltene<br />

Türme und Gemäuer aus dem 14. und 15. Jahrhundert thronen.<br />

Doch gleich neben den historischen Prachtvierteln der ehemals<br />

blühenden Hansestadt findet sich hochmoderne europäische<br />

Architekturkunst ebenso wie die ruinenhaften Baurelikte des Sozialismus<br />

– Zeugen der Sowjetbesatzung zwischen 1940 und 1991 –,<br />

die ihren ganz eigenen, morbiden Charme entfalten. Dieser Mix<br />

Fruchtbare Freundschaft:<br />

Dirigent Tõnu Kaljuste mit<br />

dem Komponisten Arvo Pärt<br />

kann symbolisch für vieles in Tallinn und ganz<br />

Estland stehen: Hier mengen sich Einflüsse seiner<br />

dänischen, schwedischen, russischen und<br />

auch deutschen Besatzer – und dennoch, oder<br />

gerade deshalb, spürt man allerorts die unglaublich<br />

starke estnische Identität.<br />

In der Nähe des Raekoja plats, der schon<br />

seit dem 11. Jahrhundert als Markt diente und<br />

von einem 64 Meter hohen, original erhaltenen<br />

gotischen Rathaus überragt wird, treffe ich Tõnu<br />

Kaljuste, den gefeierten Chorleiter und Dirigenten,<br />

der vor allem durch seine großartigen Einspielungen<br />

der Werke von Arvo Pärt internationale<br />

Berühmtheit erlangte. Tatsächlich prägte ihn der wohl berühmteste<br />

estnische Komponist schon während seiner Studienzeit:<br />

„Damals wurde ich stark von zwei Komponisten inspiriert: Veljo<br />

Tormis und Arvo Pärt“, erinnert sich Kaljuste. „Tormis ist in unserer<br />

uralten estnischen Volksmusik verwurzelt, besonders den baltischfinnischen<br />

Runen-Liedern. Er verleiht auf sehr pure Weise dieser<br />

vergessenen, vorchristlich-schamanischen Kultur eine Stimme. Pärt<br />

hingegen schafft unter Verwendung kirchlicher Texte unglaublich<br />

spirituelle Musik. Das sind zwei ganz verschiedene Aspekte der estnischen<br />

Kultur, an denen ich mich orientierte.“<br />

Heute leben Tõnu Kaljuste und Pärt in Tallinn Tür an Tür und<br />

pflegen eine herzliche Freundschaft. Da ist es kein Wunder, dass<br />

Kaljuste am 13. <strong>Oktober</strong> auch die Eröffnung des nigelnagelneuen<br />

