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MÜNCH—N—R BI—NNAL—
F—STIVAL FÜR
N—U—S MUSIKTH—AT—R
2020/2021 *
* Dynamisierte Festivalausgabe aufgrund
der Corona-Pandemie mit
unterschiedlichen
Uraufführungsterminen und Spielorten
in München und außerhalb.
Point of
NEW
Return
Programmbuch zur
Münchener Biennale — Festival für Neues Musiktheater
2020 / 2021
© 2020
Münchener Biennale
Grußwort / Welcome note 5 / 5
Vorwort / Preface: Point of NEW Return / Point of NEW Return 6 / 8
Münchener Biennale 2020/21
Grußwort
Munich Biennale 2020/21
Welcome note
ESSAYS
Herfried Münkler: ABSTIEGSÄNGSTE, NIEDERGANGSSZENARIEN, KATASTROPHENVISIONEN — 12
UND DIE CHANCEN UTOPISCHEN DENKENS
DECLINE ANXIETIES, DOWNFALL SCENARIOS, VISIONS OF CATASTROPHES — 22
AND THE OPPORTUNITIES OF UTOPIAN PHILOSOPHY
Dietmar Dath: IHR WERDET EUCH DIE WAREN NOCH ZURÜCKWÜNSCHEN! 28
YOU’LL BE WISHING YOU HAD PRODUCTS AGAIN! 34
Daniel Ott & Manos Tsangaris: NEW Return 40
NEW Return 44
48
76
86
106
112
120
126
132
146
ONCE TO BE REALISED
TRANSSTIMME
OPERA, OPERA, OPERA!
revenants and revolutions
M — EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER
DAVOR
ACH ! Fast eine Funkoper
SUBNORMAL EUROPE
GROSSE REISE IN
ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG
JOURNAL RAPPÉ
Michael Marmarinos, Sebastian Hanusa:
Der Sprung aus dem Vertrauten 52
The Leap from Familiarity 60
Costis Zouliatis:
Ein reizvoller Gedanke —
NOCH ZU VERWIRKLICHEN 66
A stimulating idea — ONCE TO BE REALISED70
Anja Hilling:
conversations (on time) 77
conversations (on time) 81
Ole Hübner:
Mit den Geistern am Point of NEW Return 88
With the spirits at the Point of NEW Return98
Schorsch Kamerun:
Vorahnungsvoll (Prepper) / Foreboding (Prepper) 107 / 110
Bobby Rafiq:
Davor / Davor (“Before”) 113 / 117
Kathrin Röggla:
Point of NEW Return — NOW / Point of NEW Return — NOW 121 / 124
Hintergründe / Backgrounds 127 / 128
Malte Ubenauf:
Richtungswechsel in den Archiven der Wirklichkeitsfabrik 136
Changing Direction in the Reality Factory Archives138
Keyti Melakh:
AFRICA IS THE FUTURE! / AFRICA IS THE FUTURE! 147 / 151
Zeitgenössisches Musiktheater kann auf vielfältige Art an
aktuelle Diskurse anknüpfen. Die Stadt München bietet mit
der Münchener Biennale eine publikumswirksame Plattform
dafür.
Unter der vieldeutigen Überschrift Point of NEW Return werden
in diesem Jahr wieder wichtige gesellschaftspolitische
Themen in den Kompositionen verhandelt. Es geht um Ausgrenzungserfahrungen
und Rassismus, Populismus und seine
Folgen für die europäische Kulturlandschaft oder auch die
Risiken eines technischen Optimierungswahnes.
Zum international gespannten Netzwerk der beiden Biennale-
Leiter Daniel Ott und Manos Tsangaris gehören auch ganz
junge, neue Positionen. Und der Laborcharakter der
Münchener Biennale spiegelt sich in zahlreichen ungewöhnlichen
Projekten wider. Sie durchbrechen
traditionelle Entstehungsformen von Musiktheater,
verändern sie und entwickeln sie weiter.
Das Publikum erwarten jedes Mal neue Erfahrungen,
die unsere Hör- und Sehgewohnheiten erweitern.
Mit »ACH ! Fast eine Funkoper« wird die bewährte
Kooperation mit der Münchner Volkshochschule
fortgesetzt, die einen partizipativen Zugang gewährt.
Gerade in der aktuellen, vom Corona-Virus geprägten Zeit –
in der derzeit noch weitgehend offen ist, wo, wann und wie die
einzelnen Projekte des Festivals umgesetzt werden können –,
gilt ganz besonders, dass die diesjährige Münchener Biennale
an den Mut zum Experiment appelliert.
Anton Biebl
Kulturreferent der Landeshauptstadt München
Contemporary music theatre can pick up on
current discourses in a whole host of different
ways. The city of Munich offers it a platform
that is a huge audience magnet: the Munich
Biennale.
This year, important socio-political themes
will once again be discussed in the compositions,
under the polysemic title Point of NEW
Return. These themes will include experiences
of marginalisation and racism, populism and
its consequences for the European cultural
landscape as well as the risks of technical
optimization mania.
The international network of the two Biennale directors, Daniel Ott
and Manos Tsangaris, also includes very young, new artistic
practice. In addition, the Munich Biennale’s spirit of experimentation
is reflected in numerous unusual projects.
These move beyond, transform and continue to develop
traditional modes of creating musical theatre.
With every performance the audience will encounter
new experiences that expand our listening and viewing
habits. “ACH ! Fast eine Funkoper” (“ACH ! Almost a radio
opera!) continues the tried-and-tested cooperation
with Munich’s Volkshochschule, enabling a participatory
approach.
Especially in the current era marked by the
coronavirus–in which it is still largely unclear
where, when, and how the festival’s individual
projects can be produced and staged–it is
particularly important that this year’s Munich
Biennale calls on people to have the courage
to experiment.
Anton Biebl
Head of the Cultural Department of the City of Munich
Festivalteam / Partner & Förderer, Medienpartner / Impressum 158–160
5
Münchener Biennale 2020/21
Point of NEW Return
Es scheint im Leben zu viele Einbahnstraßen zu geben. Eigentlich
ist alles unumkehrbar. Ökonomische, soziale und ökologische
Bewegungsrichtungen, die sich auf fatale Weise nicht
mehr korrigieren lassen. Wir sind wohl über Grenzen hinausgeschossen,
die eine Umkehr unmöglich machen? Die Kunst
wird da über Nacht keine Abhilfe schaffen.
Aber vielleicht, da von Hause aus mit neuen Problemlösungen
befasst, kann sie Möglichkeitsräume öffnen oder vielleicht
sogar — wie im Modellversuch — neue brauchbare Denkansätze
schaffen? Und sei es »nur« in der Frage individueller und gesellschaftlicher
Sensibilisierung und Bewusstwerdung?
Man könnte das Phänomen des Komponierens auch beschreiben
als eine Praxis, die sich Probleme schafft, um unterschiedliche
Lösungsmöglichkeiten zu erfinden und auszuprobieren.
Das, was erst einmal nur im scheinbar luftleeren Raum, fern
der harten Lebensrealität stattfindet, gewinnt hierdurch Relevanz
und Präzision.
Denn es müssen Ansätze geschaffen werden, die
möglicherweise in Bereiche vorstoßen können,
deren Bewegungs-Gesetze sonst streng geregelt
sind. Oft nach ökonomischen Gesichtspunkten,
vor allem auch nach Profit-Interessen.
Zu dem Thema und der Fragestellung Point of NEW
Return haben internationale Komponierende und
Kunstschaffende für die diesjährige Münchener Biennale eine
Reihe vielfältiger und intensiver Lösungsansätze entworfen.
Hierbei gibt es keinen ästhetischen oder ideologischen Kamm,
über den alles gekämmt wurde. Aber es gibt — bei aller Diversität
— rundum die Ein- und Zuversicht, dass gerade im spielerischen
Tun und Kreieren unsere Chance liegt, offensichtlich
festgefahrene Prozesse neu zu denken und zu bewegen.
Hierfür soll dieses Festival immer wieder den notwendigen,
geschützten Spielraum bilden.
Durch die aktuellen Ereignisse der letzten Wochen bekam der
Titel unseres Festivals beinahe prophetischen Charakter. Einschränkungen
des öffentlichen und privaten Lebens bedeuten
für alle ein Innehalten, das mal als Stillstand und mal als Überdenken
und Überprüfen des Bisherigen empfunden wird. Die
wirtschaftlichen Folgen der Krise sind bereits für viele spürbar,
große wirtschaftliche Verluste sind zu erwarten. Zugleich
werden durch den Stillstand von Verkehr und Tourismus die
Klimaziele in diesem Jahr übertroffen. Was lange nicht möglich
schien, eine Umkehr, eine Veränderung des wachstumgetriebenen
Kapitalismus ist nun — erzwungenermaßen — möglich
und lässt erkennen, was verzichtbar ist und was wirklich
relevant. Dieser derzeitige Point of NEW Return, an dem wir
alle stehen, wird uns und unser Leben verändern. Zwar ist an
kulturelle Veranstaltungen im Moment nicht zu denken, über
Nacht sind alle Nachrichten fast ausschließlich mit der globalen
viralen Lage und ihren Folgen befasst. Aber wir merken
schon jetzt, wie überlebensnotwendig für alle zuhause
Bleibenden die Beschäftigung mit sinnstiftenden,
transzendenten und damit künstlerischen Fragen
und Gegenständen ist.
In Absprache mit unsern Kooperationspartnern
haben wir beschlossen, auf die Herausforderung
flexibel zu reagieren. Die diesjährige Ausgabe der
Münchener Biennale wird dynamisch. Uraufführungen
können ausnahmsweise auch an Häusern außerhalb
Münchens stattfinden. Diese Premieren sind Teil der nun »erweiterten«
Biennale und werden später, wenn irgend möglich,
auch in München gezeigt.
Unser »SALON DES WUNDERNS UND DER SICHTEN«, ursprünglich
geplant für zehn Abende im Mai, wird nun als verbindendes
Element über längere Zeit hinweg an unterschiedlichen
Orten produziert und ins Netz gestellt werden. Er ist eine
Art »Cursor« im ansonsten dezentralen, dynamischen Festival-Raum,
aktuelle Plattform der Kommunikation und des
Gesprächs mit Gästen.
Wir möchten der Stadt München danken für ihren Mut und ihr
Interesse, die nachhaltige Unterstützung und für ihre Zuversicht,
dem neuen Musiktheater jenen Raum zu geben, der erst
durch Spiel, Forschung und Risiko belebt wird.
Wir danken allen Sponsoren und Förderern für ihr inhaltliches
Mitdenken und außergewöhnliches Engagement.
Als Künstlerische Leiter genießen wir zusammen mit unserer/m
Dramaturg*in den Luxus, mit dem fantastischen und
leidenschaftlichen Produktionsteam von Spielmotor zusammenzuarbeiten,
dem wir insgeheim jeden Tag danken, hier
aber noch einmal ausdrücklich!
Unser ganz besonderer Dank gilt allerdings den herausragenden
künstlerischen Mitwirkenden dieses Festivals!
Daniel Ott und Manos Tsangaris,
Künstlerische Leitung der Münchener Biennale —
Festival für Neues Musiktheater
Wir hoffen, dass so vielleicht für alle Beteiligten ein NEW Return
möglich wird.
