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Münchener Biennale – Point of NEW Return Programmbuch 20/21

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MÜNCH—N—R BI—NNAL—

F—STIVAL FÜR

N—U—S MUSIKTH—AT—R

2020/2021 *

* Dynamisierte Festivalausgabe aufgrund

der Corona-Pandemie mit

unterschiedlichen

Uraufführungsterminen und Spielorten

in München und außerhalb.


Point of

NEW

Return

Programmbuch zur

Münchener Biennale — Festival für Neues Musiktheater

2020 / 2021

© 2020

Münchener Biennale



Grußwort / Welcome note 5 / 5

Vorwort / Preface: Point of NEW Return / Point of NEW Return 6 / 8

Münchener Biennale 2020/21

Grußwort

Munich Biennale 2020/21

Welcome note

ESSAYS

Herfried Münkler: ABSTIEGSÄNGSTE, NIEDERGANGSSZENARIEN, KATASTROPHENVISIONEN — 12

UND DIE CHANCEN UTOPISCHEN DENKENS

DECLINE ANXIETIES, DOWNFALL SCENARIOS, VISIONS OF CATASTROPHES — 22

AND THE OPPORTUNITIES OF UTOPIAN PHILOSOPHY

Dietmar Dath: IHR WERDET EUCH DIE WAREN NOCH ZURÜCKWÜNSCHEN! 28

YOU’LL BE WISHING YOU HAD PRODUCTS AGAIN! 34

Daniel Ott & Manos Tsangaris: NEW Return 40

NEW Return 44

48

76

86

106

112

120

126

132

146

ONCE TO BE REALISED

TRANSSTIMME

OPERA, OPERA, OPERA!

revenants and revolutions

M — EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER

DAVOR

ACH ! Fast eine Funkoper

SUBNORMAL EUROPE

GROSSE REISE IN

ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG

JOURNAL RAPPÉ

Michael Marmarinos, Sebastian Hanusa:

Der Sprung aus dem Vertrauten 52

The Leap from Familiarity 60

Costis Zouliatis:

Ein reizvoller Gedanke —

NOCH ZU VERWIRKLICHEN 66

A stimulating idea — ONCE TO BE REALISED70

Anja Hilling:

conversations (on time) 77

conversations (on time) 81

Ole Hübner:

Mit den Geistern am Point of NEW Return 88

With the spirits at the Point of NEW Return98

Schorsch Kamerun:

Vorahnungsvoll (Prepper) / Foreboding (Prepper) 107 / 110

Bobby Rafiq:

Davor / Davor (“Before”) 113 / 117

Kathrin Röggla:

Point of NEW Return — NOW / Point of NEW Return — NOW 121 / 124

Hintergründe / Backgrounds 127 / 128

Malte Ubenauf:

Richtungswechsel in den Archiven der Wirklichkeitsfabrik 136

Changing Direction in the Reality Factory Archives138

Keyti Melakh:

AFRICA IS THE FUTURE! / AFRICA IS THE FUTURE! 147 / 151

Zeitgenössisches Musiktheater kann auf vielfältige Art an

aktuelle Diskurse anknüpfen. Die Stadt München bietet mit

der Münchener Biennale eine publikumswirksame Plattform

dafür.

Unter der vieldeutigen Überschrift Point of NEW Return werden

in diesem Jahr wieder wichtige gesellschaftspolitische

Themen in den Kompositionen verhandelt. Es geht um Ausgrenzungserfahrungen

und Rassismus, Populismus und seine

Folgen für die europäische Kulturlandschaft oder auch die

Risiken eines technischen Optimierungswahnes.

Zum international gespannten Netzwerk der beiden Biennale-

Leiter Daniel Ott und Manos Tsangaris gehören auch ganz

junge, neue Positionen. Und der Laborcharakter der

Münchener Biennale spiegelt sich in zahlreichen ungewöhnlichen

Projekten wider. Sie durchbrechen

traditionelle Entstehungsformen von Musiktheater,

verändern sie und entwickeln sie weiter.

Das Publikum erwarten jedes Mal neue Erfahrungen,

die unsere Hör- und Sehgewohnheiten erweitern.

Mit »ACH ! Fast eine Funkoper« wird die bewährte

Kooperation mit der Münchner Volkshochschule

fortgesetzt, die einen partizipativen Zugang gewährt.

Gerade in der aktuellen, vom Corona-Virus geprägten Zeit –

in der derzeit noch weitgehend offen ist, wo, wann und wie die

einzelnen Projekte des Festivals umgesetzt werden können –,

gilt ganz besonders, dass die diesjährige Münchener Biennale

an den Mut zum Experiment appelliert.

Anton Biebl

Kulturreferent der Landeshauptstadt München

Contemporary music theatre can pick up on

current discourses in a whole host of different

ways. The city of Munich offers it a platform

that is a huge audience magnet: the Munich

Biennale.

This year, important socio-political themes

will once again be discussed in the compositions,

under the polysemic title Point of NEW

Return. These themes will include experiences

of marginalisation and racism, populism and

its consequences for the European cultural

landscape as well as the risks of technical

optimization mania.

The international network of the two Biennale directors, Daniel Ott

and Manos Tsangaris, also includes very young, new artistic

practice. In addition, the Munich Biennale’s spirit of experimentation

is reflected in numerous unusual projects.

These move beyond, transform and continue to develop

traditional modes of creating musical theatre.

With every performance the audience will encounter

new experiences that expand our listening and viewing

habits. “ACH ! Fast eine Funkoper” (“ACH ! Almost a radio

opera!) continues the tried-and-tested cooperation

with Munich’s Volkshochschule, enabling a participatory

approach.

Especially in the current era marked by the

coronavirus–in which it is still largely unclear

where, when, and how the festival’s individual

projects can be produced and staged–it is

particularly important that this year’s Munich

Biennale calls on people to have the courage

to experiment.

Anton Biebl

Head of the Cultural Department of the City of Munich

Festivalteam / Partner & Förderer, Medienpartner / Impressum 158–160

5



Münchener Biennale 2020/21

Point of NEW Return

Es scheint im Leben zu viele Einbahnstraßen zu geben. Eigentlich

ist alles unumkehrbar. Ökonomische, soziale und ökologische

Bewegungsrichtungen, die sich auf fatale Weise nicht

mehr korrigieren lassen. Wir sind wohl über Grenzen hinausgeschossen,

die eine Umkehr unmöglich machen? Die Kunst

wird da über Nacht keine Abhilfe schaffen.

Aber vielleicht, da von Hause aus mit neuen Problemlösungen

befasst, kann sie Möglichkeitsräume öffnen oder vielleicht

sogar — wie im Modellversuch — neue brauchbare Denkansätze

schaffen? Und sei es »nur« in der Frage individueller und gesellschaftlicher

Sensibilisierung und Bewusstwerdung?

Man könnte das Phänomen des Komponierens auch beschreiben

als eine Praxis, die sich Probleme schafft, um unterschiedliche

Lösungsmöglichkeiten zu erfinden und auszuprobieren.

Das, was erst einmal nur im scheinbar luftleeren Raum, fern

der harten Lebensrealität stattfindet, gewinnt hierdurch Relevanz

und Präzision.

Denn es müssen Ansätze geschaffen werden, die

möglicherweise in Bereiche vorstoßen können,

deren Bewegungs-Gesetze sonst streng geregelt

sind. Oft nach ökonomischen Gesichtspunkten,

vor allem auch nach Profit-Interessen.

Zu dem Thema und der Fragestellung Point of NEW

Return haben internationale Komponierende und

Kunstschaffende für die diesjährige Münchener Biennale eine

Reihe vielfältiger und intensiver Lösungsansätze entworfen.

Hierbei gibt es keinen ästhetischen oder ideologischen Kamm,

über den alles gekämmt wurde. Aber es gibt — bei aller Diversität

— rundum die Ein- und Zuversicht, dass gerade im spielerischen

Tun und Kreieren unsere Chance liegt, offensichtlich

festgefahrene Prozesse neu zu denken und zu bewegen.

Hierfür soll dieses Festival immer wieder den notwendigen,

geschützten Spielraum bilden.

Durch die aktuellen Ereignisse der letzten Wochen bekam der

Titel unseres Festivals beinahe prophetischen Charakter. Einschränkungen

des öffentlichen und privaten Lebens bedeuten

für alle ein Innehalten, das mal als Stillstand und mal als Überdenken

und Überprüfen des Bisherigen empfunden wird. Die

wirtschaftlichen Folgen der Krise sind bereits für viele spürbar,

große wirtschaftliche Verluste sind zu erwarten. Zugleich

werden durch den Stillstand von Verkehr und Tourismus die

Klimaziele in diesem Jahr übertroffen. Was lange nicht möglich

schien, eine Umkehr, eine Veränderung des wachstumgetriebenen

Kapitalismus ist nun — erzwungenermaßen — möglich

und lässt erkennen, was verzichtbar ist und was wirklich

relevant. Dieser derzeitige Point of NEW Return, an dem wir

alle stehen, wird uns und unser Leben verändern. Zwar ist an

kulturelle Veranstaltungen im Moment nicht zu denken, über

Nacht sind alle Nachrichten fast ausschließlich mit der globalen

viralen Lage und ihren Folgen befasst. Aber wir merken

schon jetzt, wie überlebensnotwendig für alle zuhause

Bleibenden die Beschäftigung mit sinnstiftenden,

transzendenten und damit künstlerischen Fragen

und Gegenständen ist.

In Absprache mit unsern Kooperationspartnern

haben wir beschlossen, auf die Herausforderung

flexibel zu reagieren. Die diesjährige Ausgabe der

Münchener Biennale wird dynamisch. Uraufführungen

können ausnahmsweise auch an Häusern außerhalb

Münchens stattfinden. Diese Premieren sind Teil der nun »erweiterten«

Biennale und werden später, wenn irgend möglich,

auch in München gezeigt.

Unser »SALON DES WUNDERNS UND DER SICHTEN«, ursprünglich

geplant für zehn Abende im Mai, wird nun als verbindendes

Element über längere Zeit hinweg an unterschiedlichen

Orten produziert und ins Netz gestellt werden. Er ist eine

Art »Cursor« im ansonsten dezentralen, dynamischen Festival-Raum,

aktuelle Plattform der Kommunikation und des

Gesprächs mit Gästen.

Wir möchten der Stadt München danken für ihren Mut und ihr

Interesse, die nachhaltige Unterstützung und für ihre Zuversicht,

dem neuen Musiktheater jenen Raum zu geben, der erst

durch Spiel, Forschung und Risiko belebt wird.

Wir danken allen Sponsoren und Förderern für ihr inhaltliches

Mitdenken und außergewöhnliches Engagement.

Als Künstlerische Leiter genießen wir zusammen mit unserer/m

Dramaturg*in den Luxus, mit dem fantastischen und

leidenschaftlichen Produktionsteam von Spielmotor zusammenzuarbeiten,

dem wir insgeheim jeden Tag danken, hier

aber noch einmal ausdrücklich!

Unser ganz besonderer Dank gilt allerdings den herausragenden

künstlerischen Mitwirkenden dieses Festivals!

Daniel Ott und Manos Tsangaris,

Künstlerische Leitung der Münchener Biennale —

Festival für Neues Musiktheater

Wir hoffen, dass so vielleicht für alle Beteiligten ein NEW Return

möglich wird.

6 7



Munich Biennale 2020/21

Point of NEW Return

There seem to be too many one-way streets in

life. Actually, everything is irreversible. Economic,

social and ecological trajectories,

which, fatally, can no longer be corrected.

Perhaps we have overstepped borders that

make it impossible to turn back?

Art will not be able to remedy this overnight.

But perhaps, as it is inherently concerned

with new solutions to problems, art can open

up new spaces of possibility or perhaps even—

as if in a pilot project—create viable new approaches?

Even if it is “just” a matter of individual

and social awareness-raising and realisation?

The phenomenon of composing could also be

described as a practice that creates problems

for itself in order to invent and try out various

possible solutions. As a result, a process that

in the first instance only unfolds in an apparent

vacuum, far from life’s harsh realities,

gains relevance and precision.

As a result of developments in current affairs

over the last few weeks, our festival’s title has

become almost prophetic. Restrictions in our

public and private lives means things have

paused for all of us, which is sometimes experienced

as a standstill and sometimes as rethinking

and reviewing all that came before.

Many people are already feeling the economic

consequences of the crisis and there are

likely to be huge economic losses. At the same

time, as transport and tourism have ground to

a halt, this year’s climate targets will be

over-fulfilled. Something that long seemed

impossible, namely a turn-around, a transformation

of growth-driven capitalism has

now—under duress—become possible and allows

us to identify what is we can do without

and what is really relevant. This current Point

of NEW Return at which we all find ourselves

will change us and our lives. Cultural events

are indeed out of the question at the moment;

overnight the news is almost exclusively about

the global situation vis-à-vis the virus and its

consequences. Yet it is already apparent how

crucial it is for everyone staying home to be

able to engage with meaningful, transcendent

and therefore artistic questions and subjectmatter.

In consultation with our cooperation partners,

we have decided to react flexibly to this challenge.

This year’s edition of the Munich Biennale

will be dynamic. World premieres may

exceptionally be held at venues that are not in

Munich. These premieres are part of the now

“expanded” Biennale and will, if at all possible,

also be shown in Munich later.

Our “SALON DES WUNDERNS UND DER

SICHTEN” (“Salon of Wonders and Views”),

originally planned for ten evenings in May,

will now be produced in a range of locations

over a longer timeframe and showcased on the

Internet. It will function as a connecting link

and be a kind of “cursor” in the decentralized,

dynamic festival space, a topical platform for

communication and discussion with guests.

We hope that this will perhaps make a NEW

Return possible for all those involved.

We should like to thank the City of Munich for

its courage and interest, its sustained support

and its confidence in giving new music theatre

the kind of space that is only brought to

life through performance, research and risk.

We would like to thank all sponsors and supporters

for their cooperative input to the programme

and their exceptional commitment.

As Artistic Directors, we, together with our

Dramatic Advisors, enjoy the luxury of working

with the fantastic and passionate production

team at Spielmotor; we are quietly aware

of our gratitude to them every day, but would

like to thank them explicitly here once again!

And a very particular thank you must certainly

go to the outstanding artistic contributors

to this festival!

Daniel Ott and Manos Tsangaris,

Artistic directors,

Munich Biennale —

Festival of New Music Theatre

8

For approaches must be created that can perhaps

push forward into areas whose laws of

motion are strictly regulated in every other

respect. Often such regulation is rooted in economic

considerations, also above all profitrelated

concerns.

For this year’s Munich Biennale, international

composers and artists have developed a series

of diverse, intensive approaches to Point of

NEW Return as a theme and question.

In this context there is no aesthetic or ideological

common denominator with which

everything tallies. Yet, for all the diversity,

there is an awareness and confidence on all

fronts that it is precisely in playful action and

creation that we have an opportunity to rethink

and shake up processes that have apparently

become deadlocked.

This festival seeks again and again to provide

the protected space needed for that endeavour.

»ONCE TO BE REALISED«

PROJ. 32 / PIANO: THE PIANIST – ACTOR PERFORMER

© Samir Odeh-Tamimi

9



»ONCE TO BE REALISED«

NOW

© Barblina Meierhans

10 11



Herfried Münkler zählt zu den renommierten Politikwissenschaftlern

in Deutschland. Er lehrte bis zu seiner Emeritierung 2018

an der Berliner Humboldt-Universität Politikwissenschaften, sein

Schwerpunkt ist die Politische Theorie und Ideengeschichte.

Er ist Autor zahlreicher Sachbücher.

— Text erhalten am 28. Januar 2020

ABSTIEGS-

ÄNGSTE,

NIEDERGANGS-

SZENARIEN,

KATASTROPHEN-

VISIONEN

UND DIE

CHANCEN

UTOPISCHEN

DENKENS

Von Herfried Münkler

Wie Mehltau hat sich eine pessimistische Grundstimmung auf

Land und Leute gelegt, eine Melange aus resignativer Melancholie

und einem wilden, eher verzweifelten als politisch

durchdachten Aufbegehren gegen eine Ökonomie und deren

Ressourcenverbrauch, die, wenn das so weiter geht, aller Voraussicht

nach zu einer ökologischen Katastrophe führen werden

— wenn sie das nicht bereits getan haben. Neben den melancholisch

Resignierten und den sich der drohenden Katastrophe

Entgegenstemmenden gibt es freilich noch die zuletzt

erheblich angewachsene Gruppe derer, die alle

Mahnungen und Warnungen für ein unbewiesenes

Katastrophengerede halten und auf ein uneingeschränktes

»Weiter so« setzen. Es gibt außerdem

noch eine vierte Gruppe, die jedoch im Verlauf

der letzten Jahrzehnte zunehmend kleiner geworden

ist. Das sind jene, die auf den »Stoffwechsel«

zwischen Mensch und Natur grundlegend verändernde

wissenschaftliche und technologische Durchbrüche, Erfindungen

und Innovationen setzen und von ihnen die Lösung der

andrängenden Herausforderungen erwarten. Bei ihnen, so

scheint es, handelt es sich um die letzten Utopisten, um Leute

also, die in den gegenwärtigen Entwicklungspotentialen die

Chancen für eine gute, eine bessere Zukunft sehen — wenn diese

Chancen denn kreativ und zielstrebig genutzt werden.

Diese sich überlagernden und bei medialen Erschütterungen

ineinanderfließenden Stimmungslagen haben zu einer tendenziellen

Selbstblockade der Demokratien westlichen Zuschnitts

geführt, in denen zwar ständig darüber geredet wird,

dass man dringend etwas gegen den Klimawandel und den

Schwund der Biodiversität tun müsse, woraufhin dann aber

wenig getan wird. Und wenn, dann sind diese Maßnahmen

sogleich mit entschiedenem Widerstand konfrontiert, entweder

weil sie in die Lebensweise vieler Menschen tief eingreifen,

oder weil bezweifelt wird, dass sie erreichen, was sie bewirken

sollen. Infolge dieser Mischung aus Unentschlossenheit

und Selbstblockade ist die westliche Demokratie inzwischen

selbst in die Krise geraten. Zusehends machen sich

Zweifel daran breit, dass diese Form der Organisation des

Politischen in der Lage sei, den gegenwärtigen wie zukünftigen

Herausforderungen zu genügen. In weiten Teilen der Welt

ist inzwischen nicht mehr der demokratische Verfassungsstaat

das politische Vorbild, an dem sich die Menschen

orientieren, sondern an seine Stelle ist das chinesische

Modell getreten, eine Kombination aus Hierarchie

und Ideokratie, in dem eine Elite aus Parteipolitikern

und Experten mit dem Anspruch

auftritt, genau zu wissen, was zu tun sei und wohin

die Entwicklung gehen solle, wobei sie sich in

der Umsetzung ihres Willens durch nichts und niemanden

aufhalten lässt. Es ist nicht auszuschließen,

dass dieser Typ politischer Organisation zum letzten politischen

Sammler und Träger des Utopischen wird — jedenfalls

dann, wenn man das Utopische als wesentlich technokratisch

begreift und es als die einzig überzeugende Reaktion auf die

hereinbrechenden Katastrophen begreift, die das Überleben

der Menschheit in Frage stellen.

Die Ausbreitung einer pessimistischen Grundstimmung in Europa,

zumal in Deutschland, die Mischung aus Apathie und

Hysterie, Tatenlosigkeit und Dauererregtheit, ist umso bemerkenswerter,

als die Ergebnisse demoskopischer Umfragen wie

die sozialstatistischen Daten selbst übereinstimmend zeigen,

dass es der überwiegenden Mehrheit der Deutschen gut geht

und diese mit ihrer Lage durchaus zufrieden ist. Nicht die Gegenwart,

sondern die Zukunft ist für sie das Problem: Es geht

einem gut, aber man ist davon überzeugt, dass dies schon

bald nicht mehr der Fall sein wird. Zwischen Erfahrungsraum

12 13



Die Inversion von Utopie und Nostalgie

Die politische Linke spricht vom sozialen Abstieg ganzer

Schichten, die Rechte vom schrittweisen Niedergang Deutschlands

und von einer Bedrohung des »Abendlands« infolge der

Migration und des Hereinkommens von Fremden. Die Ökologiebewegung

wiederum beschwört eine Katastrophe von apokalyptischen

Dimensionen, wenn nicht sofort und radikal

eine Umkehr gelinge, die auf eine endgültige Verabschiedung

vom bisherigen Lebensstil in den reichen Ländern hinauslaufe.

So unterschiedlich diese Bedrohungsszenarien von Begründung

wie Zielrichtung her auch sein mögen — in einer Hinsicht

laufen sie auf dasselbe hinaus: dass schon bald Schluss ist mit

dem Wohlstand, wie wir ihn bislang genossen haben. Am zuversichtlichsten

ist in dieser Hinsicht noch die politische Linke,

stellt sie doch in Aussicht, dass bei einer anderen Verteilung

der Vermögen und Einkommen alles wieder gut werden

könne: der soziale Abstieg werde gebremst und die prekären

Existenzen würden beendet. Das klingt beruhigend —

und ist zugleich der vielleicht stärkste Indikator für

die Erschöpfung der utopischen Energien: Die

Linke ist von ihrer politischen Programmatik her

konservativ geworden. Was sie anstrebt ist, dass

alles wieder so wird, wie es einmal war: Normalarbeitsverhältnisse

und Deutschland eher eine

Industrie- als eine Dienstleistungsgesellschaft.

Dass die politische Rechte eine im Kern antimodernistische

Politik vertritt, ist wiederum nicht überraschend:

Rückkehr zum klassischen Nationalstaat mit seiner ethnischen

und kulturellen Homogenität, scharfe Abgrenzung von

eigen und fremd, Wirtschaftsprotektionismus, Ausstieg aus

der Globalisierung, Rückgewinnung der Kontrolle über Grenzen.

Wenn alles wieder so wird, wie es einstmals war, könne

der Niedergang verhindert und der drohende Untergang abgewendet

werden. Man kann das als rückwärtsgewandte Utopie

bezeichnen; in jedem Fall handelt es sich um eine Inversion

von Utopie und Nostalgie.

Blickt man zurück auf die Geschichte der periodisch auftretenden

Niedergangs- und Untergangsvorstellungen sowie

der sich wellenförmig ausbreitenden Angst in deren Folge, so

zeigt sich, dass nicht zuletzt die Beschwörungen von Abstieg

und Niedergang selbst in Katastrophen und Untergänge geführt

haben — nicht nur in Deutschland, aber hier in besonders

dramatischer Form. Vor Niedergangsdiagnostikern und Unterund

Erwartungshorizont, um das von dem Historiker Reinhart

Koselleck geprägte Begriffspaar aufzugreifen, gibt es keine

Überbrückungen mehr bzw. was davon noch vorhanden ist,

wird als einsturzgefährdet angesehen. Das Fortschrittsbewusstsein,

das die westlichen Gesellschaften in der zweiten

Hälfte des vergangenen Jahrhunderts getragen hat, ist verschwunden,

und die Strickleitern des Utopischen, mit

denen in der Vergangenheit Schluchten und Abgründe

überwunden wurden, sind so marode geworden,

dass sich kaum einer noch auf sie verlassen

möchte. Zu Beginn der 1990er Jahre schon hat

Jürgen Habermas von einem Versiegen der utopischen

Energien gesprochen. Das war damals, nach

dem Scheitern des Realsozialismus, darauf bezogen,

dass sich nur noch wenige eine andere Zukunft

vorstellen konnten als die globale Ausdehnung von Kapitalismus

und Demokratie. Das war gewissermaßen die letzte

große Utopie: Wenn es überall so wäre, wie es bei uns jetzt

schon ist, würde alles gut werden. Damit hatte die Selbstzufriedenheit

sich des Utopischen bemächtigt. Der jetzt vorherrschende

Pessimismus ist die Quittung dafür.

gangspropheten muss gewarnt werden. Der von Oswald

Spengler am Ende des Ersten Weltkriegs diagnostizierte »Untergang

des Abendlandes« hat mit dazu beigetragen, dass Europa

gut zwei Jahrzehnte später tatsächlich am Rande des

Untergangs stand — auch darum, weil sich viele aus der gesellschaftlichen

Mitte auf das von Spengler nahegelegte Rezept

der neuen Caesaren eingelassen hatten und einem solchen als

vorgeblichem Retter gefolgt waren.

Historische Erinnerung als Kompensation für fehlende Utopien

Davon sind wir in Deutschland, jedenfalls zurzeit — noch?—

weit entfernt. Nach wie vor schrecken die Spuren vergangener

Marschbewegungen zur Abwehr von Niedergang und Untergang.

Diese Imprägnierung durch die geschichtliche Erinnerung

hat viel zur politischen und sozialen Stabilität der alten

Bundesrepublik wie des wiedervereinigten Deutschland beigetragen.

Historische Erinnerung kann, wenn sie klug

aufbereitet ist, eine Kompensation für das Fehlen

von Utopien und die Schwäche von Fortschrittsvorstellungen

sein — ein Funktionsäquivalent,

dessen Wirkung freilich zeitlich begrenzt ist und

das gegen die von links wie rechts andrängenden

Ängste einen wesentlich defensiven Charakter hat.

Es vermag Ängste zu dämpfen und auf das Niveau

latenter Sorge, der kleinen Schwester der Angst, zurückführen.

Aber große Zuversicht in die eigene Handlungsfähigkeit,

in die Fähigkeit, sich der Zukunft zu vergewissern

und ihrer zu bemächtigen, vermag sie nicht hervorbringen.

Die Versicherung, dass Bonn und nach ihm Berlin »nicht Weimar«

seien, mag beruhigen, aber es bleibt doch der Zweifel, ob

diese Feststellung für alle Zeit Geltung hat. Dementsprechend

hat sich breitgemacht, was man als kontemplative Melancholie

bezeichnen kann — eine Konstellation des »Dazwischen«,

des noch Unausgemachten. Denn es ist klar, dass das Betrachten

und Zuschauen durch tätiges Handeln abgelöst und die

Melancholie nach einiger Zeit durch eine neue Zuversicht ersetzt

werden muss. Das wird kaum möglich sein ohne einen

großen Schuss utopischer Energie, mit der wir uns ein Bild

machen von der anzustrebenden Zukunft.

14 15

Fiktionen des Alternative

Nun haben wir es jedoch seit langem mit einer Krise der

Utopie zu tun, deren Ende vorerst nicht abzusehen ist. In der

Geschichte ihrer Einflussnahme auf das sozio-politische Denken

hat die Utopie immer wieder ihre Gestalt gewechselt: von

den Entdeckungen des Kolumbus bis ins späte 18. Jahrhundert,

als die beiden Hemisphären des Globus weitgehend kartographiert

waren und auch die vielgestaltige Welt der Südsee entdeckt

und beschrieben war, wurde die Utopie als ein Ort gedacht,

der abseits der uns bekannten Welt lag und an dem fast

alles anders war, als die Zeitgenossen es für selbstverständlich

hielten. Den Europäern wurde ein Spiegel vorgehalten, und in

diesem Spiegel sahen sie, was an ihrer eigenen gesellschaftlichen

Ordnung misslungen und veränderungsbedürftig war. Als

literarische Fiktion präsentiert, waren diese Utopien Hinweise

auf die Reformbedürftigkeit des Gewohnten, und gelegentlich

waren sie auch Impulse zu dessen revolutionärer Veränderung.

Sie waren ein im Raum angesiedeltes Gedankenexperiment

über Alternativen zum Bestehenden.

Ende des 18. Jahrhunderts war die Welt dann

entdeckt und erforscht, und die literarische Fiktion

des Alternativen wanderte aus dem Raum

hin über in die Zeit. Aus der Utopie wurde die

Uch ro nie. Statt des Unentdeckten wurde die Zukunft

zum Ort eines möglichen Besseren, und von

nun an begaben sich die literarischen Protagonisten

des Utopischen auf eine Zeitreise, um in der Zukunft alternative

Formen des Zusammenlebens zu entdecken. In der

Science- Fiction-Literatur bzw. den diese Literatur ablösenden

Filmen hat das bis heute überlebt. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts

mischte sich ins Utopische jedoch das Dystopische.

Man spricht auch von Warnutopien, wenn der Wunschtraum

zum Albtraum wird und wenn das, was als Zukunft daherkommt,

als ein unter allen Umständen zu Vermeidendes präsentiert

wird. Huxleys Schöne neue Welt und Orwells 1984

stehen für diesen Typ von Warnutopie. Sowohl der wissenschaftlich-

technologische Fortschritt als auch die Neuorganisation

der Gesellschaft wurden in diesen Dystopien zu Kräften,

die der Freiheit und dem Glück der Menschen entgegenstanden.

Die Utopie wurde skeptisch gegenüber dem, was sich

mit ihrer Hilfe herstellen ließ und was in Verfolgung des von

ihr angezeigten Weges auf uns zukommen konnte. Das war

der zweite Gestaltwandel der Utopie.



»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«

Six Memos from the Last Millennium; I. Silencing

© Yair Klartag (2020)

16 17



Parallel dazu vollzog sich ein weiterer Gestaltwandel, bei dem

sich der utopische Entwurf aus einem Vorbild für alle Menschen

in einen Lebensentwurf für Einige verwandelte, und

zwar solche, die sich als moralische Elite verstanden und

durch ihr Vorbild andere dazu bewegen wollten, ihnen auf

ihrem Weg zu folgen. Das reichte von den Lebensreformbewegungen

der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert

bis zu den Kommunen der 1960er und

1970er Jahre. Ihnen allen war jedoch gemeinsam,

dass sie keine lange Lebensdauer hatten und kaum

eine Bewegung hat die Gründergeneration überdauert.

Ohnehin handelte es sich nicht selten um

eskapistische Projekte, in denen begrenzte Personengruppen

sich den gesellschaftlichen Zwängen entzogen,

ohne dass sie damit Veränderungserwartungen für

die Gesamtgesellschaft verbanden. Die Utopie, durch das Projekt

der Realisierung des Sozialismus und die Schaffung eines

»neuen Menschen« ohnehin schwer gebeutelt, zog sich in die

Nischen der Gesellschaft zurück.

Utopien unter Zeitdruck

Die ökologische und die feministische Bewegung haben

der Verbindung von politischen Zukunftsentwürfen und nicht

zuletzt moralischen Sollensvorstellungen, wie man die Utopie

ja auch beschreiben kann, zwischenzeitlich noch einmal auf

die Beine geholfen. Aber auch da hat sich der anfängliche

Enthu siasmus mit dem Beginn der Projektrealisierung schnell

verflüchtigt. Die utopischen Entwürfe sind unter kurzfristige

Realisierungserwartungen geraten, und so fehlt ihnen die Zeit,

genauer durchdacht zu werden. Kaum formuliert, werden die

Utopien schon mit den Zerwürfnissen und Problemen bei ihrer

Verwirklichung konfrontiert. Offensichtlich hat diese Kurzatmigkeit

zum Versiegen der utopischen Energien entscheidend

beigetragen: Die utopische Zukunft bekommt keine Zeit,

ausfabuliert zu werden, sondern gerät sogleich unter politischmora

lischen Realisierungszwang, der verhindert, dass sie im

Medium der Erzählung durchbuchstabiert werden kann. Das

war bei den in ferne Räume und noch fernere Zeiten

hineingestellten Wunschbildern ganz anders, denn

hier war von vornherein klar, dass sie sich nicht

umgehend realisieren ließen. Und weil das so war,

handelte es sich bei diesen Wunschräumen und

Wunschzeiten eher um Anregungen für langfristig

angelegte Reformprozesse und nicht um Baupläne

und Gebrauchsanweisungen für umgehend

einzurichtende neue Gesellschaften. Die Utopisten

durften früher Erzähler bleiben und der Raum des Imaginativen

stand ihnen lange Zeit offen, während sie heutzutage sogleich

in die Rolle von Gesellschaftskonstrukteuren gedrängt

werden.

Mit der Ausbreitung von Abstiegsängsten, Niedergangsszenarien

und Untergangsvisionen ist der auf potentiellen

Utopieentwicklern lastende Zeitdruck noch größer geworden.

Die Vorstellungen von Abstieg und Niedergang sind nicht nur

das Gegenteil utopisch ausgestalteter Erwartungen. Es sind

gleichsam Gegenentwürfe, die um diskursive Aufmerksamkeit

kämpfen. Sie verhindern durch den von ihnen erzeugten

Zeitdruck auch, dass Utopien überhaupt entwickelt und ausfabuliert

werden können. Insofern steht es schlecht um die Erwartung,

dass die Quellen des Utopischen demnächst wieder

fließen. Je stärker sich die Katastrophenvorstellungen ausbreiten,

desto fester sind die Quellen des Utopischen verstopft.

Es kommt hinzu, dass unter dem Eindruck der inzwischen

überschrittenen »Grenzen des Wachstums« die Utopie nicht

länger auf eine Steigerung des materiell Verfügbaren setzen

kann, sondern, wenn sie eine Antwort auf die bedrängenden

Herausforderungen sein soll, sich in Knappheit und Mangel

einrichten muss. Die überwunden geglaubten Krisen

der alten Gesellschaft, Missernten infolge von Wetterunbill

und Klimaschwankungen, sind zurückgekehrt,

und wir werden uns mit ihnen zukünftig

nicht weniger beschäftigen müssen als mit den

Verwertungskrisen des akkumulierten Kapitals,

wie sie für den Kapitalismus typisch sind. Das wäre

eigentlich eine hinreichend große Herausforderung

für die utopische Phantasie, doch ist zweifelhaft, ob

diese mit den ihr eigenen Mitteln darauf überzeugende Antworten

geben kann. Es könnte sein, dass die Ära des Utopischen

mit dem Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert definitiv

zu Ende gegangen ist.

18 19

Funktionsäquivalente utopischer Phantasie

Sollte das zutreffen, so ist das freilich kein Grund, melancholischer

Resignation das Feld zu überlassen; vielmehr nötigt

es zur Suche nach Funktionsäquivalenten für das, was

bisher die utopische Phantasie beim Brückenbau zwischen

Erfahrungsraum und Erwartungshorizont gewesen ist. Das

könnte wissenschaftliche Expertise sein, die mit ihren Fähigkeiten

sehr viel weiter in die Zukunft zu schauen vermag als

früher und die dabei eine deutlich präzisere Antizipationsfähigkeit

hat als die utopische Phantasie — eine andere Form

dessen, was Friedrich Engels einmal als den Ȇbergang von

der Utopie zur Wissenschaft« bezeichnet hat. Im Unterschied

zur Utopie vermag die Wissenschaft freilich

nur das zu prolongieren, was sich der Sache

nach bereits jetzt zeigt. Die wissenschaftliche

Antizipation allein zeigt darum weder Alternativen

auf noch weist sie Auswege. Das ist die Aufgabe

politischer Klugheit, die durchaus mit einem

Schuss utopischer Phantasie angereichert sein

kann. Unbedingt zu vermeiden ist freilich, dass diese

politische Klugheit durch die Dramatisierung von Krisen

und sich abzeichnenden Katastrophen, durch die Propheten

des Niedergangs und Untergangs, unter Zeitdruck gesetzt und

zu überstürzten und vorschnellen Entscheidungen genötigt

wird. Die antizipierten Entwicklungen mögen besorgniserregend

und gefährlich sein. Hektische Unbesonnenheit jedoch

hilft dem nicht ab, sondern macht alles nur noch schlimmer.

Demokratische Deliberation, die alles, was zu beachten ist,

ins Kalkül einbezieht, könnte sich darum zuletzt doch noch

den schnellen Entscheidungen autoritärer Eliten, also dem

chinesischen Modell, als überlegen erweisen.



»OPERA, OPERA, OPERA! revenants and revolutions«

Skizzen

© the paranormal ○| eer group (Jakob Boeckh & Maria Huber & Ole Hübner)

20 21



Like mildew, a pessimistic prevailing mood

has come over the country and its people, a

mélange of resigned melancholy and a wild,

rather more despairing than politically well

thought-out protest directed against an economy

and its consumption of resources, which,

if it continues on like this, according to every

foresight will lead to an ecological catastrophe—if

it hasn’t done that already. In addition

to the melancholic people who have resigned

and those trying to stop the threatening catastrophe,

there are indeed still the recently

considerably consolidated group of those who

feel all of the appeals and warnings about catastrophes

are unproven idle talk and who rely

on an unrestrained attitude of “carry on.” In

addition, there is a fourth group that, however,

has become increasingly smaller over the

course of the last decades. This group consists

of those who count on the “metabolism”

between humans and nature based on factors

that can change things, such as scientific and

technological breakthroughs, inventions,

and innovations, and they expect from these

the solution to the pressing challenges. It appears

they are the last utopists, persons who,

in other words, see in the present potentials

of advancements the chances for a good, for

a better future—if these opportunities will be

used creatively and determinedly.

the rope ladders of utopia, with which ravines

and chasms were overcome in the past,

have become so dilapidated that hardly anyone

would like to rely on them anymore. At

the beginning of the 1990s Jürgen Habermas

already spoke of utopian energies drying up.

That was a reference at that time after the failure

of real socialism to the fact that only a

very few could still imagine a different future

than the global expansion of capitalism and

democracy. That was, in a manner of speaking,

the last grand utopia: if everywhere were

like it is already here now, then everything

would become fine. With this, self-satisfaction

usurped utopia. Today’s prevailing pessimism

is the payoff for this.

The Inversion of Utopia and Nostalgia

The political left-wing talks about the

social decline of entire social classes, the

right-wing talks about Germany’s progressive

decline and the threat to the “occident”

resulting from migration and foreigners entering

the country. The ecology movement,

on the other hand, conjures up a catastrophe

of apocalyptic dimensions if an immediate

and radical reversal isn’t successful, which

amounts to bidding a final farewell to the

previous way of life in the affluent countries.

As different as these scenarios of imminent

menaces are in their explanatory statements

as well as in their objectives may be, in one

respect they amount to the same thing: that

very soon the prosperity we have enjoyed up

until now will be over. The political left-wing

is the most confident about this, as it promises

that if wealth and income are distributed

differently everything could become better

again: social decline will slow down and precarious

existences will cease to be precarious.

That sounds reassuring—and is, at the

same time, perhaps the strongest indicator of

the exhaustion of utopic energies: the left has

become conservative in its political program.

What they are striving for is that everything

should become as it once was: normal working

conditions and Germany as a more or less

industrial society rather than a society based

on the provision of services. That the political

right-wing in its core represents anti-

These overlapping and, when media shocks

occur, converging moods have resulted in a

tendentious self-blockade of Western-style

democracies, where there may be constant discussions

that one has to urgently do something

about climate change and the disappearance

of biodiversity, whereupon then there is very

little that is done. And if something is done,

then these measures are instantly confronted

modern politics is, on the other hand, not surprising:

a return to the classic nation state

with its ethnic and cultural homogeneity, a

sharp demarcation between domestic and

foreign, protectionism, abandoning globalization,

and regaining control over borders.

When everything becomes the way it once

was, decline could be prevented and the imminent

downfall averted. One can call this a

reactionary utopia; in any case, it has to do

with an inversion of utopia and nostalgia.

If one looks back at the history of the

periodically appearing notions of decline

and demise, as well as the resulting anxiety

spreading like waves, it appears that in the

long run the invocation of descent and downfall

itself has led to catastrophes and downfalls;

not only in Germany, but here it has an

especially dramatic form. One must be warned

against decline diagnosticians and downfall

prophets. The “demise of the occident” as

diagnosed by Oswald Spengler at the end of

the First World War contributed to the fact

that Europe actually did teeter at the brink of

demise a good two decades later—also because

many from of the heart of society had

ingested the formula suggested by Spengler

concerning the new “Caesars” and had followed

one of them in the belief he was such an

ostensible savior.

Historical Memory as Compensation for the

Lack of Utopias

We in Germany are far—still?—from this,

at this moment in time in any case. The traces

of past movements involving marches still

stir up a defense against decline and demise.