95


L E B E N S A R T<br />

Arvo Pärt Zentrums dirigieren wird.<br />

„Pärts Musik bringt den Menschen<br />

Ruhe und Frieden!“, begeistert sich<br />

Kaljuste. Das Zentrum liegt mitten in<br />

einem Pinienwald im 35 Kilometer<br />

von Tallinn entfernten Laulasmaa,<br />

einer Halbinsel am Finnischen Meerbusen.<br />

„Laulasmaa kenne ich schon<br />

als Landidylle meiner Jugend. Übersetzt<br />

heißt der Name passenderweise<br />

so viel wie ,singendes Land‘. Hier<br />

können nun Menschen zusammenkommen<br />

und Ruhe, Natur und<br />

Musik finden.“<br />

Ein eigenes Zentrum für einen<br />

noch lebenden Komponisten? Man spürt die Liebe, die die Esten<br />

ihren Musikgrößen entgegenbringen. Wie im übrigen Baltikum hat<br />

insbesondere der Chorgesang in diesem Land einen unglaublichen<br />

Stellenwert. „Jede Schule hat einen Kinderchor“, schwärmt Kaljuste<br />

„Das ist selbstverständlicher Teil der Erziehung.“ Schon seit über<br />

100 Jahren gibt es riesige Chorfestivals. „Damals gab es auch<br />

andernorts die Idee, über Chorgesang Menschen zusammenzubringen“,<br />

erklärt Kaljuste, „aber die estnische Chortradition ist sehr<br />

individuell und eigenständig und bildet zusammen mit der in<br />

Schweden und Lettland bis heute ein starkes Kräftedreieck. Im<br />

August war es mir deshalb eine große Freude, beim Baltic Sea Festival<br />

in Stockholm sowohl den Swedish Radio Choir – sozusagen die<br />

Berliner Philharmoniker unter den Chören! – als auch den Latvian<br />

Radio Choir und den von mir gegründeten Estonian Philharmonic<br />

Chamber Choir zu dirigieren.“<br />

Spektakulär: Die A.-Teiss-Brücke im<br />

Seefahrtsmuseum in Tallinn<br />

Wir schlendern vorbei an<br />

unzähligen Restaurants, aus denen<br />

Gerüche der typisch estnischen, bäuerlich-deftigen<br />

Küche dampfen –<br />

dazu gehört viel Fleisch mit Kartoffeln,<br />

auch Blutwurst, verschiedenes<br />

Eingelegtes oder „kama“, ein meist<br />

als Süßspeise oder Getränk zubereitetes<br />

Gemisch aus verschiedenen<br />

Mehlsorten. In den Touristenshops<br />

werden sogar Elch oder Bär in der<br />

Dose angeboten, was daran erinnert,<br />

dass direkt vor den Toren Tallinns<br />

wunderbare Nationalparks beheimatet<br />

sind, die in ihren Wäldern und<br />

Sümpfen neben rund 500 Braunbären auch Wölfe, Luchse, Biber<br />

und Pinselohrkatzen beherbergen.<br />

„Außerdem gibt es hier unheimlich viele Museen“, ist Kaljuste<br />

begeistert. In Tallinn gefällt ihm besonders das in einem alten Wehrturm<br />

– der „fetten Margarete“ – angesiedelte Seefahrtsmuseum mit<br />

seinen historischen Schiffen, alten Landkarten und anderen Exponaten<br />

aus Estlands blühender Seefahrtsgeschichte.<br />

Und was zeichnet Estland für Kaljuste nun besonders aus?<br />