6 7
Munich Biennale 2020/21
Point of NEW Return
There seem to be too many one-way streets in
life. Actually, everything is irreversible. Economic,
social and ecological trajectories,
which, fatally, can no longer be corrected.
Perhaps we have overstepped borders that
make it impossible to turn back?
Art will not be able to remedy this overnight.
But perhaps, as it is inherently concerned
with new solutions to problems, art can open
up new spaces of possibility or perhaps even—
as if in a pilot project—create viable new approaches?
Even if it is “just” a matter of individual
and social awareness-raising and realisation?
The phenomenon of composing could also be
described as a practice that creates problems
for itself in order to invent and try out various
possible solutions. As a result, a process that
in the first instance only unfolds in an apparent
vacuum, far from life’s harsh realities,
gains relevance and precision.
As a result of developments in current affairs
over the last few weeks, our festival’s title has
become almost prophetic. Restrictions in our
public and private lives means things have
paused for all of us, which is sometimes experienced
as a standstill and sometimes as rethinking
and reviewing all that came before.
Many people are already feeling the economic
consequences of the crisis and there are
likely to be huge economic losses. At the same
time, as transport and tourism have ground to
a halt, this year’s climate targets will be
over-fulfilled. Something that long seemed
impossible, namely a turn-around, a transformation
of growth-driven capitalism has
now—under duress—become possible and allows
us to identify what is we can do without
and what is really relevant. This current Point
of NEW Return at which we all find ourselves
will change us and our lives. Cultural events
are indeed out of the question at the moment;
overnight the news is almost exclusively about
the global situation vis-à-vis the virus and its
consequences. Yet it is already apparent how
crucial it is for everyone staying home to be
able to engage with meaningful, transcendent
and therefore artistic questions and subjectmatter.
In consultation with our cooperation partners,
we have decided to react flexibly to this challenge.
This year’s edition of the Munich Biennale
will be dynamic. World premieres may
exceptionally be held at venues that are not in
Munich. These premieres are part of the now
“expanded” Biennale and will, if at all possible,
also be shown in Munich later.
Our “SALON DES WUNDERNS UND DER
SICHTEN” (“Salon of Wonders and Views”),
originally planned for ten evenings in May,
will now be produced in a range of locations
over a longer timeframe and showcased on the
Internet. It will function as a connecting link
and be a kind of “cursor” in the decentralized,
dynamic festival space, a topical platform for
communication and discussion with guests.
We hope that this will perhaps make a NEW
Return possible for all those involved.
We should like to thank the City of Munich for
its courage and interest, its sustained support
and its confidence in giving new music theatre
the kind of space that is only brought to
life through performance, research and risk.
We would like to thank all sponsors and supporters
for their cooperative input to the programme
and their exceptional commitment.
As Artistic Directors, we, together with our
Dramatic Advisors, enjoy the luxury of working
with the fantastic and passionate production
team at Spielmotor; we are quietly aware
of our gratitude to them every day, but would
like to thank them explicitly here once again!
And a very particular thank you must certainly
go to the outstanding artistic contributors
to this festival!
Daniel Ott and Manos Tsangaris,
Artistic directors,
Munich Biennale —
Festival of New Music Theatre
8
For approaches must be created that can perhaps
push forward into areas whose laws of
motion are strictly regulated in every other
respect. Often such regulation is rooted in economic
considerations, also above all profitrelated
concerns.
For this year’s Munich Biennale, international
composers and artists have developed a series
of diverse, intensive approaches to Point of
NEW Return as a theme and question.
In this context there is no aesthetic or ideological
common denominator with which
everything tallies. Yet, for all the diversity,
there is an awareness and confidence on all
fronts that it is precisely in playful action and
creation that we have an opportunity to rethink
and shake up processes that have apparently
become deadlocked.
This festival seeks again and again to provide
the protected space needed for that endeavour.
»ONCE TO BE REALISED«
PROJ. 32 / PIANO: THE PIANIST – ACTOR PERFORMER
© Samir Odeh-Tamimi
9
»ONCE TO BE REALISED«
NOW
© Barblina Meierhans
10 11
Herfried Münkler zählt zu den renommierten Politikwissenschaftlern
in Deutschland. Er lehrte bis zu seiner Emeritierung 2018
an der Berliner Humboldt-Universität Politikwissenschaften, sein
Schwerpunkt ist die Politische Theorie und Ideengeschichte.
Er ist Autor zahlreicher Sachbücher.
— Text erhalten am 28. Januar 2020
ABSTIEGS-
ÄNGSTE,
NIEDERGANGS-
SZENARIEN,
KATASTROPHEN-
VISIONEN
UND DIE
CHANCEN
UTOPISCHEN
DENKENS
Von Herfried Münkler
Wie Mehltau hat sich eine pessimistische Grundstimmung auf
Land und Leute gelegt, eine Melange aus resignativer Melancholie
und einem wilden, eher verzweifelten als politisch
durchdachten Aufbegehren gegen eine Ökonomie und deren
Ressourcenverbrauch, die, wenn das so weiter geht, aller Voraussicht
nach zu einer ökologischen Katastrophe führen werden
— wenn sie das nicht bereits getan haben. Neben den melancholisch
Resignierten und den sich der drohenden Katastrophe
Entgegenstemmenden gibt es freilich noch die zuletzt
erheblich angewachsene Gruppe derer, die alle
Mahnungen und Warnungen für ein unbewiesenes
Katastrophengerede halten und auf ein uneingeschränktes
»Weiter so« setzen. Es gibt außerdem
noch eine vierte Gruppe, die jedoch im Verlauf
der letzten Jahrzehnte zunehmend kleiner geworden
ist. Das sind jene, die auf den »Stoffwechsel«
zwischen Mensch und Natur grundlegend verändernde
wissenschaftliche und technologische Durchbrüche, Erfindungen
und Innovationen setzen und von ihnen die Lösung der
andrängenden Herausforderungen erwarten. Bei ihnen, so
scheint es, handelt es sich um die letzten Utopisten, um Leute
also, die in den gegenwärtigen Entwicklungspotentialen die
Chancen für eine gute, eine bessere Zukunft sehen — wenn diese
Chancen denn kreativ und zielstrebig genutzt werden.
Diese sich überlagernden und bei medialen Erschütterungen
ineinanderfließenden Stimmungslagen haben zu einer tendenziellen
Selbstblockade der Demokratien westlichen Zuschnitts
geführt, in denen zwar ständig darüber geredet wird,
dass man dringend etwas gegen den Klimawandel und den
Schwund der Biodiversität tun müsse, woraufhin dann aber
wenig getan wird. Und wenn, dann sind diese Maßnahmen
sogleich mit entschiedenem Widerstand konfrontiert, entweder
weil sie in die Lebensweise vieler Menschen tief eingreifen,
oder weil bezweifelt wird, dass sie erreichen, was sie bewirken
sollen. Infolge dieser Mischung aus Unentschlossenheit
und Selbstblockade ist die westliche Demokratie inzwischen
selbst in die Krise geraten. Zusehends machen sich
Zweifel daran breit, dass diese Form der Organisation des
Politischen in der Lage sei, den gegenwärtigen wie zukünftigen
Herausforderungen zu genügen. In weiten Teilen der Welt
ist inzwischen nicht mehr der demokratische Verfassungsstaat
das politische Vorbild, an dem sich die Menschen
orientieren, sondern an seine Stelle ist das chinesische
Modell getreten, eine Kombination aus Hierarchie
und Ideokratie, in dem eine Elite aus Parteipolitikern
und Experten mit dem Anspruch
auftritt, genau zu wissen, was zu tun sei und wohin
die Entwicklung gehen solle, wobei sie sich in
der Umsetzung ihres Willens durch nichts und niemanden
aufhalten lässt. Es ist nicht auszuschließen,
dass dieser Typ politischer Organisation zum letzten politischen
Sammler und Träger des Utopischen wird — jedenfalls
dann, wenn man das Utopische als wesentlich technokratisch
begreift und es als die einzig überzeugende Reaktion auf die
hereinbrechenden Katastrophen begreift, die das Überleben
der Menschheit in Frage stellen.
Die Ausbreitung einer pessimistischen Grundstimmung in Europa,
zumal in Deutschland, die Mischung aus Apathie und
Hysterie, Tatenlosigkeit und Dauererregtheit, ist umso bemerkenswerter,
als die Ergebnisse demoskopischer Umfragen wie
die sozialstatistischen Daten selbst übereinstimmend zeigen,
dass es der überwiegenden Mehrheit der Deutschen gut geht
und diese mit ihrer Lage durchaus zufrieden ist. Nicht die Gegenwart,
sondern die Zukunft ist für sie das Problem: Es geht
einem gut, aber man ist davon überzeugt, dass dies schon
bald nicht mehr der Fall sein wird. Zwischen Erfahrungsraum
12 13
Die Inversion von Utopie und Nostalgie
Die politische Linke spricht vom sozialen Abstieg ganzer
Schichten, die Rechte vom schrittweisen Niedergang Deutschlands
und von einer Bedrohung des »Abendlands« infolge der
Migration und des Hereinkommens von Fremden. Die Ökologiebewegung
wiederum beschwört eine Katastrophe von apokalyptischen
Dimensionen, wenn nicht sofort und radikal
eine Umkehr gelinge, die auf eine endgültige Verabschiedung
vom bisherigen Lebensstil in den reichen Ländern hinauslaufe.
So unterschiedlich diese Bedrohungsszenarien von Begründung
wie Zielrichtung her auch sein mögen — in einer Hinsicht
laufen sie auf dasselbe hinaus: dass schon bald Schluss ist mit
dem Wohlstand, wie wir ihn bislang genossen haben. Am zuversichtlichsten
ist in dieser Hinsicht noch die politische Linke,
stellt sie doch in Aussicht, dass bei einer anderen Verteilung
der Vermögen und Einkommen alles wieder gut werden
könne: der soziale Abstieg werde gebremst und die prekären
Existenzen würden beendet. Das klingt beruhigend —
und ist zugleich der vielleicht stärkste Indikator für
die Erschöpfung der utopischen Energien: Die
Linke ist von ihrer politischen Programmatik her
konservativ geworden. Was sie anstrebt ist, dass
alles wieder so wird, wie es einmal war: Normalarbeitsverhältnisse
und Deutschland eher eine
Industrie- als eine Dienstleistungsgesellschaft.
Dass die politische Rechte eine im Kern antimodernistische
Politik vertritt, ist wiederum nicht überraschend:
Rückkehr zum klassischen Nationalstaat mit seiner ethnischen
und kulturellen Homogenität, scharfe Abgrenzung von
eigen und fremd, Wirtschaftsprotektionismus, Ausstieg aus
der Globalisierung, Rückgewinnung der Kontrolle über Grenzen.
Wenn alles wieder so wird, wie es einstmals war, könne
der Niedergang verhindert und der drohende Untergang abgewendet
werden. Man kann das als rückwärtsgewandte Utopie
bezeichnen; in jedem Fall handelt es sich um eine Inversion
von Utopie und Nostalgie.