This impregnation through historical memory

contributed much to the political and so-

with decisive resistance, either because they

interfere too deeply in the way of life of many

people, or because people doubt that the measures

will accomplish what they should effectuate.

The result of this mixture of indecisiveness

and self-blockade is that in the meantime

Western democracy itself has entered a crisis.

Doubts are increasingly spreading whether

this form of political organization is capable

of coping with the present challenges as well

as future challenges. In the meantime in very

many parts of the world a democratic constitutional

state is no longer the political ideal

that people orientate themselves to, but rather

the Chinese model has taken its place, a combination

of hierarchy and ideocracy where an

elite made of party politicians and experts

present themselves and claim to know precisely

what should be done and in which direction

developments should go, and all the time they

do not allow anything and anyone to stop

them in realizing their will. It cannot be precluded

that this type of political organization

will become the last political collector and

medium of utopia—at any rate when one comprehends

utopia as essentially technocratic

and as the sole convincing reaction to the irruptive

catastrophes that place in question the

survival of humanity.

DECLINE

ANXIETIES,

DOWNFALL

SCENARIOS,

VISIONS OF

CATASTROPHES

AND THE

OPPORTUNITIES

OF UTOPIAN

PHILOSOPHY

By Herfried Münkler

The dissemination of a prevailing pessimistic

mood in Europe, particularly in Germany—

this mixture of apathy and hysterics, inaction

and tumultuousness—is even more so remarkable

because the results of demoscopic surveys,

such as social-statistical data, unanimously

show the vast majority of Germans

are well off and absolutely satisfied with their

situation. The problem for them is not the

present but rather the future: One is well off,

but one is convinced that very soon this will

not be the case anymore. Between “space of

expectation” (Erwartungsraum) and “horizon

of experience” (Erfahrungshorizont), to pick

up on the pair of expressions the historian

Rein hart Koselleck coined, there are no stopgaps

any longer, or, to put it another way, what

still exists of them is viewed as being in danger

of collapsing. The awareness of progress,

which supported Western societies in the se c-

ond half of the past century, has vanished, and

cial stability of the old West German republic

as well as to the re-united Germany. Historical

memory can, if it is cleverly processed, be

compensation for the lack of utopias and the

weakness of conceptions of progress—a functional

equivalence whose effect is indeed

limited in terms of time and which has an essentially

defensive characteristic regarding

the growing anxieties from the left as well as

from the right. It may dampen anxieties and

lead back to the level of latent anxiety, the

little sister of fear. Ample confidence, however,

in one’s own ability to act, in the ability

to assure oneself regarding the future and

take possession of it, may not spawn it. The

assurance that Bonn, and after Bonn Berlin,

are “not Weimar” may be soothing, but doubt

remains whether this ascertainment is valid

for all time. Accordingly, what one can refer

to as “contemplative melancholy” has established

itself—a constellation of the “in-between,”

of what has not been agreed upon.

For it is clear that contemplation and observation

must be replaced by operative actions

and this melancholy after a certain period by

a new reassurance. This will hardly be possible

without a large dose of utopian energy,

with which we will create an image of the future

we should aspire to.

Fictions as the Alternative

We have been confronted, however, for a

long time now with a crisis of utopia, and the

end of this crisis is nowhere in sight for the

time being. In the history of its exertion of influence

on socio-political philosophy, utopia

has continuously changed its form: From the

discoveries of Columbus up into the late 18th

century, when the globe’s two hemispheres

were for the most part charted and the polymorphic

world of the South Seas had also been

discovered and described, utopia was conceived

as a place that lay beyond the world we

knew and where almost every thing was different

than what contemporaries considered

to be matter-of-fact. A mirror was held up to

Europeans, and they saw in this mirror what

the failures in their own social order were and

what needed to be changed. Presented as literary

fiction, these utopias were indications of

22 23



Utopias under the Pressure of Time

In the meantime, the ecology and feminist

movements have helped the connection

between the political drafts for the future and

not least the moral conceptions of what

should be (which is how one could also describe

utopia) get back on its feet again. But

here too the initial enthusiasm quickly evaporated

at the beginning of the project’s realization.

The utopian designs were subject to

short-term expectations of realization, and

therefore they lack the time to be thought out

more precisely. They are barely formulated

before the utopias are already confronted

with the discords and problems involved in

their implementation. Apparently this shortwindedness

has contributed decisively to the

ebbing of the utopian energies: the utopian

future doesn’t get the time to be formulated as

a fable, but rather it is immediately subject to

a political and moral compulsion to be implemented,

which prevents it from being able to

be spelled out in a narrative medium. That was

completely different with ideals set in faraway

realms and in times that were even further

away, for here it was clear from the very start

that they couldn’t be realized immediately.

And because it was that way these ideal realms

and ideal times were more or less stimuli for

long-term applied reform processes and not

construction plans and instruction manuals

for new societies that should be immediately

set up. Previously utopists were allowed to remain

storytellers and the realm of the imaginative

was open to them for a long time,

whereas nowadays they are instantly forced

into the role of being builders of society.

With the dissemination of anxieties regarding

decline, scenarios of demise, and

visions of downfall, the time pressure on the

the need to reform the status quo, and they

were also occasionally impulses to a revolutionary

change in the status quo. They were

a thought experiment in a realm, a thought

experiment on alternatives to what existed at

that time.

Then at the end of the 18th century the

world had been discovered and explored, and

the literary fiction of the alternative wandered

from space into time. The utopia became

the “uchronia” (Uchronie). Instead of

the undiscovered, the future became a place

of something possibly better, and from then

on the literary protagonists of utopia went on

a journey through time in order to discover

alternative forms of co-existence in the future.

This has survived until the present day

in science fiction literature and in the films

that replaced this literature. Since the beginning

of the 20th century, however, the dystopian

has been blending into the utopian. One

also talks about warnings concerning utopias

when the desired dream becomes a nightmare,

and when that which comes along as

the future is presented as something to be

avoided under all circumstances. Huxley’s

Brave New World and Orwell’s 1984 are representative

of this type of warnings about

utopias. Scientific-technological progress as

well as the re-organization of society became

forces in these dystopias that oppose

humanity’s freedom and fortune. The utopia

became skeptical of what was created with its

assistance, and of what could come our way

in the pursuit of the path utopia shows us.

That was the second transformation of utopia’s

shape.

Parallel to this, there was another transformation

of shape, where utopian design

transformed from an ideal for all people into

a life plan for a few, namely for the few that

perceived themselves as being a moral elite

and who wanted to incite others to see them

as role models and thus follow their path.

This ranged from the life reform movements

at the turn of the 19th and 20th centuries to

the communes of the 1960s and 1970s. However,

they all shared the common trait that

they didn’t last long and hardly any of them

outlasted the founding generation. In any

case, this very often had to do with escapist

projects, where a narrow group of persons

shunned social constraints and while doing

so weren’t concerned with the expectations of

change to society as a whole. Utopia, already

heavily damaged by the realization project of

socialism and the creation of a “new human

being,” withdrew into the niches of society.

potential developers of utopias has become

even greater. The concepts of decline and demise

are not only the opposite of utopian embellished

expectations. They are quasi the

alternative drafts that are fighting for discursive

attention. Through the time pressure they

generate, they also prevent that utopias can

be developed and worked out as fables at all.

To this extent, it doesn’t look good for the expectation

that the sources of utopia will flow

again soon. The more the concepts of catastrophe

disseminate, the more the sources

of utopia will be clogged up.

In addition to this, under the impression

of the by now exceeded “limits to growth,”

utopia can no longer rely on an increase in the

availability of material, but rather—if it should

be an answer to the menacing challenges—it

has to prepare for shortages and deficiencies.

The crisis of old society (which was believed

to have been overcome), crop failures as a result

of the rigors of weather, and climate fluctuations

have returned, and in the future we

will have to deal with them even more, and to

no lesser degree have to deal with the exploitation

crises of accumulated capital, as is

typical for capitalism. That would actually

be an amply large enough challenge for the

utopian fantasy, but it is doubtful whether

this can provide convincing answers with the

means it has available. It could be that the era

of utopia definitively came to an end with the

transition from the 20th to the 21st century.

Functional Equivalences of Utopian Fantasy

Should this be the case, then this is actually

not a reason to surrender to melancholic

resignation; in fact, it compels to search for

functional equivalences for what previously

had been the utopian fantasy for building a

bridge between the space of expectation and

the horizon of experience. That could be scientific

expertise, which, with its capabilities,

may look much farther into the future than

previously and while doing so has a distinctly

more precise ability to anticipate than utopian

fantasy—another form of that which Friedrich

Engels once described as the “transition

from utopia to science.” Unlike utopia, science

is indeed in fact only able to extend what

is now already showing. For this reason, scientific

anticipation alone doesn’t reveal any

alternatives nor does it point to ways out.

That is the task of political cleverness, which

definitely can be enriched with a dose of utopian

fantasy. Indeed, what must be unconditionally

avoided is that this political cleverness

be exposed to the pressure of time

through the dramatization of crises and impending

catastrophes, through the prophets

of demise and downfall, and be compelled to

make too precipitous and rash decisions. The

anticipated developments may be alarming

and dangerous. Hectic rashness, however,

does not remedy this, but rather makes all of it

even worse. Democratic deliberation, which

integrates into its calculations everything that

needs to be considered, could therefore in the

long run still yet prove to be superior to the

speedy decisions of authoritarian elites, in

other words, the Chinese model.

Herfried Münkler is one of the most

well-known political scientists in Germany.

He taught political science at Humboldt-Universität

zu Berlin until his retirement in 2018;

his specialties are political theory and the

history of political thought. He is the author of

numerous non-fiction books.

— Text received on January 28, 2020

24 25



»SUBNORMAL EUROPE«

Belenish Moreno-Gil & Óscar Escudero

© BELOS Editions

26 27



»Ich habe mich gebessert.

Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.«

Christian Kracht 2002

»You were always going to get used to the

taste of human anyway.«

N. K. Jemisin 2017

IHR

WERDET

EUCH

DIE

WAREN

NOCH

ZURÜCK-

WÜNSCHEN!

Ein paar unangenehme Gedanken zu

Musik, Spiel, Tanz, Film, Besitz und Verbrauch

Von Dietmar Dath

Im März 2020, während der ersten Woche der virenbedingten

Ausgangsbeschränkungen, war mir zuhause nicht nach Spielfilmen.

Anders als Lektüre kann man sie nämlich auch dann,

wenn man sie daheim anschaut, ohne Schaden an ihrer dramaturgischen

Integrität nicht beliebig oft unterbrechen, und die

Konzentrationsfähigkeit, die man braucht, um so einem Film

auf die lange Dauer zu folgen, litt unter der Nachrichtengier,

die mich umtrieb, unter diversen Beklommenheiten auch, unter

großem Verbindungsdurcheinander bei Beruflichem und

normaler menschlicher Aufgekratztheit anlässlich offenkundig

historischer Vorgänge. Dreimal, an drei verschiedenen

Abenden, starrte ich daher gefühlsunsicher und gedankenblockiert

auf meinen Flachbildschirm, während Frederic Rzewski

seine sechsunddreißig Variationen auf die Melodie vom vereinten

Volk, das niemals besiegt werden kann, in ein breites Klavier

mal hineindrosch, mal eher hineinstreichelte. Panisch,

heroisch, dann wieder zart und versponnen arbeiteten sich

seine Finger durchs Material, und ich blieb, dankbar

dafür, dass es das auf DVD gab und ich es besaß,

seltsam unbeteiligt, aber doch versorgt mit etwas,

das ich mir davon erhofft hatte, vielleicht einfach

Zeitvertreib. Das politische Drama dieser Musik,

das seine historische Vorlage bekanntlich in Salvador

Allendes chilenischem Volksfrontversuch

hat, hätte man auch als Theater inszenieren können,

mit Massen, wie sie Nicaragua gerade noch nach (!) der

offiziellen Deklaration des Pandemiestatus der neuen Erkrankung

durch die Weltgesundheitsorganisation auf seinen

Straßen erlebt hatte, vermutlich nicht zum Nutzen der Menschen,

die da zusammenströmten, um ihrer Regierung die

Treue und dem Virus ihren Trotz bekanntzugeben.

Als der Rzewski-Klavierabend sich abgenutzt hatte, stieg ich

auf Musicals um, genauer: Musicalfilme, also Les Misérables

mit Anne Hathaway, Evita mit Madonna, die Singspielfolge

Once More, with Feeling der Fernsehserie Buffy the Vampire

Slayer, solche Sachen. Während ich als Filmkritiker seit Jahren

nicht mit Spitzen gegen die elende Hollywood-Inszenierungsfaulheit

geize, jede Szene musikalisch plump mit orchestralen

Gefühlsverstärkern einzuschmieren, wo doch eine vernünftig

und kunstgerecht iszenierte Szene solche Zusatzstoffe gar nicht

nötig haben sollte, war mir genau diese Musiksoße zum Szeni-

Dietmar Dath ist Schriftsteller, Übersetzer, Musiker und Publizist.

Er veröffentlichte Romane, außerdem Bücher und Essays zu

wissenschaftlichen, ästhetischen und politischen Themen.

Er war Chefredakteur der Zeitschrift Spex und von 2001 bis 2007

Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung,

seit September 2011 ist er dort Filmkritiker.

— Text erhalten am 31. März 2020

schen im Zustand der wunden Wachheit, der schon nach einem

28 29

Tag Quasiquarantäne erschöpften emotionalen Mittel zur

Teilnahme an Vorgespieltem, plötzlich gerade recht, ja, sehr

gut: Der Film erzählt mir was, und ich muss nicht eigene Herzensregungen

hinzugeben, das macht schon die Musik, Merci.

Nach einer Woche war ich mit meinen Musikbewegtbildvorrat

durch, selbst Videoclips (Kate Bush, David Bowie) und Opern

(zwei von Wagner) hatte ich mir schließlich gegeben, alles

mittels DVDs. Ich lebe in der Wohnung, die ich in Frankfurt

am Main zur Miete bewohne, ganz ohne Internetzugang, vom

Smartphone abgesehen. Das ist das Resultat einer bewussten

Entscheidung: Zur Arbeit, ins Büro, muss ich nur über die

Straße gehen, das gab mir die Gelegenheit, beim Einzug den

Entschluss zu fassen, auch am Wochenende nur dann mit dem

Netz zu arbeiten, wenn es wirklich nötig war und ist; ein wichtiger

Dämpfer für meinen Hang, es mit dem Arbeiten zu übertreiben

. // Brauchst du das heute? Wenn ja, dann verlass die

Wohnung. Wenn dir das aber schon zu mühsam ist,

wird’s wohl keine gar zu wichtige Arbeit sein (das

reine Schreiben, ohne Netzhilfen, geht auch daheim;

einen Laptop habe ich da, aber eben mit

Bedacht, mit Willen und Bewusstsein keine Netzverbindung).

// Die Wahrheit ist: Die Bilder von

Menschen in Chören, Gruppen, Massen, Choreographien,

Formationen (selbst bei Beyoncé; der Lemonade-CD

liegt zum Glück eine DVD bei), die zu all

den Verbindungen von Musik und Schauspiel zu gehören

schienen, auf die ich in dieser Lage Zugriff hatte, stießen mich

schließlich stark ab — Menschenaufläufe bei Björk (It’s oh so

quiet), Tanzende bei Leonard Bernstein (West Side Story), bei

Joss Whedon (Once More, with Feeling), bei Terry Gilliam (die

schönste Szene in The Fisher King), das war mir alles zu weit

weg von meinem durch die Umstände aufs Einzelwesendenken

reduzierten Selbstverständnis. Sogar mit den Liebsten konnte

man nur noch telefonieren, die Aussicht auf Wir alle zusammen

oder The People United will never be Defeated löste daher

Phantomschmerz aus. Also lieber wieder Bücher, die intime

Kommunikation mit einem Text, der mit einer einzigen Stimme

spricht, selbst wenn ein Kollektiv dahintersteckt? Oder doch

Musik, aber ohne Bilder von Menschengruppen, eine rein akustisch

hergestellte Gemeinschaft von Sender und Empfänger,

wie bei mir und meinem Telefon? // Ich wühlte im CD-Bestand

und fand ein Album, das ich vor mehr als dreißig Jahren einmal



einen Lebensabschnitt (mehrere Monate, vielleicht ein Jahr)

lang beinah täglich gehört hatte, insgesamt oder auszugsweise,

per Einzelstück: Repeater von Fugazi (erst jetzt, da ich das hinschreibe,

geht mir der besonders dumme Witz an der Sache auf:

Klar habe ich das oft abgespielt, es heißt ja schon so, als wollte

es endlos wiederholt werden). // Das Projekt Fugazi beeindruckte

mich, als ich Anfang der Neunziger erstmals davon

erfuhr, als eine aus dem Geist von Punk, Hardcore und Do-It-

Yourself-Ethos geborene Band, die mit niedrigen Eintrittspreisen

bei Konzerten und anderen strengen Maßnahmen der

gelebten Kritik am Warenfetischismus eine Alternative zu

Kommerz, Ramsch, Schund und Werbewahnsinn der Popmusikindustrie

anbieten wollte. // Auf Repeater gibt es ein Lied

namens Merchandise, das die Gesellschafts- und Kulturkritik,

um die es bei dieser Alternative geht, hilfreich ausbuchstabiert:

Merchandise keeps us in line

Common sense says it’s by design

What could a businessman ever want more

Than to have us sucking in his store

We owe you nothing, you have no control

You are not what you own

Beim Wiederhören dachte ich: Ah ja, CDs, DVDs,

Waren… // Vergegenständliche Arbeit in der

Kunst, »Werk« als Ware, das ist in der Tat eine Falle

für all die guten, gerechten, solidarischen, emanzipierten

und emanzipatorischen Haltungen, die Kunst kommunizieren

kann. Okay. Ein Statement also, aber ein historisches,

wie jedes, das sich auf Gesellschaftliches reimen will. Die

Bedingungen, unter denen die Kritik daran, dass Kapitalismus

als Verdinglichungsmaschine das Tun der Leute zu Waren

zerlegt, festfriert und damit tötet, auf jeden Fall eine linke,

eine fortschrittliche, eine über das Kapitalverhältnis hinaus

auf etwas Schöneres, Freies gerichtete Kritik ist statt etwas

anderes, sind nicht ewig gegeben. Sie können wegfallen

oder sich ändern, während der Kapitalismus vom Konkurrenzwesen

zum Monopolwesen voranschreitet oder besser: stolpert

(falls Panzer stolpern können). // Die Sache ändert sich;

die Kritik an ihr muss das also auch.

30

Historisch, was heißt das? // Als ich ein Kind war, in den Siebzigerjahren

des letzten Jahrhunderts, kannte ich keinen Menschen,

der über irgendeinen fürs Kino oder fürs Fernsehen

produzierten Film hätte sagen können: »Mir gehört dieser

Film« oder »ich habe diesen Film zuhause«. // Auch meine

Eltern kannten keine Leute, die sowas hätten sagen können.

Es gab Personen mit Spielkameras und Babyprojektoren,

8mn-Freaks, Heimkino-Hobbytrottel. Aber Krieg der Sterne

zu besitzen (wie wir, Kinder und Eltern, damals für Star Wars

sagten), das war unvorstellbar — man musste, wenn man diesen

Film sehen wollte, ins Lichtspielhaus oder warten, bis er

in der Glotze kam (da kam er aber nie, da kam nur Scheiße). //

Musik dagegen besaß man, es gab ja Platten und Kassetten. //

Anfang der Achtzigerjahre änderte sich das dann in dem

Hochhausviertel, in dem ich wohnte, mit seinem eher kleinbürgerlichen

Milieu, den vielen Angestellten und einigen in

dumpfer Lohnarbeit vor sich hin rackernden Personen, die

man der damals noch häufiger mit ihrem alten Namen

»Arbeiterklasse« bezeichneten demographischen

Menge zurechnete.

Die Gehrmanns, die etwas mehr Geld verdienten

als der Rest vor Ort, kauften sich einen Videorekorder,

und irgendwann besaßen sie ein Band mit

Krieg der Sterne drauf. Die beiden Kinder der Gehrmanns

konnten den Film rasch auswendig, bekamen

ihn aber nie satt. Das mag auch daran gelegen haben, dass

ihnen dieser besondere Familienbesitz eine Art Macht unter

Gleichaltrigen verlieh: Sie konnten andere Kinder und Jugendliche

zu sich einladen, ins Quasikino mit Chips und Cola.

Ein Teil menschlicher Bedürfnisse ist naturgegeben (Atemluft,

Essen, Wasser, Schlaf, Schutz vor der Witterung etc.), ein Teil

wird sozial erzeugt (das macht Letzteren nicht per se schlechter:

alles, was Menschen von der Gefangenschaft in Naturfesseln

befreit und über den Tellerrand der Not blicken lässt, schafft

Raum für Ethik, Ästhetik, Erkenntnis und Freude): »Niemand

weiß, was ein Videorekorder ist, fünf Minuten später wollen

alle einen haben.« (Hermann L. Gremliza) // Ich wollte auch

einen; wenige Jahre später besaß ich ihn. // In London, bei einem

teuren Urlaub (mit Interrail-Ticket, für Studierende mit

meiner Herkunft die einzige Chance, ein bißchen Europa zu

sehen) kaufte ich mir bei HMV 1990 mein erstes englischspra-

»DAVOR«

Abbild eines Musikausschnitts für eine VR-Szene, in Logic Pro produziert

© Yoav Pasovsky

31



chiges Original-Film-VHS-Band: Paul Schraders Cat People-

Remake von 1982. Am selben Tag betrat ich zum ersten mal

den legendären, an ein Label angeschlossenen Plattenladen

Rough Trade und erstand dort ein paar Kassetten; Vinylplatten

waren mir für den Transport nach Hause zu unhandlich, und

einen CD-Player erwarb ich erst ein Jahr später, wenn mich die

Erinnerung da nicht täuscht.

Historisch? // Worauf ich mit diesen Erinnerungen zwischen

Video- und Musikbändern hinauswill, liegt auf der Hand: In

der Quarantäne 2020 fühlten sich plötzlich mehr und mehr

Leute, die ich kenne, mit ihren Kunstwaren eingesperrt, die

Auswahl war, egal wie groß, immer zu klein, also ließen sich

auch diejenigen Menschen aufs Streaming ein, die dem bis

jetzt widerstanden hatten: Filme, Musik, alles ist aus Daten,

man wählt was im Internet aus, bezahlt elektronisch, die ganze

Welt öffnet sich — nun ja: die Welt der Nutzungsrechte, des

Abspielendürfens.

dachte: Die Kapitalisten besitzen zwar die Fabriken, aber ich

besitze eine Stereoanlage und ein Theater-Abonnement, will

mich also nicht beklagen; besser als im Kommunismus oder

Sozialismus, wo es keine (guten) Stereoanlagen für Privathaushalte

gibt und mir die Partei vorschreibt, wann ich wo ins

Theater gehe, ist es hier allemal — wer so dachte, hat den Kommunistinnen

und Kommunisten nicht zugehört, die seinerzeit

auch im Westen versuchten, den Leuten zu erklären, dass der

Besitz von Produktionsmitteln und der Besitz von Gebrauchsund

Genußgütern nicht dieselbe Sorte Besitz ist, dass es also

nicht um Quantitäten, um mehr oder weniger Reichtum geht.

Der Kapitalist ist überhaupt nicht einfach »ein reicher Mann«.

Kapitalismus lebt von der Sorte Besitz, die erlaubt, Arbeit zu

kaufen. // Die Kleinbesitzer von Kleinproduktionsmitteln sind

bald nach Beginn der kapitalistischen Marktkonkurrenz kaputtkonkurriert,

der Schuster kann gegen einen Schuhkonzern

nichts ausrichten, die Uhrmacherin nie mit den Swatchproduktionsanlagen

mithalten.

Die Schuster und Uhrmacherinnen der nahen Zukunft, die

letzten, die noch werden glauben können, sie besäßen (kleine,

sehr raubanfällige) Produktionsmittel, dürften dann wohl

diejenigen sein, die ein Tun verkaufen, das so tut, als täte es

was, dabei aber nichts hervorbringt als eben die Darstellung

solchen Tuns: Schauspielerinnen, Tänzer, Kunstschaffende

des körperlichen Erzählens. // Was werden sie damit anfangen,

wenn sie das verstehen?

Besitz geht anders. Ich darf beim Stream hören,

schauen, ich lagere nicht, ich horte nicht. // Eines

der ersten e-books, die sich mir bekannte Menschen

auf ihre Lesegeräte luden, vor Jahren, war

ein dicker Roman von Neal Stephenson. Einige Leser*innen

schrieben Anmerkungen dazu in die Datei.

Eines Nachts aber wurde das Buch durch ein Update

ersetzt, das ein paar Fehler im Text beheben sollte. Da waren

die Anmerkungen weg. Solche Sachen passieren längst nicht

mehr; aber der Vorgang hatte drastisch beleuchtet, was ein

elektronischer Zugang zu einem Text (einem Musikstück, einem

Theaterabend, einem Film) ist: eine Nutzungsgelegenheit,

und zwar in den Grenzen, die von den Rechte besitzenden (die

nicht immer die Urheber sind, in den lukrativsten Fällen sind

es Konzerne) gezogen und bewacht werden.

Als ich klein war, machten mir und anderen Kleinen die Ideologiefabriken

des Kapitalismus gern und oft Angst vor »den

Russen«, »dem Kommunismus«, mit Ideen der Art: Kommune

heisst Gemeinschaft, da, wo Kommunismus herrscht, im Osten,

gehört dem Einzelnen nichts. Im Kapitalismus dagegen,

im Westen, in der freien Welt, da schützen wir das Eigentum,

niemand nimmt dir hier deine Spielsachen oder Lutscher weg;

wofür du bezahlt hast, das ist für immer deins! // Wer damals

Die einzige Ware, die den Kapitalismus wirklich interessiert,

ist die Arbeitskraft. Wenn Home Office

und neue Workflows andere, gegenständliche Waren

aus dem Marktgeschehen spülen, macht das

dem Kapital wenig aus — im Gegenteil, es spart Lager-

und Vertriebskosten, glauben Sie’s einem Autor,

der zwanzig Jahre lang im Zeitungswesen gearbeitet hat.

Die Viruskrise 2020, mit ihren Schnitten in der Beweglichkeit

von Menschen und Zeug, hat die Abschaffung oder doch Verminderung

gewisser Waren nicht erfunden oder ausgelöst, nur

beschleunigt; Zeitungen, Filmverleihfirmen, Spielstätten lassen

sich in ihrem Zeichen »was einfallen«, das ohnehin auf der

Tagesordnung stand. // Es wird im Künftigen weniger als zuvor

um die Produkte des Tuns der Abhängigen gehen, dafür mehr

um dieses Tun selbst (zuletzt noch euphemistisch »Dienstleistung«

genannt). Die ohnehin zunehmend permeable Grenze

zwischen geistiger und körperlicher Arbeit wird weiter verschwimmen.

Die Herrschaft wird nicht mehr vermittelt sein

über Grundbesitz (wie im Feudalismus) oder Maschinenbesitz

(wie im Industriekapitalismus) sondern (per Armband? Chip

im Kopf?) wieder direkt nach den Körpern greifen; wie damals

in der Sklaverei (ein Kreis schließt sich um einen menschlichen

Hals).

32 33



YOU’LL BE

WISHING

YOU HAD

PRODUCTS

AGAIN!

A few uncomfortable reflections on music,

play, dance, film, ownership and consumption

I didn’t feel like watching feature films at

home during the first week of confinement

triggered by the virus in March 2020. It’s not

like reading, as you can’t simply interrupt a

film whenever you feel like it without damaging

its dramaturgical integrity, even if you’re

watching at home and my ability to concentrate,

which is crucial to follow that kind of

film throughout its entire length, suffered

from the greed for news that possessed me, as

well as from various anxieties, enormous

chaos when it came to staying connected professionally

together with a normal human

sense of agitation in the face of what are quite

obviously historical events. On three occasions,

on three different evenings, I therefore

ended up staring at my flat screen, emotionally

unsettled and with my brain frozen, as

Frederic Rzewski sometimes pounded, sometimes

caressed from the keys of a concert piano

his thirty-six variations on the melody of the

people united who will never be defeated.

Panicky, heroic, then tender and meditative,

his fingers worked their way through the material,

and, grateful although I was that it was

available on DVD and that I owned a copy, I

remained strangely uninvolved, yet it did give

me something I had hoped it would—perhaps

simply a way to pass the time. // The political

drama of this music, based, as we know, on

Salvador Allende’s attempt to establish the

people’s front in Chile, could also have been

staged as theatre, with crowds like the ones

that flooded onto Nicaragua’s streets just after

(!) the World Health Organisation officially

declared the new disease to be a pandemic,

which was probably not much help to the people

who congregated to proclaim their loyalty

to their government and to defy the virus.

When the attraction of the Rezewski piano

recital had worn off, I switched to musicals,

to be precise, the film versions of them: Les

Misérables with Anne Hathaway, Evita with

Madonna, the Once More, with Feeling singalong

episode from the TV series Buffy the

Vampire Slayer, things like that. As a film

critic I’ve relentlessly attacked Hollywood

productions for years for being so horrendously

lazy and adding heavy-handed musical

lubrication with orchestral emotion enhancers

to every scene, when any reasonable,

creatively directed scene has no need of such

additives. Yet all of a sudden I found that this

musical dressing accompanying the staging

was actually fine, indeed it was a very good

thing in my state of vulnerable alertness, with

my emotional capacity to participate in the

performance so depleted after just one day of

semi-quarantine: The film’s telling me some

story or other, and I don’t have to supplement

it with my own sentiments, for the music will

take care of that, merci.

After a week I had run through my stash of

music-based moving images; I had even administered

video clips (Kate Bush, David

Bowie) and operas (two by Wagner) to myself,

all via DVD. In the flat I rent in Frankfurt am

Main I have no Internet access at all, apart

from my smartphone. I took a conscious decision

that it would be that way: I only have to

cross the street if I want to go the office and

work, so when I moved in I took the opportunity

to decide that I would only do work involving

the Internet at weekends if really

necessary; that puts an important damper on

my overworking tendencies. // Do you need

it today? If you do, you’ll have to leave the

flat. But if that seems too much of an effort, it

can’t be such important work (simply writing,

without consulting the Internet, is also possible

at home; I have a laptop there, but no Web

access—advisedly, out of choice and consciously).

// If truth be told, in the end I felt

really repelled by all those images of people

in choirs, groups, masses, choreographies,

formations (even in the case of Beyoncé; luckily

the Lemonade CD comes with a DVD) that

seemed to be part and parcel of all the combinations

of music and acting I could access in

By Dietmar Dath

When I heard it again I thought: Ah yes, CDs,

DVDs, products... // Objectified labour in

art, “the work” as a commodity, this is indeed

a trap for all the good, just, solidarity-driven,

emancipated and emancipatory attitudes that

art can communicate. Okay. A statement,

then, but a historical one, like any statement

that tries to resonate with the societal realm.

We will not always find the conditions that

enable criticism of how capitalism as a machine

of reification breaks down people’s

actions into commodities, freezes them solid

and thus kills them, or in any event left-wing,

progressive critique that is directed beyond

attacks on capitalism towards something

more beautiful and free rather than something

else. Those conditions can vanish or

change as capitalism progresses from a competitive

system to a monopoly system, or

rather: as it stumbles (if tanks can stumble)

from one to the other. // Things are changing,

so criticism must change too.

Historical, what does that mean? // When I

was a child, in the 1970s, I didn’t know anyone

who could have said about any film produced

for cinema or television: “I own this film” or

“I’ve got this film at home.” // My parents

didn’t know anyone who could have said

something like that either. Some people had

toy cameras and baby projectors and there

were 8mm nerds, home cinema geeks. But to

own Krieg der Sternen (as we Germans, children

and parents, used to refer to Star Wars

back then) was unimaginable; if you wanted

to see that film, you had to go to a film theatre

or wait until it came on TV (but it never did,

they only showed a load of rubbish). // But

you could own music, on the other hand; there

were records and cassettes. // That changed

in the early Eighties in the high-rise district

where I lived, with its rather petty bourgeois

atmosphere, many white-collar workers and

some struggling away in dull waged labour,

viewed as belonging to the demographic category

often referred to back then by its old

designation, “working class.”

The Gehrmanns, who were a little better off

than the rest of the neighbourhood, bought a

video recorder, and eventually they had a tape

with Star Wars. The Gehrmanns’ two children

quickly learnt the film by heart, but never

got tired of it. This may have been because

this special type of family silver gave them

something akin to power among their peers:

they could invite other children and teenagers

to come over for something almost like cinema,

complete with crisps and cola.

Some human needs are natural (air, food, water,

sleep, protection from the elements, etc.),

some are socially produced (this does not per

se make the latter worse: everything that frees

people from the fetters of nature and allows

them to look beyond basic needs creates

scope for ethics, aesthetics, insight and joy):

“Nobody knows what a VCR is, then five minutes

later everybody wants one.” (Hermann

L. Gremliza). // I wanted one too; a few years

later I got one. // In London, on an expensive

holiday (with an Interrail ticket, the only

chance for students with my background to

see a little bit of Europe) I bought my first

English-language true-blue VHS tape at HMV

in 1990: Paul Schrader’s 1982 Cat People remake.

On that same day I set foot for the first

time in the legendary Rough Trade record

store, which was affiliated to a record label,

and bought a couple of cassettes there; vinyl

records were too bulky for me to carry home

and, if my memory serves me well, I didn’t buy

a CD player until the year after that.

Historical? // It’s fairly obvious what I’m getting

at with these memories set somewhere

between video and music tapes: during the

2020 quarantine, more and more people I

know have suddenly felt as if they were locked

up with their art commodities. No matter how

much choice there was, it was never enough,

“I’ve improved.

I have never eaten human flesh.”

Christian Kracht 2002

“You were always going to get used

to the taste of human anyway.”

N. K. Yemisin 2017

this situation: whether it was crowds of people

in Björk’s video (It’s oh so quiet), people

dancing in images shot by Leonard Bernstein

(West Side Story), Joss Whedon (Once More,

with Feeling) or Terry Gilliam (the most beautiful

scene in The Fisher King), it was all too

far removed from my self-image, which had

been pared down by circumstances to thinking

in terms of individual beings. Even with

your loved ones all you could do was talk on

the phone, so the prospect of Wir alle zusammen

(All of Us Together) or The People United

will Never be Defeated caused phantom pain.

Were books perhaps a better idea, intimate

communication with a text that speaks with

one voice, even if there is a collective behind

it? Or music, but without images of people in

groups, a purely acoustic communion of

transmitter and receiver, like with me and my

telephone? // I rummaged through the CD collection

and found an album that over thirty

years ago I listened to almost every day during

one particular period (for several months,

maybe a year), either all the way through or

just some of the tracks: Repeater by Fugazi

(only now, writing this down does it strike me

that there’s something particularly preposterous

about it. Of course, I played it over and

over again; after all, even the title suggests it

wants to be endlessly repeated.) // The Fugazi

project impressed me when I first heard

about it in the early Nineties: a band born out

of the spirit of punk, hardcore and the do-ityourself

ethos that aimed to offer an alternative

to the pop music industry’s commercialism,

junk, trash and advertising madness

through low ticket prices for concerts and

other rigorous measures that entailed living

out their critique of commodity fetishism. //

On Repeater there is a song called Merchandise

that helpfully spells out the social and

cultural criticism that this alternative entails:

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Merchandise keeps us in line

Common sense says it’s by design

What could a businessman ever want more

Than to have us sucking in his store

We owe you nothing, you have no control

You are not what you own



or less wealth. The capitalist is most definitely

not simply “a rich man.” Capitalism is nourished

by the kind of ownership that allows you

to buy labour. // Soon after the beginning of

capitalist market competition, small owners

of small means of production are put out of

business due to competition: the cobbler can’t

achieve anything if constantly struggling

against a large shoe company; the watchmaker

can never keep up with Swatch production

facilities.

which meant that even people who had previously

resisted now started streaming: films,

music, everything is made of data, you pick

something on the Internet, pay electronically,

the whole world opens up—well, the world of

rights, of being allowed to play something.

Ownership is different. I can listen and watch

when I’m streaming; I don’t stockpile, I don’t

hoard. // One of the first e-books that people

I know loaded onto their e-reader years ago

was a thick novel by Neal Stephenson. Some

readers wrote comments on it in the file. One

night, however, the book was replaced by an

update that was meant to fix some errors in

the text. And then the notes were gone. Things

like that don’t happen anymore; but the incident

rather dramatically highlighted the actual

nature of electronic access to a text (or a

piece of music, an evening at the theatre, a

film): an opportunity for use, within the limits

determined and safeguarded by the rightsholders

(who are not always the authors, in

the most lucrative cases they are corporations).

When I was small , the ideology factories of

capitalism often liked to terrify me and the

other little ones with “the Russians”, “Communism”,

with ideas such as commune means

community, and in the East, where Communism

holds sway, nothing belongs to the

individual. In capitalism, on the other hand,

in the West, in the free world, we protect property.

Nobody’s going to take away your toys

or lollipops; what you have paid for is yours

forever! // Some perhaps thought at the time

that the capitalists may own the factories, but

I’ve got a stereo and a theatre subscription, so

I’m not complaining; it’s definitely better

here than under Communism or Socialism,

where there are no (good) stereo systems for

private households and the party dictates

when and where I go to the theatre—anyone

who thought like that wasn’t listening to the

Communists, who were also trying in those

days to explain to people in the West that

owning the means of production and owning

consumer or luxury goods are not the same

kind of ownership, in other words to explain

that it’s not about quantity, about having more

The only commodity that capitalism is really

interested in is labour. Capital doesn’t care

when home office arrangements and new

workflows flush other, physical goods out of

the marketplace—on the contrary, it saves

storage and distribution costs; take it from an

author who has been working in the newspaper

business for twenty years.

»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«

Reise durchs Wohnzimmer oder wodurch? — Ausweidung

© Tobias Eduard Schick / Katharina Vogt (2020)

The 2020 virus crisis and the way in which it

has cut the mobility of people and things has

not invented or triggered the abolition or

dwindling of certain commodities, but has

simply accelerated it; newspapers, film distributors,

theatres are “putting on their thinking

caps” in response to this phenomenon that

was on the agenda anyway. // In future, there

will be less focus than there used to be on

products arising from the actions of the dependent,

and a greater emphasis on the actions

per se (recently still euphemistically

called “service”). The borderline between

mental and physical work, which is already

increasingly permeable, will become even

more blurred. Domination will no longer be

mediated by ownership of land (as in feudalism)

or of machinery (as in industrial capitalism)

but will reach out directly to grasp bodies

once again (with a monitoring bracelet? Or an

embedded chip?); as in slavery (a circle closes

around a human neck).

The cobblers and watchmakers of the near

future, the last ones who will still be able to

believe that they own (small, readily plundered)

means of production, will thus probably

be those who sell an action that pretends

to do something, yet produces nothing in the

process except the representation of such activity:

actresses, dancers, artists of physical

narration. // What will they do with it when

they understand that?

Dietmar Dath is a writer, translator, musician,

and journalist. He has published novels, and

also books and essays on the subjects of

science, aesthetics, and politics. He was the

editor-in-chief of the magazine Spex, and

from 2001 to 2007 he was the features editor

at the newspaper Frankfurter Allgemeine

Zeitung. He has been the film critic at that

newspaper since September 20 11.

— Text received on March 31, 2020

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»ONCE TO BE REALISED«

acusmata

© Beat Furrer

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NEW Return

Von Daniel Ott und Manos Tsangaris

Daniel Ott und Manos Tsangaris sind Komponisten

und die Künstlerischen Leiter der

Münchener Biennale — Festival für Neues Musiktheater.

— Der kurz vor Drucklegung des Programmbuches

eingetroffene Text von Dietmar Dath initiierte diesen Beitrag.