„Wir sind nur eine Million Leute in diesem Land zwischen Ost und<br />

West und mit all seinen Besatzern, aber wir haben echte Komponisten,<br />

eine eigene Architektur, Kultur, Sprache und<br />

Tipps, Infos & Adressen<br />

Reiseinformationen rund um Ihren Besuch in Tallinn<br />

FOTO: WWW.MEREMUUSEUM.EE<br />

Literatur. Nur so kann man auch als so kleines<br />

Land unabhängig sein!“<br />

■<br />

Arvo Pärt: „The Symphonies“, NFM Wrocław Philharmonic,<br />

Tõnu Kaljuste (ECM)<br />

Musik & Kunst<br />

Die Altstadt von Tallinn, „Vanalinn“, ist ein<br />

Gesamtkunstwerk und lädt zu ausgiebigen<br />

Spaziergängen ein – etwa zum ehemaligen<br />

Begräbnishügel und späteren Adels- und<br />

Klerussitz Toompea mit seinem geistergeschichtenumwobenen<br />

Torturm, seinem<br />

Schloss und dem estnischen Parlament. Infos<br />

zum neuen Arvo Pärt Zentrum in Laulasmaa<br />

gibt es hier: www.arvopart.ee. Das Estnische<br />

Museum für Seefahrt hat Mittwoch bis<br />

Sonntag von 10 bis <strong>18</strong> Uhr geöffnet:<br />

www.meremuuseum.ee. Tõnu Kaljuste ist<br />

Gründer und künstlerischer Leiter des alljährlich<br />

im Sommer stattfindenden Nargen<br />

Musikfestivals: www.nargenfestival.ee<br />

Essen & Trinken<br />

Zwar touristisch, aber sehr lecker kann man bei<br />

Kerzenlicht in den mittelalterlichen Räumen<br />

der Olde Hansa gemeischaftlich Wild und andere<br />

Köstlichkeiten schlemmen – natürlich zu<br />

Musik aus dem 14. Jahrhundet: www.oldehansa.ee.<br />

Der Name Vanaema Juures heißt übersetzt<br />

„Großmutters“ und so isst man in diesem<br />

urigen Kellerrestaurant aus den 1930er-Jahren<br />

bis heute traditionelle estnische Hausmannskost:<br />

www.vonkrahl.ee/vanaemajuures. Die<br />

Einheimischen treffen sich in alternativen Bars<br />

wie dem NoKu, das von außen wie ein Privathaus<br />

aussieht und für das man einen Türcode<br />

benötigt oder klingelt: keine eigene Website,<br />

Adresse: Pikk 5, 10123 Tallinn.<br />

Übernachten<br />

Die Innenstadt von Tallinn ist voll von<br />

Hotels, Gästehäusern und Apartments in<br />

allen Preisklassen. Wie wär’s aber mal mit<br />

einem Minihaus nur wenige Meter außerhalb<br />

der Altstadt: www.kodastay.com.<br />

Wer es mondän, luxuriös und dennoch<br />

mitten in der Altstadt liebt, checkt entweder<br />

im Fünf-Sterne-Hotel Schlössle in<br />

einem Bau aus dem 17. Jahrhundert ein<br />

oder im Three Sisters Hotel, dessen<br />

individuelle Zimmer in drei aneinander<br />

angrenzenden Kaufmannshäusern aus<br />

dem 14. Jahrhundert situiert sind:<br />

www.schloesslehotel.com und www.3s.ee.<br />

FOTOS: WIKI COMMONS; ARVO PÄRT CENTER; MEREMUUSEUM<br />

96 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>September</strong> – <strong>Oktober</strong> 20<strong>18</strong>