Blickt man zurück auf die Geschichte der periodisch auftretenden
Niedergangs- und Untergangsvorstellungen sowie
der sich wellenförmig ausbreitenden Angst in deren Folge, so
zeigt sich, dass nicht zuletzt die Beschwörungen von Abstieg
und Niedergang selbst in Katastrophen und Untergänge geführt
haben — nicht nur in Deutschland, aber hier in besonders
dramatischer Form. Vor Niedergangsdiagnostikern und Unterund
Erwartungshorizont, um das von dem Historiker Reinhart
Koselleck geprägte Begriffspaar aufzugreifen, gibt es keine
Überbrückungen mehr bzw. was davon noch vorhanden ist,
wird als einsturzgefährdet angesehen. Das Fortschrittsbewusstsein,
das die westlichen Gesellschaften in der zweiten
Hälfte des vergangenen Jahrhunderts getragen hat, ist verschwunden,
und die Strickleitern des Utopischen, mit
denen in der Vergangenheit Schluchten und Abgründe
überwunden wurden, sind so marode geworden,
dass sich kaum einer noch auf sie verlassen
möchte. Zu Beginn der 1990er Jahre schon hat
Jürgen Habermas von einem Versiegen der utopischen
Energien gesprochen. Das war damals, nach
dem Scheitern des Realsozialismus, darauf bezogen,
dass sich nur noch wenige eine andere Zukunft
vorstellen konnten als die globale Ausdehnung von Kapitalismus
und Demokratie. Das war gewissermaßen die letzte
große Utopie: Wenn es überall so wäre, wie es bei uns jetzt
schon ist, würde alles gut werden. Damit hatte die Selbstzufriedenheit
sich des Utopischen bemächtigt. Der jetzt vorherrschende
Pessimismus ist die Quittung dafür.
gangspropheten muss gewarnt werden. Der von Oswald
Spengler am Ende des Ersten Weltkriegs diagnostizierte »Untergang
des Abendlandes« hat mit dazu beigetragen, dass Europa
gut zwei Jahrzehnte später tatsächlich am Rande des
Untergangs stand — auch darum, weil sich viele aus der gesellschaftlichen
Mitte auf das von Spengler nahegelegte Rezept
der neuen Caesaren eingelassen hatten und einem solchen als
vorgeblichem Retter gefolgt waren.
Historische Erinnerung als Kompensation für fehlende Utopien
Davon sind wir in Deutschland, jedenfalls zurzeit — noch?—
weit entfernt. Nach wie vor schrecken die Spuren vergangener
Marschbewegungen zur Abwehr von Niedergang und Untergang.
Diese Imprägnierung durch die geschichtliche Erinnerung
hat viel zur politischen und sozialen Stabilität der alten
Bundesrepublik wie des wiedervereinigten Deutschland beigetragen.
Historische Erinnerung kann, wenn sie klug
aufbereitet ist, eine Kompensation für das Fehlen
von Utopien und die Schwäche von Fortschrittsvorstellungen
sein — ein Funktionsäquivalent,
dessen Wirkung freilich zeitlich begrenzt ist und
das gegen die von links wie rechts andrängenden
Ängste einen wesentlich defensiven Charakter hat.
Es vermag Ängste zu dämpfen und auf das Niveau
latenter Sorge, der kleinen Schwester der Angst, zurückführen.
Aber große Zuversicht in die eigene Handlungsfähigkeit,
in die Fähigkeit, sich der Zukunft zu vergewissern
und ihrer zu bemächtigen, vermag sie nicht hervorbringen.
Die Versicherung, dass Bonn und nach ihm Berlin »nicht Weimar«
seien, mag beruhigen, aber es bleibt doch der Zweifel, ob
diese Feststellung für alle Zeit Geltung hat. Dementsprechend
hat sich breitgemacht, was man als kontemplative Melancholie
bezeichnen kann — eine Konstellation des »Dazwischen«,
des noch Unausgemachten. Denn es ist klar, dass das Betrachten
und Zuschauen durch tätiges Handeln abgelöst und die
Melancholie nach einiger Zeit durch eine neue Zuversicht ersetzt
werden muss. Das wird kaum möglich sein ohne einen
großen Schuss utopischer Energie, mit der wir uns ein Bild
machen von der anzustrebenden Zukunft.
14 15
Fiktionen des Alternative
Nun haben wir es jedoch seit langem mit einer Krise der
Utopie zu tun, deren Ende vorerst nicht abzusehen ist. In der
Geschichte ihrer Einflussnahme auf das sozio-politische Denken
hat die Utopie immer wieder ihre Gestalt gewechselt: von
den Entdeckungen des Kolumbus bis ins späte 18. Jahrhundert,
als die beiden Hemisphären des Globus weitgehend kartographiert
waren und auch die vielgestaltige Welt der Südsee entdeckt
und beschrieben war, wurde die Utopie als ein Ort gedacht,
der abseits der uns bekannten Welt lag und an dem fast
alles anders war, als die Zeitgenossen es für selbstverständlich
hielten. Den Europäern wurde ein Spiegel vorgehalten, und in
diesem Spiegel sahen sie, was an ihrer eigenen gesellschaftlichen
Ordnung misslungen und veränderungsbedürftig war. Als
literarische Fiktion präsentiert, waren diese Utopien Hinweise
auf die Reformbedürftigkeit des Gewohnten, und gelegentlich
waren sie auch Impulse zu dessen revolutionärer Veränderung.
Sie waren ein im Raum angesiedeltes Gedankenexperiment
über Alternativen zum Bestehenden.
Ende des 18. Jahrhunderts war die Welt dann
entdeckt und erforscht, und die literarische Fiktion
des Alternativen wanderte aus dem Raum
hin über in die Zeit. Aus der Utopie wurde die
Uch ro nie. Statt des Unentdeckten wurde die Zukunft
zum Ort eines möglichen Besseren, und von
nun an begaben sich die literarischen Protagonisten
des Utopischen auf eine Zeitreise, um in der Zukunft alternative
Formen des Zusammenlebens zu entdecken. In der
Science- Fiction-Literatur bzw. den diese Literatur ablösenden
Filmen hat das bis heute überlebt. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts
mischte sich ins Utopische jedoch das Dystopische.
Man spricht auch von Warnutopien, wenn der Wunschtraum
zum Albtraum wird und wenn das, was als Zukunft daherkommt,
als ein unter allen Umständen zu Vermeidendes präsentiert
wird. Huxleys Schöne neue Welt und Orwells 1984
stehen für diesen Typ von Warnutopie. Sowohl der wissenschaftlich-
technologische Fortschritt als auch die Neuorganisation
der Gesellschaft wurden in diesen Dystopien zu Kräften,
die der Freiheit und dem Glück der Menschen entgegenstanden.
Die Utopie wurde skeptisch gegenüber dem, was sich
mit ihrer Hilfe herstellen ließ und was in Verfolgung des von
ihr angezeigten Weges auf uns zukommen konnte. Das war
der zweite Gestaltwandel der Utopie.
»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«
Six Memos from the Last Millennium; I. Silencing
© Yair Klartag (2020)
16 17
Parallel dazu vollzog sich ein weiterer Gestaltwandel, bei dem
sich der utopische Entwurf aus einem Vorbild für alle Menschen
in einen Lebensentwurf für Einige verwandelte, und
zwar solche, die sich als moralische Elite verstanden und
durch ihr Vorbild andere dazu bewegen wollten, ihnen auf
ihrem Weg zu folgen. Das reichte von den Lebensreformbewegungen
der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert
bis zu den Kommunen der 1960er und
1970er Jahre. Ihnen allen war jedoch gemeinsam,
dass sie keine lange Lebensdauer hatten und kaum
eine Bewegung hat die Gründergeneration überdauert.
Ohnehin handelte es sich nicht selten um
eskapistische Projekte, in denen begrenzte Personengruppen
sich den gesellschaftlichen Zwängen entzogen,
ohne dass sie damit Veränderungserwartungen für
die Gesamtgesellschaft verbanden. Die Utopie, durch das Projekt
der Realisierung des Sozialismus und die Schaffung eines
»neuen Menschen« ohnehin schwer gebeutelt, zog sich in die
Nischen der Gesellschaft zurück.
Utopien unter Zeitdruck
Die ökologische und die feministische Bewegung haben
der Verbindung von politischen Zukunftsentwürfen und nicht
zuletzt moralischen Sollensvorstellungen, wie man die Utopie
ja auch beschreiben kann, zwischenzeitlich noch einmal auf
die Beine geholfen. Aber auch da hat sich der anfängliche
Enthu siasmus mit dem Beginn der Projektrealisierung schnell
verflüchtigt. Die utopischen Entwürfe sind unter kurzfristige
Realisierungserwartungen geraten, und so fehlt ihnen die Zeit,
genauer durchdacht zu werden. Kaum formuliert, werden die
Utopien schon mit den Zerwürfnissen und Problemen bei ihrer
Verwirklichung konfrontiert. Offensichtlich hat diese Kurzatmigkeit
zum Versiegen der utopischen Energien entscheidend
beigetragen: Die utopische Zukunft bekommt keine Zeit,
ausfabuliert zu werden, sondern gerät sogleich unter politischmora
lischen Realisierungszwang, der verhindert, dass sie im
Medium der Erzählung durchbuchstabiert werden kann. Das
war bei den in ferne Räume und noch fernere Zeiten
hineingestellten Wunschbildern ganz anders, denn
hier war von vornherein klar, dass sie sich nicht
umgehend realisieren ließen. Und weil das so war,
handelte es sich bei diesen Wunschräumen und
Wunschzeiten eher um Anregungen für langfristig
angelegte Reformprozesse und nicht um Baupläne
und Gebrauchsanweisungen für umgehend
einzurichtende neue Gesellschaften. Die Utopisten
durften früher Erzähler bleiben und der Raum des Imaginativen
stand ihnen lange Zeit offen, während sie heutzutage sogleich
in die Rolle von Gesellschaftskonstrukteuren gedrängt
werden.
Mit der Ausbreitung von Abstiegsängsten, Niedergangsszenarien
und Untergangsvisionen ist der auf potentiellen
Utopieentwicklern lastende Zeitdruck noch größer geworden.
Die Vorstellungen von Abstieg und Niedergang sind nicht nur
das Gegenteil utopisch ausgestalteter Erwartungen. Es sind
gleichsam Gegenentwürfe, die um diskursive Aufmerksamkeit
kämpfen. Sie verhindern durch den von ihnen erzeugten
Zeitdruck auch, dass Utopien überhaupt entwickelt und ausfabuliert
werden können. Insofern steht es schlecht um die Erwartung,
dass die Quellen des Utopischen demnächst wieder
fließen. Je stärker sich die Katastrophenvorstellungen ausbreiten,
desto fester sind die Quellen des Utopischen verstopft.
Es kommt hinzu, dass unter dem Eindruck der inzwischen
überschrittenen »Grenzen des Wachstums« die Utopie nicht
länger auf eine Steigerung des materiell Verfügbaren setzen
kann, sondern, wenn sie eine Antwort auf die bedrängenden
Herausforderungen sein soll, sich in Knappheit und Mangel
einrichten muss. Die überwunden geglaubten Krisen
der alten Gesellschaft, Missernten infolge von Wetterunbill
und Klimaschwankungen, sind zurückgekehrt,
und wir werden uns mit ihnen zukünftig
nicht weniger beschäftigen müssen als mit den
Verwertungskrisen des akkumulierten Kapitals,
wie sie für den Kapitalismus typisch sind. Das wäre
eigentlich eine hinreichend große Herausforderung
für die utopische Phantasie, doch ist zweifelhaft, ob
diese mit den ihr eigenen Mitteln darauf überzeugende Antworten
geben kann. Es könnte sein, dass die Ära des Utopischen
mit dem Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert definitiv
zu Ende gegangen ist.