Das Leben der meisten Menschen heute ist so sehr von harten

glatten Oberflächen bestimmt, dass sie anscheinend im Begriff

sind, die plastische Vielfalt unseres Daseins zu vergessen.

Screens und feste Verschalungen von Lautsprechern sind

die nützlichen kalten Körper der Vervielfältigung. Alles, was

reproduzierbar ist, kann leicht zur Ware werden. // Das sind

ursprünglich ästhetische Nahrungsergänzungsmittel. Schließlich

fällt die Nahrung auch noch weg. Was bleibt, ist die Ergänzung.

// MusikMusik, das ist doch, was man hören kann,

nicht? // Sie wurde so sehr allein auf ihre hörbare Komponente

reduziert (was übrigens ursprünglich nicht so war), dass sie

immer und jederzeit perfekt in Lautsprecher und Kopfhörer

passt. Allverfügbarkeit. // Jetzt wird »die Musik« mehr und

mehr mit verkaufsfördernden Bildern bestückt. // Kaum ein

Stück Musik ohne Video-Clip. Im FilmFilm ist sie der Treibstoff

der Gefühle. // (Sehen wir uns einen Krimi ohne Tonspur

an. Kein Suspense. Film ist das zweidimensionale Gesamtkunstwerk

apriori.) // Wir sind von glatten, oft gläsernen

Oberflächen umzingelt. // Hinter, oder genauer: in

ihnen eröffnet sich virtueller Raum.

Raumöffnung. // Die Plastizität des realen Raumes:

jedes Lebewesens existiert im Raum. // Es

ist körperlich. Es ist Raum-Körper, Körper-und-

Seelen-Raum. // Man sollte uns nicht missverstehen.

Es geht nicht darum, die Maschinen zu stürmen.

Vielmehr nur darum, sie an die richtige Stelle zu rücken. Es

geht um Klärung der Verhältnisse. Eine Scheibe ist eine Scheibe

ist eine Scheibe ist … // Die Erde ist keine Scheibe.

Musiktheater, wie wir es verstehen, ist Meta-Medium, ein wunderbares

dynamisches Instrument, das den plastischen Raum

verwandelt und auch umkehrt. Es kann alle Raumkomponenten

zusammenbringen, indem es sie differenziert. Hierfür sorgen

Komposition und Inszenierung. Wir befinden uns immer

in Zelten (skené heißt ursprünglich Zelt), die vom konkreten

physischen Dasein, dem Raum und den Sprachmedien gebildet

werden, die im Spiel sind. Und im Spiel sind wir. Ohne Menschen,

die in diesem Raum verweilen, ihn sozusagen »aktivieren«,

findet es nicht statt. »Die Welt hat eine ursprüngliche

Fähigkeit durch mich belebt zu werden (…)«, schreibt Novalis.

Indem nun unterschiedliche Dispositionen, die auch die Bedingungen

der Aufführung miteinbeziehen, zum Gegenstand

von Komposition werden, also Teil der Inszenierung und des

Gesamt-Schöpfungsprozesses, wird Mensch sich gewahr,

dass seine konkrete, auch körperliche Anwesenheit Bedingung

ist für dieses Erleben: Er wird sich seiner selbst gewahr.

Daraus entsteht eine spezifische Singularität. Hier, nur hier

kann es stattfinden. // So ergeben sich Ereignis-Formen, die

nicht zur Ware werden können und sich dem Konsumismus

sperren, die nicht in oder hinter die flachen Screens passen

(die uns übrigens auch nicht auffordern, wegen virtueller Realitäten

im Raum wie blöde herumzuhampeln und nach Dingen

zu greifen, die gar nicht da sind). // Und diese Ereignisse

besitzt man auch nicht. Man kann sie nicht besitzen wie eine

Scheibe, die man auf- oder einlegt. Man kann sie nicht einmal

strea men. Sie sind nicht zu jeder Zeit allerorts verfügbar. Dieses

Markt-Manko macht auch einen Teil ihrer Qualität aus. //

Neues Musiktheater, komponierte Installation, Performance,

so genannte immersive Schaltungen, Stationentheater, One-

On-One-Settings usw., medial erweiterte analoge

Komposition als Meta-Medium-Instrument — das

alles spitzt die Frage nach dem Menschen zu, nach

seiner Wahrnehmung und seinen Räumen. Es ist

der komponierte Prozess selbst, der ihn beteiligt

und einbezieht, wo sein Erleben Teil des Werks

wird, das vom Ereignis nicht zu trennen ist. Erleben

und Ereignis sind zwei voneinander abhängige

Seiten ein und desselben Geschehens. Es geht um eine

würdevolle und angemessene Relation von Darstellung und

Wirklichkeit.

Bedingung hierfür ist das Erahnen und Justieren sich verändernder

Rahmen, Frames der Ereignisse in Aufführungen des

neuen Musiktheaters. Das fordert jede*n Zuschauer*in in besonderer

Weise heraus. Wohl sind wir es von technischen Medien

her gewöhnt, beinahe reflexartig auf unterschiedliche

Formate zu reagieren, sie zu orten und einzuordnen, um ihnen

begegnen und folgen zu können, um sie zu verstehen. Eine

News-Sendung rezipieren wir anders als einen privaten You-

Tube-Film als eine Netflix-Serie usw. Im Musiktheater, in

diesen konkreten, artifiziellen, komponierten Situationen

entsteht allerdings eine Form von Partizipation und Teilhabe

an Formaten, die mich in reale, raum-plastische soziale Situationen

versetzt. Gesamt-Kunstwerk. Die Kunst kann allseits

um mich herum sein. Sie muss gelegentlich erwandert werden.

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»Aber mittlerweile geht es euch bei allen Geschäften

nur noch darum, im Geschäft zu bleiben.«

(Aborigines, Australien)

Sie spricht den ganzen Menschen an, wird vom ganzen Menschen

erfahren. Diese Flexibilität und Vielschichtigkeit sollte

eine genussvolle Herausforderung sein. Sie widerspricht dem

bloßen Konsumismus hinter der Scheibe und vermag der Klärung

und Bewusstwerdung des Daseins zu dienen, ohne sich

verdingen zu müssen. // Es geht hier nicht zuerst um Vermeidung,

zum Beispiel Vermeidung von Technologie. Screens sind

hier nirgends verboten. Aber sie werden dramaturgisch und

situativ sehr bewusst eingesetzt. Sie stellen sich immer auch

— allein schon durch die komplexe Relation im jeweiligen situativen

Gesamtzusammenhang — in Frage. Das ist kein didaktisches

oder pädagogisches Spiel. Sondern es korrespondiert

mit unserer Alltagserfahrung und kehrt sie gewissermaßen

auch um. Bestimmte media le Einflüsse, die wir von den technischen

Endgeräten her kennen, werden in räumlich analoge und

komplexe (theatrale) Si tuationen übersetzt, gespiegelt, neu

montiert und anders »gelöst«, als dies in den technischen Medien

selbst möglich wäre. So entsteht beiderseitig die

Möglichkeit, sie zu nutzen, sie kritisch zu reflektieren.

Wie jung sind doch Google, Youtube, Twitter

und Instagram, wenn man die ganze bisherige Mediengeschichte

des Menschen vergleichend in Betracht zieht?

Probleme können nicht mit Mitteln gelöst werden, die sie ausgelöst

haben, meinte Albert Einstein einmal. Deshalb dürften die

technomedialen Fragestellungen in solch konkreten thea tralen

Ereignis- und Rezeptions-Schaltungen besser aufgehoben, klarer

zu sehen und zu reflektieren sein als beispielsweise im Gebrauch

des Netzes, das sich wie eine mystische Schlange permanent

an sich selbst ernährt. Es ist das Suchtverhalten an Endgeräten,

das den ganzen Strom kostet. // Klärung könnte ein sich

Innewerden bedeuten. Innewerden der Singularität dessen,

was gerade geschieht, des Ortes, wo es geschieht, und der Besonderheit

einer Situation, die zugleich welthaltig objektiviert,

aber auch auf die jeweiligen Rezipient*innen oder Menschen-

Gruppen hin zugespitzt, gemeint, komponiert, räumlich konkretisiert

und dynamisch gestaltet ist. // Musik ist die höchste

plastische Kunstform (wie schon Joseph Beuys bemerkte).



Um Klärung geht es, sogar um Aufklärung. Bestimmte drängende

Fragen bleiben immer dieselben. Wer sind wir, woher

kommen wir, wohin gehen wir? Und: durch was oder wen werden

wir gerade gelenkt, bestimmt und vielleicht ausgenutzt?

Wie erlangen wir Liebe und Anerkennung?

Das neueste Musiktheater gestaltet physisch konkrete, variable,

gleichsam musikalisierte Räume, die die Bedingungen

der Aufführung zum Teil der Inszenierung machen. Es kann

die Rahmensituationen, innerhalb derer es stattfindet, reflektieren.

Es verlangt von seinen Nutzer*innen auf spielerische

Weise, seinen dynamischen Prozess mitzuvollziehen, sich

einzulassen. Das heißt auch, sich mit konventionellen Settings

nicht automatisch zufrieden zu geben. Diese »Beweglichkeit«

der Formate und der Rezeption versetzt uns in die Lage, listig

zu sein. Listig den Reproduktions-Mechanismen gegenüber,

listig gegen eine Konvention, die das Mitdenken beschränken

will, listig auch gegenüber der Vermarktung als

Ware. Eher eine Guerilla-Taktik als ein Krieg der

Massen.

Das Aufsuchen und Experimentieren neuer Formen

im neuesten Musiktheater (formatus bedeutet

ja »das vorab Geformte«, also die Rahmengegebenheiten

eines Ereignisses und die daran geknüpften

Erwartungen und Wahrnehmungen) ist kein

bloßes Heischen nach Aufmerksamkeit und vordergründiger

»Neuigkeit«, wie es gern unterstellt wird, sondern eine

klare Stimme inmitten des lautstarken medialen Orchesters

unserer Gegenwart, die anders vernommen werden muss als

bloß innerhalb der Koordinaten eines Marktes, der alle ästhetischen

Erzeugnisse immer wieder nur zur Ware machen

muss, um fortzuexistieren.

»Unser sämtliches Wahrnehmungsvermögen

gleicht dem Auge. Die Objekte müßen

durch entgegengesetzte Media durch, um

richtig auf der Pupille zu erscheinen.«

(Novalis, Blüthenstaub)

42

»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«

© Anda Kryeziu (2020)

43



Today the lives of most people are dete r mi ned

so very much by hard, smooth surfaces that

they are apparently about to forget the threedimensional

sculptural diversity of our existence.

Screens and the firm casing of loudspeakers

are the useful cold bodies of reproduction.

Everything that is reproducible can

easily become a commodity. // These are originally

aesthetic dietary supplements. Ultimately,

nourishment will also be omitted.

What remains is the supplement. // Musicmusic,

that’s what one can hear, isn’t it? // It

has been reduced so much to solely its audible

components (which, by the way, wasn’t the

way it was originally), so that it always and at

all times fits perfectly into loudspeakers and

headphones. Prolific availability. // Now “the

music” is being equipped more and more with

promotional images. // There is hardly a piece

of music without a video clip. In filmfilm it

is the driver of emotions. // (Watch a crime

thriller without a soundtrack. No suspense.

Film is the two-dimensional total work of art,

a Gesamtkunstwerk, a priori.) // We are surrounded

by smooth, often glassy surfaces. //

A virtual space opens up behind, or to be

more precise, in them.

son to a head, the issue of a person’s perception

and the spaces. It is the composed process

itself that engages and incorporates the person,

where the person’s experience becomes

part of the work, which cannot be separated

from the event. Experience and event are two

sides of one and the same proceedings, and

dependent upon each other. It has to do with a

dignified and appropriate relation between

portrayal and reality.

The condition for this is to imagine and align

changing frames, frames of the events in the

performances of new music theater. That

makes demands on every member of the audience

in a special way. Through technological

media we are no doubt accustomed to react

almost by reflex to different formats, to

locate and classify them in order to be able to

encounter and follow them, in order to understand

them. We take in a news broadcast differently

than a private YouTube film, differently

than a Netflix series, and so forth. In music

theater, however, in these concrete, artificial,

composed situations a form of participation

and presence in formats is created, which

transports me into real, three-dimensional,

spatial, social situations. A total art work (Gesamt-Kunstwerk).

Art can be all around me. It

has to occasionally be discovered while wandering.

It speaks to the whole person, it is experienced

by the whole person. This flexibility

and complexity should be an enjoyable

challenge. It contradicts the naked consumerism

behind the disk and is capable of

serving to clarify and emotionally realize

exis tence, without having to hire itself out.

// It doesn’t have to do here primarily with

avoidance, for example, the avoidance of

technology. Screens are not forbidden anywhere

here. But they will be very consciously

used dramaturgically and situationally. They

also always question themselves–merely

through the complex relation in the respective

Opening up space. // The three-dimensionality,

plasticity of the real space: every living

being exists in a space. // It is physical. It is

“body space” (Raum-Körper), “body and soul

space” (Körper-und-Seelen-Raum).

One shouldn’t misunderstand us. It doesn’t

have to do with storming the machines. It has

more to do, rather, with shifting them into the

correct position. It has to do with clarifying

the relationships. A disk is a disk is a disk…

// Earth isn’t a disk.

situational overall context. This is not a didactic

or educational game. But rather it corresponds

to our everyday experience and to a

certain extent reverses it as well. Certain media

influences that we are familiar with from

technological end devices will be translated

into spatially analogue and complex (theatrical)

situations, will be mirrored, newly installed,

and “solved” in a different way than

would be possible in the technological media

themselves. And so reciprocally the possibility

is created to use them, to critically reflect

upon them. When one comparatively considers

humankind’s entire previous history of

media, then how young are Google, YouTube,

Twitter, and Instagram?

Albert Einstein remarked once that problems

cannot be solved by the means that they have

triggered. For this reason the technological

media issues in such concrete theatrical

streaming of events and responses are better

preserved, are seen more clearly and reflected

than, for example, in net usage, which permanently

feeds on itself like a mystical snake. It

is the addictive behavior with end devices that

generates all of the electricity expenses. //

Clarification could mean becoming aware.

Becoming aware of the singularity of what is

happening right now, becoming aware of the

location, of where it’s happening, of the situation’s

specialness, which at the same time

objectifies the relation to the real world, but

also is pointed at the respective person or

group of people, is opined, composed, spatially

substantiated, and dynamically designed.

// Music is the highest sculptural art form

(as Joseph Beuys already said).

Music theater, as we understand it, is a metamedium,

a wonderful dynamic instrument

that transforms the three-dimensional space

and also vice versa. It can bring together all

of the components of space by differentiating

them. Composition and performance take

care of this. We are always in tents (skené

originally meant tent) that are formed by the

palpable physical existence, space, and language

media that are involved. And we are

involved. Without the people who linger in

this space, who so to speak “activate” this

space, it wouldn’t take place. Novalis wrote,

“The world has a natural ability to be animated

through me (…).”

Now when the different dispositions, which

also incorporate the performance conditions,

become the subject matter of the composition,

in other words, part of the production

and the entire creation process, a human will

become aware that his or her concrete and

“But in the meantime, with all of your

businesses you are only concerned with

staying in business.”

(Australian aborigines)

physical presence is a condition for this experiencing:

the human will become aware of

himself/herself. A specific singularity is generated

from this. Here, only here, can it take

place. // And thus forms of results are produced,

which cannot become commodities

and which close themselves off from consumerism,

which do not fit into or behind the flat

screens (that, by the way, also do not ask us to

jump around like idiots in a space on account

of virtual realities and reach for things that

are not there at all). // And one doesn’t possess

these events either. One cannot possess them

like a disk that one plays or inserts. One cannot

even stream them. They are not available

everywhere at all times. This market deficiency

is also part of its quality. // New music

theater, composed installation, performance,

so-called immersive circuits, Stationen the ater,

one-on-one settings, etc., media-enhanced

analogue composition as a metamedium instrument–all

of this brings the issue of a per-

NEW Return

By Daniel Ott and Manos Tsangaris

It has to do with clarification, even with elucidation

(Aufklärung). Certain pestering

questions will always remain the same. Who

are we, where do we come from, where are we

headed? And, by what or by whom are we being

directed right now, defined, and perhaps

exploited? How do we achieve love and recognition?

The most recent music theater creates physically

concrete, variable, and simultaneously

musicalized spaces, which make the conditions

of a performance part of the production.

It can reflect the framework situations within

which it is taking place. It demands in a playful

manner from its users that they are willing

to accept and understand its dynamic process.

This also means to not automatically be

satisfied with conventional settings. This

“flexibility” of the formats and their reception

puts us into the position of being sly. Sly

in regards to the reproduction mechanisms,

sly in regards to a convention that wants to

limit making contributions. It’s more of a

guerilla tactic than a war of the masses.

The exploration and experimentation of new

forms in the most recent music theater works

(formatus means after all “shaped, formed”–in

other words, the fundamental factors of an

event and the expectations and perceptions

connected to them) are not merely begging for

attention and for the ostensible “novelty”, as

one likes to insinuate, but rather a clear voice

in the middle of the vociferous media orchestra

of our present times, which has to be

perceived differently than merely within the

coordinates of a market that continuously

must turn all aesthetic productions into commodities

in order to continue existing.

“Our entire perceptive ability is like the eye.

The objects have to pass through opposing

media in order to appear correctly on the pupil.”

(Novalis, Pollen)

Daniel Ott and Manos Tsangaris are

Composers and the Artistic Directors of

the Munich Biennale—Festival of New Music

Theatre.

— The text by Dietmar Dath that arrived shortly

before the printing of the program book

initiated this contribution.

44 45



»TRANSSTIMME«

© Fabià Santcovsky

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Kompositionsaufträge der Landeshauptstadt München zur Münchener Biennale.

Koproduktion der Münchener Biennale mit der Deutschen Oper Berlin und dem

Onassis Cultural Centre Athen.

Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.

Kompositionsaufträge an Olga Neuwirth, Samir Odeh-Tamimi, Younghi Pagh-Paan und

Christian Wolff finanziert von der Ernst von Siemens Musikstiftung.

Mit Unterstützung von Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung.

ONCE TO BE

REALISED

Sechs Begegnungen

mit Jani Christous

Project Files

von Beat Furrer, Barblina Meierhans,

Olga Neuwirth, Samir Odeh-Tamimi,

Younghi Pagh-Paan und Christian Wolff

Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf: muenchener-biennale.de

Komposition: Beat Furrer, Barblina Meierhans, Olga Neuwirth,

Samir Odeh-Tamimi, Younghi Pagh-Paan, Christian Wolff

Regie: Michail Marmarinos

Bühne/Kostüm/Video: Yorgos Sapountzis

Konzeptentwicklung: Lenio Liatsou, Michail Marmarinos

Dramaturgie: Sebastian Hanusa

Musikalische Leitung: Cordula Bürgi

Mit: Verena Tönjes Mezzosopran

Matthew Cossack Bariton

Marius Boehm Schauspieler

Meik van Severen Schauspieler

Sofia Pintzou Tänzerin

Robyn Schulkowsky Schlagzeug

Ensemble dissonArt:

Jannis Anissegos Flöte,

Alexandros Stavridis Klarinette,

Theodoros Patsalidis Violine, Chara Sira Viola,

Vassilis Saitis Violoncello, Yiannis Chatzis Kontrabass,

Kostas Argyropoulos Schlagzeug, Lenio Liatsou Klavier

Cantando Admont:

Peyee Chen Sopran, Elina Viluma-Helling Sopran,

Cornelia Sonnleithner Mezzosopran, Helena Sorokina Mezzosopran,

Hugo Paulsson Stove Tenor, Bernd Lambauer Tenor,

Matias Bocchio Bariton, Vytautas Vepstas Bass

Über 130 zu realisierende Kompositionen skizzierte Christou in

seinen letzten Lebensjahren. Nur wenige davon hat er vor seinem

plötzlichen Tod bei einem Autounfall 1970, an seinem 44.

Geburtstag, ausarbeiten können. Der Großteil dieser visionären

Entwürfe wurde in den knapp 50 Jahren seit seinem Tod nicht

realisiert und erst jetzt werden sie zur Grundlage des Musiktheaters

»ONCE TO BE REALISED«: Zusammen mit dem renommierten

griechischen Regisseur Michail Marmarinos konfrontieren

sich sechs Komponist*innen, die zu den profiliertesten Schöpfer*innen

aktuellen Musiktheaters zählen, mit Christous Entwürfen.

Sie begegnen ihnen mit ihrer eigenen Musiksprache,

setzen sich ihnen aus und lassen sich inspirieren,

um mit ihren eigenen Mitteln und ihrer eigenen

Idee in die Zukunft fort- und weiterzuschreiben.

In the last years of his life Christou created in sketch

form more than 130 compositions to be realized later

on. He was only able to work out a few of them before

his untimely death in a car accident in 1970 on his 44th

birthday. Most of these visionary drafts were never realized

in the just under 50 years following his death, and only now will

become the foundation of the new music theater work “ONCE TO

BE REALISED”: Together with the renowned Greek director

Michail Marmarinos, six composers, who are among the most

distinguished creators of contemporary music theater, will tackle

Christou’s designs. They encounter them with their own musical

language, explore them, let themselves be inspired, and work

their way through them, in order to use their own means and their

own ideas to continue and write on into the future.

48

49



»ONCE TO BE REALISED«

Silhouette – Silence

© Younghi Pagh-Paan

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Der Sprung

aus dem Vertrauten

Eine Art Sightseeingtour zu einigen

»Terms and Notions« von Jani Christou,

die seinen kurzen Weg durch die Kunst, das

Leben und die Musik bestimmt haben.

Von Michael Marmarinos

Regisseur von »ONCE TO BE REALISED«,

Aufgezeichnet von Sebastian Hanusa

Musikdramaturg und Komponist;

Dramaturg von »ONCE TO BE REALISED«

Das Festivalmotto Point of NEW Return hat für »ONCE TO

BE REALISED« eine mehrfache Bedeutung. Zunächst beschreibt

es den Rückgriff auf ein 50 Jahre altes Ausgangsmaterial

in Form der Project Files von Jani Christou. Diese 130

kurzen Texte skizzieren mal konkrekt eine musikalische

Struktur, mal den Formverlauf einer Komposition beziehungsweise

eines Abschnitts oder Teils einer Komposition,

mal sind sie eher Beschreibung einer ästhetischen Idee. Sie

entstanden im Hinblick auf eine spätere Realisierung, ein

»ONCE TO BE REALISED«: Es sind keine abgeschlossenen

Kompositionen, nichts final Fixiertes, sondern Ausgangspunkte

eines dynamischen Prozesses der Realisierung. »Once« ist

dabei Versprechen und zugleich Verweis auf die Unmöglichkeit,

etwas mit einem Titel zu fixieren, das dynamisch in ein

Offenes hin verweist. Denn wann kann dieses »Once« sein?

Formuliert wurde es in einer vergangenen Zeit, von jemandem,

der sich inzwischen in einer anderen zeitlichen

Dimension befindet. Vor diesem Hintergrund über

einen Point of NEW Return nachzudenken, ist ein

Flirt mit der Unmöglichkeit eines dal initio, eines

allerersten Anfangs. Denn bezogen auf Christou

ist es nahezu absurd, über die Rückkehr zu einem

bestimmten Punkt zu sprechen, da es diesen

»point« nie gegeben hat. Wir sind die ersten, die zu

einem Punkt gelangen, zu einem konkreten Ergebnis.

So kann es keine Rückkehr geben.

Nun sind wir gewohnt, Zeit als Strecke zwischen zwei im

Raum-Zeit-Kontinuum fixierten Punkten zu bemessen. Einem

Point of (NEW) Return geht immer ein anderer Punkt als Markierung

für einen gewissen Zustand von Welt voraus. Auf diesen

Punkt bezieht sich das »re« des »return«, er ist die Bezugsgröße,

an der sich ein mögliches Neues, Anderes bemisst. Doch

neben diesen fixierten Bezugspunkten, denen als Ereignissen

zu einem gewissen Zeitpunkt etwas Unveränderliches, Endgültiges

eigen ist, steht der ewig dahinströmende Fluss der Zeit.

Diesen als solchen unmittelbar zu fassen und nicht vermittelt

durch ein Symbolsystem wie etwa die Sprache, ist nicht möglich.

Die Sprache ist die Landkarte, mit der wir durch den Ozean

der Zeit und der Bedeutung navigieren. Ich muss hier oft an

Aristoteles’ Definition aus dem Organon denken: »Die gespro-

chenen Worte sind die Zeichen von Vorstellungen in der Seele

und die geschriebenen Worte sind die Zeichen von gesprochenen

Worten. So wie nun die Schriftzeichen nicht bei allen Menschen

die nämlichen sind, so sind auch die Worte nicht bei allen

Menschen die nämlichen; aber die Vorstellungen in der

Rede, deren unmittelbare Zeichen die Worte sind, sind bei allen

Menschen dieselben und ebenso sind die Gegenstände

überall dieselben, von welchen diese Vorstellungen die Abbilder

sind.«

Wenn wir mit unserem Verstand die Welt zu fassen versuchen,

sind wir darauf angewiesen, uns der Zeichen zu bedienen. Jeglicher

Art von Zeichen. Die Welt der Vorstellungen jedoch unmittelbar

erfahrbar zu machen, kann der Kunst und insbesondere

der Musik gelingen — jedoch nur sehr subtil, indirekt und

nicht mit Hilfe der Vernunft. Sie kann eine Art »Kanal« erschaffen,

durch den der Strom der Zeit und, konsequenterweise

damit auch der Fluss der Vorstellungen verläuft.

Taucht man dort ein, kann einem die Erfahrung einer

unmittelbaren Begegnung mit diesen Vorstellungen

widerfahren. Und so sehr dieser Fluss sich

dabei dem Zugriff durch den Verstand entzieht,

versuchen wir immer wieder, seiner habhaft zu

werden. Wir kehren, auch dies ein »return«, immer

wieder zu diesem Versuch zurück: Etwa, indem wir

bestimmte Theaterstücke oder Opern immer und immer

wieder auf die Bühne bringen, in dem steten Versuch,

dass die ihnen inhärenten Vorstellungen, ihr nicht-greifbarer

Kern doch greifbar werden. Diese Illusion ist der Antrieb unseres

Handelns. Mit der Vergeblichkeit dieses Tuns und der

Notwendigkeit zugleich, es immer wieder zu versuchen, ist

dem Menschen etwas zutiefst Tragisches zu eigen.

Es gibt einige zentrale Begriffe, die sich immer wieder bei

Jani Christou finden. Einer davon ist der des »Kontinuums«

als einem Strom von Klang, Geräusch oder anderen Dingen.

Ein weiteres Wort, das er in diesem Zusammenhang häufig

benutzt ist »preexist«: Es bezeichnet etwas, das immer schon

da ist, auch, wenn wir es nicht wahrnehmen. Und plötzlich

erscheint es unseren Sinnen, als eine Performanz von Zeitlichkeit

an sich. Hierzu hat Christou zeitlebens versucht, seine

Wahrnehmung wie sein Werkzeug zu schärfen — als ein

Mensch, der sich mit grundlegenden Fragen der Gegenwart

52 53

und Vergangenheit, Leben und Leben nach dem Tod, Zeit und

Ewigkeit beschäftigt hat. Es scheint mir, dass er gegen Ende

der 1960er Jahre hierin einen Höhepunkt erreicht hat, in einer

Zeit, die in vielerlei Hinsicht revolutionär und zugleich enorm

vital war. Und: dass er etwas erreicht hat, was immer noch

relevant und lebendig ist.

Weitere Begriffe, die in seinem Werk häufig auftauchen

wie etwa »Panik« oder »Alptraum« kreisen um Extremzonen

der menschlichen Existenz und sind zugleich Grenzbereiche

für die beteiligten Musiker*innen und Sänger*innen. Diese

hat er immer als Menschen verstanden, die mit ihren Aktionen

an Grenzen stoßen: hinsichtlich dessen, was sie leisten

können, aber auch, was sie innerhalb ihrer Ausbildung gelernt

und was ihnen als »Praxis« — auch dies ein wichtiger Begriff

bei Christou — vertraut ist. Christou geht es um ein Überschreiten

der Grenzen von »Praxis« hin zu einer »Metapraxis«: Die

Erfahrung eines Sprungs aus dem Vertrauten heraus in etwas

qualitativ Anderes. Die Implosion eines existierenden

Systems hin zur Erfahrung von etwas, das jenseits

hiervon liegt...

Christous Kosmos erleben wir in »ONCE TO BE

REALISED« nicht durch seine eigenen Kompositionen,

sondern durch die sechs Adaptionen einer

jeweils sehr individuellen Auswahl aus den Project

Files durch die sechs Komponist*innen Barblina Meierhans,

Younghi Pagh-Paan, Olga Neuwirth, Beat Furrer, Samir

Odeh-Tamimi und Christian Wolff. Interessant hierbei ist,

dass alle sechs Komponist*innen in unserer Produktion, die

jungen ebenso wie die erfahreneren, einen mehr oder weniger

philosophischen Zugang gewählt haben. In ihren Stücken setzten

sie sich kompositorisch mit Fragestellungen auseinander,

wie in und mit Musik ein Jetzt unmittelbar erfahrbar wird.

Wir haben lange diskutiert, ob es die richtige Entscheidung

war, keine griechischen Komponist*innen mit im Projekt zu

haben. Ich halte sie weiterhin für richtig. Christou hat einen

derartigen Einfluss in Griechenland und ist eine nahezu übermächtige

Legende, an der man sich abarbeitet. Einen gewissen

Abstand seitens der Komponst*innen halte ich für wichtig —

auch für jene, die Christou gut kennen. Denn erst dieser Abstand

bietet die Möglichkeit, sich nochmals neu auf seinen Kosmos

einzulassen und neue Perspektiven kennenzulernen.



»ONCE TO BE REALISED«

PROJ. 29 / BALLET; MONOLOTIC RELENTLESSNESS

© Samir Odeh-Tamimi

»ONCE TO BE REALISED«

PROJ. 32 / PIANO: THE PIANIST – ACTOR PERFORMER

© Samir Odeh-Tamimi

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Auch für mich ist das Projet »ONCE TO BE REALISED« ein

»return«, und das auf eine unerwartete Weise. Es ist die Rückkehr

zu etwas Vertrautem und sehr Persönlichem. Vertraut

aufgrund dreier Begebenheiten: Gemeinsam mit zwei engen

Freunden haben wir uns im Keller einer ihrer Wohnungen getroffen,

um Neue Musik zu hören. Darunter die von Jani Christou,

der für uns, die wir damals noch sehr jung waren, fast wie

ein Prophet war. Hinzu kommt meine eher zufällige Beziehung

zur Familie Christou in jenen Jahren der Unschuld: Ich war 19,

als ich zusammen mit einem der oben genannten Freunde und

den Kindern von Christou auf einer Insel die Sommerferien

verbrachte. Und schließlich habe ich zwei Jahre später im antiken

Theater von Epidauros die Wiederaufnahme einer Schauspielproduktion

der Perser gesehen, für die Christou, damals

bereits gestorben, die Musik komponiert und den Chor einstudiert

hatte. Ich war überwältigt... Der Einfluss dieses Erlebnisses

war enorm und ich fühlte mich, als wäre ich das

Opfer einer übermächtigen Kraft, während ich als

Zeuge an einem alchemistischen Ritual teilnahm.

Zugleich ist »ONCE TO BE REALISED« eine

seltsame Form der Geisterbeschwörung, an der

ich zu meiner eigenen Verwunderung beteiligt zu

sein scheine: Ich beobachte mich als jemanden, der

aktiv an ihr teilnimmt, der zugleich aber versucht, sie

von außen zu betrachten und zu verstehen, aus einer sorgfältig

gewählten Entfernung heraus, die es ermöglicht, die einzelnen

Elemente mit ihrem jeweiligen Anteil einzuordnen. Dabei

spüre ich die Gegenwart von Christou, nicht direkt in der Musik,

sondern in Prinzipien, die der Arbeit zugrunde liegen. Genau

definieren, was dabei geschieht, kann ich jedoch nicht. Es

ist wie die Fahrt mit einem Segelboot, auf der wir uns gemeinsam

befinden. Und bei der wir vielleicht am Ende verstehen

werden, wo sie uns hingeführt hat. Unterwegs folgen wir unserer

Intuition, haben aber einige von Christou entlehnte Grundprinzipien

als Orientierungspunkte, die es ermöglichen, aus

einem sehr reichen Material, das aus der Begegnung mit der

Seele und der Welt der Anderen heraus entsteht, auszuwählen

und dieses zu formen. Ich muss gestehen, dass ich diese Form

von Kontrollverlust im Arbeitsprozess sehr genieße.

Auf der anderen Seite haben wir das Material der sechs Komponist*innen.

In diesem gibt es das Moment des Rückbezugs,

aber eben auch das einer Neuausrichtung innerhalb des durch

Christous Grundgedanken definierten Bezugsrahmens. Mit

diesen je eigenen, neuen Herangehensweisen umzugehen ist

für mich ebenso ein Abenteuer. Dazu beobachte und höre ich,

und versuche zu erspüren, was in diesen Stücken vor sich geht.

Ich versuche, die Theatralität dieser Musik erfahrbar zu machen,

die sowohl bei Christou als auch bei den neu entstandenen

Stücken darauf beruht, dass die Mitwirkenden, unabhängig

davon, dass sie exzellente Musiker*innen sind, sich nicht

ausschließlich als solche sehen, sondern als Individuen, die

sich auf die Erfahrung einer Invokation eingelassen

haben.

Das gilt ebenso für das Publikum. Insgesamt geht

es darum, durch die Musik die Art, wie wir Realität

erfahren, zu erweitern, eine dynamische, offene

und darin immer auch verletzliche Form von

Erfahrungsraum zu ermöglichen. Das Publikum ist

hierbei ein nicht beherrschbares Element. In »ONCE

TO BE REALISED« gibt es Momente der Interaktion. Diese

stehen exemplarisch für das Moment von Verletzlichkeit innerhalb

des gesamten Theaterabends. Das Publikum ist mit

seinen Aktionen (Gehen, Sitzen, Bewegen, Warten, Besuchen,

Sehen, Hören, Vermuten, Zuhören) und seiner körperlichen

Präsenz ein wichtiges Element der Aufführung. Über seine

reine Anwesenheit als Publikum hinaus manifestiert sich mit

ihm eine besondere Gegenwärtigkeit/ein JETZT (das Gegenstand

endlosen Strebens in Christous Werk war): das unvermittelte

Eindringen der Realität in die Konventionen der Bühne,

das Wahrnehmung, Bewusstsein und Musik provoziert.

Umgekehrt bedarf es einer spezifischen Situation, die durch

die Aufführung definiert wird. Das ist einer der Gründe, warum

ich Project 43 an den Beginn der Aufführung gesetzt

habe. Christou spricht in diesem Project von einer »consecration«,

einer Weihe. Das mag religiös klingen, ist es aber nicht.

Vielmehr verstehe ich es als das Setzen eines Rahmens, um

etwas Vertrautes oder bislang Übersehenes auf eine spezifische

Weise wahrzunehmen. Mit dieser Rahmung gelingt es,

Dinge anders zu betrachten, als Rhythmus, als Musik, als

etwas unter der Oberfläche Liegendes wahrzunehmen.

Mit anderen Worten: Christous Project 43 hat

die Funktion, unseren Wahrnehmungsapparat zu

erweitern und unsere Erfahrung für verborgene

Aspekte der Realität zu öffnen: Realität wird zu

poetischer Erfahrung transformiert. Ohne solche

Rahmen gäbe es kein Theater, keine Fotografie

und kein Kino. Es gibt einen Rahmen und innerhalb

dieses Rahmens geschieht etwas. Mit Christou wird

man behutsam an existenzielle Grenzen geführt: Indem er

nach dem Nicht-Fasslichen fragt, berührt er die dunkle Seite

unserer Existenz, die ›andere Seite‹ der geschlossenen Tür.

Er verlangt vom Publikum und allen Mitwirkenden, sich auf

dünnes Eis zu begeben, an die Grenzen der Wahrnehmung

vorzustoßen und Kontrollverlust zuzulassen. Dazu muss man

sich beschützt und sicher fühlen und darf keine Angst haben.

Denn erst dann gelingt der Schritt von der Praxis zur Metapraxis.

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»ONCE TO BE REALISED«

Silhouette – Silence

© Younghi Pagh-Paan

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Jani Christou, Project File nos. 21

© Heirs of the Jani Christou archive / Erben des Jani-Christou-Archivs

The Leap from

Familiarity

A type of sightseeing tour of several of Jani Christou’s

“terms and notions” that defined his short journey through

art, life, and music.

By Michail Marmarinos

director of »ONCE TO BE REALISED«,

Recorded by Sebastian Hanusa

dramaturge and composer;

Dramaturge of »ONCE TO BE REALISED«

The festival motto Point of NEW Return has

for “ONCE TO BE REALISED” multiple meanings.

To begin with, it describes regressing to

fifty-year-old primary material in the form

of the “Project Files” by Jani Christou. These

130 short texts at times outline concretely a

musical structure, at times the process development

of a composition—that is, a section or

part of a composition—and at times they are

more a description of an aesthetic idea. They

were created with regard to being produced at

a later date, a “ONCE TO BE REALISED”: they

aren’t completed compositions, nothing is set

in final form; they are rather starting points

of a dynamic process of realisation. This

“once” is a promise and simultaneously a cross

reference to the impossibility to secure something

with a title, which dynamically points to

an openness. For when can this “once” be?

This “once” was formulated in a past time, by

someone who in the meantime is in a different

temporal dimension.

Thinking about a Point of NEW Return

in front of this background is a flirt with the

impossibility of a dal initio, of the very first

beginning. For in reference to Christou it is

almost absurd to talk about the return to a

certain point, as this “point” never existed.

We are the first to reach a point, to achieve a

tangible result. And so there can be no return.

Now we are accustomed to measuring time as

a path between two fixed points in a spacetime-continuum.

A Point of NEW Return always

precedes another point as a marking for

a certain condition of the world. The “re” in

“return” refers to this point, it is the reference

value against which a possible something

new, something different, is measured. And

yet alongside these fixed reference points,

which have the quality of being events at a

certain point in time with something unchangeable,

something final, there stands the

eternal flowing river of time.

To directly grasp this as such and not conveyed

via a system of symbols, such as language,

is not possible. Language is necessary

as a map, with which we navigate across the

ocean of time. Here I often have to think of

Aristoteles’ definition in Organon: “Spoken

words are the symbols of mental experience

and written words are the symbols of spoken

words. Just as all men have not the same writing,

so all men have not the same speech

sounds, but the mental experiences, which

these directly symbolize, are the same for all,

as also are those things of which our experiences

are the images.”

When we attempt to grasp the world with our

minds we rely on using symbols. Every type

of symbol. To make the world of conceptions,

however, directly experienceable, art and especially

music can succeed in doing this—but

only in a very subtle way, always only indirectly,

and not with the help of our minds. It

can create a type of “canal” through which

runs the stream of time and as a consequence

also with it the river of conceptions. If one

immerses herself or himself in it, one can have

the experience of an immediate encounter

with these conceptions. And as much as this

river dispossesses itself from the term through

one’s understanding, we attempt over and over

again to grasp it. And over and over again we

come back to this attempt, and this too is a

“return”: for instance by bringing certain

theater pieces or operas over and over again

to the stage, in the constant attempt to make

their inherent concepts, their intangible core,

tangible after all. This illusion is the stimulus

behind our action. The futility of this action

and the simultaneous necessity to attempt

this over and over again is a deeply tragic

quality of humans.

There are several central terms that can be

found time and time again in Jani Christou’s

work. One of them is the term “continuum” as

a stream of sound, noise, or other things. Another

word he often uses in connection with

this is “preexist”: it names something that

always was there, even if we do not perceive

it. And suddenly it appears to our senses. As

a performance of temporality in itself. For

this purpose, Christou searched his entire life

for paths, he sharpened his tools, and tried to

sensibilize himself. That occurred in a period

at the end of the 1960s, which were in many

aspects revolutionary and at the same time

extremely vital. And, that he achieved something

that is still relevant and alive.