DIE KÜNSTLERIN TINA CAMPOS:<br />

SIE GESTALTETE DAS COVER UNSERER PREMIUM-CD<br />

Die Frau und das Meer<br />

„Regatta“, Acryl auf Segel, 120 x 90 cm<br />

FOTO: TINA CAMPOS<br />

Diese dunklen Nächte auf dem Atlantik, mit<br />

wenig Mond, aber strahlenden Sternen,<br />

wenn schwarze meterhohe Wellen angerollt<br />

kommen und vom Heck her sanft das<br />

Schiff wiegen … Wenn Tina Campos von ihrem siebenmonatigen<br />

Segelturn über die Biscaya und die Kanaren<br />

bis in die Karibik und zurück erzählt, lodert Leidenschaft<br />

in ihren Augen und ihrer Stimme: „Da ist man komplett in<br />

einem anderen Leben, schält von der Welt ab! Man hört manchmal<br />

monatelang keine Nachrichten. Alles ist mühsam und aufwendig:<br />

das Einkaufen, das Waschen, das Sparsam-sein-Müssen mit dem<br />

Wasser … und dennoch ist es eine unheimlich faszinierende, einfache,<br />

naturnahe Art von Leben!“<br />

Seit jeher hatte Tina Campos eine große Affinität zum Wasser.<br />

Seit über 30 Jahren segelt sie. Seit fünf Jahren lebt sie auf einem<br />

Hausboot. Dieses liegt – wenn sie nicht gerade damit auf Spazierfahrt<br />

ist – auf der Schlei, einem Meeresarm der Ostsee in Schleswig-<br />

Holstein und Deutschlands einzigem Fjord. Da wundert es nicht,<br />

dass einer ihrer „Brotberufe“ die Leitung des Büros einer Werft ist,<br />

die Katamarane und Hausboote fertigt. Daneben arbeitet Campos<br />

als Yogalehrerin und eben auch als Malerin.<br />

Vor 16 Jahren machte sie ihren ersten Malkurs und hat seitdem<br />

ihre Technik – besonders mit Acryl – immer weiter verfeinert.<br />

Natürlich sind Segelboote dabei ihr Lieblingsmotiv. In ihren farbenreichen<br />

Bildern erwachen sie plastisch zum Leben. Aus den Fenstern<br />

ihres Hausboots sieht Campos täglich Boote und sogar Regatten<br />

vorbeiziehen. „Je nachdem, woher der Wind<br />

kommt und wohin die Schiffe fahren, ist die Segelstellung<br />

immer wieder anders“, ist Campos fasziniert. „Das<br />

inspiriert mich stets aufs Neue.“<br />

Als Untergrund, also Leinwand zum Malen, nutzt<br />

sie am liebsten alte Segel: „Die Geschichte, die Jahre,<br />

die so ein Segel auf dem Buckel hat – solche Tücher<br />

haben einen ganz besonderen Flair!“ Zum Glück hat sie über Beziehungen<br />

immer wieder die Möglichkeit, an das auch für Taschen und<br />

Bekleidung begehrte Material zu kommen. Kaufen kann man nämlich<br />

eher nur Neuware.<br />

Tina Campos’ Leben ist so bewegt wie das Meer. Vor ihrem<br />

Umzug in den Norden arbeitete sie als Kinderkrankenschwester<br />

und Deutschlehrerin, lebte unter anderem im Ruhrgebiet, aber auch<br />

sieben Jahre lang in Brasilien. Während des Malens hört sie deshalb<br />

bis heute gerne brasilianische Musik, vor allem in ihrer sehr<br />

ursprünglichen Form – etwa mit der „Viola caipira“, einer zehnsaitigen<br />

brasilianischen Gitarre.<br />

Außerdem begeistert sie sich für vertonte Gedichte. Ihr absolutes<br />

Lieblingsgedicht ist Stufen von Hermann Hesse. „Und jedem<br />

Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft,<br />

zu leben“, heißt es darin. Doch trotz der vielen Neuanfänge, die sich<br />

wie ein roter Faden durch Tina Campos’ Leben ziehen, hasst sie das<br />

Abschiednehmen. Hermann Hesse tröstet mit den Schlusszeilen:<br />

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“ <br />

MG<br />

Website von Tina Campos: www.tinasailsart.de<br />

97


H O P E T R I F F T<br />

Daniel-Hope-Kolumne<br />

ODESSA IST EIN<br />

VERSTECKTER SCHATZ!<br />

Alexey Botvinov, Festivalgründer am ukrainischen Schwarzmeerhafen, enthüllt die<br />