18 19
Funktionsäquivalente utopischer Phantasie
Sollte das zutreffen, so ist das freilich kein Grund, melancholischer
Resignation das Feld zu überlassen; vielmehr nötigt
es zur Suche nach Funktionsäquivalenten für das, was
bisher die utopische Phantasie beim Brückenbau zwischen
Erfahrungsraum und Erwartungshorizont gewesen ist. Das
könnte wissenschaftliche Expertise sein, die mit ihren Fähigkeiten
sehr viel weiter in die Zukunft zu schauen vermag als
früher und die dabei eine deutlich präzisere Antizipationsfähigkeit
hat als die utopische Phantasie — eine andere Form
dessen, was Friedrich Engels einmal als den Ȇbergang von
der Utopie zur Wissenschaft« bezeichnet hat. Im Unterschied
zur Utopie vermag die Wissenschaft freilich
nur das zu prolongieren, was sich der Sache
nach bereits jetzt zeigt. Die wissenschaftliche
Antizipation allein zeigt darum weder Alternativen
auf noch weist sie Auswege. Das ist die Aufgabe
politischer Klugheit, die durchaus mit einem
Schuss utopischer Phantasie angereichert sein
kann. Unbedingt zu vermeiden ist freilich, dass diese
politische Klugheit durch die Dramatisierung von Krisen
und sich abzeichnenden Katastrophen, durch die Propheten
des Niedergangs und Untergangs, unter Zeitdruck gesetzt und
zu überstürzten und vorschnellen Entscheidungen genötigt
wird. Die antizipierten Entwicklungen mögen besorgniserregend
und gefährlich sein. Hektische Unbesonnenheit jedoch
hilft dem nicht ab, sondern macht alles nur noch schlimmer.
Demokratische Deliberation, die alles, was zu beachten ist,
ins Kalkül einbezieht, könnte sich darum zuletzt doch noch
den schnellen Entscheidungen autoritärer Eliten, also dem
chinesischen Modell, als überlegen erweisen.
»OPERA, OPERA, OPERA! revenants and revolutions«
Skizzen
© the paranormal ○| eer group (Jakob Boeckh & Maria Huber & Ole Hübner)
20 21
Like mildew, a pessimistic prevailing mood
has come over the country and its people, a
mélange of resigned melancholy and a wild,
rather more despairing than politically well
thought-out protest directed against an economy
and its consumption of resources, which,
if it continues on like this, according to every
foresight will lead to an ecological catastrophe—if
it hasn’t done that already. In addition
to the melancholic people who have resigned
and those trying to stop the threatening catastrophe,
there are indeed still the recently
considerably consolidated group of those who
feel all of the appeals and warnings about catastrophes
are unproven idle talk and who rely
on an unrestrained attitude of “carry on.” In
addition, there is a fourth group that, however,
has become increasingly smaller over the
course of the last decades. This group consists
of those who count on the “metabolism”
between humans and nature based on factors
that can change things, such as scientific and
technological breakthroughs, inventions,
and innovations, and they expect from these
the solution to the pressing challenges. It appears
they are the last utopists, persons who,
in other words, see in the present potentials
of advancements the chances for a good, for
a better future—if these opportunities will be
used creatively and determinedly.
the rope ladders of utopia, with which ravines
and chasms were overcome in the past,
have become so dilapidated that hardly anyone
would like to rely on them anymore. At
the beginning of the 1990s Jürgen Habermas
already spoke of utopian energies drying up.
That was a reference at that time after the failure
of real socialism to the fact that only a
very few could still imagine a different future
than the global expansion of capitalism and
democracy. That was, in a manner of speaking,
the last grand utopia: if everywhere were
like it is already here now, then everything
would become fine. With this, self-satisfaction
usurped utopia. Today’s prevailing pessimism
is the payoff for this.
The Inversion of Utopia and Nostalgia
The political left-wing talks about the
social decline of entire social classes, the
right-wing talks about Germany’s progressive
decline and the threat to the “occident”
resulting from migration and foreigners entering
the country. The ecology movement,
on the other hand, conjures up a catastrophe
of apocalyptic dimensions if an immediate
and radical reversal isn’t successful, which
amounts to bidding a final farewell to the
previous way of life in the affluent countries.
As different as these scenarios of imminent
menaces are in their explanatory statements
as well as in their objectives may be, in one
respect they amount to the same thing: that
very soon the prosperity we have enjoyed up
until now will be over. The political left-wing
is the most confident about this, as it promises
that if wealth and income are distributed
differently everything could become better
again: social decline will slow down and precarious
existences will cease to be precarious.
That sounds reassuring—and is, at the
same time, perhaps the strongest indicator of
the exhaustion of utopic energies: the left has
become conservative in its political program.
What they are striving for is that everything
should become as it once was: normal working
conditions and Germany as a more or less
industrial society rather than a society based
on the provision of services. That the political
right-wing in its core represents anti-
These overlapping and, when media shocks
occur, converging moods have resulted in a
tendentious self-blockade of Western-style
democracies, where there may be constant discussions
that one has to urgently do something
about climate change and the disappearance
of biodiversity, whereupon then there is very
little that is done. And if something is done,
then these measures are instantly confronted
modern politics is, on the other hand, not surprising:
a return to the classic nation state
with its ethnic and cultural homogeneity, a
sharp demarcation between domestic and
foreign, protectionism, abandoning globalization,
and regaining control over borders.
When everything becomes the way it once
was, decline could be prevented and the imminent
downfall averted. One can call this a
reactionary utopia; in any case, it has to do
with an inversion of utopia and nostalgia.
If one looks back at the history of the
periodically appearing notions of decline
and demise, as well as the resulting anxiety
spreading like waves, it appears that in the
long run the invocation of descent and downfall
itself has led to catastrophes and downfalls;
not only in Germany, but here it has an
especially dramatic form. One must be warned
against decline diagnosticians and downfall
prophets. The “demise of the occident” as
diagnosed by Oswald Spengler at the end of
the First World War contributed to the fact
that Europe actually did teeter at the brink of
demise a good two decades later—also because
many from of the heart of society had
ingested the formula suggested by Spengler
concerning the new “Caesars” and had followed
one of them in the belief he was such an
ostensible savior.
Historical Memory as Compensation for the
Lack of Utopias
We in Germany are far—still?—from this,
at this moment in time in any case. The traces
of past movements involving marches still
stir up a defense against decline and demise.
This impregnation through historical memory
contributed much to the political and so-
with decisive resistance, either because they
interfere too deeply in the way of life of many
people, or because people doubt that the measures
will accomplish what they should effectuate.
The result of this mixture of indecisiveness
and self-blockade is that in the meantime
Western democracy itself has entered a crisis.
Doubts are increasingly spreading whether
this form of political organization is capable
of coping with the present challenges as well
as future challenges. In the meantime in very
many parts of the world a democratic constitutional
state is no longer the political ideal
that people orientate themselves to, but rather
the Chinese model has taken its place, a combination
of hierarchy and ideocracy where an
elite made of party politicians and experts
present themselves and claim to know precisely
what should be done and in which direction
developments should go, and all the time they
do not allow anything and anyone to stop
them in realizing their will. It cannot be precluded
that this type of political organization
will become the last political collector and
medium of utopia—at any rate when one comprehends
utopia as essentially technocratic
and as the sole convincing reaction to the irruptive
catastrophes that place in question the
survival of humanity.
DECLINE
ANXIETIES,
DOWNFALL
SCENARIOS,
VISIONS OF
CATASTROPHES
AND THE
OPPORTUNITIES
OF UTOPIAN
PHILOSOPHY
By Herfried Münkler
The dissemination of a prevailing pessimistic
mood in Europe, particularly in Germany—
this mixture of apathy and hysterics, inaction
and tumultuousness—is even more so remarkable
because the results of demoscopic surveys,
such as social-statistical data, unanimously
show the vast majority of Germans
are well off and absolutely satisfied with their
situation. The problem for them is not the
present but rather the future: One is well off,
but one is convinced that very soon this will
not be the case anymore. Between “space of
expectation” (Erwartungsraum) and “horizon
of experience” (Erfahrungshorizont), to pick
up on the pair of expressions the historian
Rein hart Koselleck coined, there are no stopgaps
any longer, or, to put it another way, what
still exists of them is viewed as being in danger
of collapsing. The awareness of progress,
which supported Western societies in the se c-
ond half of the past century, has vanished, and
cial stability of the old West German republic
as well as to the re-united Germany. Historical
memory can, if it is cleverly processed, be
compensation for the lack of utopias and the
weakness of conceptions of progress—a functional
equivalence whose effect is indeed
limited in terms of time and which has an essentially
defensive characteristic regarding
the growing anxieties from the left as well as
from the right. It may dampen anxieties and
lead back to the level of latent anxiety, the
little sister of fear. Ample confidence, however,
in one’s own ability to act, in the ability
to assure oneself regarding the future and
take possession of it, may not spawn it. The
assurance that Bonn, and after Bonn Berlin,
are “not Weimar” may be soothing, but doubt
remains whether this ascertainment is valid
for all time. Accordingly, what one can refer
to as “contemplative melancholy” has established
itself—a constellation of the “in-between,”
of what has not been agreed upon.
For it is clear that contemplation and observation
must be replaced by operative actions
and this melancholy after a certain period by
a new reassurance. This will hardly be possible
without a large dose of utopian energy,
with which we will create an image of the future
we should aspire to.
Fictions as the Alternative
We have been confronted, however, for a
long time now with a crisis of utopia, and the
end of this crisis is nowhere in sight for the
time being. In the history of its exertion of influence
on socio-political philosophy, utopia
has continuously changed its form: From the
discoveries of Columbus up into the late 18th
century, when the globe’s two hemispheres
were for the most part charted and the polymorphic
world of the South Seas had also been
discovered and described, utopia was conceived
as a place that lay beyond the world we
knew and where almost every thing was different
than what contemporaries considered
to be matter-of-fact. A mirror was held up to
Europeans, and they saw in this mirror what
the failures in their own social order were and
what needed to be changed. Presented as literary
fiction, these utopias were indications of
22 23
Utopias under the Pressure of Time
In the meantime, the ecology and feminist
movements have helped the connection
between the political drafts for the future and
not least the moral conceptions of what
should be (which is how one could also describe
utopia) get back on its feet again. But
here too the initial enthusiasm quickly evaporated
at the beginning of the project’s realization.
The utopian designs were subject to
short-term expectations of realization, and
therefore they lack the time to be thought out
more precisely. They are barely formulated
before the utopias are already confronted
with the discords and problems involved in
their implementation. Apparently this shortwindedness
has contributed decisively to the
ebbing of the utopian energies: the utopian
future doesn’t get the time to be formulated as
a fable, but rather it is immediately subject to
a political and moral compulsion to be implemented,
which prevents it from being able to
be spelled out in a narrative medium. That was
completely different with ideals set in faraway
realms and in times that were even further
away, for here it was clear from the very start
that they couldn’t be realized immediately.
And because it was that way these ideal realms
and ideal times were more or less stimuli for
long-term applied reform processes and not
construction plans and instruction manuals
for new societies that should be immediately
set up. Previously utopists were allowed to remain
storytellers and the realm of the imaginative
was open to them for a long time,
whereas nowadays they are instantly forced
into the role of being builders of society.