Additional terms that frequently appear

in his work, such as “panic” or “nightmare,”

revolve around extreme zones of human existence

and are at the same time border areas for

the participating musicians and singers. He

had always viewed them as people who reach

their limits in their actions: in view of what

they can achieve, but also what they learn during

their training and what they are familiar

with through “praxis” (practice)—this is also

an important term of Christou’s. Christou

deals with crossing the boundaries of “praxis”

and going beyond to a “metapraxis”: the experience

of a leap from familiarity into something

qualitatively different. The implosion

of an existing system all the way to an experience

of something that lies beyond this…

We experience Christou’s cosmos in “ONCE

TO BE REALISED” not through his own compositions,

but rather through the six adaptions

of a respectively very individual selection

from the Project Files by the six composers

Barblina Meierhans, Younghi Pagh-

Paan, Olga Neuwirth, Beat Furrer, Samir

Odeh- Tamimi, and Christian Wolff. What is

interesting here is that all six of these composers

in our production, the young ones as

well as the more experienced ones, have more

or less chosen a philosophical approach. In

and with their pieces they examine in a compositional

manner issues as to how a “now”

will be directly experienceable in music.

We discussed for a long time whether it was

the correct decision to not have a Greek composer

participate in the project. I still think

this was a correct decision. Christou had such

60

61



an influence in Greece and is almost an overpowering

legend, a legend one works through

until one is exhausted. I feel it’s important the

composers maintain a certain distance—this

also applies to those who are very familiar

with Christou. For not until this evening is the

opportunity provided to approach this cosmos

anew and to become acquainted with new

perspectives.

The project “ONCE TO BE REALISED” is also

for me a “return,” and in an unexpected manner.

It is the return to something familiar and

very personal. Familiar because of three incidents:

I got together with two close friends

of mine in the basement of one of their apartments

to listen to new music. This included

the music of Jani Christou, who was almost a

prophet to us (we were very young at the time).

In addition to this there was the more or less

coincidental relationship to Christou’s family

in those innocent years: I was 19 when I and

one of the aforementioned friends and Christou’s

children spent a summer vacation on an

island together. And eventually two years

later I saw a revival of the theater production

The Persians in the ancient theater of Epidaurus

for which Christou, who had already

passed away by then, had composed the music

and rehearsed the choir. I was overwhelmed...

The influence this experience had on me was

enormous and I felt as if I were the victim of a

supernatural power as I witnessed and participated

in an alchemistic ritual.

At the same time, “ONCE TO BE REALISED”

is a strange form of necromancy, in which I,

to my astonishment, appear to be involved in:

I observe myself as someone who actively

takes part in it, but who simultaneously attempts

to examine it from the outside and to

understand it, from a carefully selected distance

that makes it possible to categorize the

individual elements with their respective allotments.

All the while I sense the presence of

Christou, not directly in the music, but rather

in several principles that are basic to the

work. However, I cannot exactly define what

happens during this. It is like a sailboat cruise

and we are all on the sailboat. And we will perhaps

understand at the end of the cruise where

»ONCE TO BE REALISED«

AFTER JANI CHRISTOU

© Christian Wolff

it has taken us. En route we follow our intuition,

but we have several basic principles derived

from Christou as reference points, which

make it possible to select from a rich material,

which is created from the encounter with the

soul and other people’s worlds, and to form

this. I must confess that I very much enjoy this

form of loss of control in the work process.

On the other side, we have the material of the

six composers. In this material there is the moment

of reference, but also that of a new direction

within the defined frame of reference in

Christou’s fundamental concept. And dealing

with these individual, new approaches is for

me an adventure by the same token. To this

end, I observe and listen, and attempt to sense

what is going on in these works. And I attempt

to make the theatricality in this music experienceable,

which with Christou as well as with

the recently created works is based on the

participants, independent of the fact that they

are excellent musicians, not seeing themselves

as such exclusively, but rather as individuals

who have become involved in the experience

of an invocation.

That also applies to the audience. Overall it

has to do with expanding through music the

manner in which we experience reality, to

enable a dynamic, open, and also always vulnerable

form of an experience realm. The

audience is in this an element that cannot be

controlled. In “ONCE TO BE REALISED”

there are moments of interaction. These represent

exemplarily the moment of vulnerableness

during the entire evening of theater.

With its actions (walking, sitting, moving,

waiting, visiting, seeing, hearing, suspecting,

listening) and its physical presence, the audi-

ence is an important element of the performance.

But beyond its pure presence as an

audience, with them is a demonstration of a

special presence/a NOW (which was the object

of an endless aspiration in Christou’s

work): the abrupt intrusion of reality into

stage conventions, which provokes perception,

awareness, and music.

Inversely, the specific situation is required

that will be defined by the performance. That

is one of the reasons why I positioned Project

43 at the beginning of the performance. In this

project Christou speaks of a “consecration.”

That may sound religious, but it isn’t. I see it

rather as laying a framework in order to perceive

something familiar or something previously

overlooked in a specific manner. One

succeeds with this framework to perceive

things differently—as rhythm, as music, as

something different lying under the surface.

In other words: Christou’s Project 43 has the

function of expanding our perception apparatus

and opening up our experience of hidden

aspects in reality: reality transforms into

a poetic experience. Without such frameworks

there would be no theater, no photography,

and no cinema: there is a framework and within

this framework something happens.

With Christou, one is gently led to existential

boundaries: by him exploring the incomprehensible

he touches the dark side of our existence,

the “other side” of the closed door. He

demands from the audience and all of the

participants that they walk on thin ice, forge

forward to the limits of perception, and allow

the loss of control. To do this one must feel

protected and secure, and one cannot be

afraid. For only then will the step from praxis

to metapraxis succeed.

62

63



»ONCE TO BE REALISED«

NOW

© Barblina Meierhans

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Ein reizvoller Gedanke

— NOCH ZU

VERWIRKLICHEN

Von Costis Zouliatis

Pianist, Komponist, Musikwissenschaftler

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Jani Christou, Project File nos. 17

© Heirs of the Jani Christou archive / Erben des Jani-Christou-Archivs

Er bleibt der große Fremde. Und doch zählte Jani Christou

(1926-1970) zu den wichtigsten Vertretern der musikalischen

Avantgarde des 20. Jahrhunderts. In der heutigen Musikszene

weitgehend unbekannt, startete er in den 1950er und 1960er

Jahren eine vielversprechende Karriere, ohne dass er die Popularität

und das Renommee eines Xenakis, Penderecki oder

Henze erreichte. Sein Werk kennzeichnet eine seltene Geschlossenheit

und Konsistenz, nicht nur hinsichtlich der innovativen

Notation und stilbildenden Medien, die mit ihm Einzug

in die Klangwelt hielten, sondern auch mit Blick auf das

philosophische Universum, das seine Kompositionen prägte:

Mythen, Transzendenz, das Primordiale, Ritual, Panik, Hysterie...

Sein Werk konstituiert Kontemplation und spirituelles

Handeln. Es inspiriert in seiner unendlichen Vielfalt und weit

über die Musik und Kunst hinaus.

Geboren in Heliopolis, Kairo, ein heiliger Ort so alt wie die

Zeit, und aufgewachsen in Alexandria komponierte

Christou schon im frühen Alter erste Musikstücke.

Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte er in Cambridge

Philosophie, wo Ludwig Wittgenstein, Bertrand

Russell, C. D. Broad und andere bedeutende

Philosophen Vorlesungen gaben. In Komposition

und Kontrapunkt unterrichtete ihn der prominente

Musikwissenschaftler sowie Alban Berg- Forscher

und -Biograf Hans F. Redlich, Instrumentationslehre

belegte er bei dem Filmkomponisten Angelo Francesco Lavagnino

und bei Vito Frazzi. In den 1950er Jahre bereiste er

ausgiebig Europa und verbrachte eine kurze Zeit bei seinem

Bruder Evey Christou, der ihn mit den Lehren C. G. Jungs vertraut

machte. Christous Kompositionen aus jenem Jahrzehnt

faszinieren durch die großartige Setzung des modernen Orchesters

post-strawinskyscher Prägung: Phoenix Music, Symphony

No. 1, Latin Liturgy, Six T.S. Eliot Songs, Symphony No.2.

Ab 1960 komponierte Christou ungemein dynamische

Orchesterstücke, darunter Toccata for Piano & Orchestra,

mit dem Klavier als Perkussionsinstrument, sowie Patterns

& Permutations, sein erstes Stück in denen er »Patterns« verwendet,

von ihm erfundene Strukturkomponenten, die sich

ableiten von der philosophischen Perspektive auf die Erneuerung

von Lebens- und Naturmustern und das auf sie bezogene

ritua lisierte, mythische Element im Verständnis des Menschen.

Und dann die fulminanten Oratorien: Tongues of Fire,



ein qualvolles und dennoch erlösendes Pfingstritual, und Mysterion,

zu alt-ägyptischen Texten aus dem Totenbuch.

Christous spätere Werke resultieren aus seiner radikalen

Epiphanie gegenüber der musikalischen Praxis. Das konventionelle

System der Noten und Linien wurde aufgehoben.

Christou entwickelte ein eigenes grafisches Notationsprinzip

mit Symbolen und Zeichen, die nicht nur auf musikalische Anweisungen

verweisen, sondern auch auf Gesten, Bewegungen

und psychische Verfasstheiten. Seine Partituren erinnerten

jetzt an Storyboards oder Comics. The Strychnine Lady steht

für die Öffnung hin zu anderen Kunstformen, wie Theater

und Performance, und zur konsequenten Integration psychologischer

Aspekte. Es evoziert das Primitive, Irrationale. Die

Präsenz Jungs ist spürbar. Das Stück basiert auf einer mittelalterlichen

Alchemistengeschichte und auf einem Traum

Christous von einer Frau, »die Strychnin und ungewöhnliche

Erfahrungen bietet«. Praxis und Metapraxis lieferten das

kohäsive Konzept, das die Kernessenz seines Werkes

jener Epoche darstellte. Bipolare Begriffe, die sich

als »Aktion« und »Transzendenz« interpretieren

lassen, definierten spezifische Aktionen und

charakteristische Gesten in der Komposition und

bestimmten dabei den gesamten Bedeutungsrahmen

seines Werkes und dessen Intention.

Gegen Ende der 1960er Jahre arbeitete Christou

intensiv an einer Inszenierung der Orestia von Aischylos,

seiner großen Oper mit psychodramatischen Episoden,

Elektronik, Visual Effects, Instrumentalist*innen, Performer*innen

und Tänzer*innen. Für die Orestia plante er die

Produktion von knapp vierzig Anaparastasis-Stücken (gewissermaßen

»Reinszenierungen«), von denen er nur zwei vollendete:

I – Astronkatitha nikteronomighirin und III – Der Pianist.

Parallel dazu inspirierte ihn der Ruf aus den USA zu einem

weiteren orchestralen Feuerwerk: Enantiodromia, eine

furiose Interpretation des heraklitischen Spiels mit Gegensätzen,

eine »Musik der Konfrontation«.

Die ambitioniert außerweltliche Oper wurde jedoch nie

vollendet. An seinem 44. Geburtstag starb Christou, einer der

vielversprechendsten und provokantesten Komponisten seiner

Generation, bei einem Auto unfall.

Die Project Files, auf denen »ONCE TO BE REALISED« basiert,

bleiben eines der großen Mysterien, die der viel zu früh verstorbene

Jani Christou hinterließ. Dabei liegt das Rätselhafte

nicht in der Unvollständigkeit der einzelnen Skizzen, sondern

manifestiert sich sehr real bei der Entschlüsselung ihres Inhalts,

beim Versuch, ihr wahres Wesen zu erfassen. Ein Corpus

von knapp siebzig Seiten und 130 durchnummerierten Projects,

händisch transkribiert irgendwann im Jahr 1969 — wenige Monate

vor dem Tod des Komponisten. Sie alle liegen in Textform

vor, mit einer Länge zwischen einer Zeile und fünfzehn Zeilen,

ohne jede musikalische Instruktion, die Hinweise auf eine

klangliche Ausführung gäbe. Eine klare, gleichwohl kodierte

Liste von Ideenentwürfen, die noch zu realisieren wären, eine

Kollektion kurzer, konzentrierter Szenarien, vielleicht ein Index

— wenn auch ohne dazugehörigen Inhalt, unfähig, für sich

selbst zu sprechen. Da keine Vorentwürfe oder andere, mit dem

Werkskörper zusammenhängende Skizzen überlebt haben,

scheint es heute unmöglich, mit Sicherheit sagen zu

können, wofür die einzelnen Projects stehen.

Eine gründliche Lektüre offenbart jedoch,

dass Christou selbst bereits einen signifikanten

Teil der Projects realisiert hatte (Anaparastasis I,

Epicycle). Andere sollten vermutlich in neuen Versionen

präsentiert oder überarbeitet werden. Wieder

andere waren für Premieren in den kommenden

Monaten vorgesehen (Anaparastasis III). Daneben gibt

es begonnene Schriften, die später in andere Werke eingefügt

werden sollten (die Orestia als aktualisierte Version des Epicycle).

Bei einigen handelt es sich nur um kurze Erinnerungen

an ergänzende, kleinere Aufgaben für den Komponisten selbst

(ein Anhang, ein Text, ein Band usw.). Manche enthalten nur

Verweise auf eine nicht-musikalische Veranstaltung, eine Lesung

oder ähnliches, oder sind ergänzende Elemente, Teile

eines größeren Ganzen, in wieder anderen Texten finden sich

Beschreibungen der Struktur, die die kleinformatigeren Konzepte

bindet. Um uns nicht der Gefahr der Überinterpretation

auszusetzen, schlagen wir vor, die Projects als Haftnotizen auf

dem Kühlschrank des Komponisten zu begreifen, als To-Do-

Liste verschiedener Aufgaben, die der unglaublich beschäftigte

Künstler noch zu erledigen hatte.

Vielleicht hatte er auch vor, die Projects in der Planung verschiedener

Veranstaltungen auf der Insel Chios zusammenzuführen.

Dort, in der Bucht von Kato Fana wollte Christou ein

neues internationales Festival für zeitgenössische Musik und

Mixed-Media-Performances begründen, eine Begegnung von

Künstler*innen aus aller Welt, Einwohner*innen der Dörfer

vor Ort, Tourist*innen und einem engagierten Ensemble, das

seine Stücke aufführen würde. Doch auch dieses Projekt wurde

nie realisiert.

A stimulating idea (Ein reizvoller Gedanke): Das schrieb

Christou auf seine Manuskripte, um Konzeptideen zu kennzeichnen,

die er der weiteren Ausarbeitung für würdig befand,

die zu einem Aufführungswerk oder zu einem philosophischen

Text werden, oder einer neuen, musikalischen Komponente

gar substanzielle Bedeutung zuweisen könnten. A stimulating

idea umfasst, wofür die Projects heute stehen könnten, frei

von jeder vergeblichen Pflicht, ihren Inhalt zu entschlüsseln.

Der Begriff beschreibt auch den Geist, in dem die sechs an

dem Musiktheater-Projekt »ONCE TO BE REALISED« beteiligten

Komponistinnen und Komponisten sich den dichten,

orakel gleichen Schriften genähert haben. Nicht mit der

Mission, zu vollenden, was unvollendet blieb, sondern

vielmehr im kreativen Bemühen um die Assemblage

all der Richtungen, in die ein inspirierender

Ausgangspunkt führen kann. Vor zwanzig

Jahren näherte sich Rupert Huber genau so und

als erster überhaupt zwei dieser Projects: im Bestreben,

ihnen aus der Perspektive des Komponisten

eine Form zu geben.

Zurückkehrend zur Frage, was Christou beabsichtigte,

müssen wir die Widersprüche betonen, die sich aus der Haltung

des Komponisten zu ergeben scheinen. Widersprüche, die einen

radikalen, ständig rastlosen Charakter offenbaren, der

»sich nie einfügen wollte«. Ein Künstler, der eine große Oper

für eine Welttournee vorbereitete, gleichzeitig jedoch »persönlich

gegen die musikalische Form rebellierte«. Ein Künstler,

der ein Musikfestival begründen wollte, die Kunstfestivals

seiner Zeit jedoch samt und sonders als »kulturellen Katzenjammer«

bezeichnete und selbst Festivals zeitgenössischer

Musik als »spießige Kulturveranstaltungen nach immer

gleichem Muster« kritisierte. Ein genuin unkonventioneller

Künstler, der sich entschieden gegen den Begriff »Musiktheater«

wehrte, jegliche Intervention der Regie ablehnte, und

gleichzeitig fabulöse Patchworks aus Musik, Theater, Psychodrama

und Performancekunst schuf.

68 69

Jedes Beispiel seiner Praxis — sei es ein Musikstück, eine theoretische

Abhandlung, eine konzeptionelle Erfindung oder

jede andere Komponente seiner musikalischen, künstlerischen,

historischen oder globalen Perspektive – bezeugt, dass

Christous Lebenswerk leidenschaftliche Geste ist. Eine Geste,

die die Grenzen jeder Idee überwinden soll, jede

Schranke, die das Handeln und Denken des Menschen

hemmt. Damit sich der Zweck und die Bedeutung

der Kunst erweitere, selbst wenn dabei

einzelne Aspekte abgelehnt werden: »Die Bedeutung

der Musik muss weiter gefasst werden. Wir

müssen die Schranken niederreißen, und nicht nur

als Exhibitionisten.«

So sollten wir den initialen Einfluss dieser stimulierenden

Ziffern als »Ritual der Kommunikation verstehen,

in dem nicht nur Klang, sondern auch Handlung und Geste eingesetzt

werden können, hier und da scheinbar zusammenhanglos,

doch immer in profunder, irrationaler Weisheit, wie

im Traum.« (Christou)



meaning for the work and its aims. In the late

1960s, Christou began working intensively on

a realisation of Aeschylus’ Oresteia, envisaged

as a large-scale opera that would incorporate

psychodramatic episodes, electronics, visual

effects, instrumentalists, performers and

dancers. In this spirit, he started producing a

body of nearly forty Anaparastasis (which can

be translated as “re-enactment”) pieces that

Oresteia would embody, of which he completed

only two: I–astronkatithanikteronomighirin

and III–The Pianist. In the meantime,

a transatlantic call brought forth another orchestral

firework: Enantiodromia, a ferocious

interpretation of Heraclitus’ play of the opposites,

“a music of confrontation.”

But the ambitiously otherworldly opera

was never to be completed; on his birthday,

Christou was killed in a car accident. He was

only 44 years old and one of the most promising

and provocative composers of his generation.

The Project Files, on which »ONCE TO BE

REALISED« is based, remain one of the

great mysteries that the untimely loss of Jani

Christou left behind. And the enigma lies not

in the incomplete nature of the individual

drafts, but in the substantive puzzle of deciphering

their content, asserting their actual

nature. A body of nearly seventy pages with

130 numbered Projects that were transcribed

by hand, sometime in 1969—mere months

before the composer’s passing; all of them in

textual form, varying from just one to fifteen

lines, without any musical instructions

to elucidate their sonic interpretation. A clear

yet encoded list of draft ideas to be realised,

a collation of brief, concentrated scenarios

to serve rather as an index—in fact, an index

without corresponding content, unable to

speak for itself. Since no preliminary rough

drafts or other associated sketches have survived,

it seems impossible now to pronounce

with some certainty what every single Project

stands for.

A meticulous reading, however, reveals

that a significant part of the Projects had already

been realised in a certain form by Christou

himself (e.g. Anaparastasis I, Epicycle), yet

some of the numbers were probably planned to

A stimulating idea —

ONCE

TO BE REALISED

Christou entered the 1960s delivering explosive

orchestral pieces: Toccata for Piano &

Orchestra, where the piano is regarded rather

as a percussion instrument; Patterns & Permutations,

into which he first integrated the

use of “patterns”, his own invention in terms

of structural components, derived directly

from a philosophical viewpoint concerning

the renewal of patterns in life and nature, as

well as the ritualistic mythical element in

man’s understanding of patterns. And then

the imposing oratorios: Tongues of Fire, a harrowing

yet still redemptive ritual of the Pentecost;

and Mysterion, on Ancient Egyptian

texts from the Book of the Dead.

His later works stem from a radical

epiphany in his approach to musical praxis.

Christou abolished the conventional musical

system of notes and staves, introducing his

own graphic notation with symbols and signs

By Costis Zouliatis

Pianist, Composer, Musicologist

Jani Christou, Project File nos. 105

© Heirs of the Jani Christou archive / Erben des Jani-Christou-Archivs

that could indicate not only musical instructions

but also gestures, movements and psychological

states. The scores resemble storyboards

or comic books. The Strychnine Lady

signifies the composer’s opening up to other

art forms, such as theatre and performance

art, and to the integral involvement of psychological

factors; a call to the primitive, to

the irrational. Jung is present here; the piece

incorporates a storyline borrowed from a

medieval alchemical tale, as well as one of

Christou’s dreams about a lady “who supplies

strychnine and unusual experiences”. Praxis

and Metapraxis are introduced, thereby providing

a cohesive concept that concentrates

the core essence of his works. The bipolar

terms, which could be interpreted as “action”

and “transcendence”, also define specific actions

and characteristic gestures within a

work, while determining the overall frame of

Returning to the question of what Christou

aimed for, one should point out the contradictions

that seem to emerge from the composer’s

stance; contradictions that reveal a radical,

always restless figure who “never wanted

to fit in.” Someone who was preparing a largescale

opera to tour around the world, but at

the same time was manifesting “a personal

revolt against musical form”; someone who

set out to initiate a music festival, but called

all art festivals of his time “cultural hangovers,”

dismissing even contemporary music

festivals as “stuffy cultural experi ences of

certain patterns”; a genuinely unconventional

artist who firmly renounced the term “musical

theatre,” rejecting the interference of

any director, while he crafted mesmerising

patchworks of music, theatre, psychodrama

and performance art.

Even though he remains a great stranger, Jani

Christou (1926–1970) numbers among the major

figures of the twentieth-century musical

avant-garde. While only some in the music

world are familiar with his work today, Christou

moved on a greatly promising trajectory in

the 1950s and 1960s, without sharing the renown

and prestige accorded to the likes of

Xenakis, Penderecki and Henze. His work is

characterised by a rare unity and consistency,

not only regarding his innovatory notation

and the pioneering means he introduced to the

sonic world, but also in terms of his own philosophical

universe, which inspires and runs

through his compositions: myth, the tran scendent,

the primordial, ritual, panic, hysteria…

His œuvre constitutes a kernel of contemplation

and spiritual action, which could truly

inspire people today in diverse ways, and not

just in terms of music or even art.

Born at Heliopolis of Cairo, a sacred place as

old as time, Christou was raised in Alexandria

and began composing at an early age.

After World War II he went to Cambridge to

study philosophy at a time when Ludwig Wittgenstein,

Bertrand Russell, C. D. Broad and

other great philosophers were lecturing there.

As for his advanced music education, he studied

composition and counterpoint with Hans

F. Redlich, a prominent musicologist and

scholar of Alban Berg, and orchestration with

film music composer Angelo Francesco Lavagnino

and Vito Frazzi. During the 1950s he

travelled widely in Europe, culminating with

a short period in Zurich, where, alongside his

brother, Evey Christou, he was exposed to the

teachings and ideas of C. G. Jung. His compositional

output within this decade unveils a

riveting mastery in dealing with the modern

orchestra of post-Stravinskian deri va tion:

Phoenix Music, Symphony No. 1, Latin Liturgy,

Six T. S. Eliot Songs, Symphony No.2.

What is witnessed in every single instantiation

of his praxis–be it a musical work, a theoretical

piece, a conceptual invention, or any

component of his perspective of music, of art,

of history, of the world–attests that Christou’s

life’s work is an anguished gesture to break

the barriers of every notion that restricts

Man’s thought and action, to broaden the purpose

and the importance of art, sometimes

even by rejecting aspects of it: “The meaning

of music must be enlarged. We need to break

down the barriers, not just as exhibitionists.”

And so, we should deem the initial influence

that comes from these stimulating ciphers as “a

ritual of communication, a ritual in which not

only sounds but actions as well as gestures may

be used, occasionally in a seemingly disassociated

manner, but always with a deeper irrational

wisdom, as in dreams.” (Christou)

be re-edited or re-presented in a different version;

and some others were planned to be premiered

in the months ahead (e.g. Anaparastasis

III). Some others were just incipient

scripts to be integrated later into other works

(e.g. Oresteia, the updated version of Epicycle),

while some were just brief reminders for

the composer to complete a side task (an appendix,

a paper, a tape etc.); some only suggested

a non-musical event, e.g. a lecture;

some prove to be subsidiary concepts belonging

to a wider structure, some others shape a

description of this structure which concentrates

on the lesser concepts. To avoid the risk

of over-interpretation, we should consider the

Projects as Post-it notes on the composer’s

fridge, a to-do list of miscellaneous tasks for

a fiercely busy artist.

And one should not rule out the possibility

that the Projects amounted to a draft planning

of various events to be realised on the

island of Chios. There, at the bay of Kato

Fana, Christou envisioned a ground-breaking

international festival of contemporary

music and mixed-media performances taking

place annually, to which performers from

all over the world, local villagers, tourists

and a committed ensemble performing his

works would have been invited. But this too

was fated to be just another project in vain.

A stimulating idea; a term which Christou

would note on his manuscripts, marking

every worthy conceptual idea to be further

elaborated, become a performative piece,

form a philosophical paper or even give substantial

meaning to an innovative musical

component.

A stimulating idea; this describes what

the Projects could stand for today, exempt

from a futile duty to decipher their content.

This term also describes the spirit in which

the six composers involved here have tackled

these condensed, oracle-like scripts. Not as

in a mission to complete what was left unfinished,

but rather as in a creative struggle

to assemble all the directions that an inspirational

starting point could generate. That

is also what maestro Rupert Huber was the

first to do with two of the Projects, a couple

of decades ago, endeavouring to give them

shape from a composer’s point of view.

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»ONCE TO BE REALISED«

NOW

© Barblina Meierhans

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»ONCE TO BE REALISED«

AFTER JANI CHRISTOU

© Christian Wolff

»ONCE TO BE REALISED«

AFTER JANI CHRISTOU

© Christian Wolff

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TRANSSTIMME

Oper in zwei Akten

Komposition: Fabià Santcovsky

Libretto: Anja Hilling

Regie/Bühne: Blanka Rádóczy

Kostüme: Andrea Simeon

Dramaturgie: Sarah Grahneis

Musikalische Leitung: Christopher Lichtenstein

Klangregie: Alexis Baskind

Mit: Jelena Banković Sopran

Georg Mitterstieler Schauspieler

Ensemble des Staatsorchesters Braunschweig

Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf: muenchener-biennale.de

Kompositions- und Librettoauftrag der Landeshauptstadt München

zur Münchener Biennale und des Staatstheaters Braunschweig.

Koproduktion der Münchener Biennale mit dem Staatstheater Braunschweig.

Mit freundlicher Unterstützung durch das Institut Ramon Llull.

In »TRANSSTIMME« fragt der Komponist Fabià Santcovsky sowohl

nach der existenziellen Bedeutung der menschlichen Stimme

für die Identität des Menschen als auch nach den Risiken eines

technischen Optimierungswahns. Mit seinem an mythologische

Stoffe wie Pygmalion, aber auch an den Allmachtswahn

eines Faust erinnernden Musiktheaterstücks

beleuchtet er die fragwürdigen technologischen Entwicklungen

unserer Gegenwart und ihre Auswirkungen

auf unsere menschlichen Beziehungen.

In “TRANSSTIMME” Fabià Santcovsky enquires

about the existential significance of the human voice

for a person’s identity, as well as about the risks involved

in the mania for technical optimization. With his

music theater piece, which reminds one of mythological material

such as Pygmalion, but also of the almightiness mania of a

Faustian character, he illuminates the dubious technological developments

of our present times and their effects on our human

relationships.

conversations (on time)

Von Anja Hilling

Theaterautorin; Librettistin der Produktion »TRANSSTIMME«

Der Gedanke des Festivals (Point of NEW Return) ist für mich

untrennbar mit dem Rauschen der Zeit verbunden. Einer

Rückkehr müsste ein Aufstand vorausgehen, angeführt von

der Sehnsucht, erlöst zu werden aus dem Regime des Moments,

der passiert, damit der nächste passieren kann, getrackt

wird, damit er spurlos bleibt in der Zeit. Es bräuchte den

Augenblick, der alle Zeiten versammelt, die, die waren, kommen,

sind. (es bräuchte eine Saison, die in den vier Quartetten

von T.S. Eliot spielt) Es bräuchte den Mut, die Strömung nach

vorne zu stören, Lücken in der Chronik, Flecken auf den Bildern,

den Gesichtern, Pausen in der Kommunikation, funktionslose

Stimmen, entkoppelte Bänder. Die Informationen

würden verschwimmen, die Archive gelöscht werden

zugunsten einer unfassbaren Erinnerung. Ich glaube,

dass so eine Erinnerung gespeichert wurde, an

einem Punkt im Körper, der nicht fixiert ist und

nur zugänglich in einem Zustand, den man

— Stille —

nennt. Ich glaube nicht, dass ich dort je gewesen

sein werde.

»At the still point of the turning world.

Neither flesh nor flesh less.« (t.s.e.)

Im Moment bin ich in einem Café, vor einem Bildschirm, vor

einer Fensterscheibe, vor einer Stadt, in der es regnet an diesem

Tag. Den ich nutzen wollte, um mit irgendwas weiterzukommen,

das sich am Anfang schon mal zeigte, im Ganzen,

das zu vergessen wahrscheinlich der Witz der Arbeit ist. Mein

Auge ist gerade mit einem Zucken beschäftigt. Ich kann nicht

sagen, wann es begann, nur dass ich schon jetzt nicht mehr

weiß, wie es sich ohne gelebt hat. Ich fange an, die Arbeit fallenzulassen

oder die Beschäftigung des Auges zu meiner eigentlichen

zu erklären. Das Zucken kommt nicht vom Auge,

nähert sich ihm aber, von außen wie von innen, bis zum Glaskörper,

einer Grenze, an der das Zucken nicht aufhört, sich zu

nähern.

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»TRANSSTIMME«

© Fabià Santcovsky

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»And do not call it fixity.

Where past and future are gathered.« (t.s.e.)

Die Zuckung ist weder zu steuern noch zu stoppen und versetzt

mich in einen Zustand, den ich Natur nennen würde,

wäre das Wort nicht verbraucht, was es absolut ist. Also bitte

ich die Maschine, es zu ersetzen, ein Synonym zu finden, das

mir so neu ist wie der Wunsch, runterzufahren.

»In my beginning is my end.« (t.s.e.)

Ich seh, wie früher, als ich noch ans Weiterkommen glaubte,

in die Maschine, die jetzt ein Körperteil zeigt im schwarzen

Spiegel. Meine Hand, genauer gesagt die linke, sie dreht sich

in die Luft, um sich selbst, kurz vor halb drei am Nachmittag,

ohne Anlass, ohne was zu wollen (wen begrüßen, was bestellen,

den Neustart, Kaffee), diese Gelenküberschreitung, die

ich weder fühlen noch wiederholen kann, die mir, wie

soll ich sagen: entspringt.

Woher ich das weiß, jemand hat gefragt, in

diesem Moment, in meinem Rücken, in der Nähe

des Tresens: »weißt du, wie spät es ist?« Jemand

anderes hat geantwortet, sehr genau, auf Englisch,

mit französischem Akzent: »two twenty

two.« Ich wollte mich umsehen, nach dem, der nach

der Uhrzeit fragte, weil ich mich nicht erinnern konnte,

wann ich die Frage das letzte Mal hörte, aber dann kam

die Antwort, so korrekt (2:22), und mit ihr die Erinnerung, an

— jemand, den ich kenne. Wie gut (ich weiß es nicht), ich kenn

ihn auf eine Weise, die mir sagt, dass ich ihn besser mit geschlossenen

als mit offenen Augen zeichnen könnte (was ich

natürlich beides nie versucht hab). Er hat mir gesagt, er wird

sterben, nicht irgendwann, sondern bald, und ich erinner

mich daran, hier, von einer neuen Ruhe in den Augen befallen,

den pausenlosen Blick durch die Scheibe, dass ich, in dem Moment,

in dem die Nachricht von seiner Krankheit mein Ohr

erreichte, mich selbst gesehen hab, in einem Café am Nachmittag,

vor einer Fensterscheibe, die Reflexionen meiner eigenen

Gesichtsfetzen geworfen in die vom Regen in sich gespülte

Bewegung auf der Straße, zwei Jahre nach seinem Tod.

»Quick now, here, now, always.« (t.s.e.)

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Ich hab ein Verlangen, das wahnsinnige Verlangen zu quatschen,

jetzt, mit wem, irgendwem, mit ihr zum Beispiel, einer

Frau von heute. Sie hat grüne Augenbrauen, trägt ein headset

und kommt auf mich zu, aber sie will nur den Zucker, ich will

sie festhalten, ihre Hand, auf der Strecke zum Streuer, ich will

ihr die Hörer aus dem Ohr nehmen oder die Stimme sein, die

ihr Gesellschaft leistet, hier, wo wir in ein Gespräch geraten

über ihr Gesicht, denn sie hat so eins, das sich verschließt bevor

es einem was verraten kann, und ich sage ihr, dass sie in der

Lage ist, uns zu versetzen, kraft eines mystischen Lächelns,

dreihundert Jahre zurück, in die Zeit als wir uns Porzellan in

die Brauen flochten und einen Garten ins Haar und das Gesicht

unter Masken lag, die ein Protest waren gegen die Diktatur des

Glases, der Gedanken, der Träume, der Haut. Und ich frage die

Frau, die ja schon längst wieder weg ist, an einem der Tische,

mit ihrem süßen Tee und einem Gesicht, das sich jetzt verhält

wie jedes andere und alle Tiefe verliert, sobald es angesehen

wird: »weißt du noch (dass die Masken aus Silber und

die Schweißperlen darunter filigran waren und glitzerten?).«

Die Frau steht auf, plötzlich, zieht sich

einen Parka an im Gehen und sagt (in ein Mikro,

fast wütend): »glaubst du, der Mist hier wär erträglich,

wär man sich seiner bewusst?«.

Ist es möglich, was zu sagen dazu (ich weiß

es nicht), ich greife zum Telefon oder spüre die Spannung

in der Schulter kurz vor der Idee, jemand anzurufen,

Fabià Santcovsky zum Beispiel, den Komponisten, für

den ich das Libretto schrieb für das Festival, das also kreist um

den Punkt einer neuen Rückkehr, ich hätte es längst tun sollen.

Es gab Auseinandersetzungen über den Text, nicht am Anfang

(da war alles klar), nicht am Ende (da war es geworden, was es

nun ist), sondern auf der Strecke. Ein Streit zwischen Wort und

Musik um die Frage, welche Disziplin die Aufgabe hat, das Unfassbare

zu formulieren, welche, die Pflicht, es zu verschweigen

und wieviel des Schweigens und der Formeln es braucht, es

zu erhalten in den Rückkopplungen des Unerträglichen.

»To be conscious is not to be in time.« (t.s.e.)

Was soll ich sagen, nichts, ich kann es nicht finden, das Telefon,

nur meinen Griff danach, schwebend, auf der Suche, irgendwo

in den Tiefen meines uralten Rucksacks, und ich frag

einfach die Hand, ob es möglich ist: auf der Strecke zu bleiben.

ning, in its entirety, and forgetting that is

probably the entire point of the work. My eye

is busy right now with a twitch. I can’t say

when it began, only that I already don’t know

what life was like without it. I begin to neglect

the work or make the eye’s busyness my

own. The twitching does not come from the

eye, but draws close to it, from the outside as

well as from the inside, moving right up to

the vitreous body, a borderline towards

which the twitching perpetually advances.

conversations (on time)

By Anja Hilling

Theater author; librettist for the production

“TRANSSTIMME”

“And do not call it fixity.

Where past and future are gathered.” (t.s.e.)

The twitching cannot be controlled or halted

and puts me in a state that I would call nature

if the term were not so absolutely worn-out.

That is why I ask the machine to replace it, to

find a synonym that is as new to me as the

desire to shut down.

For me, the festival concept (Point of NEW

Return) is inseparably connected with the

noise of time. A return would have to be

preceded by an uprising, driven by a longing

to be released from the regime of the moment,

which happens so that the next moment

can happen, tracked so that it remains without

a trace in time. There would have to be the

moment that gathers together all the times

that existed, that are coming, that exist now.

(there would have to be a season set in T.S.

Eliot’s four quartets). There would have to be

the courage to disrupt the flow forward, gaps

“In my beginning is my end.” (t.s.e.)

81

I look, just as I used to when I still believed in

making headway, into the machine, which

now reveals a body part in the black mirror.

My hand, more precisely my left hand, turns

in the air, rotating around itself, just before

half past two in the afternoon, for no reason,

without wanting anything (to greet someone,

to order something, a fresh start, coffee), this

transgression of the joints that I can neither

feel nor repeat, which—how shall I put it?—

emanates from me.

How do I know that, someone asked, at

that moment, behind me, near the counter,

“do you know what time it is?” Someone else

answered, very precisely, in English, with a

French accent: “two twenty two.” I wanted to

look around to see the person who asked the

time, because I could not remember the last

time I heard the question, but then the answer

came, so correct (2:22), and with it the memory

of—someone I know. How well (I don’t

know), I know him in a way that tells me that

I could draw him better with my eyes closed

than with my eyes open (neither of which of

course I ever tried). He told me he was going

in the chronicle, blotches on the images, the

faces, pauses in communication, voices without

function, decoupled tapes. The information

would become blurred, the archives

would be deleted in favour of an unfathomable

memory. I believe that this kind of memory

is stored at a point in the body that is not

fixed and is only accessible in a state we call

—silence—

I don’t think I will ever have been there.

“At the still point of the turning world.

Neither flesh nor fleshless.” (t.s.e.)

At the moment I am in a café, in front of a

screen, in front of a windowpane, in front of

a city where it is raining on this day. The day

I wanted to use to make progress with something

that had already emerged in the begin-



to die, not sometime, but soon, and I remember,

here, seized by a new calmness in the

eyes, the uninterrupted gaze through the

window, that at the moment the news of his

illness reached my ear, I saw myself, in a café

in the afternoon, in front of a windowpane,

reflections of fragments of my own face cast

into the movement on the street, washed together

by the rain, two years after he died.

“Quick now, here, now, always.” (t.s.e.)

ning (everything was clear then), not in the

end (that’s when it had become what it is now),

but along the way. An argument between

word and music about which discipline has

the task of formulating the incomprehensible,

and which has a duty to keep it secret,

and how much silence and formulae are needed

to keep it within the feedback of the unbearable.

“To be conscious is not to be in time.” (t.s.e.)

I have a craving, an insane craving to chat,

now, with whom, with anyone, with her for

example, a modern woman. She has green

eyebrows, wears a headset and comes towards

me, but she just wants the sugar, I want

to hold on to her, to her hand moving towards

the sugar shaker, I want to take the earpieces

out of her ears or be the voice that keeps her

company, here, where we get into a conversation

about her face, because she has one of

those faces that closes itself off before it can

give anything away, and I tell her that she is

able, by a mystical smile, to shift us three

hundred years back in time, to the days when

we plaited porcelain into our brows and a garden

into our hair and our faces were under

masks that protested against the dictatorship

of glass, of thoughts, of dreams, of skin. And

I ask the woman, who has long since left

again, sitting at one of the tables, with her

sweet tea and a face that now behaves like any

other and loses all depth as soon as it is

looked at: “do you remember (that the masks

of silver and the beads of sweat beneath were

filigree and sparkling?”) The woman gets up,

suddenly, puts on a parka as she walks and

says (into a microphone, almost angry): “do

you think this shit would be bearable if people

were aware of it?”