Reize der vielleicht europäischsten Stadt der ehemaligen Sowjetunion.<br />

Daniel Hope: Alexey, du bist Gründer des<br />

Odessa Classics Festival in der Ukraine.<br />

Erzähl uns davon!<br />

Alexey Botvinov: Der Impuls war, ein Festival<br />

auf europäischem Niveau zu schaffen,<br />

Odessa auf die Landkarte zurückzubringen.<br />

Der Grund dafür ist offensichtlich: Die<br />

Ukraine ist ein junger Staat, den es erst seit<br />

der Auflösung der Sowjetunion im Jahr<br />

1991 gibt. Der Austausch zwischen Europa<br />

und Odessa war für zwei Jahrzehnte gestört.<br />

Dabei haben wir exzellente Künstler und<br />

Veranstaltungsorte.<br />

Als Geiger denke ich bei Odessa an Pjotr<br />

Stoljarski mit seiner berühmten Violinschule<br />

und an David Oistrach, der für<br />

mich der absolute Violingott ist. Was mir<br />

bisher nicht bewusst war, ist die unglaubliche<br />

Schönheit Odessas, ein architektonischer<br />

Mikrokosmos. Wie konnten die<br />

Leute diese Stadt nahezu vergessen?<br />

Das hat in erster Linie politisch-ökonomische<br />

Gründe. Das Land war bitterarm. Fast<br />

die ganze musikalische Praxis kam zum<br />

Stillstand – es war schlicht kein Geld da.<br />

Nun beginnt sich alles wieder zu entwickeln.<br />

Zum Glück haben wir unsere musikalische<br />

Tradition nicht verloren – vor<br />

allem mit unseren Geigern, Pianisten und<br />

Sängern. Odessa war auch in der sowjetischen<br />

Periode schon etwas Besonderes, der<br />

Versuch, eine Stadt mit europäischen Standards<br />

aufzubauen. Ein Riesenerfolg! Ab<br />

dem 19. Jahrhundert erlangte Odessa innerhalb<br />

von 100 Jahren enorme Bedeutung als<br />

Daniel Hope mit Alexey Botvinov<br />

Hafenstadt, wurde größter Hafen der Sowjetunion,<br />

aber auch wichtige Kulturmetropole.<br />

So entstand das Opernhaus, das ich<br />

für eines der besten der Welt halte. Alle<br />

waren sie dort: von Caruso und Tschaikowsky<br />

bis Rachmaninow. In der Sowjetzeit<br />

gab es dann eben Stoljarski mit seiner<br />

berühmten Geigenschule, aber auch die<br />

Klaviertradition mit den zwei großen<br />

Namen Swjatoslaw Richter und Emil Gilels.<br />

Diese spezielle Schule, der spezielle Klang<br />

prägen bis heute den Geist der Stadt!<br />

Und wir stehen hier direkt neben Puschkins<br />

Haus …<br />

Ja, auch Puschkin! Hier ist einfach Platz für<br />

Kunst! Odessa ist immer noch der europäischste<br />

Ort in der ganzen ehemaligen<br />

UdSSR. Und wir haben ein wunderbares<br />

Publikum: sehr konzentriert und dennoch<br />

sehr warmherzig.<br />

Das kann ich nur bestätigen! Wie machst<br />

du die Programmplanung? Dieses Jahr<br />

eröffnete Maxim Vengerov das Festival,<br />

aber ihr gebt auch Open-Air-Konzerte,<br />

widmet Euch unterschiedlichen Genres …<br />

Das Festival konzentriert sich nicht nur auf<br />

großartige Musik, sondern erkundet auch<br />

die Fusion mit anderen Künsten. Im ersten<br />

Jahr stemmten wir eine große Theaterproduktion,<br />

dieses Jahr ein Kinoprojekt mit<br />

dem Sohn des berühmten Filmemachers<br />

Andrei Tarkowski. Jedes Jahr gibt es auch<br />

Kunstausstellungen, Literatur und leichtere<br />

Musik: letztes Jahr mit dem wunderbaren<br />

David Orlowsky Trio, dieses Jahr mit Roby<br />

Lakatos und Ensemble. Außerdem bedeutet<br />

uns die Open-Air-Tradition sehr viel. Ich<br />

habe vor zehn Jahren mit großen Open-Air-<br />

Konzerten in der Ukraine angefangen,<br />

inklusive Lichtshows und Videoprojektionen,<br />

was die junge Zuhörerschaft anzieht<br />

und sehr beliebt ist. Jedes Jahr spielen wir<br />

an einem anderen Ort: dieses Jahr zum<br />

Beispiel vor über 10.000 Zuschauern auf<br />

der Potemkinschen Treppe, die viele aus<br />

dem Eisenstein-Filmklassiker Panzerkreuzer<br />

Potemkin kennen. Und morgens vor den<br />

Konzerten kann man noch im Schwarzen<br />

Meer baden gehen. Für das Publikum in<br />

Odessa bedeutet ein gutes Konzert vielleicht<br />

sogar noch mehr als in Zentral europa:<br />

Die Leute sind so bewegt, so emotional, sie<br />

denken monatelang daran. Kunst hat hier<br />

einen riesigen Stellenwert! Odessa ist ein<br />

versteckter Schatz, der von Europa wiederentdeckt<br />

werden sollte! <br />

n<br />

ZEICHNUNG: STEFAN STEITZ<br />

FOTO: DMITRY SKVORTSOV<br />

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