With the dissemination of anxieties regarding
decline, scenarios of demise, and
visions of downfall, the time pressure on the
the need to reform the status quo, and they
were also occasionally impulses to a revolutionary
change in the status quo. They were
a thought experiment in a realm, a thought
experiment on alternatives to what existed at
that time.
Then at the end of the 18th century the
world had been discovered and explored, and
the literary fiction of the alternative wandered
from space into time. The utopia became
the “uchronia” (Uchronie). Instead of
the undiscovered, the future became a place
of something possibly better, and from then
on the literary protagonists of utopia went on
a journey through time in order to discover
alternative forms of co-existence in the future.
This has survived until the present day
in science fiction literature and in the films
that replaced this literature. Since the beginning
of the 20th century, however, the dystopian
has been blending into the utopian. One
also talks about warnings concerning utopias
when the desired dream becomes a nightmare,
and when that which comes along as
the future is presented as something to be
avoided under all circumstances. Huxley’s
Brave New World and Orwell’s 1984 are representative
of this type of warnings about
utopias. Scientific-technological progress as
well as the re-organization of society became
forces in these dystopias that oppose
humanity’s freedom and fortune. The utopia
became skeptical of what was created with its
assistance, and of what could come our way
in the pursuit of the path utopia shows us.
That was the second transformation of utopia’s
shape.
Parallel to this, there was another transformation
of shape, where utopian design
transformed from an ideal for all people into
a life plan for a few, namely for the few that
perceived themselves as being a moral elite
and who wanted to incite others to see them
as role models and thus follow their path.
This ranged from the life reform movements
at the turn of the 19th and 20th centuries to
the communes of the 1960s and 1970s. However,
they all shared the common trait that
they didn’t last long and hardly any of them
outlasted the founding generation. In any
case, this very often had to do with escapist
projects, where a narrow group of persons
shunned social constraints and while doing
so weren’t concerned with the expectations of
change to society as a whole. Utopia, already
heavily damaged by the realization project of
socialism and the creation of a “new human
being,” withdrew into the niches of society.
potential developers of utopias has become
even greater. The concepts of decline and demise
are not only the opposite of utopian embellished
expectations. They are quasi the
alternative drafts that are fighting for discursive
attention. Through the time pressure they
generate, they also prevent that utopias can
be developed and worked out as fables at all.
To this extent, it doesn’t look good for the expectation
that the sources of utopia will flow
again soon. The more the concepts of catastrophe
disseminate, the more the sources
of utopia will be clogged up.
In addition to this, under the impression
of the by now exceeded “limits to growth,”
utopia can no longer rely on an increase in the
availability of material, but rather—if it should
be an answer to the menacing challenges—it
has to prepare for shortages and deficiencies.
The crisis of old society (which was believed
to have been overcome), crop failures as a result
of the rigors of weather, and climate fluctuations
have returned, and in the future we
will have to deal with them even more, and to
no lesser degree have to deal with the exploitation
crises of accumulated capital, as is
typical for capitalism. That would actually
be an amply large enough challenge for the
utopian fantasy, but it is doubtful whether
this can provide convincing answers with the
means it has available. It could be that the era
of utopia definitively came to an end with the
transition from the 20th to the 21st century.
Functional Equivalences of Utopian Fantasy
Should this be the case, then this is actually
not a reason to surrender to melancholic
resignation; in fact, it compels to search for
functional equivalences for what previously
had been the utopian fantasy for building a
bridge between the space of expectation and
the horizon of experience. That could be scientific
expertise, which, with its capabilities,
may look much farther into the future than
previously and while doing so has a distinctly
more precise ability to anticipate than utopian
fantasy—another form of that which Friedrich
Engels once described as the “transition
from utopia to science.” Unlike utopia, science
is indeed in fact only able to extend what
is now already showing. For this reason, scientific
anticipation alone doesn’t reveal any
alternatives nor does it point to ways out.
That is the task of political cleverness, which
definitely can be enriched with a dose of utopian
fantasy. Indeed, what must be unconditionally
avoided is that this political cleverness
be exposed to the pressure of time
through the dramatization of crises and impending
catastrophes, through the prophets
of demise and downfall, and be compelled to
make too precipitous and rash decisions. The
anticipated developments may be alarming
and dangerous. Hectic rashness, however,
does not remedy this, but rather makes all of it
even worse. Democratic deliberation, which
integrates into its calculations everything that
needs to be considered, could therefore in the
long run still yet prove to be superior to the
speedy decisions of authoritarian elites, in
other words, the Chinese model.
Herfried Münkler is one of the most
well-known political scientists in Germany.
He taught political science at Humboldt-Universität
zu Berlin until his retirement in 2018;
his specialties are political theory and the
history of political thought. He is the author of
numerous non-fiction books.
— Text received on January 28, 2020
24 25
»SUBNORMAL EUROPE«
Belenish Moreno-Gil & Óscar Escudero
© BELOS Editions
26 27
»Ich habe mich gebessert.
Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.«
Christian Kracht 2002
»You were always going to get used to the
taste of human anyway.«
N. K. Jemisin 2017
IHR
WERDET
EUCH
DIE
WAREN
NOCH
ZURÜCK-
WÜNSCHEN!
Ein paar unangenehme Gedanken zu
Musik, Spiel, Tanz, Film, Besitz und Verbrauch
Von Dietmar Dath
Im März 2020, während der ersten Woche der virenbedingten
Ausgangsbeschränkungen, war mir zuhause nicht nach Spielfilmen.
Anders als Lektüre kann man sie nämlich auch dann,
wenn man sie daheim anschaut, ohne Schaden an ihrer dramaturgischen
Integrität nicht beliebig oft unterbrechen, und die
Konzentrationsfähigkeit, die man braucht, um so einem Film
auf die lange Dauer zu folgen, litt unter der Nachrichtengier,
die mich umtrieb, unter diversen Beklommenheiten auch, unter
großem Verbindungsdurcheinander bei Beruflichem und
normaler menschlicher Aufgekratztheit anlässlich offenkundig
historischer Vorgänge. Dreimal, an drei verschiedenen
Abenden, starrte ich daher gefühlsunsicher und gedankenblockiert
auf meinen Flachbildschirm, während Frederic Rzewski
seine sechsunddreißig Variationen auf die Melodie vom vereinten
Volk, das niemals besiegt werden kann, in ein breites Klavier
mal hineindrosch, mal eher hineinstreichelte. Panisch,
heroisch, dann wieder zart und versponnen arbeiteten sich
seine Finger durchs Material, und ich blieb, dankbar
dafür, dass es das auf DVD gab und ich es besaß,
seltsam unbeteiligt, aber doch versorgt mit etwas,
das ich mir davon erhofft hatte, vielleicht einfach
Zeitvertreib. Das politische Drama dieser Musik,
das seine historische Vorlage bekanntlich in Salvador
Allendes chilenischem Volksfrontversuch
hat, hätte man auch als Theater inszenieren können,
mit Massen, wie sie Nicaragua gerade noch nach (!) der
offiziellen Deklaration des Pandemiestatus der neuen Erkrankung
durch die Weltgesundheitsorganisation auf seinen
Straßen erlebt hatte, vermutlich nicht zum Nutzen der Menschen,
die da zusammenströmten, um ihrer Regierung die
Treue und dem Virus ihren Trotz bekanntzugeben.
Als der Rzewski-Klavierabend sich abgenutzt hatte, stieg ich
auf Musicals um, genauer: Musicalfilme, also Les Misérables
mit Anne Hathaway, Evita mit Madonna, die Singspielfolge
Once More, with Feeling der Fernsehserie Buffy the Vampire
Slayer, solche Sachen. Während ich als Filmkritiker seit Jahren
nicht mit Spitzen gegen die elende Hollywood-Inszenierungsfaulheit
geize, jede Szene musikalisch plump mit orchestralen
Gefühlsverstärkern einzuschmieren, wo doch eine vernünftig
und kunstgerecht iszenierte Szene solche Zusatzstoffe gar nicht
nötig haben sollte, war mir genau diese Musiksoße zum Szeni-
Dietmar Dath ist Schriftsteller, Übersetzer, Musiker und Publizist.
Er veröffentlichte Romane, außerdem Bücher und Essays zu
wissenschaftlichen, ästhetischen und politischen Themen.
Er war Chefredakteur der Zeitschrift Spex und von 2001 bis 2007
Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung,
seit September 2011 ist er dort Filmkritiker.
— Text erhalten am 31. März 2020
schen im Zustand der wunden Wachheit, der schon nach einem
28 29
Tag Quasiquarantäne erschöpften emotionalen Mittel zur
Teilnahme an Vorgespieltem, plötzlich gerade recht, ja, sehr
gut: Der Film erzählt mir was, und ich muss nicht eigene Herzensregungen
hinzugeben, das macht schon die Musik, Merci.
Nach einer Woche war ich mit meinen Musikbewegtbildvorrat
durch, selbst Videoclips (Kate Bush, David Bowie) und Opern
(zwei von Wagner) hatte ich mir schließlich gegeben, alles
mittels DVDs. Ich lebe in der Wohnung, die ich in Frankfurt
am Main zur Miete bewohne, ganz ohne Internetzugang, vom
Smartphone abgesehen. Das ist das Resultat einer bewussten
Entscheidung: Zur Arbeit, ins Büro, muss ich nur über die
Straße gehen, das gab mir die Gelegenheit, beim Einzug den
Entschluss zu fassen, auch am Wochenende nur dann mit dem
Netz zu arbeiten, wenn es wirklich nötig war und ist; ein wichtiger
Dämpfer für meinen Hang, es mit dem Arbeiten zu übertreiben
. // Brauchst du das heute? Wenn ja, dann verlass die
Wohnung. Wenn dir das aber schon zu mühsam ist,
wird’s wohl keine gar zu wichtige Arbeit sein (das
reine Schreiben, ohne Netzhilfen, geht auch daheim;
einen Laptop habe ich da, aber eben mit
Bedacht, mit Willen und Bewusstsein keine Netzverbindung).