Is it possible to say something about it (I

don’t know), I pick up the phone or feel the

tension in my shoulder just before the idea of

calling someone, Fabià Santcovsky for example,

the composer for whom I wrote the

libretto for the festival, which therefore revolves

around the point of a new return, I

should have done it long ago. There were altercations

about the text, not in the begin-

What can I say: nothing. I can’t find it, at the

moment, the phone, just my hand reaching

for it, hovering, searching, somewhere in the

depths of my ancient backpack, and I simply

ask my hand now if it’s possible: to fall by the

wayside.

82

»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«

Reise durchs Wohnzimmer oder wodurch? — Situation 2

© Tobias Eduard Schick / Katharina Vogt (2020)

83



»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«

Six Memos from the Last Millennium; II. Anonymity

© Yair Klartag (2020)

84 85



OPERA, OPERA,

OPERA!

revenants and

revolutions

verschollener vierter teil

der klimatrilogie

Musiktheater von

Ole Hübner und Thomas Köck

Komposition: Ole Hübner

Text: Thomas Köck

Regie: Michael v. zur Mühlen

Ausstattung: Martin Miotk

Ausstattungsassistenz: Jakob Boeckh

Konzeptionelle Mit arbeit/Dramaturgie:

Maria Huber, Kornelius Paede

Video: Stefan Bischoff

Musikalische Leitung: Michael Wendeberg

Mit:

Michael Taylor Countertenor

Robert Sellier Tenor

Michael Zehe Bass

Chor der Oper Halle

Kinder- und Jugendchor der Oper Halle

Staatskapelle Halle

Unsere Zeit erscheint als schier endlose Gegenwart – ein andauernder

Krisenzustand, in dem Zukunft eher als Bedrohung

denn Versprechen wahrgenommen wird. Gleichzeitig werden

immer neue Forderungen an diese mögliche Zukunft laut, die von

der alltäglich empfundenen Ohnmacht jedes*r Einzelnen im Angesicht

übermächtiger Problemlagen ausgehen. Das Neue

Musiktheater »OPERA, OPERA, OPERA! revenants and

revolutions« stellt sich dieser ambivalenten Situation:

Weit in der Zukunft befindet sich ein Chor mit teilweiser

Amnesie im Gespräch mit sich selbst und

Our times appear to be a sheer endless present—a

continuing state of crisis, where the future is perceived

more as a threat than a promise. Simultaneously,

new demands on this possible future are constantly

being voiced, demands that stem from the day-to-day impotence

felt by every individual faced with the overwhelming problems.

The new music theater work “OPERA, OPERA, OPERA!

revenants and revolutions” confronts this ambivalent situation: At

a point far in the future, a choir with partial amnesia converses

with themselves and with a cyborg about where they come from,

einem Cyborg darüber, woher sie kommen, wie alles wurde, und

wohin sie gehen. Der von eingespeicherten Erinnerungen geplagte

Cyborg sucht nach Antworten, aus seinem trüben Gedächtnis

erheben sich Fragmente, Heimsuchungen, individuelle

wie kollektive Erinnerungen. Angesichts dieser Momente stellt

sich immer wieder die Frage: Welches gesellschaftliche Potential

hat eine gemeinsame Stimme noch? Wohin mit

all diesen historischen Wendepunkten und utopischen

Sehnsüchten angesichts der Trümmer und

des menschlichen Scheiterns?

how everything came about, and where they are

headed to. The cyborg is tormented by stored memories

and searching for answers. Fragments, infestations,

individual and collective remembrances arise from

its murky memory. In the face of these moments, questions

are posed over and over again: Which social potential does a mutual

voice still have? Where should all of these historical turning

points and utopian desires go in light of the rubble and human

failures?

Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf: muenchener-biennale.de

Kompositions- und Librettoauftrag der Landeshauptstadt München

zur Münchener Biennale.

Koproduktion der Münchener Biennale mit der Oper Halle.

86 87



Mit den Geistern

am Point of NEW Return

Von Ole Hübner

Komponist des Musiktheaters

»OPERA, OPERA, OPERA!

revenants and revolutions«

Ein hauntologischer Definitionsversuch von

Ole Hübner — der, wie so vieles andere (ganze

Opern etc.), niemals hätte zustandekommen

können ohne jahrelanges Leben, Arbeiten,

Diskutie ren, Recherchieren, Erschaffen, Gegenseitig-

Bilden-und- Inspirieren, Abgründe-Durchqueren,

Gespenster-Jagen in & mit the paranormal ○| eer group

(= Jakob Boeckh & Maria Huber & moi-même), wofür ihr

ewiger & ausufernder Dank gebührt.

— Paris, Februar 2020

Point of NEW Return — das könnte so viel heißen wie: Die Paradoxie

des Abgrunds ganz annehmen und mit Leben füllen.

Vor dem Abgrund nicht zurückschrecken oder umkehren. In

ihm stattdessen das Abenteuerliche, Horizonterweiternde,

Bereichernde — ja, letztendlich das gute (Er-)Leben sehen. Ihn

als Chance wahrnehmen, größere Liebe, Freundschaft oder

Solidarität zu finden, weil sich die Erkenntnis, dass niemand

alleine besser ist als mit anderen, als lebensnotwendig herausstellen

wird. Point of NEW Return — offen dafür werden, sie

anzunehmen und selbst geben zu wollen. Das Vehikel finden,

bauen oder sein wollen, das man braucht, um über den Punkt

hinauszugehen, an dem man sonst hätte anhalten müssen.

Banden bilden, um weiter zu gehen, als man es alleine könnte

(das Kollektiv ist die Zukunft, ist, sich gegenseitig die Angst

vor der Zukunft zu nehmen, ist, aus Rückschlägen Energie

zum »Jetzt-erst-recht« zu generieren). Lasst uns unsere Projekte,

Unternehmungen, Zusammenkünfte, Raumnahmen

und Opern zu Gespensterjagden, zu Dante’schen Höllenfahrten,

Antarktisexpeditionen, orpheischen

Hadeswanderungen und Schiffbrüchen machen,

lasst uns gemeinsam Sirenengesängen lauschen,

uns mit voller Absicht und aller Hoffnung »hinab

in den Maelström« (Edgar Allan Poe) stürzen, weil

das Unvorstellbare in dessen Zentrum uns näher

zusammenführen wird. Oder, wie die International

Necronautical Society schreibt: »Wenn wir uns dem

Abgrund* zuwenden, uns ihm nähern, so erklärt Heidegger,

dann überantworten wir uns ihm, werden wir geworfen, projiziert.

Man unterzieht sich einem loswerfenden Loslassen*. In

was? Wagnis*. Was wirft uns? Das Sein. Das Sein läßt das Seiende

in das Wagnis los. […] Nach Heidegger hat das Wagnis

mit Wage* [sic!] zu tun und mit Gewicht*: ›Das Wagnis ist die

Schwerkraft‹, schreibt er. Was gewagt, projektiert, losgeworfen*

wird, ist ›zwar ungeschützt, aber weil es auf der Wage

liegt, ist es vom Wagnis einbehalten. Es ist getragen.‹« 1

1 International Necronautical Society, Navigation war schon immer eine schwierige

Kunst, in: dies., Offizielle Mitteilungen, Zürich: Diaphanes 2011, S. 34-39. (* bezeichnet

Wörter der Heideggerschen Terminologie, die im englischen Original unübersetzt

deutsch verwendet werden.) Die Interna tional Necronautical Society ist eine

semifiktio nale »Agentur« und als solche ein künstlerisch-philosophisches Kollektiv

des Schriftstellers und »Generalsekretärs« Tom McCarthy sowie des »Chefphilosophen«

Simon Critchley, das je nach Recherche- und/oder Kunstprojekt um weitere

Gäste im Büro für Antimaterie ergänzt wird.

Abgründe sind die Orte (und Zeiten) mit eigenen Gesetzmäßigkeiten

und (Un-)Logiken, die von Geistern bevölkert, konstituiert

und determiniert werden. Der Tod ist ein Abgrund

— oft als annähernd atopisch-achronischer (Nicht-)Zeit-Raum

gedacht: der Hades, in den Orpheus hinabsteigt wie in eine

Schlucht, oder Dantes Inferno. »Der Tod ist eine Art Raum,

den wir kartieren, betreten, kolonisieren und schließlich bewohnen

wollen.« 2 Die Burg Monsalvat in Wagners Lohengrin

ist ein Abgrund ebenso wie Schwarze Löcher, in denen Zeit

und Raum in extremer Verdichtung verschmelzen. Um den

Abgrund Antarktis entbrannte um 1900 ein wahnwitziger

Wettlauf, der viele in den Tod führte (Jahrzehnte, nachdem

die Polfahrt bereits in der romantischen Dichtung, ähnlich

der Winterreise, zu einer mit grausigen Todessymbolen geschmückten

Metapher für die »Vereisung der Herzen« im aufkommenden

Industriezeitalter geworden war). 3 In einer unbewohnbaren

Antipodenregion ist auch der Läuterungsberg

in der Commedia lokalisiert, dessen sieben Terrassen

auf dem Weg ins Paradies überwunden werden müssen:

Er steht an jenem Ort, der Jerusalem auf dem

Globus genau entgegengesetzt ist, und entspricht

offenbar dem Felsen der Sirenen, den (eine Dante’-

sche Version von) Odysseus nach seiner Trennung

von Kirke ansteuert. Der Versuch, ihn per

Schiff zu erreichen, die Projektion des Seins in eine

Region fernab des Mare Nostrum, ist ein radikales

Wagnis — nicht verboten, aber ausdrücklich nicht empfohlen.

Denn der Sirenengesang bezaubert »alle / Menschen […],

wer auch immer hinkommt zu ihnen. […] [M]it hellem Gesang

üben Zauber aus die Sirenen, / […] um sie ist ein großer Haufen

von Knochen / von verfaulenden Männern, und ums Gebein

schrumpft die Haut ein.« 4 Ihr singendes Regiment ist ein aus

sich selbst generierter emanzipatorischer Akt.

2 International Necronautical Society, INS-Gründungsmanifest 1999, a.a.O., S. 7.

3 Vgl. dazu Manfred Frank, Das Scheitern am ›Heil‹: die Reise ins ewige Eis, in: ders., Die

unendliche Fahrt. Zur Geschichte des Fliegenden Holländers und verwandter Motive,

Leipzig: Reclam 1995, S. 114ff.

4 Homer, Odyssee. Neu übersetzt von Kurt Steinmann, Zürich: Manesse 2011, S. 178.

88 89

Jeder Abgrund weist auf und zu ein(em) Zentrum hin, das zugleich

sein (kausaler) Grund ist: der Südpol, der Heilige Gral,

die von Schall umgebenen Sirenen, Eurydike im Hades, der

im Erdkern feststeckende Luzifer bei Dante. Das Schwarze

Loch hat als Zentrum die Singularität, einen zeitlich-räumlich

undefinierbaren Nullpunkt, dessen direkte Umgebung am

Ende jeder Raum-Zeit liegt; er selbst liegt außerhalb davon.

Frappierend ähnlich beschreibt die Commedia Gottes Aussehen

aus der Ferne als einen alle Energie in unendlicher Dichte

vereinenden »Punkt von so grellem Licht, daß jedes Auge sich

wegen dessen Überhelle schließen muß […]. Wie ein Mondhof

[…] kreiste um diesen Punkt ein Feuerring, so schnell — er

überträfe selbst die Bewegung, die unsere Welt am geschwindesten

umringt. Und dieser Kreis war von einem anderen umringt,

und der vom dritten und der dritte vom vierten, der vierte

vom fünften und der fünfte vom sechsten. Danach folgte

der siebte, […] der achte und der neunte […]. Von diesem

Punkt hängt der Himmel ab und die ganze Natur.« 5

Der Komponist Claude Vivier war sein Leben lang

besessen davon, im Zwischenraum zwischen zwei

Polen — einem Anfang und einem Ende, einem

vergangenen und einem zukünftigen Moment, einem

Ton und einem anderen Ton — die Unendlichkeit

zu finden. Oder besser gesagt: Er brauchte die

Unendlichkeit nicht zu finden, er wusste sie schon

längst in diesen Zwischenräumen und suchte deshalb nach

Wegen, sich in ihr zu versenken, sich etwas länger in ihr aufzuhalten

— und sei es auch nur für einen kurzen spürbaren Moment

—, sie zu bewohnen: Die Unendlichkeit war seine Zufluchtsstätte.

Eine kompositorische Methode, die einige seiner

wichtigsten Werke durchzieht, ahmt das aus der elektronischen

Signalverarbeitung stammende Prinzip der Ringmodulation

quasi-analog mit Instrumenten nach. Dazu werden zwei oszillierende

Ausgangssignale definiert und dann sowohl voneinander

subtrahiert als auch miteinander addiert — also z.B.:

500 Hz – 300 Hz = 200 Hz, und 500 Hz + 300 Hz = 800 Hz. Zwei

Töne paaren sich miteinander und bringen aus sich selbst, aus

der Vermengung ihrer Eigenschaften miteinander, zwei akustische

Schatten hervor. Im nächsten Schritt kann wiederum

5 Dante Alighieri, Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch, Frankfurt am Main:

Fischer 2017 (2. Aufl.), S. 443f.



das neu entstandene Signal 800 Hz mit dem Ausgangssignal

500 Hz ringmodulieren, um die neue Frequenz 1.300 Hz hervorzubringen

usw. — ein ganzer Stammbaum von Frequenzpaarungen

entsteht, wird komplizierter und verzweigter …

Dieses Prinzip, das, was zwischen zwei Tönen geschieht, auszuloten,

lässt sich, tatsächlich, bis ins Unendliche fortführen.

Claude Vivier äußerte einmal seine Begeisterung darüber, was

mit einem Ausgangsmaterial von nur zwei Tönen alles möglich

sei: für ihn war diese Reduktion ein Ausdruck von »purity«.

Elle est retrouvée. Quoi ? — L’Éternité.

Ausgehend vom jeweiligen Zentrum lässt sich jeder Abgrund

als Dispositiv (im Sinne Foucaults und Agambens) analysieren

und beschreiben. Wir können uns vorstellen, diese Dispositiv-Abgründe/Abgrund-Dispositive

als Heterotopien erfahrbar

und bevölkerbar zu machen, also: ein Leben mit den Geistern

zu ermöglichen. Wer eine Beziehung mit einem bestimmten

Geist — dem Zeit-Geist (»der Dämon, der im

Rücken der Systemzeit lauert. Wenn er Akteure zu

seiner Verkörperung gefunden hat, tritt er in Erscheinung.

[…] Er wird nicht als Möglichkeit der

Wirklichkeit greifbar, denn er erscheint nur als

flüchtiger Augenblick einer anderen Wirklichkeit,

der nach Gestalt verlangt.«) 6 , dem Geist der

Unruhe, dem Kollektiv-Geist, dem Geist eines verstorbenen

Menschen, dem Geist einer imaginären Figur

— eingeht, wer einen solchen Geist mit oder ohne Absicht

beschwört, wird schiffbrüchig an der Hochglanz-Oberfläche

der systemisch-gesellschaftlichen Realität und in eine tiefere

Dimension von Wahrnehmung, Erfahrung und Perspektive

hineingezogen, die sich aber freilich auch als Täuschung, Enttäuschung

oder Verletzung herausstellen kann. Umgekehrt

gilt: Wer — allein oder mit mehreren, gewollt oder ungewollt

— in einen wie auch immer gearteten und verorteten Abgrund

gerät, wird dort mit ziemlicher Sicherheit dem einen oder anderen

Geist begegnen. Die Geisterschicht, die immer und

überall wie ein Schleier die Welt überzieht, ist in Abgründen

besonders stark konzentriert, geballt, verklumpt — weil in ihnen

die Zeit in umwegigen Kurven und abrupten Sprüngen

verläuft, wie David Foster Wallace poetisch zu fassen ver-

sucht: »Der Geist sagt, auch ein Feld-Wald-und-Wiesen-Geist

könne sich mit Quantengeschwindigkeit bewegen und jederzeit

überall sein und in sinfonischer Summe die Gedanken der

Lebenden hören, nur könne er für gewöhnlich niemanden und

nichts Festes affizieren, und er könne niemanden richtig ansprechen,

ein Geist habe keine laute eigene Stimme und müsse

daher quasi die innere Hirnstimme eines Menschen nehmen,

wenn er etwas kommunizieren wolle, […] und sehr wenige

Geister haben etwas so Wichtiges, um darüber zu konnektieren,

dass sie bereit sind, so lange still zu stehen, normalerweise

huschen sie lieber mit unsichtbarer Quantengeschwindigkeit

herum. […] Im Großen und Ganzen existieren […] Geister

in einer ganz anderen heisenbergschen Dimension der Kursänderungen

und Zeitverläufe. Zum Beispiel, fährt er fort, gingen

die Handlungen und Bewegungen normaler Lebender für

einen Geist ungefähr mit der Geschwindigkeit des Stundenzeigers

einer Uhr vonstatten und seien auch ungefähr genauso

interessant.« 7

Point of NEW Return — das könnte so viel heißen

wie: Hallo sagen zu den Geistern, nett sein zu den

Geistern, sie ernst nehmen, ihnen zuhören, keine

Angst vor ihnen haben, sondern sie in das eigene

Leben integrieren, Mut haben, sich von ihnen in

den Abgrund führen zu lassen, mehr denn je an sie

glauben, mehr denn je an Science Fiction glauben. The

one and only Thomas Köck lässt in unserem Stück »OPERA,

OPERA, OPERA! revenants and revolutions« die Geister (revenant

= wiederkommend, wiederkehrend) in Form kindlicher

Hologramme auftreten, die aus einer Zukunft kommen,

um als Hüter*innen und Verkünder*innen des Wissens einer

Vergangenheit eine Gegenwart zum Einstürzen zu bringen.

Vor einigen Monaten stellte er fest: »es gibt also geister und

sie sind hier mit uns im raum sie strukturieren ihn diesen

raum selbst dort wo man sagt dass er leer sei spüren wir sie

gespenstische materie hysteresis stabilisierung des habitus

durch zeichen worte gesten blicke strukturen stabilisierung

der macht durch wiederholungen iterationen identitäre missverständnisse

[…] all diese mächte die uns heimsuchen verfolgen

formen konstruieren schaffen erzeugen all diese ghostly

»OPERA, OPERA, OPERA! revenants and revolutions«

Skizzen

© the paranormal ○| eer group (Jakob Boeckh & Maria Huber & Ole Hübner)

90

6 Christian Unverzagt, Masse und Bewegung, Heidelberg: Econotion 2015, S. 185.

91

7 David Foster Wallace, Unendlicher Spaß, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 1193-

1207.



powers die durch uns hindurch weiter sprechen die schreiben

und schreiben und schreiben und schreiben diese unendlich

schöne welt die vor unseren augen verheizt wird für die ewig

gleiche geschichte von ausbeutung zerstörung profitmaximierung

[…] weil jedes erzählen die geschichte erneut aufreißt

erneut fragt was war da eigentlich woher kommt dieser

begriff woher kommt diese geschichte woher diese überzeugung

woher kommt macht deshalb heißt schreiben immer die

toten aufsuchen heißt schreiben immer die geister hereinlassen

heißt schreiben immer sich diesen geistern auszusetzen es

heißt das verschwinden zulassen es heißt die toten sprechen

lassen und sie treten auf und wie sie auftreten und sie sprechen

und wie sie sprechen und sie fluchen und wie sie fluchen und

sie klagen und wie sie klagen sie treten hier auf einer nach dem

anderen auf dem weg zur bühne verkörpernde nomaden zwischen

den zeilen entkorken noch eine flasche geben noch einen

aus in der krypta bei der weinverkostung und werden

nochmal greifbar spürbar für uns ghosts that matter

quality time mit all den geistern sie erzählen ihre

geschichten und im erzählen da passiert etwas da

halten die uhren an […] und für einen moment

sind sie dann sichtbar die toten und die spuren

dessen was sie hinterlassen was wir einmal hinterlassen

haben werden im gemurmel der toten

unsere eigene verantwortung das gemurmel der toten

echo aus der zukunft unser gemurmel das heißt es

nämlich das schreiben es heißt sich an den tod herantasten

an den tod heranschleichen es heißt sehen dass alles hier nur

eine wendung eine drehung im verschwinden ist es heißt sehen

dass ich nur in der auslöschung durch das ganz andere überhaupt

existiere […] die geschichte ist noch nicht vorbei die geschichte

und die zukunft die wissen dort wo es macht gibt gibt

es widerstand« 8

Point of NEW Return — das könnte so viel heißen wie: Das Leben

anreichern lassen von den Geistern, um beschützt von ihnen

in die Zukunft zu gehen, niemals mehr alleine zu sein.

Selber da sein für die Geister, die auf uns warten, sich nach uns

sehnen. Aus der Vergangenheit lernen, um nicht in der Verwaltung

ihrer Abwesenheit in post-historischen Stillstand zu verfallen,

sondern sie am Leben zu halten, mit ihr zu kommunizieren,

sie nachzuspielen, sich von ihr erzählen zu lassen und

ihr von sich zu erzählen, sie zu betreten und zu bewegen. »Wer

sagt denn aber, daß die Geschichte in der Vergangenheit beginnt

und sich nicht vielmehr krebsförmig auf sie zubewegt?« 9

Point of NEW Return — das verlangt von uns: die Ängste abzulegen,

das Magische und Immaterielle in eine entzauberte und

vergegenständlichte Welt zurückzuholen, mehr Barockoper

zu wagen, mehr Verkleidung, Verzauberung, Affekt, Drag,

Illusion, Liebe, Mythos, Queerness. Die Symbole dort zu verorten,

wo sie hingehören: im Universellen, nicht im Exklusiven.

Mit aller Kraft dafür einzutreten, dass unsere Freundschaft

und unsere gemeinsame Be-Geist-erung wichtiger sind

als die zerbröselnden Normen, Hierarchien und Strukturen

des Alten und viel besser als der Neoliberalismus und

das Patriarchat. Für uns drei — Maria & Jakob & Ole

— ist der größte NEW Return während unserer Arbeit

an »OPERA, OPERA, OPERA!« unser Zusammenwachsen

als Kollektiv, das Ergründen

und Schärfen unserer politischen Handlungsfähigkeit:

Wir erkennen uns zunehmend als

»kleinstmögliche demokratische Einheit« und radikal

diskursiv-hierarchielose Zelle mit queerem Anspruch

und utopischen Motivationen, in der wir praktisch

entwerfen, wie wir zusammenleben und zusammen-denken

wollen. Neue Arbeits-, Denk- und Lebensformen hinter den

Kulissen zu entwerfen, sie konsequent umzusetzen und dann

behutsam und sukzessive »nach außen« zu öffnen und zu tragen,

gehört zu dem Revolutionärsten, was Theater heute leisten

kann: Die Veränderungen, von denen auf den Bühnen geträumt

und gesungen wird, müssen in den Konzeptionssitzungen

und Proben anfangen. Oder man könnte auch sagen: eine

künstlerische Vision allein reicht nicht aus, um zukunftsweisende

Kunst zu machen, man braucht auch eine Vision von

Gemeinsamkeit und Liebe. Die haben wir drei in den letzten

zwei Jahren gefunden. Gegen Widerstände.

8 Thomas Köck, ghost matters. poetik vorlesung von thomas köck an der hochschule für

musik & theater hamburg, https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&-

view=article&id=17268:die-hamburger-poetikvorlesung-des-dramatikers-thomas-koeck&catid=53:portraet-a-profil&Itemid=83,

zuletzt aufgerufen am 24.1.2020.

92

9 Manfred Frank, a.a.O., S. 12f.

»OPERA, OPERA, OPERA! revenants and revolutions«

Skizzen

© the paranormal ○| eer group (Jakob Boeckh & Maria Huber & Ole Hübner)

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Der Abgrund ist ein Nicht-Ort, ein Zwischenort — eine Auslassung

zwischen Orten, außerhalb von Lokalisierung, Verzeitlichung

und Sicherheit. »Der Zwischenraum zwischen dem vergangenen

und dem zukünftigen Augenblick, sofern er existiert,

wäre das Unendliche, und das Unendliche ist es, das die

Musik zum Schwingen bringt. Die Unmöglichkeit, vollständig

in diesem Zwischenraum zu leben, in dem die Menschen in

eine Art Schwarzes Loch des Bewusstseins fallen würden,

brachte die Musik hervor. Das verzweifelte Verlangen [...] erschuf

diese Schwingungen der Unendlichkeit, diese Tunnel

zur Nicht-Zeit inmitten von historischer Zeit, diese magischen

Beschriftungen auf der komplexen Zeit-Leinwand des Menschen,

diese Zeichen, die unsere Verzweiflung verbergen.« 10

Ein solches Dazwischen ist es auch, in dem ansetzen muss, wer

es wirklich ernst meint mit der Erneuerung des Musiktheaters.

Noch so radikale Musik, skandalträchtige Inszenierungskonzepte

oder Videofluten von allen Seiten werden darin scheitern,

revolutionäres Musiktheater zu erschaffen, wenn

nicht gerade auf die feinen, quasi synästhetischen

Verbindungen von Klang, Bild und Performanz,

auf ihre Überlappungen, Grenzbereiche und vertieften

Zwischenräume, der größte Wert gelegt

wird. Die wichtigste Herausforderung an neues

Musiktheater ist, dass alle bereit und befähigt

sind, nicht nur ihre »angestammten«, sondern

sämtliche Disziplinen jederzeit mitzudenken, mitzufühlen,

und dafür die alten Prozesse, Hierarchien, Machtstrukturen,

Legitimationen und Selbstverständlichkeiten rigoros

aufzugeben. Der Spalt zwischen den Künsten kann nur

dann erforscht werden und Neues, Ungesehen-Ungehörtes

hervorbringen, wenn ich — von der Klippe meiner eigenen

Kunst über den Abgrund auf die andere Seite hinüberblickend,

meine Methoden, Erkenntnisse, Erfahrungen, Interessen

und Probleme im Rücken — ausmachen kann, was es

dort an Gleichem und Anderem geben mag, und einzuschät-

10 Claude Vivier, Que propose la musique ?, zit. nach: Bob Gilmore, Claude Vivier — A

Composer’s Life, Rochester, NY: University of Rochester Press 2014, S. 342, u. übers.

v. Ole Hübner a. d. Engl. (»The interval between the past moment and the future moment,

if it exists, would be the eternal, and it’s the eternal that makes music vibrate. The

impossibility of living fully in this interval, which would throw human beings into a sort

of black hole of consciousness, created music; the desperate desire […] created these

vibrations of eternity, these tunnels toward non-time placed in historical time, these

magical writings marking the complex canvas of time of the human being, these signs

hiding our despair.«).

zen vermag, wo die Mitte liegt, an der wir uns einander und

mit den Geistern treffen werden, wenn wir ins Unbekannte

hinabsteigen. Die Zwischen-Töne, das Wissen und die Poesie

»zwischen« den Zeilen, die Interferenzen erfordern konsequente

Bereitschaft, Vertrauen, Verständigung und Einfühlung

— sonst bleiben sie unhörbar und unsichtbar. Die Begrenzung

einer Kunst — d.h. ihrer Methoden, Konventionen, Prozesse

und ihrer Terminologie — wird zum Point of NEW Return

in dem Moment, in dem sie überschritten wird.

Der Abgrund ist ein Freiraum, ein Third Space, ein Queer Space,

in dem die Regeln des hysterischen Absicherns nicht gelten, er

verlangt Grenzüberschritte und Risiken. Ein Safe Space ist er

nur etwa im speziellen Sinne des Heideggerschen Wagnis, denn

erst aus der Unsicherheit im Ausgeliefertsein generiert er notwendigerweise

seine Tiefe und Kraft — die Kraft einer absoluten,

solidarischen Neuartigkeit im Handeln, Kommunizieren

und Organisieren von Zusammen-Leben. Darum, Point

of NEW Return: Erfahren und betrauern, dass die

Welt zerfällt, die gewohnte Ordnung zerfällt, aber

im nächsten Schritt die Chance wahrnehmen, ihr

noch den Todesstoß zu geben und dann zurückzukehren

zu neuem Sehnen. Macht durch Liebe

ersetzen, Nehmen durch Geben, Ausschluss durch

Teilhabe, Bestimmen durch Reden. Spielen, Lieben,

Schweben, engagiertes Staunen. Annahme des

Vergangenen und Projektion des Zukünftigen. Besitzansprüche

aufgeben: an Materiellem, Ideellem und künstlerischen

Projekten. Konsequent kollektivieren, sich Projekte

suchen und sich von ihren (künstlerischen, politischen, sozialen,

kommunikativen, pädagogischen, epistemologischen,

infrastrukturellen, ökonomischen, ökologischen usw.) Zielen

und Zwecken »besitzen« lassen — nicht: »Dies ist mein Anteil

am Werk, jenes deiner usw.«, sondern: »Das Werk verpflichtet

mich, eine*n von vielen Unentbehrlichen, zu seinem Gelingen

beizutragen!« Aktives Passivsein als Strategie subtiler Weltwahrnehmung,

»loswerfendes Loslassen«, Affirmationismus

(im Sinne Badious) im Denken, Sprechen und Handeln als Strategie

subversiver Rebellion. Künstlerisch zu handeln in Zeiten

klimatischer und menschlicher Katastrophen bedeutet keineswegs,

die Realität einer zerfallenden Welt ausblenden zu wollen,

sondern sie wahrzunehmen, sie zu verstehen, und sich

nicht lähmen zu lassen. Unzählige, riesige Möglichkeiten zu

Neuanfang und Neuaufbau entstehen in der Katastrophe.

Point of NEW Return: Den Glauben bewahren

und daran arbeiten, dass (um Mark Fishers

berühmten Satz zu paraphrasieren) zuerst der Kapitalismus

endet und dann irgendwann die Welt,

nicht andersherum. Einfach wird das alles nicht –

aber schön.

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»OPERA, OPERA, OPERA! revenants and revolutions«

© Ole Hübner (2017-2020)

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Point of NEW Return—that could mean something

along the lines of: fully embracing the

paradox of the abyss and breathing life into

it. Not shrinking from or turning back from

the abyss. Instead, seeing in it the adventurous,

horizon-widening, enriching—yes, ultimately

viewing it as a positive experience (of

life). Considering it as a chance to find more

love, friendship or solidarity, because the

realization that no-one is better alone than

with others will prove to be vital. Point of

NEW Return—becoming open to accepting it

and wanting to give oneself. Finding, building

or wanting to be the vehicle you need to go

beyond the point where you would otherwise

have to stop. Forming alliances to go further

than you could alone (the collective is the future,

taking away each other’s fear of the future

means generating energy from setbacks

for a “now-more-than-ever” attitude). Let us

turn our projects, undertakings, meetings,

appropriation of space and operas into ghost

hunts, Dantesque descents into hell, Antarctic

expeditions, Orphean wanderings in Hades

and shipwrecks; let us listen to the siren’s

song together, let us plunge on a “descent into

the maelstrom” (Edgar Allan Poe) with clear

intent and full of hope, for the unimaginable

at its centre will bring us closer together. Or,

as the International Necronautical Society

writes: “To turn toward, to approach the *Abgrund,

Heidegger tells us, is to be given over,

flung, projected. It is to undergo a *loswerfende

Loslassen, a flinging-loose release. Into

what? Venture: *Wagnis. What flings us? Being.

‘Being lets beings loose into the daring

venture.’ ‘Das Sein läßt das Seiende in das

Wagnis los.’ [...] For Heidegger, the venture,

das Wagnis, is linked to balance, Wage [sic]

and to weight, Gewicht: ‘The venture is the

force of gravity,’ he writes. What is ventured,

projected, ‘losgeworfen’, is, of course, unprotected;

but because it hangs in the balance, it

is retained in the venture. It is upheld.” 1

With the Spirits

at the

Point of NEW Return

Abysses are places (and times) with laws and

(i)logic all their own, which are populated,

constituted and determined by spirits. Death

is an abyss—often conceived as an almost atopical-achronic

(non-)time-space: Hades,

into which Orpheus descends as if plummeting

into a ravine, or Dante’s Inferno. “Death

is a type of space, which we intend to map,

enter, colonise and, eventually, inhabit.” 2

Monsalvat Castle in Wagner’s Lohengrin is an

abyss, as are black holes in which time and

space merge due to extreme densification.

Around 1900, a crazed race broke out around

the abyss of the Antarctic and led many to

their deaths (decades after Romantic poetry

of the emerging industrial age made journeying

in polar climes, like winter voyages, into

a metaphor for the “freezing of hearts,” embellished

with gruesome symbols of death). 3

Mount Purgatory in the Commedia, with

its seven terraces that must be traversed on

the way to Paradise, is also located in an uninhabitable

antipodean region. It is positioned

precisely opposite Jerusalem on the

globe and apparently corresponds to the Sirens’

rocky coast that (a Dantesque version

of) Odysseus steered towards after his separation

from Circe. Attempting to reach it by

ship, projecting Being into a region far from

By Ole Hübner

Composer of the music theater work

“OPERA, OPERA, OPERA!

revenants and revolutions”

A hauntological attempted definition by

Ole Hübner—which, like so many other

things, (entire operas etc.) could never

have come into being without years of

living, working, discussing, researching,

creating, mutually educating and

inspiring each other, traversing abysses,

chasing ghosts in & with the paranormal

o| eer group (= Jakob Boeckh & Maria

Huber & moi-même), for which they

deserve eternal & abounding thanks.

—Paris, February 2020

Mare Nostrum, is a radical venture—not forbidden,

but explicitly not recommended. For

the Sirens’ song enchants “everyone that approaches

them. The Sirens […] charming this

victim with their clear-voice song. [...] while

the beach around them swells / with men rotting

on their bones as their skin shrinks

tight.” 4 The Sirens’ singing regiment is a selfgenerated

emancipatory act.

Every abyss references and points towards

a centre that is also its (causal) reason:

the South Pole, the Holy Grail, the Sirens surrounded

by sound, Eurydice in Hades, Lucifer

stuck in the earth’s core in Dante’s work.

The black hole has as its centre the singularity,

a zero point indefinable in temporo-spatial

terms, whose immediate surroundings

are at the end of every space-time; the black

hole itself lies outside of it. The Commedia

describes God’s appearance from a distance

in a strikingly similar way, as a point that

brings all energy together in infinite density,

“a Point that radiated light of such intensity

that the eye it strikes must close or ever after

lose its sight [...]. [Like] a halo [...] so close

around the Point, a ring of fire spun faster

than the fastest of the spheres circles creation

in its endless gyre. Another surrounded this,

and was surrounded by a third, the third by a

fourth, the fourth by a fifth and by a sixth the

fifth, in turn, was bounded. The seventh followed,

[...] the eighth and the ninth [...]. From

that one Point are hung the heavens and all

nature’s law.” 5

Throughout his life, composer Claude Vivier

was obsessed with finding infinity in the

space between two poles—a beginning and an

end, a past and future moment, one note and

the next. Or, to be more precise: he did not

need to find infinity, for he had long known

that it was in these interstices and was therefore

looking for ways to immerse himself in

it, to remain within it for a little longer—even

if only for a brief yet tangible moment—, to

4 Homer, Odyssey. Translated by Charles Weiss,

Cambridge: Cambridge University Press 2012, p. 109.

inhabit it. Infinity was his refuge. A compositional

method that runs through some of his

most important works in a sense emulates, in

analogue form and using instruments, the

principle of ring modulation, which originates

from electronic signal processing. To

that end, two oscillating output signals are

defined and are subsequently both subtracted

from each other and added together—e.g.:

500 Hz – 300 Hz = 200 Hz, and 500 Hz + 300 Hz

= 800 Hz. Two notes couple and produce two

acoustic shadows from themselves, from the

intermingling of their properties. In the next

step, the newly created 800 Hz signal can

again be ring-modulated with the 500 Hz output

signal to produce the new frequency

1.300 Hz, etc.; an entire family tree of frequency

pairings is created, growing ever

more complicated and bifurcating... This

principle of fathoming what happens between

two notes can, in fact, be continued ad infinitum.

Claude Vivier once expressed his enthusiasm

about how much is possible with

only two notes as source material: for him,

this reduction was an expression of “purity”.

Elle est retrouvée. Quoi? - L’Éternité.

Starting in each case from its centre, each

abyss can be analysed and described as a dispositive

(in Foucault and Agamben’s meaning

of the term). We can imagine making it possible

to experience and populate these dispositive

abysses/abyss dispositives as heterotopias,

in other words: enabling a life with the

spirits. Anyone who has a relationship with a

particular spirit—the time-spirit (“the demon

that lurks in the back of the system time.

When he has found actors for his embodiment,

he makes his appearance. [...] He does

not become tangible as a possibility of reali-

1 International Necronautical Society, Navigation Was

Always A Difficult Art, London: Vargas Organization,

2010 (* denotes words of Heidegger’s terminology used

in German in the English original). The International

Necronautical Society is a semi-fictional “agency” and

in this capacity is an artistic-philosophical collective of

author and “Secretary General” Tom McCarthy and

“Chief Philosopher” Simon Critchley. This team is supplemented

by further guests in the office for antimatter

as a function of each specific research and/or art project.

2 International Necronautical Society, INS Founding

Manifesto 1999, http://www.necronauts.org/manifesto1.htm.

3 Cf. Manfred Frank, Das Scheitern am ‘Heil’: die Reise

ins ewige Eis, in: id., Die unendliche Fahrt. Zur Geschich

te des Fliegenden Holländers und verwandter

Motive, Leipzig: Reclam 1995, p. 114ff.

ty, for he appears only as a fleeting moment

of another reality that demands form”), 6 the

spirit of restlessness, the collective spirit, the

spirit of a deceased person, the spirit of an

imaginary figure—, anyone who conjures up

such a spirit, with or without intent, will be

shipwrecked on the glossy surface of systemic

societal reality and drawn into a deeper

dimension of perception, experience and perspective,

which can, however, of course also

turn out to be a deception, disappointment or

injury. Conversely, anyone who—alone or

with several people, intentionally or unintentionally—falls

into any kind of abyss will almost

certainly encounter some spirit or other

there. The layer of ghosts that covers the

world like a veil, always and everywhere, is

particularly concentrated, intense, coagulated

in abysses, for time runs in circuitous

curves and with abrupt leaps in abysses, as

David Foster Wallace poetically seeks to convey:

“The wraith said Even a garden-variety

wraith could move at the speed of quanta and

be anywhere anytime and hear in symphonic

toto the thoughts of animate men, but it

couldn’t ordinarily affect anybody or anything

solid, and it could not speak right to

anybody, a wraith had no out-loud voice of its

own, and had to use somebody’s like internal

brain-voice if it wanted to try to communicate

something, [...] and very few wraiths had anything

important enough to interface about to

be willing to stand still for this kind of time,

preferring ordinarily to whiz around at the

invisible speed of quanta. [...] Wraiths by and

large exist [...] in a totally different Heisenbergian

dimension of rate-change and

time-passage. As an example, he goes on,

normal animate men’s actions and motions

look, to a wraith, to be occurring at about the

rate a clock’s hour-hand moves, and are just

about as interesting to look at.” 7

6 Christian Unverzagt, Masse und Bewegung,

Heidelberg: Econotion 2015, p. 185.

5 Dante Alighieri, The Divine Comedy, translated by John

Ciardi, New York: Penguin 2003 edition, p. 842-843.

7 David Foster Wallace, Infinite Jest,

Boston: Little, Brown & Company 1996, p. 831.