// Die Wahrheit ist: Die Bilder von
Menschen in Chören, Gruppen, Massen, Choreographien,
Formationen (selbst bei Beyoncé; der Lemonade-CD
liegt zum Glück eine DVD bei), die zu all
den Verbindungen von Musik und Schauspiel zu gehören
schienen, auf die ich in dieser Lage Zugriff hatte, stießen mich
schließlich stark ab — Menschenaufläufe bei Björk (It’s oh so
quiet), Tanzende bei Leonard Bernstein (West Side Story), bei
Joss Whedon (Once More, with Feeling), bei Terry Gilliam (die
schönste Szene in The Fisher King), das war mir alles zu weit
weg von meinem durch die Umstände aufs Einzelwesendenken
reduzierten Selbstverständnis. Sogar mit den Liebsten konnte
man nur noch telefonieren, die Aussicht auf Wir alle zusammen
oder The People United will never be Defeated löste daher
Phantomschmerz aus. Also lieber wieder Bücher, die intime
Kommunikation mit einem Text, der mit einer einzigen Stimme
spricht, selbst wenn ein Kollektiv dahintersteckt? Oder doch
Musik, aber ohne Bilder von Menschengruppen, eine rein akustisch
hergestellte Gemeinschaft von Sender und Empfänger,
wie bei mir und meinem Telefon? // Ich wühlte im CD-Bestand
und fand ein Album, das ich vor mehr als dreißig Jahren einmal
einen Lebensabschnitt (mehrere Monate, vielleicht ein Jahr)
lang beinah täglich gehört hatte, insgesamt oder auszugsweise,
per Einzelstück: Repeater von Fugazi (erst jetzt, da ich das hinschreibe,
geht mir der besonders dumme Witz an der Sache auf:
Klar habe ich das oft abgespielt, es heißt ja schon so, als wollte
es endlos wiederholt werden). // Das Projekt Fugazi beeindruckte
mich, als ich Anfang der Neunziger erstmals davon
erfuhr, als eine aus dem Geist von Punk, Hardcore und Do-It-
Yourself-Ethos geborene Band, die mit niedrigen Eintrittspreisen
bei Konzerten und anderen strengen Maßnahmen der
gelebten Kritik am Warenfetischismus eine Alternative zu
Kommerz, Ramsch, Schund und Werbewahnsinn der Popmusikindustrie
anbieten wollte. // Auf Repeater gibt es ein Lied
namens Merchandise, das die Gesellschafts- und Kulturkritik,
um die es bei dieser Alternative geht, hilfreich ausbuchstabiert:
Merchandise keeps us in line
Common sense says it’s by design
What could a businessman ever want more
Than to have us sucking in his store
We owe you nothing, you have no control
You are not what you own
Beim Wiederhören dachte ich: Ah ja, CDs, DVDs,
Waren… // Vergegenständliche Arbeit in der
Kunst, »Werk« als Ware, das ist in der Tat eine Falle
für all die guten, gerechten, solidarischen, emanzipierten
und emanzipatorischen Haltungen, die Kunst kommunizieren
kann. Okay. Ein Statement also, aber ein historisches,
wie jedes, das sich auf Gesellschaftliches reimen will. Die
Bedingungen, unter denen die Kritik daran, dass Kapitalismus
als Verdinglichungsmaschine das Tun der Leute zu Waren
zerlegt, festfriert und damit tötet, auf jeden Fall eine linke,
eine fortschrittliche, eine über das Kapitalverhältnis hinaus
auf etwas Schöneres, Freies gerichtete Kritik ist statt etwas
anderes, sind nicht ewig gegeben. Sie können wegfallen
oder sich ändern, während der Kapitalismus vom Konkurrenzwesen
zum Monopolwesen voranschreitet oder besser: stolpert
(falls Panzer stolpern können). // Die Sache ändert sich;
die Kritik an ihr muss das also auch.
30
Historisch, was heißt das? // Als ich ein Kind war, in den Siebzigerjahren
des letzten Jahrhunderts, kannte ich keinen Menschen,
der über irgendeinen fürs Kino oder fürs Fernsehen
produzierten Film hätte sagen können: »Mir gehört dieser
Film« oder »ich habe diesen Film zuhause«. // Auch meine
Eltern kannten keine Leute, die sowas hätten sagen können.
Es gab Personen mit Spielkameras und Babyprojektoren,
8mn-Freaks, Heimkino-Hobbytrottel. Aber Krieg der Sterne
zu besitzen (wie wir, Kinder und Eltern, damals für Star Wars
sagten), das war unvorstellbar — man musste, wenn man diesen
Film sehen wollte, ins Lichtspielhaus oder warten, bis er
in der Glotze kam (da kam er aber nie, da kam nur Scheiße). //
Musik dagegen besaß man, es gab ja Platten und Kassetten. //
Anfang der Achtzigerjahre änderte sich das dann in dem
Hochhausviertel, in dem ich wohnte, mit seinem eher kleinbürgerlichen
Milieu, den vielen Angestellten und einigen in
dumpfer Lohnarbeit vor sich hin rackernden Personen, die
man der damals noch häufiger mit ihrem alten Namen
»Arbeiterklasse« bezeichneten demographischen
Menge zurechnete.
Die Gehrmanns, die etwas mehr Geld verdienten
als der Rest vor Ort, kauften sich einen Videorekorder,
und irgendwann besaßen sie ein Band mit
Krieg der Sterne drauf. Die beiden Kinder der Gehrmanns
konnten den Film rasch auswendig, bekamen
ihn aber nie satt. Das mag auch daran gelegen haben, dass
ihnen dieser besondere Familienbesitz eine Art Macht unter
Gleichaltrigen verlieh: Sie konnten andere Kinder und Jugendliche
zu sich einladen, ins Quasikino mit Chips und Cola.
Ein Teil menschlicher Bedürfnisse ist naturgegeben (Atemluft,
Essen, Wasser, Schlaf, Schutz vor der Witterung etc.), ein Teil
wird sozial erzeugt (das macht Letzteren nicht per se schlechter:
alles, was Menschen von der Gefangenschaft in Naturfesseln
befreit und über den Tellerrand der Not blicken lässt, schafft
Raum für Ethik, Ästhetik, Erkenntnis und Freude): »Niemand
weiß, was ein Videorekorder ist, fünf Minuten später wollen
alle einen haben.« (Hermann L. Gremliza) // Ich wollte auch
einen; wenige Jahre später besaß ich ihn. // In London, bei einem
teuren Urlaub (mit Interrail-Ticket, für Studierende mit
meiner Herkunft die einzige Chance, ein bißchen Europa zu
sehen) kaufte ich mir bei HMV 1990 mein erstes englischspra-
»DAVOR«
Abbild eines Musikausschnitts für eine VR-Szene, in Logic Pro produziert
© Yoav Pasovsky
31
chiges Original-Film-VHS-Band: Paul Schraders Cat People-
Remake von 1982. Am selben Tag betrat ich zum ersten mal
den legendären, an ein Label angeschlossenen Plattenladen
Rough Trade und erstand dort ein paar Kassetten; Vinylplatten
waren mir für den Transport nach Hause zu unhandlich, und
einen CD-Player erwarb ich erst ein Jahr später, wenn mich die
Erinnerung da nicht täuscht.
Historisch? // Worauf ich mit diesen Erinnerungen zwischen
Video- und Musikbändern hinauswill, liegt auf der Hand: In
der Quarantäne 2020 fühlten sich plötzlich mehr und mehr
Leute, die ich kenne, mit ihren Kunstwaren eingesperrt, die
Auswahl war, egal wie groß, immer zu klein, also ließen sich
auch diejenigen Menschen aufs Streaming ein, die dem bis
jetzt widerstanden hatten: Filme, Musik, alles ist aus Daten,
man wählt was im Internet aus, bezahlt elektronisch, die ganze
Welt öffnet sich — nun ja: die Welt der Nutzungsrechte, des
Abspielendürfens.
dachte: Die Kapitalisten besitzen zwar die Fabriken, aber ich
besitze eine Stereoanlage und ein Theater-Abonnement, will
mich also nicht beklagen; besser als im Kommunismus oder
Sozialismus, wo es keine (guten) Stereoanlagen für Privathaushalte
gibt und mir die Partei vorschreibt, wann ich wo ins
Theater gehe, ist es hier allemal — wer so dachte, hat den Kommunistinnen
und Kommunisten nicht zugehört, die seinerzeit
auch im Westen versuchten, den Leuten zu erklären, dass der
Besitz von Produktionsmitteln und der Besitz von Gebrauchsund
Genußgütern nicht dieselbe Sorte Besitz ist, dass es also
nicht um Quantitäten, um mehr oder weniger Reichtum geht.
Der Kapitalist ist überhaupt nicht einfach »ein reicher Mann«.
Kapitalismus lebt von der Sorte Besitz, die erlaubt, Arbeit zu
kaufen. // Die Kleinbesitzer von Kleinproduktionsmitteln sind
bald nach Beginn der kapitalistischen Marktkonkurrenz kaputtkonkurriert,
der Schuster kann gegen einen Schuhkonzern
nichts ausrichten, die Uhrmacherin nie mit den Swatchproduktionsanlagen
mithalten.
Die Schuster und Uhrmacherinnen der nahen Zukunft, die
letzten, die noch werden glauben können, sie besäßen (kleine,
sehr raubanfällige) Produktionsmittel, dürften dann wohl
diejenigen sein, die ein Tun verkaufen, das so tut, als täte es
was, dabei aber nichts hervorbringt als eben die Darstellung
solchen Tuns: Schauspielerinnen, Tänzer, Kunstschaffende
des körperlichen Erzählens. // Was werden sie damit anfangen,
wenn sie das verstehen?
Besitz geht anders. Ich darf beim Stream hören,
schauen, ich lagere nicht, ich horte nicht. // Eines
der ersten e-books, die sich mir bekannte Menschen
auf ihre Lesegeräte luden, vor Jahren, war
ein dicker Roman von Neal Stephenson. Einige Leser*innen
schrieben Anmerkungen dazu in die Datei.
Eines Nachts aber wurde das Buch durch ein Update
ersetzt, das ein paar Fehler im Text beheben sollte. Da waren
die Anmerkungen weg. Solche Sachen passieren längst nicht
mehr; aber der Vorgang hatte drastisch beleuchtet, was ein
elektronischer Zugang zu einem Text (einem Musikstück, einem
Theaterabend, einem Film) ist: eine Nutzungsgelegenheit,
und zwar in den Grenzen, die von den Rechte besitzenden (die
nicht immer die Urheber sind, in den lukrativsten Fällen sind
es Konzerne) gezogen und bewacht werden.
Als ich klein war, machten mir und anderen Kleinen die Ideologiefabriken
des Kapitalismus gern und oft Angst vor »den
Russen«, »dem Kommunismus«, mit Ideen der Art: Kommune
heisst Gemeinschaft, da, wo Kommunismus herrscht, im Osten,
gehört dem Einzelnen nichts. Im Kapitalismus dagegen,
im Westen, in der freien Welt, da schützen wir das Eigentum,
niemand nimmt dir hier deine Spielsachen oder Lutscher weg;
wofür du bezahlt hast, das ist für immer deins! // Wer damals
Die einzige Ware, die den Kapitalismus wirklich interessiert,
ist die Arbeitskraft. Wenn Home Office
und neue Workflows andere, gegenständliche Waren
aus dem Marktgeschehen spülen, macht das
dem Kapital wenig aus — im Gegenteil, es spart Lager-
und Vertriebskosten, glauben Sie’s einem Autor,
der zwanzig Jahre lang im Zeitungswesen gearbeitet hat.
Die Viruskrise 2020, mit ihren Schnitten in der Beweglichkeit
von Menschen und Zeug, hat die Abschaffung oder doch Verminderung
gewisser Waren nicht erfunden oder ausgelöst, nur
beschleunigt; Zeitungen, Filmverleihfirmen, Spielstätten lassen
sich in ihrem Zeichen »was einfallen«, das ohnehin auf der
Tagesordnung stand. // Es wird im Künftigen weniger als zuvor
um die Produkte des Tuns der Abhängigen gehen, dafür mehr
um dieses Tun selbst (zuletzt noch euphemistisch »Dienstleistung«
genannt). Die ohnehin zunehmend permeable Grenze
zwischen geistiger und körperlicher Arbeit wird weiter verschwimmen.
Die Herrschaft wird nicht mehr vermittelt sein
über Grundbesitz (wie im Feudalismus) oder Maschinenbesitz
(wie im Industriekapitalismus) sondern (per Armband? Chip
im Kopf?) wieder direkt nach den Körpern greifen; wie damals
in der Sklaverei (ein Kreis schließt sich um einen menschlichen
Hals).
32 33
YOU’LL BE
WISHING
YOU HAD
PRODUCTS
AGAIN!
A few uncomfortable reflections on music,
play, dance, film, ownership and consumption
I didn’t feel like watching feature films at
home during the first week of confinement
triggered by the virus in March 2020. It’s not
like reading, as you can’t simply interrupt a
film whenever you feel like it without damaging
its dramaturgical integrity, even if you’re
watching at home and my ability to concentrate,
which is crucial to follow that kind of
film throughout its entire length, suffered
from the greed for news that possessed me, as
well as from various anxieties, enormous
chaos when it came to staying connected professionally
together with a normal human
sense of agitation in the face of what are quite
obviously historical events. On three occasions,
on three different evenings, I therefore
ended up staring at my flat screen, emotionally
unsettled and with my brain frozen, as
Frederic Rzewski sometimes pounded, sometimes
caressed from the keys of a concert piano
his thirty-six variations on the melody of the
people united who will never be defeated.
Panicky, heroic, then tender and meditative,
his fingers worked their way through the material,
and, grateful although I was that it was
available on DVD and that I owned a copy, I
remained strangely uninvolved, yet it did give
me something I had hoped it would—perhaps
simply a way to pass the time. // The political
drama of this music, based, as we know, on
Salvador Allende’s attempt to establish the
people’s front in Chile, could also have been
staged as theatre, with crowds like the ones
that flooded onto Nicaragua’s streets just after
(!) the World Health Organisation officially
declared the new disease to be a pandemic,
which was probably not much help to the people
who congregated to proclaim their loyalty
to their government and to defy the virus.
When the attraction of the Rezewski piano
recital had worn off, I switched to musicals,
to be precise, the film versions of them: Les
Misérables with Anne Hathaway, Evita with
Madonna, the Once More, with Feeling singalong
episode from the TV series Buffy the
Vampire Slayer, things like that. As a film
critic I’ve relentlessly attacked Hollywood
productions for years for being so horrendously
lazy and adding heavy-handed musical
lubrication with orchestral emotion enhancers
to every scene, when any reasonable,
creatively directed scene has no need of such
additives. Yet all of a sudden I found that this
musical dressing accompanying the staging
was actually fine, indeed it was a very good
thing in my state of vulnerable alertness, with
my emotional capacity to participate in the
performance so depleted after just one day of
semi-quarantine: The film’s telling me some
story or other, and I don’t have to supplement
it with my own sentiments, for the music will
take care of that, merci.
After a week I had run through my stash of
music-based moving images; I had even administered
video clips (Kate Bush, David
Bowie) and operas (two by Wagner) to myself,
all via DVD. In the flat I rent in Frankfurt am
Main I have no Internet access at all, apart
from my smartphone. I took a conscious decision
that it would be that way: I only have to
cross the street if I want to go the office and
work, so when I moved in I took the opportunity
to decide that I would only do work involving
the Internet at weekends if really
necessary; that puts an important damper on
my overworking tendencies. // Do you need
it today? If you do, you’ll have to leave the
flat. But if that seems too much of an effort, it
can’t be such important work (simply writing,
without consulting the Internet, is also possible
at home; I have a laptop there, but no Web
access—advisedly, out of choice and consciously).
// If truth be told, in the end I felt
really repelled by all those images of people
in choirs, groups, masses, choreographies,
formations (even in the case of Beyoncé; luckily
the Lemonade CD comes with a DVD) that
seemed to be part and parcel of all the combinations
of music and acting I could access in
By Dietmar Dath
When I heard it again I thought: Ah yes, CDs,
DVDs, products... // Objectified labour in
art, “the work” as a commodity, this is indeed
a trap for all the good, just, solidarity-driven,
emancipated and emancipatory attitudes that
art can communicate. Okay. A statement,
then, but a historical one, like any statement
that tries to resonate with the societal realm.
We will not always find the conditions that
enable criticism of how capitalism as a machine
of reification breaks down people’s
actions into commodities, freezes them solid
and thus kills them, or in any event left-wing,
progressive critique that is directed beyond
attacks on capitalism towards something
more beautiful and free rather than something
else. Those conditions can vanish or
change as capitalism progresses from a competitive
system to a monopoly system, or
rather: as it stumbles (if tanks can stumble)
from one to the other. // Things are changing,
so criticism must change too.
Historical, what does that mean? // When I
was a child, in the 1970s, I didn’t know anyone
who could have said about any film produced
for cinema or television: “I own this film” or
“I’ve got this film at home.” // My parents
didn’t know anyone who could have said
something like that either. Some people had
toy cameras and baby projectors and there
were 8mm nerds, home cinema geeks. But to
own Krieg der Sternen (as we Germans, children
and parents, used to refer to Star Wars
back then) was unimaginable; if you wanted
to see that film, you had to go to a film theatre
or wait until it came on TV (but it never did,
they only showed a load of rubbish). // But
you could own music, on the other hand; there
were records and cassettes. // That changed
in the early Eighties in the high-rise district
where I lived, with its rather petty bourgeois
atmosphere, many white-collar workers and
some struggling away in dull waged labour,
viewed as belonging to the demographic category
often referred to back then by its old
designation, “working class.”
The Gehrmanns, who were a little better off
than the rest of the neighbourhood, bought a
video recorder, and eventually they had a tape
with Star Wars. The Gehrmanns’ two children
quickly learnt the film by heart, but never
got tired of it. This may have been because
this special type of family silver gave them
something akin to power among their peers:
they could invite other children and teenagers
to come over for something almost like cinema,
complete with crisps and cola.
Some human needs are natural (air, food, water,
sleep, protection from the elements, etc.),
some are socially produced (this does not per
se make the latter worse: everything that frees
people from the fetters of nature and allows
them to look beyond basic needs creates
scope for ethics, aesthetics, insight and joy):
“Nobody knows what a VCR is, then five minutes
later everybody wants one.” (Hermann
L. Gremliza). // I wanted one too; a few years
later I got one. // In London, on an expensive
holiday (with an Interrail ticket, the only
chance for students with my background to
see a little bit of Europe) I bought my first
English-language true-blue VHS tape at HMV
in 1990: Paul Schrader’s 1982 Cat People remake.
On that same day I set foot for the first
time in the legendary Rough Trade record
store, which was affiliated to a record label,
and bought a couple of cassettes there; vinyl
records were too bulky for me to carry home
and, if my memory serves me well, I didn’t buy
a CD player until the year after that.
Historical? // It’s fairly obvious what I’m getting
at with these memories set somewhere
between video and music tapes: during the
2020 quarantine, more and more people I
know have suddenly felt as if they were locked
up with their art commodities. No matter how
much choice there was, it was never enough,
“I’ve improved.
I have never eaten human flesh.”
Christian Kracht 2002
“You were always going to get used
to the taste of human anyway.”
N. K. Yemisin 2017
this situation: whether it was crowds of people
in Björk’s video (It’s oh so quiet), people
dancing in images shot by Leonard Bernstein
(West Side Story), Joss Whedon (Once More,
with Feeling) or Terry Gilliam (the most beautiful
scene in The Fisher King), it was all too
far removed from my self-image, which had
been pared down by circumstances to thinking
in terms of individual beings. Even with
your loved ones all you could do was talk on
the phone, so the prospect of Wir alle zusammen
(All of Us Together) or The People United
will Never be Defeated caused phantom pain.
Were books perhaps a better idea, intimate
communication with a text that speaks with
one voice, even if there is a collective behind
it? Or music, but without images of people in
groups, a purely acoustic communion of
transmitter and receiver, like with me and my
telephone? // I rummaged through the CD collection
and found an album that over thirty
years ago I listened to almost every day during
one particular period (for several months,
maybe a year), either all the way through or
just some of the tracks: Repeater by Fugazi
(only now, writing this down does it strike me
that there’s something particularly preposterous
about it. Of course, I played it over and
over again; after all, even the title suggests it
wants to be endlessly repeated.) // The Fugazi
project impressed me when I first heard
about it in the early Nineties: a band born out
of the spirit of punk, hardcore and the do-ityourself
ethos that aimed to offer an alternative
to the pop music industry’s commercialism,
junk, trash and advertising madness
through low ticket prices for concerts and
other rigorous measures that entailed living
out their critique of commodity fetishism. //
On Repeater there is a song called Merchandise
that helpfully spells out the social and
cultural criticism that this alternative entails:
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Merchandise keeps us in line
Common sense says it’s by design
What could a businessman ever want more
Than to have us sucking in his store
We owe you nothing, you have no control
You are not what you own
or less wealth. The capitalist is most definitely
not simply “a rich man.” Capitalism is nourished
by the kind of ownership that allows you
to buy labour. // Soon after the beginning of
capitalist market competition, small owners
of small means of production are put out of
business due to competition: the cobbler can’t
achieve anything if constantly struggling
against a large shoe company; the watchmaker
can never keep up with Swatch production
facilities.
which meant that even people who had previously
resisted now started streaming: films,
music, everything is made of data, you pick
something on the Internet, pay electronically,
the whole world opens up—well, the world of
rights, of being allowed to play something.
Ownership is different. I can listen and watch
when I’m streaming; I don’t stockpile, I don’t
hoard. // One of the first e-books that people
I know loaded onto their e-reader years ago
was a thick novel by Neal Stephenson. Some
readers wrote comments on it in the file. One
night, however, the book was replaced by an
update that was meant to fix some errors in
the text. And then the notes were gone. Things
like that don’t happen anymore; but the incident
rather dramatically highlighted the actual
nature of electronic access to a text (or a
piece of music, an evening at the theatre, a
film): an opportunity for use, within the limits
determined and safeguarded by the rightsholders
(who are not always the authors, in
the most lucrative cases they are corporations).
When I was small , the ideology factories of
capitalism often liked to terrify me and the
other little ones with “the Russians”, “Communism”,
with ideas such as commune means
community, and in the East, where Communism
holds sway, nothing belongs to the
individual. In capitalism, on the other hand,
in the West, in the free world, we protect property.
Nobody’s going to take away your toys
or lollipops; what you have paid for is yours
forever! // Some perhaps thought at the time
that the capitalists may own the factories, but
I’ve got a stereo and a theatre subscription, so
I’m not complaining; it’s definitely better
here than under Communism or Socialism,
where there are no (good) stereo systems for
private households and the party dictates
when and where I go to the theatre—anyone
who thought like that wasn’t listening to the
Communists, who were also trying in those
days to explain to people in the West that
owning the means of production and owning
consumer or luxury goods are not the same
kind of ownership, in other words to explain
that it’s not about quantity, about having more
The only commodity that capitalism is really
interested in is labour. Capital doesn’t care
when home office arrangements and new
workflows flush other, physical goods out of
the marketplace—on the contrary, it saves
storage and distribution costs; take it from an
author who has been working in the newspaper
business for twenty years.