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»OPERA, OPERA, OPERA! revenants and revolutions«

© Ole Hübner (2017-2020)

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in the telling something happens the clocks

stop [...] and for a moment they are then visible

the dead and the traces of what they leave

behind what we one day will have left behind

in the murmuring of the dead our own responsibility

the murmuring of the dead echo from

the future our murmuring that is actually

what writing means it means groping our way

toward death sneaking our way up to death it

means seeing that everything here is only a

twist a turn in disappearance it means seeing

that I only exist at all in extinction by the entirely

other [...] history is not over yet history

and the future the knowledge that where there

is power there is resistance”. 8

Point of NEW Return—that could mean something

along the lines of: letting life be enriched

by the spirits, in order to move into the future

protected by them, never to be alone again. To

Point of NEW Return—that could mean something

like: saying hello to the spirits, being

nice to the spirits, taking them seriously, listening

to them, not being afraid of them, but

integrating them into your own life, being

brave enough to let them lead you into the

abyss, believing in them more than ever, believing

in science fiction more than ever. In

our play “OPERA, OPERA, OPERA! revenants

and revolutions,” the one and only

Thomas Köck has the ghosts (re-venant = returning,

coming back) appear in the form of

childlike holograms that come from a future

in order to overturn a present as guardians

and heralds of a past’s knowledge. A few

months ago he noted: “so there are spirits and

they are here with us in space they structure

this space even where it is said to be empty we

feel them ghostly matter hysteresis stabilization

of habitus through signs words gestures

glances structures stabilization of power

through repetitions iterations identitarian

misunderstandings [...] all these powers

haunting us persecuting forming constructing

creating producing all these ghostly powers

continuing to speak through us writing

and writing and writing and writing this infinitely

beautiful world that is burned before

our eyes for the eternally same story of exploitation

destruction profit maximization

[...] because every time the story is told tears

the story open again asks again what was actually

there where does this concept come

from where does this story come from where

does this conviction come from where does

power come from that is why writing always

means seeking out the dead means writing

means always letting the spirits in writing

means always exposing yourself to these

spirits it means accepting disappearance it

means letting the dead speak and make an

appearance and how they appear and they

speak and how they speak and they curse and

how they curse and they lament and how they

lament they appear here one after the other on

the way to the stage embodying nomads between

the lines pop the cork on another bottle

buy another round in the crypt at the wine

tasting and once again become tangible perceptible

for us ghosts that matter quality time

with all the ghosts they tell their stories and

be there for the spirits who are waiting for us,

longing for us. Learning from the past, not

lapsing into post-historical standstill to manage

its absence, but keeping it alive, communicating

with it, re-enacting it, letting it tell us

about ourselves and telling it about ourselves,

entering it and moving it. “But who says that

history begins in the past and does not rather

move towards it like a crab?” 9

8 Thomas Köck, ghost matters. poetics lecture by thomas

köck at the hochschule für musik & theater hamburg,

https://nachtkritik.de/index.php?option=com_

contentiew=articled=17268:die-hamburger-poetikvorlesung-

des-dramatikers-thomas-koeckatid=53:portraet-

a-profiltemid=83, last accessed on 24.1.2020.

9 Manfred Frank, op. cit., p. 12f.

ing and empathy—otherwise they remain inaudible

and invisible. Limitation of an artform—i.e.

its methods, conventions, processes

and terminology—becomes the Point of

NEW Return as soon as that limit is transcended.

The abyss is a non-place, an intermediate

place—an omission between places, beyond

localization, temporalization and security.

“The interval between the past moment and

the future moment, if it exists, would be the

eternal, and it’s the eternal that makes music

vibrate. The impossibility of living fully in

this interval, which would throw human beings

into a sort of black hole of consciousness,

created music; the desperate desire […]

created these vibrations of eternity, these

tunnels toward non-time placed in historical

time, these magical writings marking the

complex canvas of time of the human being,

these signs hiding our despair.” 10 This kind

of in-between is also where anyone who is

really serious about the renewal of music theatre

must begin. Even the most radical music,

controversial staging concepts or a flood of

videos from all sides will fail to create revolutionary

music theatre, unless the utmost

value is accorded to the fine, almost synaesthetic

connections between sound, image

and performance, to their overlaps, border

areas and deepened interstices. The most

important challenge for new music theatre is

that everyone is willing and able at all times

to think along and empathize not only with

their “native” discipline but with all disciplines,

and to radically abandon old processes,

hierarchies, power structures, legitimations,

and self-evident assumptions in order

to do so. The only way to explore the divide

between the arts and produce something

new, something unseen and unheard, is if—

looking over the cliff of my own art and

across the abyss to the other side, with my

methods, insights, experiences, interests

and problems at my back—I can identify what

may exist there that is the same and that is

different, and to assess where the centre lies,

where we will meet each other and will meet

with the spirits as we descend into the unknown.

Intermediate notes, knowledge and

poetry “between” the lines, interferences call

for consistent readiness, trust, understand-

10 Claude Vivier, Que propose la musique?, quoted from:

Bob Gilmore, Claude Vivier—A Composer’s Life,

Rochester, NY: University of Rochester Press 2014,

p. 342.

The abyss is a free space, a third space, a queer

space, in which the rules of hysterical safeguarding

do not apply; it challenges us to

cross borders and take risks. It is a safe space

only in the special sense of Heidegger’s Wagnis

(risk), because it is only from the uncertainty

of being utterly exposed that it of necessity

generates its depth and power—the power

of an absolute, solidarity-based new mode of

acting, communicating and organizing how

we live together. Therefore, Point of NEW Return:

experiencing and mourning how the

world is falling apart, how the familiar order

is disintegrating, but in the next step seizing

the opportunity to give it a fatal blow and then

returning to a new longing. Replacing power

by love, taking by giving, exclusion by participation,

dictating by discussing. Playing, loving,

floating, engaged amazement. Acceptance

of the past and projection of the future.

Giving up claims of ownership: of material,

ideational and artistic projects. Consistently

collectivising, looking for projects and letting

oneself be “possessed” by their (artistic,

political, social, communicative, pedagogical,

epistemological, infrastructural, economic,

ecological etc.) aims and purposes—

not: “That is my share of the work, that is

yours etc.,” but: “The work obliges me to contribute

to its success by being one of many

indispensable ones!” Active passivity as a

strategy of subtle perception of the world,

“loswerfendes Loslassen,” affirmationism (in

Point of NEW Return—that requires us: to put

aside our fears, to return the magical and immaterial

into a disenchanted and reified world,

to dare to go for more baroque opera, more

disguise, enchantment, affect, drag, illusion,

love, myth, queerness. Positioning the symbols

where they belong: in the realm of the universal,

not the exclusive. Advocating with all

our strength that our friendship and our shared

(spirit of) enthusiasm are more important than

old, crumbling norms, hierarchies and structures

and much better than neoliberalism and

patriarchy. For the three of us—Maria & Jakob

& Ole—, the greatest NEW return during our

work on “OPERA, OPERA, OPERA!” is the

way we have grown together as a collective,

how we explore and heighten our political capacity

to act: we increasingly recognize ourselves

as the “smallest possible democratic

unit” and a radically discursive, non-hierarchical

cell with queer aspirations and utopian

motivations, in which we design in practical

terms how we want to live and think together.

Designing new forms of work, thinking and

living behind the scenes, implementing these

consistently and then carefully and successively

opening up and carrying them “outwards”

is one of the most revolutionary things

theatre can do today. The changes that are

dreamt of and sung about on stages must begin

in the conception sessions and rehearsals.

Or, to put it in different terms: an artistic vision

alone is not enough to make pioneering

art, one also needs a vision of community and

love. The three of us have found this in the last

two years. Against resistance.

Badiou’s sense) in thinking, speaking and acting

as a strategy of subversive rebellion. Acting

artistically in times of climatic and human

catastrophes does not in any way mean wanting

to block out the reality of a disintegrating

world, but to perceive it, understand it, and

not let oneself be paralyzed. Countless, enormous

possibilities for new beginnings and

reconstruction arise in the catastrophe. Point

of NEW Return: keep the faith and work to ensure

(to paraphrase Mark Fisher’s famous

phrase) that capitalism ends first and then at

some point the world, not vice-versa. None of

that will be easy—but it will be beautiful.

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»ONCE TO BE REALISED«

acusmata

© Beat Furrer

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Vorahnungsvoll (Prepper)

Von Schorsch Kamerun, Musiker, Regisseur, Autor;

Inszenierung »M — EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER«

M —

EINE STADT

SUCHT EINEN

MÖRDER

Eine Konzertinstallation von

Schorsch Kamerun und Cathy van Eck

nach Fritz Lang und Thea von Harbou

Komposition: Cathy van Eck

Inszenierung: Schorsch Kamerun

Bühne: Katja Eichbaum

Kostüme: Gloria Brillowska

Ton: Jan Faßbender

Dramaturgie: Leila Etheridge, Almut Wagner

Mit:

Ensemblemitglieder des Residenztheaters:

Valentino Dalle Mura

Massiamy Diaby

Evelyne Gugolz

Sophie von Kessel

Delschad Numan Khorschid

Max Rothbart

Lisa Stiegler

Oliver Stokowski

Yodit Tarikwa

Musiker*innen:

Schorsch Kamerun

Stephanie Müller

Johannes Öllinger

Carl Oesterhelt

Salewski

u.a.

Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf: muenchener-biennale.de

Kompositionsauftrag der Landeshauptstadt München zur Münchener Biennale.

Koproduktion der Münchener Biennale mit dem Residenztheater München.

Mit Unterstützung von Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung.

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Die Mörder sind unter uns lautete der Arbeitstitel von Fritz Langs

berühmtem Film M von 1931. Angeblich von den Nationalsozialisten

zensiert, spiegelt er die Ambivalenz, mit der Lang und

Thea von Harbou die Jagd auf den Serienmörder Hans Beckert

schildern. Die eigentliche Hauptrolle spielt die zutiefst verunsicherte

Metropole, die Bevölkerung ist von den Kriegserlebnissen

und der Weltwirtschaftskrise gezeichnet.

In der Adaption durch den Musiker und Theatermacher Schorsch

Kamerun (Die Goldenen Zitronen) und die Komponistin

Cathy van Eck wird dieses Verhältnis umgedreht und

der Film zur Konzertinstallation, der Stoff zur Folie

der Gegenwart.

Schorsch Kamerun: »Ist M (München) noch die

Solidargemeinschaft Stadt, oder, wie mancherorts

behauptet wird, auf dem besten Weg, zu M (Mörder)

zu werden, also einer hoch gefährdeten, gespaltenen

Bedrohungslage, die von Rettern mit starken Armen

in Sicherheit gebracht werden muss?«

Cathy van Eck: »Die Konzertinstallation ›M — EINE STADT SUCHT

EINEN MÖRDER‹ entsteht aus vielen verschiedenen Elementen,

die sich zwar aufeinander beziehen, aber oft auch einfach gleichzeitig

passieren, ähnlich wie man dies auch in einer Stadt vorfinden

würde. So entsteht die musikalische Ebene unter Mitwirkung

aller Musiker und Musikerinnen. Sie bewegt sich zwischen Lied

und Geräuschkulisse, sucht nach einem Rhythmus, um dann wieder

in einem chaotischen Rascheln zu verschwinden.«

The Murderers Are Among Us was the working title of Fritz Lang’s

famous film M from 1931. Allegedly censored by the National Socialists,

it reflects the ambivalence with which Lang and Thea von

Harbou portray the hunt for serial killer Hans Beckert. The real

main role is played by the extremely rattled metropolis, whose

population is scarred by their war experiences and the world economic

crisis.

In the adaptation by the musician and theatermaker Schorsch

Kamerun (Die Goldenen Zitronen) and the composer

Cathy van Eck, this relationship is reversed and the film

becomes a concert installation, and the material becomes

a transparency for the present.

Schorsch Kamerun: “Is M (Munich) still a community

based on the principle of mutual solidarity,

or, as is said in many places, on the best path of becoming

M (murderer)—in other words, of heading toward

a highly dangerous, divided level of threat, which

has to be brought to safety by rescuers with strong arms?”

Cathy van Eck: “The concert installation ‘M — EINE STADT

SUCHT EINEN MÖRDER’ will be created from many different

elements; although they refer to one another, they often simply

also happen simultaneously, similar to what one would come

across in a city, too. And so the musical level is created through

the participation of all of the musicians. It moves between lied

and soundscape, it searches for a rhythm, in order to then disappear

again into a chaotic rustling.”

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— Nichts hört auf —

Die Grenzen hören nicht auf /

Die Schilder hören nicht auf /

Die Zäune hören nicht auf /

Die Ordnungen hören nicht auf /

Die Formeln hören nicht auf /

Zensuren und Orden hören nicht auf (gegeben zu werden) /

Automaten hören nicht auf /

Die Uhren hören einfach nicht auf /

Die Erzieher, die Lehrer, die Ausbilder hören nicht auf /

Die Stammtischpolitiker hören nicht auf /

Die Soldaten hören nicht auf /

Die Panikmacher, die Denunzianten

und Beschuldiger hören nicht auf /

Wenn? Dann! hört nicht auf /

Die Heimatminister hören nicht auf /

Die Kreuzfahrer und Inbesitznehmer... fahren

weiter kreuz und quer, gegen Mensch und Meer /

Die Rassisten, die Faschisten, die Populisten —

die Macker und Kacker, die Chauvinisten auf den

Pisten... hören nicht auf...

sie alle, hören einfach nicht auf!!

— Schöner Moment trotz rosa Bein —

Gestern Nacht ging ich durch einen dunklen Park. Es kam mir

jemand entgegen. Das Gesicht konnte ich gut sehen, weil er

telefonierte. Also, weil sein Handydisplay wie eine Gesichtsbeleuchtungs-Laterne

fungierte. Ein... gutaussehender, aber

auch ein... durchschnittlicher Münchner... dachte ich, als er

mich passiert hatte. Ich schaute ihm noch eine Weile nach. Sein

Handylichtgesicht verschwand ganz ruhig, ganz langsam in

der Dunkelheit. Das Tänzchen eines Glühwürmchens. Ohne

jedes Gewackel. Er hatte sich also nicht nach mir umgedreht,

war einfach immer weiter gegangen. Als wäre ich unsichtbar

gewesen. Wie ein ganz gewöhnlicher Mensch. Das war der

schönste, der wertvollste Moment der letzten Jahre.

Meistens ist es leider anders. Manchmal ist es... dazwischen.

Scheiß drauf. Hat nicht jeder ein rosa Bein.



— Vorahnungsvoll (Prepper) —

Batterien. Und Kaugummipapier. Gaskocher. Wasserfilter.

Armbrüste. Und Elektroschocker. Risotto, Kichererbsen, Dosenbrot.

Teleskop-Abwehrstöcke. Extrem lang haltbare Lebensmittel.

Unzerbrechliche Selbstverteidigungsschirme.

Vakuumierung. Atemschutzmasken und Desinfektionstücher.

Weizenmehl. Haltbar. Bis 2025. Sechs Dosen à 1000

Gramm. Campingkocher, Toilettenpapier. Vier Matratzen.

Checkliste. Zehn Kilo Nudeln. 60 Liter Getränke. Kaliumjodidtabletten.

WASSER. Eine Lampe aus einer Kartoffel herstellen,

ein Handtuch aus einem Stück Stoff, einen Löffel aus

Pappe. 50 Zentimeter. Fensterscheiben. Fünffach verstärkt.

Jalousien? Aushebelsicher. Zwei Jahre lang. Genau, der Weinkeller...

Bohnen und Steckrüben anpflanzen, Brot backen,

Hühner züchten, Marmelade einkochen, Saatgut konservieren,

Pullover stricken, einen Dieselmotor mit Speiseöl zum Laufen

bringen, Regen oder Brunnenwasser nutzen. Energieautonom.

Luftzufuhr. Strom- und Wasserversorgung. Giftpflanzen.

Fluchtrucksäcke. Schweigen... Deutschland,

Österreich, Schweiz. Etc… Zwei 1000-Liter-Kanister?

Aus Plastik. Brauchwasser. Trinkwasser.

Ein Fläschchen Silberionen. Für das

Wasser. Sechs Monate lang haltbar. Gaspistole,

Messer. Funkgeräte. Für den Notfall. Die Zivilisation

neu einrichten können: weben, verarzten, recyceln,

sauberes Wasser beschaffen, schweißen und so

weiter. Totmannschalter? Kurzwelle? Russland? Terroranschläge.

Atomunfälle. Finanzcrash. Plünderungen. Kannibalismus?

Nordkorea? Noch zwei Messer. Noch eine Gaspistole.

Tarnfleck-Klamotten, Campinggeschirr, Fertignahrung. Silberunzen.

Armbrüste. Elektroschocker. Selbstverteidigungsschirme.

Borat, Natriumcarbonat, geriebener Käse. Der 50

Euro teure USB-Stick? Zerstört fast jedes Gerät. In Sekunden.

Der Memory Hacker? Wie man Menschen falsche Erinnerungen

ins Gehirn setzt. Best-vacation-ever man-of-my-life happiest-girl-alive

best-sommer-of-all-time love-my-life. Ein

Bild des Grabsteins meiner Oma posten. Avocado Toasts.

Trainings App. Meditations App. Allgemeinbildungs App.

Kultur Planer App. TRX-Trainings-Tool.

Beweglichkeit, Koordination, Gleichgewicht.

Aktives Ausruhen. Vorher/nachher Foto.

Trainingsergebnisse.

Übererfüllung.

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— Extra Unruhig —

Gesund und mitmachend und strahlend.

Das war die Anforderung die man mir beibrachte.

Gesund und mitmachend und strahlend.

Das war der Unterschied, den es ausmacht. Ausmacht, gegenüber

den Beschuldigten, den Vergifteten, den Zerworfenen.

Den Geschwächten. Den Heldenlosen. Den Falschfarbigen.

Den Schwach- und Nichtgeschlechtrigen. Den Eigensinnigen.

Den Unruhigen. Den Abtrünnigen. Den Herumstolpernden.

Gegenüber denen, neben den Formen, neben den

Noten. Denen, die nicht zählen können oder wollen und die

deshalb nicht mit aufgezählt werden. Den Nichtmehrvorkommenden.

Gesund und mitmachend und strahlend.

Das war der Rat den man mir gab, den man mir auftrug

— und den ich nicht tat.

Gesund und mitmachend und strahlend.

Als beauftragte Antwort auf Beunruhigung.

Gesund und mitmachend und strahlend.

Ich fing aber trotzdem an, fing an zu fragen. Nach

den Beschuldigten, nach den Vergifteten, nach

den Zerworfenen. Nach den Geschwächten. Nach

den Heldenlosen. Nach den Falschfarbigen.

Den Schwachgeschlechtrigen. Nach den Eigensinnigen.

Den Abtrünnigen. Unformbar Unbenotbaren.

Extra Stolpernden, extra Nichtvorkommenen,

extra nicht Zählenwollenden, extra Unruhigen. Nach den

freiwillig Umgekehrten, den freiwillig Versehrten.

Gesund und mitmachend und strahlend?

Aß ich meine Suppe nicht — bis ich vergaß.

Texte aus Material zu Proben für

»M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER«

»M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER«

© Cathy van Eck

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Foreboding (Prepper)

By Schorsch Kamerun

Musician, director and author; director of

“M — EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER”

— Nothing stops —

The borders do not stop /

The signs do not stop /

The fences do not stop /

The orders do not stop /

The formulae do not stop / Censorship and

medals do not stop (being proclaimed) /

Vending machines do not stop /

The clocks simply do not stop /

The educators, the teachers, the trainers

do not stop /

The armchair politicians do not stop /

The soldiers do not stop /

The alarmists, the informers and accusers

do not stop /

If? Then! does not stop /

The ministers of home affairs do not stop /

The crusaders and occupiers... journey on

here, there and everywhere, set against man

and sea /

The racists, the fascists, the populists— the

blokes and the boors, the chauvinists on the

slopes… do not stop...

all of them simply don’t stop!!

— A nice moment despite a pink leg —

Last night I was walking through a dark park.

Someone came towards me. I could see his

face clearly because he was talking on the

phone. You know, because his cell phone display

acted like a face-illumination lamp. A...

good-looking, but also a... run-of-the-mill

Munich resident... I thought when he’d gone

past me. I watched for a while as he walked

away. His mobile-phone-lit face disappeared

very peacefully, very slowly into the darkness.

The dance of a glowworm. Without wobbling

about at all. So he hadn’t turned around to

take a look at me, just kept on walking. As if I

were invisible. Just like an absolutely ordinary

person. It was the most beautiful, most

precious moment in years.

Sadly, it’s mostly a different story. Sometimes

it’s... ...somewhere in between. Fuck it.

Not everybody has a pink leg.

»TRANSSTIMME«

© Fabià Santcovsky

— Foreboding (Prepper) —

Batteries. And gum wrappers. Gas stove. Water

filters. Crossbows. And stun guns. Risotto,

chickpeas, canned bread. Telescopic batons.

Extreme long-life foodstuffs. Unbreakable

self-defence umbrellas. Vacuum-pack device.

Respiratory masks and disinfectant wipes.

Wheat flour. Long shelf life. Until 2025. Six

1,000-gram cans. Camping stove, toilet paper.

Four mattresses. Checklist. Ten kilos of pasta.

60 litres of drinks. Potassium iodide tablets.

WATER. Make a lamp from a potato, a towel

from a piece of cloth, a spoon from cardboard.

50 centimetres. Window panes. Fivefold reinforcement.

Blinds? Tamper-proof. For two

years. Right, the wine cellar... Planting beans

and turnips, baking bread, raising chickens,

making jam, preserving seeds, knit ting sweaters,

running a diesel engine on cook ing oil,

using rain or well water. Energy independent.

Air inflow. Power and water supply. Poisonous

plants. Escape backpacks. Silence... Germany,

Austria, Switzerland. Etc... Two 1,000-litre

canisters? Made of plastic. Utility water.

Drinking water. A flask of silver ions. For the

water. Six-month shelf life. Gas pistol, knife.

Radios. For emergencies. To rebuild civilization:

weaving, doctoring skills, recycling,

getting clean water, welding, and so on. Dead

man’s switch? Shortwave? Russia? Terrorist

attacks. Nuclear accidents. Financial crash.

Looting. Cannibalism? North Korea? Two

more knives. Another gas pistol. Camouflage

gear, camping plates, convenience food. Silver

ounces. Crossbows. Stun guns. Self-defence

umbrellas. Borate, sodium carbonate, grated

cheese. The € 50 flash drive? Destroys almost

any device. In seconds. The memory hacker?

How to put false memories into people’s

brains. Best-vacation-ever man-of-my-life

happiest-girl-alive best-summer-of-all-time

love-my-life. Posting a picture of my grandma’s

headstone. Avocado toasts. Training

app. Meditation app. General Education app.

Culture Planner app. TRX-Training Tool.

Mobility, coordination, balance.

Active resting. Before/after photo.

Training results. Over fulfillment.

— Deliberately Agitated —

Healthy and a good sport and with a big smile.

That was what they taught me I had to do.

Healthy and a good sport and with a big smile.

That was what made all the difference. Made

the difference between you and the incriminated

and the poisoned and the outcasts. The

weaklings. The unheroic. The ones that were

the wrong colour. The under-gendered and

the non-gendered. The headstrong. The agitated.

The renegades. The ones that stumbled

around. Made the difference between

you and them, alongside the forms, alongside

the grades. Those who can’t or won’t

count and therefore are not counted in.

Those who no longer exist.

Healthy and a good sport and with a big smile.

That was the advice they gave me, what they

told me to do—and that was what I didn’t do.

Healthy and a good sport and with a big smile.

The required response to all concerns.

Healthy and a good sport and with a big smile.

But I started all the same, started asking

questions. About the incriminated and the

poisoned and the outcasts. About the weaklings.

The unheroic. The ones that were the

wrong colour. The under-gendered. About

the headstrong. The renegade. The unformable.

Ungradable. Deliberately stumbling, deliberately

not existing, deliberately not

wanting to count, deliberately renegade. After

those who turned back voluntarily, those

who were injured voluntarily.

Healthy and a good sport and with a big smile?

If I didn’t eat my soup—until I forgot.

Texts from material on the rehearsals for

“M — EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER”

110

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Nach einer Idee des Journalisten Bobby Rafiq und des Komponisten

Yoav Pasovsky nähert sich das Musiktheater-Projekt

»DAVOR« dem Thema Alltagsrassismus. Unter Verwendung von

szenisch aufgearbeiteten Interviews, die von der taz-Journalistin

Ebru Taşdemir geführt wurden, entwickelte der Regisseur Robert

Lehniger zusammen mit seiner Ausstatterin Irina Schicketanz,

der Dramaturgin Marion Hirte und dem Komponisten Yoav

Pasovsky eine begehbare Installation. »DAVOR« bricht die

klassische Trennung von Bühne und Zuschauerraum auf

und lässt das Publikum in einer labyrinthischen Installation

in Live-Szenen genauso wie in die Virtual Reality

mittels entsprechender Headsets eintauchen.

Based on an idea by the journalist Bobby Rafiq and

the composer Yoav Pasovsky, the music theater project

“DAVOR” approaches the topic of everyday racism.

Using staged interviews conducted by taz journalist Ebru

Taşdemir, director Robert Lehniger, together with his designer

Irina Schicketanz, dramaturge Marion Hirte and the composer

Yoav Pasovsky, developed a walk-in installation. “DAVOR” breaks

the classical separation of stage and auditorium and lets the audience

immerse themselves in a labyrinthine installation with live

scenes and virtual reality via the appropriate headsets.

Produktion der Münchener Biennale.

In Kooperation mit der Otto Falckenberg Schule.

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DAVOR

Ein dokumentarisches Musiktheater-Projekt

Komposition: Yoav Pasovsky

Regie: Robert Lehniger

Ausstattung: Irina Schicketanz

Dramaturgie: Marion Hirte

Sounddesign: Miguel Murrieta Vásquez

Interviews: Ebru Taşdemir

Mit:

Benita Sarah Bailey, Thu Trang Dong, Şiir Eloğlu,

Ernest Allan Hausmann

sowie: Studierende der Otto Falckenberg Schule:

Conrad Ahrens, Bless Amada, Maditha Dolle, Jan Fassbender,

Konstantin Gries, Daria von Loewenich, Jochanah Mahnke,

Valentin Mirow, Marlina Adeodata Mitterhofer, Anna K. Seidel,

Paul Wellenhof

Interviewpartner*innen:

Benjamin Adjei Politiker, Mitglied Bündnis 90/Die Grünen

Dr. Chadi Bahouth Coach, Dozent

Sanchita Basu Gründerin der Opferberatungsstelle »Reach Out«

Idil Baydar Comedian

Tülay Bilgen Bildungswissenschaftlerin

Ebow Musikerin

Nazanin Ghafouri Sozialpädagogin

Ilaaf Khalfalla Fotografin

Armin Langer Autor

David Mayomba Musiker, Moderator

Ario Mirzai Aktivist

Olimpio do Nascimento Petri Audiodesignstudent

Pantelis Pavlakidis Lehrer

An Phan Studentin

Ülkü Schneider-Gürkan Dolmetscherin

Ali Schwarzer Blogger

Phung Vu Tangh Wirtschaftstudentin

Nomazulu Thata Mitglied der Feministischen Partei Bremen

Ali Naki Tutar Aktivist

Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf: muenchener-biennale.de

Davor

Von Bobby Rafiq

Autor und Journalist

Davor — eine einfache temporale Präposition. Sie verrät,

dass etwas bevorsteht. Es wird etwas passieren, ein Ereignis

oder Zustand wird eintreten. Das Davor dieses Projektes beschreibt

eine Phase, eine Art Aggregatzustand, aber auch eine

Gefühlswelt im politischen und gesellschaftlichen Raum, die

den Alltag bestimmter Menschen in Deutschland bisher mindestens

negativ beeinflusste und inzwischen zunehmend

prägt. Es sind Angehörige von Minderheiten: Juden, Muslime,

Dunkelhäutige, Homosexuelle und andere Gruppen, die nicht

dem Mainstream der vermeintlichen christlich-weißen Norm

entsprechen. Menschen, die nicht in der großen Masse der

»Mehrheitsgesellschaft« untertauchen können und deshalb

zur Zielscheibe werden.

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Diesem Davor steht ein laut heraus posauntes Nie wieder! gegenüber.

Es wird nach jeder antisemitischen oder anderen

rassistischen Tat, nach jedem rechtsextrem motivierten Terroranschlag

oder an historisch passenden Jahrestagen wiederholt

geäußert. Der zur Floskel degenerierte und eigentlich

gutgemeinte, wenn man so will, appellative Imperativ steht

inzwischen vor allem für eines — Hilflosigkeit.

Man bemüht es immer erst nach einer Tat — Nie wieder! gewissermaßen

als eine Art Postposition. Diese Taten sind nämlich

nicht die ersten ihrer Art. Seit Jahrzehnten existiert in der

Bundesrepublik ein Kontinuum rechtsextremer Straf- und Gewalttaten,

mit zahlreichen Todesopfern. Nie wieder! wirkt im

besten Fall wie lautes Pfeifen im Wald. Im schlimmsten Fall

erscheinen diese ritualisierten Äußerungen wie eine Verhöhnung

der Opfer und ihrer Angehörigen. Denn NACH Nie wieder!

ist VOR der nächsten Tat. So stellt sich die Frage: Nie

wieder was eigentlich, wenn der Schrecken weiter zunimmt?

Betroffene fühlen sich allein gelassen. Im Davor äußert sich

einerseits ihre Sorge, dass sich aufgrund der Häufung

rechtsextremer Übergriffe und des Erfolges einschlägiger

Parteien sowie wegen rechtsextremer

Umtriebe in Behörden etwas manifestiert, das die

nächste Phase einleiten könnte. In dieser würden

sich dann Diskriminierung und Hass weiter verstärken

und vor allem zunehmend institutionalisieren.

Ein Davor, das mindestens im Ansatz an vergangene

Zeiten erinnern könnte.

Andererseits ist das Davor ein ständiger Zustand, eine Konstante

im Alltagsleben vieler Betroffener — seit Jahrzehnten: Sie

müssen als Sündenböcke herhalten, als Projektionsfläche für

Ängste, Neid und Furcht vor Identitätsverlust. Damit einher

ging schon immer die Sorge, was als Nächstes kommen könnte.

Blieb diese Sorge in den vergangenen Jahrzehnten eher diffus,

stellt sich im gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Klima

eine Frage ganz konkret: Was folgt auf das Davor?

Es gibt kaum eine Partei, die in der Vergangenheit nicht auf

der Klaviatur des Ressentiments gespielt hat, um Wählerstimmen

zu bekommen. Denn ohne ihr Wirken hätten offen nationalistisch

und rassistisch agierende politische Kräfte wahrscheinlich

keinen großen Erfolg und säßen inzwischen nicht

in allen Landtagen und im Bundestag. Der Rechtsruck des

Zeitgeistes begann lange vor dem vielzitierten Flüchtlings-



»DAVOR«

Ausschnitt aus einem von Pasovsky entwickelten Computerprogramm, das das

synchronisierte Abspielen eines 360°-Films über mehrere VR-Brillen ermöglicht.

© Yoav Pasovsky

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jahr 2015. Seitdem aber werden Tabus noch unverblümter gebrochen.

Das Unsagbare wird zunehmend sagbar. Gesellschaftliche

Konventionen und Vorstellungen von Ethik und

Moral werden unterminiert. Selbstverständlichkeiten sind

eines nicht mehr: aus sich selbst heraus verständlich. Teile der

etablierten Parteien suchen weiterhin nach Antworten auf die

Krise des Konservatismus, indem sie hilflos mit dem rechten

Rand flirten und diesen dadurch erst stärken und die oft bemühte

Mitte weiter nach rechts verschieben.

Brennende Flüchtlingsheime, Schweinsköpfe vor Moscheen,

geschändete jüdische Friedhöfe und tätliche Angriffe sind das

eine. Hinzu kommt das Subtile, das sich immer mehr in den

Alltag von Familien hineinfrisst und von der Öffentlichkeit

kaum wahrgenommen wird: Die Tochter eines deutsch-türkischen

Paares fragt weinend die Eltern, warum denn alle etwas

gegen Muslime hätten. Eine Gymnasiastin möchte den iranischen

Teil ihres Doppelnamens streichen, um nicht so

sehr aufzufallen. Aus Angst vor Übergriffen trauen

sich Juden immer seltener, Symbole ihres Glaubens

offen zu tragen. Dunkelhäutige meiden bestimmte

Strecken des öffentlichen Nahverkehrs,

weil es dort schon zu Übergriffen gekommen ist.

»No-Go-Areas« sind für die meisten kein Relikt

vergangener Zeiten.

Hinzu kommt die aufgrund der Herkunft widrige Suche nach

einer Wohnung oder einem Arbeitsplatz, das Misstrauen bei

einer Kontoeröffnung und bei Behördengängen. Die Sorge, ob

einem wirklich geholfen wird, wenn man die Polizei um Hilfe

bittet oder ob die Justiz neutral Urteile fällt. Die Frage, ob der

Arzt einen tatsächlich richtig untersucht oder man ihm egal ist.

Das Projekt »DAVOR« möchte diese Welten der steten Zermürbung

nachvollziehbarer machen. Worte und Taten entstehen

nicht im luftleeren Raum. Sie haben immer einen Kontext

im Alltag der Menschen. Mit konkreten Beispielen und Äußerungen

Betroffener, mit szenischen Sequenzen will »DAVOR«

Alltagsrassismus, Diskriminierung, und Hass sinnlich erfahrbar

machen. Vorfälle, die selten oder weniger prominent medial

Erwähnung finden — derartigen Erfahrungen will »DAVOR«

versuchsweise nahekommen. Denn die physischen und seelischen

Folgen sind nur für die Betroffenen selbst spürbar.

115

Ein dokumentarisches Musiktheaterstück wie dieses kann

lediglich eine Ahnung vermitteln, versucht das aber so konkret

wie möglich: Innerhalb eines labyrinthischen Innenraums

bewegt sich der Zuschauer, die Zuschauerin als Bestandteil

entsprechender Szenen. Passagenweise kommen

VR-Headsets zum Einsatz und verstärken die sinnlichen Eindrücke.

Man wird vom Beobachter, von der Beobachterin zum

Teilnehmer, zur Teilnehmerin einer persönlichen Erfahrung.

Vielleicht gelingt es zu verdeutlichen, wie viele Menschen in

Deutschland schon längst ein Leben führen müssen, vor dem

andere immer noch Nie wieder! rufend warnen.

»DAVOR« möchte mahnen und Bewusstsein schaffen. Denn

der Point of no Return ist für viele gefühlt bereits überschritten.

Immer mehr denken offenbar konkret über das Auswandern

nach. Dennoch gibt es die Chance auf einen Point of

NEW Return. Die große Mehrheit in Deutschland ist

laut Umfragen nicht rechtsextrem eingestellt. Im

Gegenteil, sie sieht den Rechtsextremismus als

eine der großen Gefahren für die Demokratie.

Hoffnung macht auch, dass — wenn auch viel zu

langsam und zu wenige — zunehmend mehr Menschen

mit augenscheinlich nichtdeutscher Herkunft

in Medien, Politik und Kultur vertreten sind.

Nach Hanau sprachen prominente Politiker und Politikerinnen

das erste Mal fraktionsübergreifend von einem

Rassismus-Problem, das Deutschland habe und vieles mehr.

Und dennoch: Als Barack Obama zum ersten schwarzen Präsidenten

der USA und damit zum großen Hoffnungsträger

einer offenen und multikulturellen Gesellschaft wurde, konnte

kaum jemand erahnen, wer ihm nach zwei Amtszeiten ins

Weiße Haus folgen würde. Von den Machtverhältnissen am

Ende der Weimarer Republik ganz abgesehen, als es keiner

gewählten absoluten Mehrheit bedurfte, um Despoten an die

Macht zu verhelfen. Thüringen ist die Chiffre in der Jetztzeit.



»(...) Weil ich davon überzeugt bin, dass wir nur dann die richtigen

Lehren für uns heute und in Zukunft ziehen können, wenn

wir die Novemberpogrome 1938 als Teil eines Prozesses verstehen,

dem mit der Shoa ein schreckliches Danach folgte, dem

aber eben auch ein Davor vorausging. (...)

(...) Weil wir so sehen können, wohin es führt, wenn — wie im

Nationalsozialismus — ein zuvor strafbares Verhalten erst geduldet

und schließlich zum erwünschten Verhalten erklärt

wird. Vorher beziehungsweise immer schon gehegte Vorurteile

konnten nun ungestraft in offene Gewalt umschlagen.

Begleitet wurde dies von dem Wegschauen, dem Schweigen,

der Gleichgültigkeit, vor allem aber auch dem Mitlaufen einer

großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung. (...)«

morals are becoming undermined. Self-evident

aspects have lost one quality: they are no

longer understandable on their own terms.

Sections of the established political parties

continue to search for answers to the crisis of

conservatism by helplessly flirting with rightwing

fringe groups, and by doing so they initially

strengthen them and cause the often

anxious mainstream to shift more to the right.

Burning refugee homes, pig heads in front of

mosques, defiled Jewish cemeteries, and daily

attacks are one thing. In addition to this,

there is the subtleness that is eating its way

more and more into the everyday life of families

and is barely perceived by the general

public. The daughter of a German-Turkish

couple is in tears as she asks her parents why

does everyone have something against Muslims.

A high school student would like to have

the Iranian part of her hyphened, compound

surname erased so she doesn’t attract too

much attention. More and more, for fear of

attacks Jews seldom dare to wear symbols of

their faith in public. Dark-skinned persons

avoid certain public transportation routes,

because there have been previous attacks on

these routes. For most of them, “no-go zones”

are no longer a relic of past times.

Furthermore, because of their family background

they have to endure an adverse search

for an apartment or job, distrust when opening

a bank account and when they are at governmental

agencies and civil services offices.

The anxiety of whether one will really

be helped when one asks for assistance from

the police, or whether the justice system will

pass judgements in a neutral manner. The

question of whether a doctor will actually examine

them correctly or whether the doctor

doesn’t care about them at all.

The project “DAVOR” would like to make

these worlds of attrition comprehensible.

Words and deeds are not created in a vacuum.

They always have a context in people’s everyday

lives. By using concrete examples and

statements of the aggrieved persons and scenic

sequences, “DAVOR” wants to make everyday

racism, discrimination, and hate sensuously

Das sagte Angela Merkel auf der Zentralen Gedenkveranstaltung

zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht in Berlin.

Es sind wichtige Worte. Und trotzdem nähren auch

diese das Unbehagen der Menschen, die sich in der

Phase des Davors befinden. Denn es war dieselbe

Kanzlerin, die nach dem Auffliegen des NSU

größt- und schnellstmögliche Aufklärung versprach

und bewegende Worte nach dem rechtsterroristischen

Anschlag in Hanau fand. Bis heute ist

nicht viel Licht ins Dunkel der NSU-Täterschaften

und deren Strukturen gekommen. Und nach Merkels

Äußerungen zum Terroranschlag war von ihr nicht mehr

viel zu diesem Thema zu vernehmen. Die Ergebnisse des

vergangenen Integrationsgipfels, die u.a. die Einrichtung

eines Kabinettausschusses gegen Rassismus und Rechtsextremismus

beinhalteten, lesen sich gut, es bleibt abzuwarten,

wie die Handlungsempfehlungen des Ausschusses umgesetzt

werden.

Als dieser Text entstand, befand sich das Land noch nicht auf

dem Höhepunkt der Corona-Pandemie — wirtschaftliche Folgen,

steigende Arbeitslosenzahlen und damit wohl ein größeres

rechtsextremes Potential waren und sind noch nicht absehbar.

Es ist Zeit, auf bedeutungsschwangere Reden wirksames Handeln

folgen zu lassen. Wann, wenn nicht jetzt? Aber auch diese

Worte lesen sich wie ein Déjà-vu.

116

Die Ursprungsidee kam von Yoav Pasovsky. Der 1980 in Israel

geborene Komponist zog mit 23 Jahren nach Berlin und gründete

dort eine Familie. Seine Urgroßeltern flohen 1935 aus

München nach Palästina. Angesichts der politischen und gesellschaftlichen

Entwicklungen der letzten Jahre fragt er sich

immer öfter, ob Deutschland ein sicheres Land für ihn und

seine Familie bleiben könne. Noch nie habe er so sehr nachvollziehen

können, wie sich seine Urgroßeltern damals gefühlt

haben müssen.

Gemeinsam mit dem Autor und Journalisten Bobby Rafiq entwickelte

er das Konzept und die Idee für »DAVOR«. Bobby

Rafiq ist 1976 in Kabul geboren worden und als Flüchtlingskind

in Berlin aufgewachsen. Zeit seines deutschen Lebens

kennt er dieses Gefühl des Davors und beschäftigt sich in seinen

Arbeiten wiederholt mit den Themen offene Gesellschaft,

Rassismus und Demokratie.

Those affected feel left alone. On the one

hand, in before their anxiety is expressed that

something is being manifested that could initiate

the next phase when they perceive the

frequency of far-right attacks and the successes

of the corresponding political parties,

as well as the presence of extreme right-wing

individuals in civil service offices and among

the authorities. In this phase then, discrimination

and hate would continue to intensify

and become for the most part increasingly

institutionalized. A before, which at least in

the early stages could call to mind past eras.

Davor (“Before”)

By Bobby Rafiq

Author and journalist

Before—a simple temporal preposition. It betrays

that something is impending. Something

will happen, an event or situation will

occur. The before of this project describes a

phase, a type of aggregation state, but also an

emotional world in the political and social

arena, which up until now has at least negatively

influenced the everyday life of certain

people in Germany and in the meantime is

increasingly affecting their everyday life.

They are members of minorities: Jews, Muslims,

people with dark skin, homosexuals,

and other groups that do not correspond to

the mainstream of the supposedly Christian,

white norm. People who cannot immerse in

the large mass of “majority society” and therefore

become targets.

A loud trumpeting never again! is in contrast

to this before. It is expressed repeatedly after

each anti-Semitic or other racist act, after

every far-right motivated terrorist attack, or

on relevant historical anniversaries. The appellative

imperative, if one wishes to call it

this, although well-intended has degenerated

into a set phrase and in the meantime stands

primarily for one thing—helplessness.

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On the other hand, the before is a constant

state, and has been a constant in the everyday

life of many of the aggrieved persons for decades

now: They must be used as scapegoats,

as projection screens for anxieties, envy, and

the fear of losing one’s identity. And in addition

always have to worry about what could

come next. If this anxiety remained in past

decades more or less diffuse, the tangible

question in the present climate of society is:

What follows after the “before”?

There is hardly a political party that in the

past didn’t play the keyboard of resentments

in order to get votes. For without their actions,

openly active nationalistic and racist

political groups would more than likely not

have had any extensive success, and they

would not have won in the meantime seats in

all of the state parliaments and in the Federal

Parliament. The shift to the right in the zeitgeist

began long before the oft-quoted spring

of 2015. Since then, however, taboos have

been broken even more bluntly. The unutterable

is becoming more and more utterable.

Social conventions and concepts of ethics and

One always makes an effort only after an act

has been committed. Never again! as, in a

manner of speaking, a type of “post-position.”

These acts are, namely, not the first of

their kind. For decades there exists in the

Federal Republic of Germany a continuum of

far-right criminal offences and violent acts,

with numerous fatalities. In the best case ne ver

again! appears to be a loud whistling in the

forest. In the worst case these ritualistic statements

seem to be ridiculing the victims and

the members of their families. For AFTER

never again! is BEFORE the next act. And so

the question is posed: Never again what, actually,

when the terror continues to increase?



experienceable. Incidents that are rarely mentioned

in the media or not very prominently

mentioned—“DAVOR” wants to experimentally

approximate such experiences. Because

the physical and emotional consequences can

only be perceived and felt by the aggrieved

persons themselves.

A documentary music theater piece like this

one can only convey an impression, but it will

attempt to do this as tangibly as possible: the

individual members of the audience move

within a labyrinthine interior space as a component

of corresponding scenes. At times

virtual reality headsets will be used, and they

will intensify the sensuous impressions. One

transforms from an observer into a participant

in a personal experience.

Perhaps the project will succeed in making it

clear how many people in Germany for a long

time now have already had to lead a life that

others are still warning about by saying never

again!

“DAVOR” would like to warn and generate

awareness. For the Point of no Return has already

been crossed for many people. More

and more people are apparently openly thinking

concretely about emigrating. However,

there is still the chance of a Point of NEW Return.

According to surveys, a large majority

in Germany do not share the views of the farright.

Just the opposite, the majority sees farright

views as one of the biggest dangers to

democracy. There is also cause for hope that

more and more persons—even if it’s happening

too slowly and they are too few—with an

evidently non-German family background

are increasingly present in the media, politics,

and culture. After the incident in Hanau

prominent politicians spoke for the first time

in a multi-partisan manner about Germany’s

racism problem, and about much, much more.

And yet, when Barack Obama became the first

black president of the U.S. and therefore became

a huge beacon of hope for an open and

multi-cultural society, hardly anyone could

have suspected who would enter the White

House after his two terms. Apart from the

power relationships at the end of the Weimar

Republic when an elected absolute majority

was not needed to help despots take power.

Thüringen is the cipher in our present times.

“(...) I do so because I firmly believe that we can

only learn the right lessons for us today and in

the future if we consider the November pogroms

of 1938 to be part of a process that was

not only followed by the terrible chapter that

was the Shoah, but also had a pre-history.”

“(...) Because in this way we can see what the

consequences are if—as under National Socialism—what

was once punishable behavior

is first tolerated and then, ultimately, declared

to be desirable behavior. Prejudices

that had previously or always been held could

now give way to open violence with impunity.

This was accompanied by a large majority of

the German population looking the other way,

remaining silent and indifferent and, above

all, going with the flow. (...)”

This is what Angela Merkel said at the central

commemorative event marking the 80th anniversary

of the Reichspogromnacht (“Night

of Broken Glass”) in Berlin. These are significant

words. And despite this, this also nourishes

the uneasiness of the people who find

themselves in the “before” phase. For this was

the same chancellor who promised after the

National Socialist Underground (NSU), the

far-right German neo-Nazi terrorist group,

was uncovered the criminal case would be

cleared up as extensively and quickly as possible,

and who spoke touching words after the

right-wing terrorist attack in Hanau. To this

day, not very much light has been shed on the

dark deeds of the NSU and its structures. And

after Merkel’s remarks on the terror attack

she didn’t have much more to say about this

subject. The results of the recent Integration

Summit Conference that, among other

things, involved establishing a cabinet committee

against racism and the far-right, read

well. It remains to be seen how the committee’s

recommended course of actions will be

implemented.

When this text was written the country was

not yet at the height of the corona pandemic—

the economic consequences, increasing numbers

of unemployed, and as a result probably

a greater potential capacity of the far-right

were and are not yet foreseeable.

It is time to follow up speeches fraught with

meaning with effective actions. When, if not

now? But these words also read like a type of

déjà-vu.

The original idea came from Yoav Pasovsky.

Born in 1980 in Israel, this composer moved

to Berlin when he was 23 years old and started

a family there. His great-grandparents fled

from Munich to Palestine in 1935. In view of

the political and social developments in recent

years, he has been asking himself more

and more frequently if Germany can remain

a safe country for him and his family. Never

before has he been able to comprehend so well

how his great-grandparents must have felt

back then.

Together with the author and journalist Bobby

Rafiq he developed the concept and idea

for “DAVOR”. Bobby Rafiq was born in 1976

in Kabul and grew up in Berlin as a refugee

child. From the time he has spent in Germany

he knows this feeling of before, and in his

works he has repeatedly examined the themes

of an open society, racism, and democracy.

»ONCE TO BE REALISED«

Silhouette – Silence

© Younghi Pagh-Paan

118

119



Das Musiktheaterprojekt »ACH! Fast eine Funkoper« setzt das

Partizipationsprojekt »GAACH — quasi eine Volksoper« fort, das

2016 im Rahmen der Münchener Biennale in Zusammenarbeit

mit der Münchner Volkshochschule mit über 280 Teilnehmer*innen

in den Foyers des Gasteig uraufgeführt wurde. Während bei

»GAACH« Geschichte und Bewohner des Münchner Stadtteils

Haidhausen im Mittelpunkt standen, geht es in diesem Projekt

vorrangig um den Aspekt der »locality«. Die Teilnehmer*innen,

Menschen unterschiedlicher Herkunft allen Alters, untersuchen

textlich, kompositorisch, musiktheatralisch, aber auch mit

Mitteln des klassischen Hörspiels, Orte und Räume, die

in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für jeden

einzelnen von Bedeutung waren, sind oder

sein werden.

ACH !

FAST EINE FUNKOPER

Ein Partizipationsprojekt von und mit

Kursteilnehmer*innen

der Münchner Volkshochschule

Komposition/Konzept/künstlerische Gesamtleitung:

Cathy Milliken, Robyn Schulkowsky,

Dietmar Wiesner

Raum/visuelle Dramaturgie: Doris Dziersk

Text: Kathrin Röggla

120

The music theater project “ACH! Fast eine Funkoper”

is a sequel to the first participation project,

“GAACH—quasi eine Volksoper,” which premiered in

2016 with over 280 participants at the Munich Biennale

in the foyer of the Gasteig Cultural Centre in cooperation

with the Munich Volkshochschule. Whilst “GAACH” focussed on

the history and residents of Munich’s Haidhausen district, this

year’s production centres around the aspect of “loca lity”: the

participants, invited to take part from all walks of life, examine locations

and places, significant to them in the past, present, and

future using new texts, compositions as well as classical means

of radio play production.

Mit:

Jessica Aszodi Sopran

Rike Huy Trompete

Steffen Ahrens E-Gitarre

Nikola Kerkez Akkordeon

Wolfram Winkel Percussion

Simon Brusis Schauspieler

sowie: Kursteilnehmer*innen der

Münchner Volkshochschule

Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf: muenchener-biennale.de

Produktion der Münchener Biennale und der Münchner Volkshochschule.

Mit freundlicher Unterstützung der Versicherungskammer Kulturstiftung.

Point of

NEW Return

— NOW

Von Kathrin Röggla

Schriftstellerin;

Autorin des Textes zu »ACH ! Fast eine Funkoper«

»Die Sache kommt ja in Wellen.«

»So. Jetzt haben wir eine Situation«, ruft die Redakteurin neben

mir aus. Jetzt sind wir drinnen. Jetzt gibt es den nationalen

und internationalen Krisenstab, die News Ticker, die

Live-Schalte, die Experten, die Neologismen, die zeitgleichen

Bemühungen, die Parallelszenarien, die Erinnerung an andere

Krisenherde, das Modellhandeln, die vorsichtigen Prognosen,

die Vorwärts- und Rückwärtsnachrichten, die volle

Stunde und die halbe. Jetzt sitzen wir fest in diesem Studio,

wie wir eben noch woanders festgesessen sind.

Gehen wir zurück zu dem Punkt, als es noch Entscheidungen

zu treffen gab. Als wir darüber nachdachten, wie wir die Sache

einbremsen können, wie wir Vorsorge treffen können.

Gehen wir zurück in die Situation ohne Raumteiler. Saßen wir

damals schon im Großraumstudio und husteten uns an? Natürlich

in Armbeugen hinein, und meist sind es auch

die eigenen, nur in globalen Wirtschaftszusammenhängen

husten wir bekanntlich in die der anderen.

Der Kurs der Börse hat uns allerdings

gleich direkt ins Gesicht geblasen. Das sei nicht

so schlimm, informiert man uns an diesem beliebigen

Montagmorgen zur besten Sendezeit, man

müsse es nur aussitzen und solle JETZT GERADE

nicht aus seinen Aktienfonds aussteigen. Aber JETZT

GERADE passieren so viele Dinge gleichzeitig, da kann es

schon sein, dass man seine Aktienanteile abstößt, quasi unfreiwillig.

Aus Panik. Angst ist ein schlechter Ratgeber, hat

jemand im Raum ohne Raumteiler bereits zu oft gesagt, das

funktioniert jetzt auch nicht mehr. Jetzt wurden die Raumteiler

eingeführt, und Deutschlandfunk hatte längst die Verkehrsnachrichten

abgestoßen, aber nicht aus Panik, sondern

aus reichlich überlegten Gründen, die hätten sich nämlich

überlebt. Die würden nicht mehr für die Ohren gebraucht,

Verkehrsnachrichten seien heute mehr etwas für die Augen,

und die Augen gehören ins Netz. Welches bekanntlich immer

up to date ist. Nur das Netz kann auch die vielen Life-Ticker

gebären, die unsere hypertrophe Gegenwart erzeugen, ein

vielschichtiges Ineinander von Jetztzeitigkeiten, die einzeln

für sich genommen stimmen mögen, aber zusammen einen

ziemlich falschen Chor ergeben. Sie verschieben ja auch andauernd

Sichtbarkeiten im Raum, als würden sie den Verkehr

121



regeln zur besseren Durchfahrt, zur Flüssigkeit, aber in Wirklichkeit

kommt es zu Auffahrunfällen der gröberen Sorte.

Den Verkehr, der offiziell für die Augen ist, hören wir uns ja

auch meist an. Draußen in den Reihenhäuschen und Großsiedlungen

in Flughafennähe genauso wie am Funkerberg von

Königs Wusterhausen neben der Autobahn gen Osten, oder

drinnen in den Großraumbüros nahe dem Stadtring, in der

Einflugschneise. Genau in so einem sitze ich gerade und höre

den redaktionellen Sitznachbarn des Radiosenders zu, wie sie

in sanftem Gemurmel besprechen, welche Nachricht man nun

wie platziert. Z.B. wurde »der erste Patient in Berlin« schon

in den 8:00-Nachrichten bekannt gegeben (Äonen her), der

sogenannte Berliner Nullpatient, (oder gibt es nur den italienischen

Nullpatienten?), Bote einer Pandemie, für die man

Krankenhäuser bereit zu stellen gewillt ist, auch wenn man

diese gar nicht zur Verfügung hat. Um 9:00 wurden wir davon

informiert, dass die Anzahl der Menschen, die alleine leben,

in den nächsten zwanzig Jahren rapide ansteigen wird,

jeder vierte ist es 2040, ohne uns die Konsequenzen

zu verraten. Ja, was heißt das denn alles? Was also

ist um 10:00 dran? Etwa die stetige Bodenversiegelung,

die 80% der Arten und »Masse der Tiere«

vernichtet? Nein, sie stellt keine Neuigkeit dar,

sie ist keine Situation. Eher schon die Parallelszenarien,

nach denen die Wallstreet gegenwärtig Ausschau

hält, auch wenn sie keine Nachricht ergeben,

aber der Zeitpunkt des Erinnerns ist brandaktuell. Also werden

wir uns Szenarien vergegenwärtigen, aus denen angeblich

klare Handlungsanweisungen erfolgen, auch wenn ihnen niemand

nachgekommen ist, denn nach der Krise ist eben nach

der Krise.

habe, um im Schnellverfahren aus den alten, bereits vergessenen

Katastrophen zu lernen. Angesichts unserer Lernfaulheit

ein kühnes Unterfangen. Nebenan bewegen sich noch einige

»auf den Märkten«, wie ein Radiosprecher gerade noch weismachen

möchte, hier lebe ich als Schriftstellerin schon relativ

unbeweglich im Prognosekeller, zugestellt von fiktiven Szenarien,

Ausgeburten der Film- und Gamingindustrie, und suche

im Vergangenen — Epidemien, Ausbrüchen und Abbrüchen

— Handlungsmuster des heutigen Tages, um festzustellen,

sie sind gar nicht vergangen. Ansonsten ist alles still,

lahmgelegt. D.h. der im Raum mit Raumteiler stehenden Frage,

welche Modelle für uns tauglich sind, folgt der Seufzer:

»Neue Zukunft braucht das Land, aber sie muss auch zu hören

sein, sende fähiges Material.«

Die Anrufung der Finanzkrise 2008 beginnt an diesem Montagmorgen,

parallel zu der Beschwörung der Situation 2015,

doch die Situation 2015 will, soviel sei schon verraten, weniger

die gegenwärtige Lage der Geflüchteten im griechischen

Lager von Moria auf den Punkt bringen als die unsrige angesichts

der Flüchtlingsströme und was da sonst noch so alles

auf uns zukommt. Ja, kehren wir zurück zu dem Zeitpunkt,

als noch Entscheidungen zu treffen waren, und warum wir sie

nicht getroffen haben. Niemand beantwortet diese Frage,

aber wir befinden uns ja auch in einem schalltoten Raum. So

nennt man das Studio, in das einzutreten ich versprochen

122

»ACH ! Fast eine Funkoper«

Wasser Was

© Dietmar Wiesner/Manuela Malakooti

123



can also give birth to the many live news

feeds, which generate our hypertrophic present,

a multilayered intertwinement of “nownesses”

which when taken individually may

be right, but together they produce a rather

false chorus. After all, they constantly misalign

conspicuities in the room, as if they

were controlling traffic so that it flows better,

as a fluid, but in reality, it results in very abrasive

types of rear-end collisions. We normally

listen to the traffic that is officially for the

eyes, too. Out there in the tiny townhouses

and large residential areas close to the airport

as well as at Funkerberg in Königs Wusterhausen

along the highway heading east, or in

the open plan offices near the ring road in the

city, in the airport’s approach flight path. I’m

sitting right at this moment in precisely such

an open plan office and listening to the radio

station editor sitting next to me discussing in

a gentle murmur how one should position

which news piece. For example, “the first patient

in Berlin” was already announced during

the eight o’clock news (eons ago), the socalled

Berlin zero patient (or is there only the

Italian zero patient?), a messenger of a pandemic

for which one is willing to make hospitals

available, even if one doesn’t have these

available at all. At 9:00 a.m. we were informed

that the number of people who live alone will

rapidly increase in the next twenty years, it

Point of

NEW Return

— NOW

By Kathrin Röggla

Writer; author of the text for

“ACH ! Fast eine Funkoper”

“It will, after all, come in waves.”

“So. Now we have a situation,” called out the

editor sitting next to me. Now we are in. Now

there are the national and international crisis

task forces, the news tickers, the live broadcast,

the experts, the neologisms, the simultaneous

efforts, the parallel scenarios, the

remembering of other trouble spots, the creating

of models, the cautious prognoses, the

news making predictions and the news summarizing

past events, on the hour and on the

half-hour. Now we’re trapped in this studio,

like we were trapped somewhere else not too

long ago.

Let’s go back to the point when there were still

decisions to be made. When we were thinking

about how we could slow the matter down,

how we could take precautions. Let’s go back

will be every fourth person in 2040, and they

didn’t reveal the consequences to us. Yes,

what does all of that mean then? What, then,

is coming at 10:00 a.m.? Perhaps the constant

increase in soil sealing, which will destroy

80% of the species and “hordes of animals”?

No, it’s not something new, it’s not a situation.

It’s more the parallel scenarios that Wall

Street currently is keeping its eyes out for,

even if they don’t result in any news, but the

point in time for remembering is right now.

So, we will bring to mind scenarios from

which apparently clear instructions on how to

act will be the result, even if no one followed

them, because after the crisis is simply before

the crisis.

The evocation of the finance crisis in 2008

begins this Monday morning, parallel to the

conjuration of the situation in 2015, but the

to the situation without room dividers. Were

we already sitting in the huge studio back then

and coughing on one another? Of course, into

the crooks of our elbows, and they were usually

our own elbows, we only, as is generally

known, coughed into the crooks of other people’s

elbows when it had to with global economic

contexts. The stock exchange quotation,

however, spewed straight into our faces.

We were informed on that arbitrary Monday

morning during the best airtime that this isn’t

so bad, one just had to sit it out and shouldn’t

bail out of his or her mutual stock fund

RIGHT NOW. But RIGHT NOW so many

things are happening simultaneously, it could

happen that you get rid of your stocks shares,

more or less involuntarily. Because you panic.

Fear is a terrible advisor, someone already

said too frequently in a space without room

dividers, now that doesn’t function any more

either. Now the room dividers have been introduced,

and Deutschlandfunk, the public-broadcasting

radio station in Germany,

had stopped broadcasting traffic reports a

long, long time ago, but not out of panic, but

rather because of well-thought-out reasons,

they, naturally, had outlived themselves. They

weren’t needed for the ears anymore, traffic

announcements today are more for the eyes,

and eyes belong on the net. Which is, as is

well-known, always up-to-date. Only the net

situation in 2015 wants to—this much is already

known—not so much point out the current

situation of the refugees at the Greek

camp at Moria as point out our situation in

view of the stream of refugees, and everything

else that is coming our way. Yes, let’s return

to the point in time when there were still decisions

to be made and why we didn’t make

them. No one is answering this question, but

we are, after all, also in an anechoic room.

That’s what you call the studio in which I

promised to enter in order to learn from the

old, already forgotten catastrophes during a

high-s peed process. A bold undertaking, in

view of our laziness in learning. Next door to

the studio several people are still working

“the markets,” as a radio announcer just wanted

to make us believe, I live here as a writer

already relatively immobile in a forecasting

basement, blocked in by fictional scenarios,

spawns of the film and gaming industries, and

searching in past events—epidemics, eruptions,

and demolitions—for today’s instructions

on how to act, only to determine that

they haven’t elapsed at all. Apart from that,

everything is quiet, paralyzed. That is to say,

the question hanging in the air in the space

with room dividers as to which models are

suitable for us is followed by a sigh: “The

country needs a new future, but it also must be

audible, material suitable for broadcasting.”

124 125



SUBNORMAL

EUROPE

Konzept/Komposition/Dramaturgie/Regie/Kostüm/

Text/Video- & Audioproduktion:

Óscar Escudero

Belenish Moreno-Gil

Mit:

Noa Frenkel Contralto

Sebastian Schottke Stimme

ZKM | Hertz-Labor:

Ludger Brümmer Projektleitung

Götz Dipper Projektkoordination/Live-Elektronik

Moritz Büchner Videostudio: Technische Leitung Video

Andy Koch Videostudio: Kamera

Güzide Coker Videostudio: Klappe & Skript

Xenia Leidig Videostudio: Videobearbeitung/Set-Photos & -Videos

Hans Gass Set-Bühne & -Licht

Sebastian Schottke Live-Elektronik/Klangregie

Jakob Schreiber Tonaufnahme

Bernd Lintermann iPad Software

Manfred Hauffen technische Unterstützung

Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf:

muenchener-biennale.de

Kompositions- und Librettoauftrag der Landeshauptstadt München

zur Münchener Biennale.

Koproduktion der Münchener Biennale mit dem Hertz-Labor des ZKM Karlsruhe.

In Kooperation mit Gare du Nord und ZeitRäume Basel und Wien Modern

im Rahmen des Netzwerks für formübergreifende Musiktheaterformen.

Mit freundlicher Unterstützung durch das Instituto Cervantes München.

Óscar Escudero ist Multimedia-Komponist und Multimedia-Performer,

der mit Ton, Video und virtuellen

performativen Räumen arbeitet. Belenish Moreno-Gil

ist multidisziplinäre Künstlerin, Performerin und Musik o-

login. Neben zahlreichen eigenen Arbeiten kreieren sie gegenwärtig

gemeinsam Musiktheaterstücke.

»SUBNORMAL EUROPE« entsteht in Zusammenarbeit mit

der Sängerin Noa Frenkel, dem Toningenieur Sebastian Schottke

sowie in Kooperation mit dem Zentrum für Kunst und Medien

Karls ruhe (ZKM).

Óscar Escudero is a multimedia composer and multimedia performer

who works with sound, video, and virtual performance

spaces. Belenish Moreno-Gil is a multidisciplinary artist, performer,

and musicologist. Besides numerous own works they are currently

creating together musical theatre plays.

“SUBNORMAL EUROPE” is being developed in collaboration

with the singer Noa Frenkel and the sound engineer Sebastian

Schottke, and in cooperation with the Center for Art and Media

Karlsruhe (ZKM).

In Philosophie und Soziologie war in jüngerer Zeit häufig die

Rede von der sogenannten Krise der Gegenwart. Die Definition

zeichnet im Grunde eine globale Gesellschaft, die in der

Logik der permanenten Vervielfachung des Privaten gründet.

Verzweigungen der Identität wirken als notwendige Axiome

der Perpetuierung eines Ökosystems, in dem das Sein

durch Präsenz ersetzt wird. Wissenschaftler*innen identifizieren

in der Europäischen Union FOMO (fear of missing out,

die Sorge, etwas zu verpassen) als eine der Hauptursachen für

Ängste und Depressionen, die beiden häufigsten psychischen

Störungen, die bei EU-Bürger*innen diagnostiziert werden.

Ständig und überall präsent zu sein bedingen jedoch automatisch

Frustration und die Aufgabe individueller Projekte, die

wiederum das Impfkristall für zwei Grundwerte der Europäischen

Union — die Schaffung von Gemeinschaft und das Gefühl

der Zusammengehörigkeit — darstellen.

Angesichts der eigenwilligen Wege, die heute verfolgt

werden, wiesen die Generaldirektion für Beschäftigung,

Soziales und Inklusion, die Generaldirektion

für Bildung, Jugend, Sport und Kultur und die

Vizepräsidentin der EU-Kommission mit Zuständigkeit

für die Förderung der europäischen Lebensweise

der Münchener Biennale die anspruchsvolle

Aufgabe zu, ein Innovations- und Entwicklungsprogramm

zur Reflektion über die Ursachen des

Problems zu initiieren. Dieses soll im Rahmen der deutschen

EU-Ratspräsidentschaft von Juli bis Dezember 2020 realisiert

werden.

Mit Verweis auf das Biennale-Motto Point of NEW Return sieht

der Text der Vereinbarung der Parteien den »wesentlichen

Zweck dieser Initiative in der exakten technischen Reproduktion

der Gründungsmomente, die unsere Geschichte des Fortschritts

im Bereich Audiovision kennzeichnen. Die Nachbildungen

beziehen sich auf eine/einen von den Komponist*innen

auszuwählende/n Künstler*in und umfassen Fragmente

wie die erste Tonaufnahme der Geschichte, die erste Bewegtfilmsequenz

oder die erste große Veranstaltungsübertragung.

Die Sammlung soll Audio- und Videodateien ent halten,

die, da eine Unterscheidung zwischen Original und Kopie

nicht möglich ist, zusammen mit den Originalen ausgestellt

werden können.«

126 127

In der Umsetzung dieser Leitlinien schufen Belenish Moreno-

Gil und Óscar Escudero zusammen mit dem Toningenieur

Sebastian Schottke und der Sängerin Noa Frenkel eine Live-

Aufnahmesession mit einem »offenen Ende« der jeweiligen

Performance. Technologisch wird angestrebt, eine absolute

Mimesis der Fragmente der Pionierzeit und der neuen Stücke

zu erreichen. Eine Postproduktion findet nicht statt, denn nur

so lässt sich die Partizipation des Publikums bei der Vollendung

eines Zirkels, der mit der Schaffung des Originalfragments

beginnt, gewährleisten. Der Autor Agustín Fernández

Mallo spricht hier von einer »year zero baseline«. Das letzte

historische Verbindungsglied entsteht in der Vorstellung. Auf

diese Weise kann die Gestaltung der Objekte in zeitliche und

räumliche Fakten münden, die sich zeitgleich erfüllt und entleert

von Geschichte präsentieren. Es bilden sich die Points of

NO NEW Return.

Allerdings stellt die Performance »SUBNORMAL

EUROPE« nur eine Ebene des Gesamtprojekts dar.

Die in Auftrag gegebene künstlerische Erkundung

wird ergänzt durch eine Reihe von Interviews mit

Europäer*innen aller Altersgruppen und gesellschaftlichen

Schichten, die sich unterschiedlichen

Fragen zur kulturellen Zugehörigkeit und

Identität stellen, sowie durch die abschließende

Ausstellung, in der die Ergebnisse der Live-Performance

gezeigt werden. Die Vereinbarung formuliert »das

Ziel, dem aktuellen Zustand der europäischen Werte auf den

Grund zu gehen, das Gefühl der citizenship der EU-Bürger*innen

zu stärken und das Wissen über unsere gemeinsame

Geschichte und ihren Beitrag zur menschlichen Entwicklung

des Europagedankens in schwierigen Zeiten zu fördern. Allein

der umfassende Blick auf unsere Identität und der Ansatz

der Gegenseitigkeit können uns helfen, die Herausforderungen

zu bewältigen, die sich den Bürger*innen Europas durch

die Lebensgewohnheiten in heutiger Zeit stellen. In diesem

Projekt muss die Förderung des Bewusstseins über die Vorteile

kooperativer und flexibler Arbeit, Unternehmertum und

internationaler Mobilität im Schengen-Raum klare Priorität

haben.«



Given these wayward paths that are being taken,

the Directorate for Health and Social Affairs

of the European Union, the Directorate

General for Education and Culture, together

with the Vice-Presidency for protecting our

European way of life have delegated to the

Münchener Biennale the commission of a project

of innovation and development, which is

expected to reflect on the causes of the problem.

It will take place in the context of the

German Presidency of the European Commission

between July and December 2020.

Taking advantage of Biennale’s theme, The

point of NEW return, and quoting the text of

the agreement between the parties, “the main

purpose of this initiative is the exact technical

reproduction of those inaugural instants,

which have marked our History of progress

in the audiovisual field. The replicas will be

In recent years, there have been many voices

among the field of philosophy and sociology

that have broadly talked and written about a

so-called “crisis of the presence”. This definition

may portrait a global society, which is

erected on the logics of constant personal

multiplication. Consequently, these branches

of identity act as necessary axioms to perpetuate

an ecosystem, in which being is replaced

by being present. Researchers have identified

FOMO (fear of missing out) as one of the main

causes for anxiety and depression in the European

Union, which are the two most common

mental disorders among its citizens. The

achievement of the absolute presence is automatically

translated into frustration and loss

of individual project, which, in turn, is the

seed of the creation of community and sense

of togetherness, two of the founding values

of the European Union.

made out of a living performer, to be chosen

by the composers, and will include fragments

such as the first sound recording in History,

the first moving picture sequence or the first

large event in being broadcasted. The collection

must be composed by a set of audio and

video files, which may be exhibited together

with their originals, not being able to distinguish

one from another.”

Following these guidelines, Belenish Moreno-

Gil and Óscar Escudero have designed a liverecording

session leaded by sound engineer

Sebastian Schottke, who will assist singer

Noa Frenkel throughout the completion of

the process. The success in its achievement

remains open for each of the performances.

The technological goal lies in the accomplishment

of an absolute mimesis between the pioneer

fragments and the new ones, taking into

account that no further post-production is

possible. Only in this way will the audience

actively participate of the conclusion of a circle,

which started at the moment when the

original fragment was created (a “zero year

line”, in the words of writer Agustín Fernández

Mallo) and will find its last historical link

right during the show. In this manner, the

generation of this set of objects may lead to

facts in time and space, which are simultaneously

full and emptied of History: points of

NO NEW return.

The performance of “SUBNORMAL EUROPE”

is, though, just one layer on the overall project.

The commissioned artistic research will

be completed with a series of interviews to

European citizens of all ages and social sectors,

addressing several topics around cultural

belonging and identity, as well as with the

final exhibition, which will show the outcomes

of the live performance. All of this, and

coming back to the signed agreement, “with

the objective of taking the pulse of the current

state of the European values and to reaffirm

the sense of citizenship of its inhabitants, as

well as the knowledge of our common History

and its contributions to human development in

difficult times for Europeanism. Solely by

taking a broad perspective on our identity and

mutual project, can we be able to counteract

the challenges that contemporary living habits

pose for European citizens. Furthermore, a

clear priority of the project must be to raise

awareness of the benefits of cooperative and

flexible jobs, entrepreneurship, as well as the

assets of international mobility within the

Schengen area.”

128

»SUBNORMAL EUROPE«

Belenish Moreno-Gil & Óscar Escudero

© BELOS Editions

129



»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«

Reise durchs Wohnzimmer oder wodurch? — Situation 4

© Tobias Eduard Schick / Katharina Vogt (2020)

130 131



GROSSE REISE IN

ENTGEGEN-

GESETZTER

RICHTUNG

Expeditionen ins Archiv

der Wirklichkeitsfabrik

von Yair Klartag, Anda Kryeziu,

Christiane Pohle/Zahava Rodrigo,

Tobias Eduard Schick/Katharina Vogt

und Ror Wolf

Eine große Reise in entgegengesetzter Richtung unternimmt man

besser in Begleitung. Vor allem dann, wenn die Reiseroute innerhalb

des eigenen Hauses verläuft. Im vorliegenden Fall machen

sich deshalb gleich mehrere Personen zeitversetzt auf den Weg:

die Musiker*innen des Instrumentalensembles hand werk, die

Komponistinnen und Komponisten Yair Klartag, Anda Kryeziu,

Tobias Eduard Schick und Katharina Vogt, die Regisseurin Christiane

Pohle, die Bühnen- und Kostümbildnerin Zahava Rodrigo,

der Dramaturg Malte Ubenauf sowie der Schriftsteller Ror Wolf.

Letzterer ist nicht unwesentlich dafür verantwortlich, dass nach

dem Durchschreiten einer gut getarnten Wandöffnung plötzlich

eine Gruppe absolut unbekannter Hausbewohner*innen in Erscheinung

tritt. Was bedeutet die irritierende Begegnung für die

Fortsetzung der geplanten Musiktheaterexpedition: Weggabelung,

Kreuzung oder Sackgasse?

Ror Wolf fasst den Stand der Dinge wie folgt zusammen: »Bis

zu dieser Stelle bin ich also gekommen, hier ist vielleicht das

Ende oder, wenn ich genau sein will, nicht das Ende, aber der

Augenblick vor dem Ende, oder vielleicht im Gegenteil,

nicht das Ende, nicht einmal der Augenblick vor dem

Ende, sondern erst der Anfang, oder auch nicht der

Anfang, sondern etwas anderes, drittes: etwas zwischen

Anfang und Ende.«

Kompositionsaufträge der Landeshauptstadt München zur Münchener Biennale.

Gefördert durch die Kunststiftung NRW.

Mit Unterstützung von Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung.

Komposition:

Yair Klartag, Anda Kryeziu, Tobias Eduard Schick,

Katharina Vogt

Text: Ror Wolf

Regie: Christiane Pohle

Raum: Zahava Rodrigo

Kostüme: Christiane Pohle, Zahava Rodrigo

Dramaturgie: Malte Ubenauf

Klangregie: Maximiliano Estudies

Mit:

hand werk:

Daniel Agi Flöte

Heni Hyunjung Kim Klarinette

Lola Rubio Violine

Niklas Seidl Violoncello

Claudia Chan Klavier

Jens Ruland Schlagzeug

Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf: muenchener-biennale.de

A grand journey in the opposite direction is best undertaken

with companions. Especially if the journey’s

route is within your own home. In the present

case, for this reason right away several people set off at

different times: the musicians of the instrumental ensemble

hand werk, the composers Anda Kryeziu, Yair Klartag, Tobias

Eduard Schick and Katharina Vogt, the director Christiane Pohle,

stage and costume designer Zahava Rodrigo, the dramaturge

Malte Ubenauf, and the writer Ror Wolf. The latter is more or less

essentially responsible for a group of completely unknown tenants

suddenly appearing after they pass through a well-camouflaged

wall opening. What does this irritating encounter mean for

the continuation of the planned music theater expedition: is it a

fork in the road, an intersection, or a dead end?

Ror Wolf summarizes the state of things as follows: “So, I

came as far as this point and this is perhaps the end here, or, if I

want to be precise, not the end, but the moment before the end,

or perhaps the opposite, not the end, not even the moment before

the end, but rather only the beginning, or not the beginning

either, but something else, a third element: something between

the beginning and the end.”

132

133



»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«

© Anda Kryesziu (2020)

134 135



Richtungswechsel in

den Archiven der

Wirklichkeitsfabrik

Von Malte Ubenauf

Dramaturg der Produktion »GROSSE REISE IN

ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«

Warum wünscht man sich den vor wenigen Wochen

im Alter von 87 Jahren verstorbenen Schriftsteller

und bildenden Künstler Ror Wolf als Expeditionsleiter

für eine »GROSSE REISE IN ENTGEGEN-

GESETZTER RICHTUNG«? Vermutlich deshalb, weil er zu

den wenigen Personen gehört, denen man die Planung und

Durchführung einer solchen Reise tatsächlich zutraut. Es ist ja

so: Um sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen zu können,

müssen die Koordinaten des Weges, auf dem man bisher

unterwegs war, vollkommen neu berechnet werden. Genau

dies war (und ist) Ror Wolfs Spezialgebiet. Schon früh unternahm

er einen Ausflug an den vorläufigen Rand der Dinge,

schickte seine Nachrichten aus der bewohnten Welt an die bewohnte

Welt, publizierte Notizen aus dem zerschnetzelten Leben

und machte — last but not least — seine Aufzeichnungen aus

dem Archiv der Wirklichkeitsfabrik öffentlich zugänglich. Keine

schlechte Expertise, wenn es darum geht, einen Point of

NEW Return ausfindig zu machen. Ror Wolf, dem es Zeit seines

Lebens immer wieder gelang, die offiziell registrierten

Bestandteile der Wirklichkeit so zusammenzusetzen, dass

man sie (glücklicherweise) kaum noch wiedererkannte, wäre

mehr als zuversichtlich gewesen, den überfüllten Sackgassen

der Gegenwart den Rücken kehren zu können. Eine so genannte

180°-Wende allerdings hätte er wohl eher vermieden. Ror

Wolf war Labyrinthist. Das ist so etwas Ähnliches wie Alpinist,

nur dass es nicht um Steigeisen und Sauerstoffgeräte geht,

sondern um außergewöhnliche Fähigkeiten im Auslegen von

Ariadnefäden. Und darum, nicht überrascht zu sein, wenn einem

beim Einschlagen entgegengesetzter Richtungen Orkane

der Stärke 12 um die Ohren fliegen.

Bliebe die Frage, ob Ror Wolf einverstanden gewesen wäre, mit

dem von ihm 2006 veröffentlichten Text Die Grenzen der Vertraulichkeit

oder Große Reise in entgegengesetzter Richtung im

Gepäck eine Expedition ins Musiktheater zu unternehmen?

Er war es! Was alles andere als eine Selbstverständlichkeit

darstellt.

sondern aus Schichten zusammengesetzt, aus sich überlagernden

Spuren, Klängen, Ahnungen, Hoffnungen, Überraschungen.

Und selbst das Basislager, von dem aus die Reisenden

aufbrechen würden, sähe immer anders aus. So wie die Zimmer,

Flure, Keller und Dachgeschosse in Ror Wolfs Text, die

vom Autor einer immerwährenden räumlichen Metamorphose

unterworfen sind. Nie ergibt sich für den/die Leser*in ein wirklich

eindeutiges Bild. Man wähnt sich in einem Haus, geht entlang

der Erzählbruchstücke Treppen hinauf und hinunter.

Doch kaum erscheinen die architektonischen Umstände für

Momente stabil, berechnet Ror Wolf die Statik neu. Die entgegengesetzte

Richtung scheint keinen linearen Charakter zu

besitzen. Vielmehr strebt sie in unterschiedliche Himmelsrichtungen,

bildet wilde Gummibandmuster und krasse Knoten,

verfügt über verschiedene Dichtegrade und lässt sich entsprechend

nicht gut dokumentieren mit den üblichen Abbildungsverfahren

des 20. und 21. Jahrhunderts.

Vielleicht stimmte er zu, weil es ihn interessierte, wie

die vier jungen Komponist*innen Yair Klartag, Anda

Das Haus, von Ror Wolf als unerschöpfliches System

entworfen, ist Hirnmasse und Herzmuskel,

Kryeziu, Tobias Eduard Schick und Katharina

Vogt seine Texte NICHT vertonen würden. Zumindest

nicht für singende Stimme(n). Er wäre

all gibt es versteckte Türen, die darauf warten,

Nervenbahn und Sprachzentrum zugleich. Über-

möglicherweise neugierig gewesen, wie ein Musiktheater

klingt und aussieht, das auf der Lektüre

de Alpträume und nie gekannte Euphorien hervor.

geöffnet zu werden. Tut man es, treten verstören-

seines Textes beruht, jedoch mehr oder weniger

Geht man einen Schritt hindurch, wird der Boden

sprachlos in Erscheinung tritt. Ror Wolf, dem alles allzu

Homogene unausgegoren vorkam, hätte sich allerdings

ken bzw. wundervolles Gleiten ohne Bremseffekte. Wer den

weich oder spiegelglatt und ermöglicht tiefes Einsin-

auch darüber gewundert, dass die Beteiligten des Biennale-Projektes

zunächst eine Weile mit der Frage rangen, wie

tung wirklich folgt, sammelt kilo weise Mut. Die wohl zentrals-

Hinweisen in Ror Wolfs Große Reise in entgegengesetzter Rich-

individuell die einzelnen Expeditionen in entgegengesetzter

te aller möglichen Ressourcen, wenn es darum geht, über die

Richtung zu denken wären, wie unterschiedlich die Ausrüstungen,

die Routen, die Zeitpläne. Sollte das Ziel eine gemeinsame

turn ins Werk zu setzen. Nicht ohne Grund sprach Wolf von der

Ausdrucksformen des Künstlerischen einen Point of NEW Re-

Reise sein, eine sich aus einer Vielzahl von Kompromissen

WirklichkeitsFABRIK. Mithilfe der dort rotierenden Spezialmaschinen

generierte er neue Tatsachen. Reihenweise. Für

zusammensetzende Szenerie, die zu beweisen versucht, dass

kollektives künstlerisches Erfinden möglich ist? Die Antwort

Zwecke weit abseits des Üblichen. Wenn die Mitwirkenden der

lag wohl stets auf der Hand. Und musste dennoch erst (wieder-)

Münchener »GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER

entdeckt werden. Sie lautete: auf keinen Fall!

RICHTUNG« nunmehr die Archive dieser Wirklichkeitsfabrik

erkunden, dann wählen sie keine Samthandschuhe und

Stattdessen würden verschiedene Personenkonstellationen verschiedene

Reisen unternehmen an diesem Abend in der Münber,

Gold, Holz, Metall, Fell und zielen hiermit auf bisher un-

Pinzetten. Stattdessen operieren sie mit Instrumenten aus Silchener

Muffathalle. Die entgegengesetzte Richtung würde von

bekannte Resonanzmöglichkeiten für die Kunst des außergewöhnlichen

Wirklichkeitserfinders und radikalen Richtungs-

den beteiligten Künstler*innen gleich mehrfach angepeilt werden.

Nicht aus einem Guss würde dieses Musiktheater sein,

wechslers Ror Wolf.

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Changing Direction

in the Reality Factory

Archives

By Malte Ubenauf

Dramaturge of the production

“GROSSE REISE IN

ENTGEGENGESETZER

RICHTUNG”

Why is it that one hopes to have writer and

visual artist Ror Wolf, who died a few weeks

ago at the age of 87, as the expedition leader

for a »GROSSE REISE IN ENTGEGENGE-

SETZTER RICHTUNG« (Great Journey in

the Opposite Direction)? Probably because he

is one of the few people you actually believe

would manage to plan and implement that

kind of trip. The thing is: moving in the opposite

direction means completely recalculating

the coordinates of the route pursued so far.

That was (and is) Ror Wolf’s specialty. Even

at an early stage, he set off on a Trip to the

Temporary Edge of Things, sent his News From

the Inhabited World to the inhabited world,

published Notes from Fragmented Life and—

last but not least—made his Records from the

Reality Factory Archive publicly accessible.

All of that is pretty good background and

know-how when it comes to finding a Point of

NEW Return. Having repeatedly succeeded

his whole life long in assembling the officially

registered components of reality in a way

that made them (fortunately) hardly recognizable,

Ror Wolf would have been more than

confident that he could turn his back on the

overcrowded dead ends of the present. However,

he would probably have avoided doing

a complete U-turn. Ror Wolf was a labyrinthist.

That is something akin to an alpinist,

except that the focus in this case is not on

crampons and oxygen supplies, but rather on

extraordinary skill in laying out Ariadne’s

threads. And not being surprised when Force

12 hurricanes gust around your ears when you

shift course for the opposite direction.

The question remains of whether Ror Wolf

would have agreed to undertake an expedition

into music theatre with the text he published

in 2006, The Limits of Discretion or

Great Journey in the Opposite Direction in his

luggage? He most certainly did! Which is anything

but self-evident.

Perhaps he agreed because he was interested

in how the four young composers, Yair Klartag,

Anda Kryeziu, Tobias Eduard Schick and

Katharina Vogt, would NOT set his texts to

music. At least not for singing voice (s). He

might have been curious to know how music

theatre would sound and look when it is based

on a reading of his text yet is more or less devoid

of speech. Ror Wolf, who thought anything

too homogeneous was half-baked, would,

however, also have been surprised that the

participants in the Biennale project initially

struggled for a while with the question of how

individually each particular expedition in the

opposite direction should be imagined, how

different the equipment, routes, schedules

should be. Should the goal be a shared journey,

a setting made up of myriad compromises,

trying to prove that collective artistic invention

is possible? The answer was probably

always obvious. And yet it first had to be (re-)

discovered. That answer was: no way!

Instead, different constellations of people

would undertake different journeys that

evening in Munich’s Muffathalle. The artists

participating would set off several times aiming

to head in the opposite direction. Rather

than being created as one single unit, this music

theater would be composed of layers, of

overlapping traces, sounds, premonitions,

hopes and surprises. And even the base camp

from which the travellers would set off would

always look different. Just like the rooms,

corridors, cellars and attics in Ror Wolf ’s

text, which the author subjects to perpetual

spatial metamorphosis. The reader never

gleans a truly unequivocal picture. You imagine

that you are in a house, walking up and

down stairs, guided by fragments of the story.

Yet as soon as the architectural circumstances

appear stable for a few moments, Ror Wolf is

busy recalculating the structural stability. The

opposite direction does not seem to be linear

in nature. Instead, it reaches out to all the

points of the compass, forms wild rubber band

patterns and intense knots, has varying degrees

of density, and as a result is hard to document

properly with the usual representational

techniques of the 20th and 21st centuries.

The house, designed by Ror Wolf as an inexhaustible

system, is brain mass and heart

muscle, nerve pathway and speech centre all

at the same time. Everywhere there are hidden

doors waiting to be opened. If you do, disturbing

nightmares and unprecedented euphoria

emerge. If you take a step through the

doorway, the floor becomes soft or smooth as

a mirror, letting you sink down deep or slide

wonderfully along, free of friction. Any one

who really follows the suggestions in Ror

Wolf ’s Great Journey in the Opposite Direction

gathers courage by the kilo. That is probably

the most central of all conceivable resources

when it comes to setting a Point of NEW Return

within the work by deploying forms of

artistic expression. There were good reasons

why Wolf referred to the Reality FACTORY.

By means of the special machines rotating

there, he generated new facts. By the dozen.

For purposes far removed from standard

uses. Now, when participants in the Munich

»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZ-

TER RICHTUNG« explore the archives of

this reality factory, they do not pick out velvet

gloves and tweezers. Instead, they operate

with instruments made of silver, gold, wood,

metal or fur, aiming to find previously uncharted

resonant scope for the art of that extraordinary

inventor of reality and radical

changer of direction, Ror Wolf.

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»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«

Six Memos from the Last Millennium; II. Anonymity

© Yair Klartag (2020)

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»SUBNORMAL EUROPE«

Belenish Moreno-Gil & Óscar Escudero

© BELOS Editions

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»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«

Reise durchs Wohnzimmer oder wodurch? — Situation 4

© Tobias Eduard Schick / Katharina Vogt (2020)

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JOURNAL RAPPÉ

Künstlerisches Team:

Keyti alias: Cheikh Séne

Xuman alias: Makhtar Fall

Mansour Diop Editor

Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf: muenchener-biennale.de

In dem 2013 von den senegalesischen Rapper-Stars Keyti und

Xuman entwickelten satirischen Nachrichtenprogramm »JOUR-

NAL RAPPÉ« rappen Sprecher*innen und Korrespondenten*innen

ihre Beiträge. Das aus der Hip-Hop-Bewegung entstandene

Projekt nutzt die Möglichkeiten der neuen Technologien und ist

ein hervorragendes Beispiel für die sprühende Kreativität und

das gesellschaftliche Engagement der Jugend im Senegal. Das

medienübergreifende Format setzt verschiedene Plattformen

wie Radio, TV und Internet ein, um einen Raum zu

schaffen, in dem die Medien- und politischen Diskurse

der Herrschenden hinterfragt werden. Daraus

ist ein neuer »Bürger-Künstler-Journalismus« entstanden,

der sich intensiv mit politischen, gesellschaftlichen

und wirtschaftlichen Themen auseinandersetzt

und die Grenzen zwischen Kunst, Aktivismus,

Journalismus und digi talen Medien in Frage

stellt. Durch das eingehende Kuratieren von Nachrichtenmeldungen,

die insbesondere die senegalesische Bevölkerung

betreffen, fordert »JOURNAL RAPPÉ« Macht zurück und

lässt durch alternative Medien, Musik, digitale Medien und Aktivismus

neue Macht entstehen. Schließlich reflektiert das Projekt

die Wirkung dieser gerappten Nachrichtensendung und die angesprochenen

Themen, mit denen ein Gegengewicht zu den

beherrschenden senegalesischen und westlichen Mediendiskursen

geschaffen werden soll.

Koproduktion der Münchener Biennale mit der Music In Africa Foundation.

In Kooperation mit der Siemens Stiftung.

Gefördert durch das Goethe-Institut.

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Founded in 2013 by Keyti and Xuman, two leading rappers in

Sene gal, “JOURNAL RAPPÉ” is a news broadcasting program

where presenters and correspondents rap the news stories. This

combination of a history of hip-hop and the opportunities of new

technologies constitutes a key example of the vibrant creativity

but also of the social commitment of youth in Senegal. Its

transmedia format, disseminated across multiple platforms

(radio, TV and the Internet) offers a space where

to contest hegemonic media and political discourses.

It has fostered a new “citizen-artist journalism”

with in-depth commentaries on political, social and

economic issues, that challenges the boundaries

between art, activism, journalism and digital media.

Through a thorough curation of news concerning the

Senegalese population, particularly, “JOURNAL RAPPÉ”

reclaims power through the creation of power from alternative

media, through music, digital media and activism. Finally, it

reflects on the impact this rapped news broadcasting program

has been having and the kind of topics addressed in order to

counter-act the mainstream Senegalese and “Western” media

hegemonic discourses.

AFRIKA IST DIE ZUKUNFT!

Von Keyti Melakh alias Cheikh Séne

Hip Hop Artist; Künstlerischer Leiter und Co-Moderator von

»JOURNAL RAPPÉ«

AFRICA IS THE FUTURE! Unübersehbar in gelben Großbuchstaben

prangte der Slogan auf einem blauen Sweatshirt,

das ich vor ein paar Jahren trug. Ich hatte es in Amsterdam bei

einem Freund gesehen und wollte es unbedingt besitzen. Ich

gab ihm Geld, damit er es für mich kaufen und nach Dakar

schicken würde. Man bekam es nur in Paris, wo Oghene Kologbo,

der Gründer der Marke, die es produzierte, lebte. Ohne

den Aufdruck war es ein ganz gewöhnliches Kleidungsstück.

AFRICA IS THE FUTURE! machte es jedoch zu etwas Besonderem.

Für mich war es nicht nur ein provokantes Statement

oder ein naiver Wunsch, sondern viel mehr. Für mich,

wie für Millionen auf dem Kontinent und in der Diaspora,

war es eine Überzeugung, die ich nun, schrill und

für alle sichtbar, dem Rest der Welt verkündete.

Es folgten Diskussionen — mit Freund*innen, mit

Fremden in der U-Bahn in New York, mit anderen

Afrikaner*innen, die ich auf meinen Reisen traf.

Paradoxerweise ging es dabei allerdings nie um die

Zukunft Afrikas, sondern um die Gegenwart oder Vergangenheit

des Kontinents. Als könnten wir uns nicht wirklich

vorstellen, wie diese Zukunft aussehen würde. Die Skeptiker*innen

verwiesen auf den Zustand unserer Länder im Vergleich

zum Rest der Welt: Unterentwicklung, Armut, Kriege,

Putsche, fehlende Demokratie, mangelnde Freiheit, Genozide,

Hungersnöte, Verschuldung, manipulierte oder überhaupt keine

Wahlen, Frauendiskriminierung, Arbeitslosigkeit, ein abgewirtschaftetes

Bildungssystem und vieles mehr. All das vor

dem Hintergrund einer Bevölkerungsexplosion, die, so hieß

es, Afrika zum jüngsten Kontinent der Erde machte. Wie sollten

wir uns unter solchen Bedingungen eine rosige Zukunft

für die vier Milliarden Afrikaner*innen vorstellen, die es in

achtzig Jahren geben wird? Je länger wir miteinander sprachen,

desto deutlicher wurde mir, dass unter uns Afrikaner*innen

wenig Klarheit herrscht hinsichtlich der Frage, was aus

unserem Kontinent werden soll, beziehungsweise, was es heißt,

die aktuelle Realität in eine andere Realität zu wenden, in der

147

unsere Hoffnung auf Frieden, Wohlstand, Unabhängigkeit,

wirtschaftliche Stärke, Freiheit, Gleichheit und mehr wahr

werden kann. Wir sind verwirrt, weil man uns indoktriniert

hat, weil wir glauben, die Zukunft Afrikas käme aus dem Westen,

aus Asien oder Nahost. Wir haben aufgehört, die unterschiedlichen

Realitäten auf dem Kontinent zu reflektieren,

die in genuin afrikanische Visionen von unseren möglichen

künftigen Wegen münden könnten.

Damit meine ich natürlich nicht, dass Afrika sich der eigenen

Entwicklung verweigern soll, wie die kamerunische Autorin

Axelle Kabou vor einigen Jahren ironisch vorschlug.

Es ist vielmehr eine Bitte um Aufschub. Hunderte

Millionen Afrikaner*innen arbeiten Tag für Tag,

damit unsere — formellen und informellen — Ökonomien

weiter funktionieren, in der Hoffnung,

dass wenn nicht wir hier und heute, zumindest

morgen unsere Kinder und Kindeskinder vom

Wohlstand profitieren, den wir geschaffen haben,

und dass ihnen unsere alltäglichen Schwierigkeiten erspart

bleiben. Als genügte eine starke Wirtschaft und Reichtum,

damit es den Massen gut geht...

Kabou hat recht, wenn sie sagt, dass die »Unterentwicklung«

Afrikas nicht auf Kapitalmangel zurückzuführen sei. Afrika

ist reich. Der Kontinent verfügt — alle Rohstoffe zusammengenommen

— über ein Drittel der globalen Mineralienvorkommen,

ist für Investoren attraktiver denn je, und erhält

regelmäßig und großzügig »Entwicklungshilfe«. Doch Afrika,

so die Autorin, leidet unter der herrschenden Klasse, die

sich nie in der Lage sah, »Pakte mit der Bevölkerung zu schließen,

um Wohlstand zu generieren. Eine Ausnahme stellen

allein die oberen Zehntausend dar, die mit Unterstützung aus

dem Ausland die natürlichen Ressourcen monopolisieren.«

Die Plünderung der afrikanischen Ressourcen durch die intellektuellen

und politischen Eliten schwächt unsere Staaten,

unsere Ökonomien und die sozialen Strukturen, und führt



dazu, dass Grundbedürfnisse wie der Zugang zu einem funktionierenden

Gesundheitssystem, zu Bildung, Beschäftigung,

Trinkwasser usw. nicht befriedigt werden.

Dennoch ist »Unterentwicklung«, wie der senegalesische

Ökonom und Autor Felwine Sarr in seinem Essay Afrotopia

schreibt, nicht das größte Drama in Afrika, insofern als der

Begriff selbst Voreingenommenheit signalisiert und auf die

profanen Ambitionen des Westens verweist, der die Völker in

den verschiedenen Teilen der Welt hierarchisieren will, um

seine Hegemonie über den Kurs und die Narrative der Geschichte

der Menschheit zu wahren. »Entwicklung« lässt sich

nicht importieren. Sie ist keine gesellschaftliche Konfektionsware,

die Menschen und geografische Räume unter Missachtung

ihrer kulturellen und historischen Besonderheiten

gelegentlich anziehen und dann weitergeben. Nach der afrikanischen

Unabhängigkeit war es aber genau das, was man

von unseren Staaten erwartete. Während die meisten

Nationen Asiens beschlossen, auf ihren Kulturen

aufzubauen und sie aufzuwerten, um Institutionen

im Einklang mit der modernen Welt zu schaffen,

musste sich Afrika dem Wettlauf um »Entwicklung«

stellen und dabei die eigene Geschichte,

Kultur und die traditionellen politischen, ökonomischen

und sozialen Modelle über Bord werfen.

Modernisierung hieß Assimilation anderer Lebensweisen,

hieß mit Blick auf eine Realität denken und handeln,

die nicht die unsere war, und uns nach dem Muster des Westens

als neuer Referenz zu verändern. Das hatte und hat die

Folgen, die wir seit den 1960er Jahren kennen: Afrika, der

ewige Nachzügler an der Tafel der »Entwickelten«; Afrika,

das immer noch versucht, Eigenverantwortung zu lernen und

immer wieder anfällig ist für lokale und internationale Räuber.

Und vor allem: Afrika, das keine Kapazitäten mehr hat,

kreativ zu sein und selbst für sich zu entscheiden.

Nein, »Unterentwicklung« ist nicht das größte Drama in Afrika.

Dieses ist vielmehr das ständige Bemühen unserer herrschenden

Klasse, aus dem Kontinent ein zweites Europa zu

machen. Vielleicht ein weniger perfektes, doch eines, das wir

mit Stolz all jenen Institutionen präsentieren, die seit Jahrzehnten

die Fäden ziehen. Oder ein zweites Amerika oder —

ganz aktuell — ein zweites China.

Dies gilt umso mehr im Zeitalter der digitalen Zivilisation, die

in jüngerer Vergangenheit immer wieder als rettender Anker

für einen Kontinent propagiert wurde, der unterzugehen

droht. Trotz der afrikaweiten Begeisterung für digitale Unternehmer,

den Mobile-Banking-Boom und die neuen führenden

Nationen in der Branche — Kenia, Nigeria, Südafrika —

haben nach wie vor nur Wenige auf dem Kontinent einen Internetzugang

(2018 waren es 24 Prozent der Bevölkerung), und

noch weniger verfügen über ein Bankkonto. Das reicht nicht,

um einen Mehrwert für das BIP zu generieren. Überdies besteht

eine Kluft zwischen den angebotenen Dienstleistungen

und den tatsächlichen Bedürfnissen der Bevölkerung. Wie in

anderen Sektoren wird auch in der digitalen Wirtschaft Afrikas

der Fehler gemacht, dass Software und Services, die in

anderen Gesellschaften in Antwort auf spezifische lokale oder

kulturelle Bedürfnisse entwickelt und angeboten werden,

schlicht in einen gänzlich unterschiedlichen afrikanischen

Kontext verpflanzt werden. So entstehen blasse, lokale

Imitate, die häufig mit großem Tamtam und nationalem

Furor gelauncht werden, um danach rasch

wieder zu verschwinden. Und es überrascht nicht,

dass Facebook, WhatsApp und Uber die am häufigsten

genutzten Apps und Plattformen in Afrika

sind. Hier erweist sich entweder unsere Unfähigkeit,

den Menschen vor Ort kulturell passende Tools

anzubieten, oder das von Sehnsucht geprägte Denken

der afrikanischen Bevölkerung, die nur akzeptiert, was aus

der Ferne kommt. So oder so ist es problematisch.

Das Drama beginnt also, wenn der afrikanische Traum gekapert

wird, wenn unsere Chance, uns und unsere Welt neu zu

erfinden, dem Wunsch, genau wie die anderen zu sein und zu

handeln, geopfert wird. Sami Tchak beschreibt das als den

Versuch, »die Vergangenheit der anderen zu unserer Zukunft

zu machen«, denn Europa, Amerika und China werden sich

natürlich weiterbewegen oder dem Untergang geweiht sein,

bis wir ihr aktuelles Niveau erreichen.

Zum Glück erlebt die Dekolonialisierungsbewegung, die uns

in die Unabhängigkeit führte, mit einem aktualisierten Ansatz

seit einigen Jahren ein Revival und trifft auf immer mehr Zustimmung

bei der jungen Generation. Sie war seit den 1960er

Jahren nie ganz verschwunden, doch realisieren wir heute,

dass es notwendig ist, die Dynamik über Regierungsformen

und -strukturen hinaus auszuweiten, um diese wirklich in unseren

Kulturen und Gesellschaften zu verankern. Für unsere

Generation ist das eine Möglichkeit, zu eigenen Werten zurückzukehren,

die als Ausgangspunkt für ein kommendes Afrika

gedacht werden müssen. Dabei geht es nicht um die pauschale

Ablehnung der aktuellen Realität, um sich Hals über

Kopf in die Lebensweise und das Denken unserer Vorfahren zu

stürzen, sondern um die Neudefinition der Moderne und unserer

Beziehung zum Rest der Welt, auf der Grundlage dessen,

was wir aus ihr mitnehmen und was für die Gegenwart Afrikas

relevant ist. Afrikanische Künstler*innen und Intellektuelle

bemühen sich zunehmend um eine Definition der Konturen

dieser Idee und um ihre Implementierung im politischen, ökonomischen

und gesellschaftlichen Kontext. So kämpfen die

frankophonen Staaten Afrikas aktuell beispielsweise für die

Abschaffung des CFA-Franc. Sie werfen damit die Frage nach

Währungssouveränität auf und mobilisieren die Bevölkerung

auch jenseits der kleinen Zirkel der Wirtschaftswissenschaftler*innen

und Politiker*innen.

In die gleiche Richtung weist der Kampf um die

Restitution der afrikanischen Kulturobjekte, die

in der Kolonialzeit geraubt wurden und sich heute

überall in der Welt in Museen befinden.

Diese kontinentalen und diasporischen Initiativen lassen

uns auf die Wiederaneignung unserer Geschichte und

unseres Schicksals insgesamt hoffen. Beide sind eng miteinander

verknüpft. Zu recht appellierte Cheikh Anta Diop immer

wieder an uns, die Geschichte Afrikas weit über die Kolonialzeit

und den Sklavenhandel hinaus neu zu betrachten, und

dies nicht in wonniger Rückschau und Glorifizierung einer

fernen Zeit, oder in einem Prozess der Viktimisierung, sondern

um zu lernen und zu begreifen, was unsere Philosophien

waren, unsere Formen gesellschaftlicher Organisation, unsere

Spiritualität und vieles mehr. All das, in der Auseinandersetzung

mit unserer einzigartigen oder geteilten Realität,

wird uns helfen, Afrika und die Afrikaner*innen der Zukunft

besser zu verstehen.

148 149

Während ich diese Zeilen schreibe, hat die COVID-19-Pandemie

die Welt seit acht Wochen fest im Griff. In China, wo das

Virus herkam, wütet es schon seit fünf Monaten. Es heißt, es

sei eine unserer größten Herausforderungen seit dem Zweiten

Weltkrieg, mit täglich neuen Zahlen von Infizierten und Gestorbenen,

mit geschlossenen Grenzen und Flugzeugen, die

am Boden bleiben. Die ganze Welt ist zum Stillstand gekommen,

Geschäfte haben geschlossen, die Straßen sind leer, für

die Hälfte der Weltbevölkerung herrscht Ausgangssperre, und

die Zeit scheint überall angehalten. Der afrikanische Kontinent

schien in den ersten Wochen verschont worden zu sein.

Jetzt verbreitet sich das Virus auch dort, und es gibt wenig,

was man ihm entgegensetzen könnte. Neben der Sorge angesichts

einer medizinischen Tragödie, zeichnet sich am Horizont

eine weitere Angst ab: die Angst, sich dem Virus allein

stellen zu müssen, die Angst, dass die Hilfe, die wir bisher immer

erhielten, wenn es auf unserem Kontinent zur »Katastrophe«

kam, dieses Mal ausbleibt, da unsere »Wohltäter*innen«

damit beschäftigt sind, selbst die Pandemie

zu überleben und nun mit den Defiziten ihres

eigenen Systems — um das wir sie einst so beneideten

— fertig zu werden. Sie begraben ihre Toten

und versuchen, die noch Lebenden zu retten und

gleichzeitig ihre Wirtschaft vor dem Kollaps zu

bewahren. Afrika realisiert, dass wir praktisch allein

sind, und plötzlich wird uns unser kollektives Versagen

klar: Wir können unsere Gesundheit nicht schützen.

Wir können nicht einmal Lösungen vorschlagen, die unseren

Völkern und unseren sozialen Realitäten entsprechen. Man

sagt, wir sollten die Hände häufig waschen, Abstand wahren,

in den Ellbogen husten und zuhause bleiben. Kurz, das zu tun,

was anderswo getan wird. Doch wie überzeugt man die Leute

von der Notwendigkeit des social distancing, wenn die Regierungen

kaum testen, und die Mehrheit der Bevölkerung (im

wahrsten Sinn des Wortes) von der Hand in den Mund lebt,

und länger als zwei Tage im Voraus ohnehin nicht planen

kann? Welche Maßnahmen soll man für Wohnraum ergreifen,

den sich zwölf Personen oder mehr teilen? Was soll mit denen

geschehen, die da leben, wo es keinen Zugang zu sauberem

Wasser gibt? Wie setzt man Hygienevorschriften in Tausenden

von Slums auf dem Kontinent durch, wo die Menschen mit

einem Dollar pro Tag auskommen müssen? Wie viele können

im home office bleiben und online arbeiten? Das sind Fragen,



die wir uns stellen, und auf die es praktisch keine Antwort gibt.

Das heißt gleichwohl nicht, dass man in Afrika untätig rumsitzt

und wartet, bis das Virus da ist. Viele Staaten haben Ausgangssperren

verhängt, um die Mobilität ihrer Bürger*innen

wenigstens um die Hälfte zu reduzieren. Kürzlich installierten

die Bewohner*innen einiger ärmerer Viertel in Dakar provisorische

Wasserhähne und Seife am Eingang zu bestimmten

Straßen, damit jede*r, die/der den Sektor betritt, die Hände

wäscht. Eine Gruppe von Studierenden der Naturwissenschaften

produzierte ein Wasser-Alkohol-Gel, um angesichts der

Verknappung dieses Produkts eine Alternative anzubieten.

Selbst in den abgelegensten Dörfern Senegals versucht die lokale

Bevölkerung, sich vor dem Virus zu schützen. Das ist

zweifellos die wichtigste Lektion, die wir Afrikaner*innen

aus dieser Pandemie mitnehmen können: Wir müssen uns auf

uns selbst verlassen können und lernen, mit dem Wenigen, das

wir haben, auszukommen, und Wissen für alle zugänglich zu

machen, damit es jede*r für sich selbst und die eigene

Community nutzen kann. Unsere Resilienz ist gefragt.

Heute mehr denn je.

AFRICA IS THE

FUTURE!

foresee a bright future for the four billion Africans

whose arrival is expected in eighty

years? The more those discussions took place,

the more obvious it became to me that we Africans

are, for the most part, confused as to

what we want this continent to become or rather

by what means to manage to transform our

reality into another more suited to the natural

aspirations of our peoples: peace, abundance,

independence and economic power, freedom

and equity among others. Confused because

by indoctrination we have come to believe that

the future of Africa will only be what comes to

us from the West, Asia or the Middle East,

thereby inhibiting all our will to reflect and

analyze our different realities on the continent

in order to give shape to purely African visions

of what our future trajectories could be.

A few years ago, I was still proudly wearing

my blue sweatshirt with the inscription

AFRI CA IS THE FUTURE ! stamped in yellow

capital letters on the front so that they are

visible to everyone. It was during a trip to

Amsterdam that I saw a friend wearing one

and I became totally obsessed with it and left

him money to buy me one and send it to Dakar

because it was only on sale in Paris, the city

where the creator of the brand resided. Obviously,

without the slogan, there was nothing

special about that sweatshirt and it looked

like any other but AFRICA IS THE FUTURE !

made it special, because for me it was more

than just a provocative statement or a naive

wish. It was a conviction as it was for millions

of people on the continent or elsewhere and

the slogan allowed us to affirm it to the rest of

the world.

Of course, I’m not saying that Africa would

refuse to work for its development, as Cameroo

nian author Axelle Kabou ironically suggested

a few years ago. African people are only

asking for respite and every day, hundreds of

millions of us are busy keeping our economies

afloat (formally or informally) with the hope

that, if not today, tomorrow our children and

grandchildren will benefit from the riches that

we will have created and will not face the current

difficulties that we experience in our daily

lives. As if only strong economies and wealth

were enough to create the well-being of the

masses... In this, Kabou is very right to say

that Africa’s “underdeve lopment” is not due

to lack of capital. Africa is rich (the continent

has a third of the world’s total mineral wealth),

it attracts investors more than ever and it always

receives a lot of aid. But, as she notes,

the continent suffers from its ruling classes,

which have not been “capable of making pacts

with the populations to create wealth,” representing

instead “the dominant strata which

monopolize natural resources with the assistance

of foreigners.” That race of our elites,

both intellectual and political, to pillage African

resources has as a direct consequence

the weakening of our states, our economies

and subsequently our various social structures

and the non-satisfaction of basic needs

such as access to viable health systems, education,

employment, drinking water, etc.

Then came the discussions raised by this

statement with friends, strangers on the subway

in New York, other Africans met here and

there during trips. But as paradoxical as it

may seem, those discussions were never

about the future of Africa but rather about its

present or its past, as if it was actually difficult

for us all to imagine what would or could

be the future of the continent. Skeptics bore

witness to the state of our countries compared

to the rest of the world: underdevelopment,

poverty, wars, coups, lack of democracy and

liberties, genocides, famine, debt, rigged

elections or no elections, poor condition of

women, unemployment, decaying education

system, etc. All of this against the backdrop

of a demographic explosion which, we are

told, makes Africa the youngest continent in

the world. How, in such conditions, can we

By Keyti Melakh alias Cheikh Séne

hip-hop artist; artistic director and

co-moderator of “JOURNAL RAPPÉ”

150

151



This is all the more true in the age of digital

civilization that has been touted in recent

years as the last lifeline of a continent that is

adrift. But despite the excitement of this sector

at the continental level with the appearance

of digital entrepreneurs, the surge in

mobile banking and the emergence of leading

countries in this field such as Kenya, Nigeria

or South Africa, the general public’s access to

the internet is still low (24% according to 2018

figures) and bank enrollment rates are even

lower, making it difficult to create added value

on the GDP of our countries. But, added to

these reasons, there is also a gap between the

services offered and the real needs of the population.

As in other fields, one of the big errors

of the African digital sector is the reproduction

of services or applications that have

been created for other societies as responses

to specific local (cultural) needs but are just

However, as the Senegalese economist and

author Felwine Sarr suggests in his essay

entitled Afrotopia, “underdevelopment” is

prob ably not the greatest drama in Africa in

the sense that this label is biased and bearer of

the secular ambitions of the Western world to

hierarchize the peoples and the different parts

of the world and thus maintain its hege mony

over the course and narratives of humanity’s

history. “Development” can’t be imported, it

is not a “societal ready-to-wear” that people

and geographic spaces would wear on and off

and pass on to each other while ignoring their

cultural and historical singularities, he tells

us. But that is exactly what was asked of our

countries in the aftermath of African independence.

While most Asian countries have

decided to revalue their cultures and rely on

them to set up institutions in tune with the

modern world, Africa had to embark on the

race for “development” by getting rid of its

history, its cultures as well as its traditional

political, economic and social models. Modernization

was then understood as assimilating

other ways of living, thinking and acting

on a reality that was not ours and that we had

to transform with the West as a new reference

model. This has had and continues to have the

consequences that we have known since the

Sixties, with Africa always lagging behind in

“development” league tables, still struggling

to be responsible for itself, and vulnerable

again and again to local predators and those

from elsewhere, but above all this removes

any ability to be inventive or to decide by and

for itself...

No, “underdevelopment” is not the greatest

drama in Africa but rather the persistent endeavors

of our ruling classes to make out of

the continent another Europe (one that would

undoubtedly be less perfect but which we

would brandish with pride to all these institutions

that have been pulling the strings for

decades) or another America and, recently,

another China.

transposed to a very different African context.

These pale local imitations are often

launched with great fanfare and a sense of

nationalism but disappear almost immediately

afterwards and it is unsurprising that the

most used applications and platforms on the

continent are Facebook, WhatsApp or Uber…

That shows either our inability to offer culturally

appropriate tools for Africans or the

ardent desire of African populations to appropriate

only what comes from elsewhere.

In both cases, it is problematic.

The drama is therefore the hijacking of the

African dream, of our capacity to reinvent

oneself and one’s universe, which has been

replaced by the desire to forget oneself and to

be and act like the others. This is what Sami

Tchak describes as the desire to “make the

past of others our future” because, logically,

As I’m writing these lines, the COVID-19 pandemic

has now been raging around the world

for 8 weeks. In China, where the virus originated,

it has already been 5 months. It is said

to be one of our biggest challenges since the

Second World War with its daily share of

newly infected, fatalities, closed borders and

grounded planes. The whole world has suddenly

come to a standstill, shops have closed,

streets have been left deserted, half the globe

is confined indoors and time seems to have

stopped everywhere. The African continent,

spared during the first weeks, now faces the

spread of the virus... with its meager resources.

Faced with the fear of probable health

tragedy, another fear looms on the horizon:

that of having to face it alone, of not receiving

the help to which we are accustomed each

time a disaster strikes the continent because

our “benefactors” are also busy surviving the

pandemic and are realizing the flaws of their

own system that we so envy. They bury their

dead and try to protect those still alive while

saving their economy. And Africa realizes that

it is almost alone and now we fully see our collective

failure to ensure protection of our own

health or to even propose solutions that are in

line with our people and our social realities.

All we are asked to do is to wash our hands

frequently, put some distance between us,

cough into our elbow and stay at home. In

short, to do what is applied elsewhere. However,

how do you convince people of the need for

social distancing when governments are barely

testing and the majority of the population

lives from hand to mouth and cannot make

provisions for more than two days? What

measures for family houses where a dozen or

more people usually live? How do you handle

people living in areas that don’t have access

understand what our philosophies were, our

modes of societal organization, spirituality,

etc. All of this, confronted with our singular

or shared realities, will undoubtedly allow us

to better understand Africa and the African

in the making.

Europe, America or China will have moved

on or fallen into decline when we will reach

their current levels.

Fortunately, for a few years now, the decolonization

movement which led to our independence

has been brought up to date and has

increasingly echoed among the new generation

of Africans. Not that it had stopped after

the Sixties but now we are even more aware of

the need to extend the dynamic beyond the

modes and structures of governance in order

to really install it in the cultural and social

realms. Such an approach, I think, constitutes

for our generation a point of return to

ourselves and our own values, which will have

to serve as an anchor point to think about the

Africa to come. Of course, it is not about totally

rejecting our current reality to rush

headlong towards ancestral lifestyles and

thoughts but about effecting a redefinition of

our modernity, our relationship to the rest of

the world on the basis of what we will have

extracted from it, which will be relevant to

the present of Africa. That is the reason why

African artists and intellectuals are increasingly

committing nowadays to define the contours

of this reflection and implement it in all

fields, be they political, economic or social.

In recent years, for example, we have seen the

fight by French-speaking African countries

to abandon the CFA franc. A fight which is

still far from being won but which has had the

merit of raising the question of monetary sovereignty

and of mobilizing populations beyond

the restricted circles of economists and

politicians. It is in this same vein that there is

also the fight for restitution of African cul tural

objects scattered throughout the museums of

the world and stolen mainly during the colonial

period.

Such continental and diasporic initiatives give

hope for the re-appropriation of our history

but also of our destiny because the two are

closely linked. As Cheikh Anta Diop has professed

all his life, it is incumbent on us to revisit

the history of Africa far beyond colonization

and the slave trade, not in a blissful

glorification process of a distant time or in a

process of victimization but to relearn and

to clean water? By what means can hygienic

precautions be enforced in the thousands of

slums around the continent where people

barely live with $1 a day? How many can stay

at home and work online? These are some of

the questions we ask ourselves but to which

there are practically no answers.

But that doesn’t mean that Africans sit around

waiting for the virus to come to them. Many

countries have implemented a curfew, for example,

to reduce the mobility of people even

by half. In recent days, in some working-class

neighborhoods of Dakar, residents have installed

makeshift taps and soap at the entrance

of certain streets so that everyone going

there can wash their hands before going

in. A group of science students has begun to

manufacture hydroalcoholic gel to help alleviate

shortages of this product. Even in the

most remote villages of Senegal, locals are

working to find ways to protect themselves

from the virus. This is undoubtedly the greatest

lesson that we Africans can learn from

this pandemic: that we must first count on

ourselves, that we can and must learn to act

with the little that we have and make knowledge

accessible to all so that each of us can be

useful to himself or herself and to the community.

Now more than ever, our resilience

must be used for that.

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»TRANSSTIMME«

© Fabià Santcovsky

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»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«

© Anda Kryesziu (2020)

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Wir danken allen unseren Partnern und Förderern

Festivalteam

Künstlerische Leitung: Daniel Ott, Manos Tsangaris

Dramaturgie: Marion Hirte, Malte Ubenauf

Produktion und Veranstaltungsleitung: Tilmann Broszat

Künstlerisches Betriebsbüro: Katrin Beck

Leitung Festivalbüro/Werbung: Karl Beckers

Festivalbüro/Assistenz KBB: Maria Mosca

Festivalbüro/Verwaltung/Verträge: Franziska Alfons

Produktionsleitung: Walter Delazer, Annette Geller, Nora Niethammer

Presse- & Öffentlichkeitsarbeit: Kathrin Hauser-Schmolck, Christiane Pfau

Kommunikationskoordination: Max Horch

Partnership Management: Alexandra Hermentin, Alexandra Zöllner

Webdesign und Programmierung: Kolja Buscher

Poet in Residence: Mara Genschel/Cindy Press @MUCBiennale

Social Media: Chris Schinke

Festival-Fotograf: Armin Smailovic

Technische Gesamtleitung: Ulli Napp

Technische Planung: Werner Kraft, Peter Mentzel, Peter Weyers

Medienpartner

Mobilitätspartner

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Wir danken auch herzlich allen Personen, die mit ihrer Initiative, Förderung, Anregung,

Kritik und Engagement das Festival nachhaltig unterstützt und ermöglicht haben.



Impressum

© 2020 Münchener Biennale — Festival für neues Musiktheater

Alle Rechte vorbehalten

Veranstalter:

in Zusammenarbeit mit Spielmotor München e.V. –

eine Initiative der Stadt München und der BMW Group

Künstlerische Leitung: Daniel Ott, Manos Tsangaris

Herausgeber (V.i.S.d.P.):

Münchener Biennale, Kulturreferat der Landeshauptstadt München

Lothstraße 19, 80797 München, Tel 089–280 56 07, Fax 089–280 56 79

e-mail: info@muenchenerbiennale.de, www.muenchenerbiennale.de

Redaktion: Katharina Ortmann, Marion Hirte, Malte Ubenauf, Max Horch

Übersetzungen aus dem Deutschen: Robert Rowley, Helen Ferguson

Übersetzungen aus dem Englischen: Lilian-Astrid Geese

Gestaltung: Müller+Hess; Beat Müller, Wendelin Hess

Druck: Druck-Ring GmbH & Co. KG, Kirchheim bei München

Redaktionsstand: 29. April 2020, Änderungen vorbehalten



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