»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«
Reise durchs Wohnzimmer oder wodurch? — Ausweidung
© Tobias Eduard Schick / Katharina Vogt (2020)
The 2020 virus crisis and the way in which it
has cut the mobility of people and things has
not invented or triggered the abolition or
dwindling of certain commodities, but has
simply accelerated it; newspapers, film distributors,
theatres are “putting on their thinking
caps” in response to this phenomenon that
was on the agenda anyway. // In future, there
will be less focus than there used to be on
products arising from the actions of the dependent,
and a greater emphasis on the actions
per se (recently still euphemistically
called “service”). The borderline between
mental and physical work, which is already
increasingly permeable, will become even
more blurred. Domination will no longer be
mediated by ownership of land (as in feudalism)
or of machinery (as in industrial capitalism)
but will reach out directly to grasp bodies
once again (with a monitoring bracelet? Or an
embedded chip?); as in slavery (a circle closes
around a human neck).
The cobblers and watchmakers of the near
future, the last ones who will still be able to
believe that they own (small, readily plundered)
means of production, will thus probably
be those who sell an action that pretends
to do something, yet produces nothing in the
process except the representation of such activity:
actresses, dancers, artists of physical
narration. // What will they do with it when
they understand that?
Dietmar Dath is a writer, translator, musician,
and journalist. He has published novels, and
also books and essays on the subjects of
science, aesthetics, and politics. He was the
editor-in-chief of the magazine Spex, and
from 2001 to 2007 he was the features editor
at the newspaper Frankfurter Allgemeine
Zeitung. He has been the film critic at that
newspaper since September 20 11.
— Text received on March 31, 2020
36
37
»ONCE TO BE REALISED«
acusmata
© Beat Furrer
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NEW Return
Von Daniel Ott und Manos Tsangaris
Daniel Ott und Manos Tsangaris sind Komponisten
und die Künstlerischen Leiter der
Münchener Biennale — Festival für Neues Musiktheater.
— Der kurz vor Drucklegung des Programmbuches
eingetroffene Text von Dietmar Dath initiierte diesen Beitrag.
Das Leben der meisten Menschen heute ist so sehr von harten
glatten Oberflächen bestimmt, dass sie anscheinend im Begriff
sind, die plastische Vielfalt unseres Daseins zu vergessen.
Screens und feste Verschalungen von Lautsprechern sind
die nützlichen kalten Körper der Vervielfältigung. Alles, was
reproduzierbar ist, kann leicht zur Ware werden. // Das sind
ursprünglich ästhetische Nahrungsergänzungsmittel. Schließlich
fällt die Nahrung auch noch weg. Was bleibt, ist die Ergänzung.
// MusikMusik, das ist doch, was man hören kann,
nicht? // Sie wurde so sehr allein auf ihre hörbare Komponente
reduziert (was übrigens ursprünglich nicht so war), dass sie
immer und jederzeit perfekt in Lautsprecher und Kopfhörer
passt. Allverfügbarkeit. // Jetzt wird »die Musik« mehr und
mehr mit verkaufsfördernden Bildern bestückt. // Kaum ein
Stück Musik ohne Video-Clip. Im FilmFilm ist sie der Treibstoff
der Gefühle. // (Sehen wir uns einen Krimi ohne Tonspur
an. Kein Suspense. Film ist das zweidimensionale Gesamtkunstwerk
apriori.) // Wir sind von glatten, oft gläsernen
Oberflächen umzingelt. // Hinter, oder genauer: in
ihnen eröffnet sich virtueller Raum.
Raumöffnung. // Die Plastizität des realen Raumes:
jedes Lebewesens existiert im Raum. // Es
ist körperlich. Es ist Raum-Körper, Körper-und-
Seelen-Raum. // Man sollte uns nicht missverstehen.
Es geht nicht darum, die Maschinen zu stürmen.
Vielmehr nur darum, sie an die richtige Stelle zu rücken. Es
geht um Klärung der Verhältnisse. Eine Scheibe ist eine Scheibe
ist eine Scheibe ist … // Die Erde ist keine Scheibe.
Musiktheater, wie wir es verstehen, ist Meta-Medium, ein wunderbares
dynamisches Instrument, das den plastischen Raum
verwandelt und auch umkehrt. Es kann alle Raumkomponenten
zusammenbringen, indem es sie differenziert. Hierfür sorgen
Komposition und Inszenierung. Wir befinden uns immer
in Zelten (skené heißt ursprünglich Zelt), die vom konkreten
physischen Dasein, dem Raum und den Sprachmedien gebildet
werden, die im Spiel sind. Und im Spiel sind wir. Ohne Menschen,
die in diesem Raum verweilen, ihn sozusagen »aktivieren«,
findet es nicht statt. »Die Welt hat eine ursprüngliche
Fähigkeit durch mich belebt zu werden (…)«, schreibt Novalis.
Indem nun unterschiedliche Dispositionen, die auch die Bedingungen
der Aufführung miteinbeziehen, zum Gegenstand
von Komposition werden, also Teil der Inszenierung und des
Gesamt-Schöpfungsprozesses, wird Mensch sich gewahr,
dass seine konkrete, auch körperliche Anwesenheit Bedingung
ist für dieses Erleben: Er wird sich seiner selbst gewahr.
Daraus entsteht eine spezifische Singularität. Hier, nur hier
kann es stattfinden. // So ergeben sich Ereignis-Formen, die
nicht zur Ware werden können und sich dem Konsumismus
sperren, die nicht in oder hinter die flachen Screens passen
(die uns übrigens auch nicht auffordern, wegen virtueller Realitäten
im Raum wie blöde herumzuhampeln und nach Dingen
zu greifen, die gar nicht da sind). // Und diese Ereignisse
besitzt man auch nicht. Man kann sie nicht besitzen wie eine
Scheibe, die man auf- oder einlegt. Man kann sie nicht einmal
strea men. Sie sind nicht zu jeder Zeit allerorts verfügbar. Dieses
Markt-Manko macht auch einen Teil ihrer Qualität aus. //
Neues Musiktheater, komponierte Installation, Performance,
so genannte immersive Schaltungen, Stationentheater, One-
On-One-Settings usw., medial erweiterte analoge
Komposition als Meta-Medium-Instrument — das
alles spitzt die Frage nach dem Menschen zu, nach
seiner Wahrnehmung und seinen Räumen. Es ist
der komponierte Prozess selbst, der ihn beteiligt
und einbezieht, wo sein Erleben Teil des Werks
wird, das vom Ereignis nicht zu trennen ist. Erleben
und Ereignis sind zwei voneinander abhängige
Seiten ein und desselben Geschehens. Es geht um eine
würdevolle und angemessene Relation von Darstellung und
Wirklichkeit.
Bedingung hierfür ist das Erahnen und Justieren sich verändernder
Rahmen, Frames der Ereignisse in Aufführungen des
neuen Musiktheaters. Das fordert jede*n Zuschauer*in in besonderer
Weise heraus. Wohl sind wir es von technischen Medien
her gewöhnt, beinahe reflexartig auf unterschiedliche
Formate zu reagieren, sie zu orten und einzuordnen, um ihnen
begegnen und folgen zu können, um sie zu verstehen. Eine
News-Sendung rezipieren wir anders als einen privaten You-
Tube-Film als eine Netflix-Serie usw. Im Musiktheater, in
diesen konkreten, artifiziellen, komponierten Situationen
entsteht allerdings eine Form von Partizipation und Teilhabe
an Formaten, die mich in reale, raum-plastische soziale Situationen
versetzt. Gesamt-Kunstwerk. Die Kunst kann allseits
um mich herum sein. Sie muss gelegentlich erwandert werden.
40 41
»Aber mittlerweile geht es euch bei allen Geschäften
nur noch darum, im Geschäft zu bleiben.«
(Aborigines, Australien)
Sie spricht den ganzen Menschen an, wird vom ganzen Menschen
erfahren. Diese Flexibilität und Vielschichtigkeit sollte
eine genussvolle Herausforderung sein. Sie widerspricht dem
bloßen Konsumismus hinter der Scheibe und vermag der Klärung
und Bewusstwerdung des Daseins zu dienen, ohne sich
verdingen zu müssen. // Es geht hier nicht zuerst um Vermeidung,
zum Beispiel Vermeidung von Technologie. Screens sind
hier nirgends verboten. Aber sie werden dramaturgisch und
situativ sehr bewusst eingesetzt. Sie stellen sich immer auch
— allein schon durch die komplexe Relation im jeweiligen situativen
Gesamtzusammenhang — in Frage. Das ist kein didaktisches
oder pädagogisches Spiel. Sondern es korrespondiert
mit unserer Alltagserfahrung und kehrt sie gewissermaßen
auch um. Bestimmte media le Einflüsse, die wir von den technischen
Endgeräten her kennen, werden in räumlich analoge und
komplexe (theatrale) Si tuationen übersetzt, gespiegelt, neu
montiert und anders »gelöst«, als dies in den technischen Medien
selbst möglich wäre. So entsteht beiderseitig die
Möglichkeit, sie zu nutzen, sie kritisch zu reflektieren.
Wie jung sind doch Google, Youtube, Twitter
und Instagram, wenn man die ganze bisherige Mediengeschichte
des Menschen vergleichend in Betracht zieht?
Probleme können nicht mit Mitteln gelöst werden, die sie ausgelöst
haben, meinte Albert Einstein einmal. Deshalb dürften die
technomedialen Fragestellungen in solch konkreten thea tralen
Ereignis- und Rezeptions-Schaltungen besser aufgehoben, klarer
zu sehen und zu reflektieren sein als beispielsweise im Gebrauch
des Netzes, das sich wie eine mystische Schlange permanent
an sich selbst ernährt. Es ist das Suchtverhalten an Endgeräten,
das den ganzen Strom kostet. // Klärung könnte ein sich
Innewerden bedeuten. Innewerden der Singularität dessen,
was gerade geschieht, des Ortes, wo es geschieht, und der Besonderheit
einer Situation, die zugleich welthaltig objektiviert,
aber auch auf die jeweiligen Rezipient*innen oder Menschen-
Gruppen hin zugespitzt, gemeint, komponiert, räumlich konkretisiert
und dynamisch gestaltet ist. // Musik ist die höchste
plastische Kunstform (wie schon Joseph Beuys bemerkte).
Um Klärung geht es, sogar um Aufklärung. Bestimmte drängende
Fragen bleiben immer dieselben. Wer sind wir, woher
kommen wir, wohin gehen wir? Und: durch was oder wen werden
wir gerade gelenkt, bestimmt und vielleicht ausgenutzt?
Wie erlangen wir Liebe und Anerkennung?
Das neueste Musiktheater gestaltet physisch konkrete, variable,
gleichsam musikalisierte Räume, die die Bedingungen
der Aufführung zum Teil der Inszenierung machen. Es kann
die Rahmensituationen, innerhalb derer es stattfindet, reflektieren.
Es verlangt von seinen Nutzer*innen auf spielerische
Weise, seinen dynamischen Prozess mitzuvollziehen, sich
einzulassen. Das heißt auch, sich mit konventionellen Settings
nicht automatisch zufrieden zu geben. Diese »Beweglichkeit«
der Formate und der Rezeption versetzt uns in die Lage, listig
zu sein. Listig den Reproduktions-Mechanismen gegenüber,
listig gegen eine Konvention, die das Mitdenken beschränken
will, listig auch gegenüber der Vermarktung als
Ware. Eher eine Guerilla-Taktik als ein Krieg der
Massen.
Das Aufsuchen und Experimentieren neuer Formen
im neuesten Musiktheater (formatus bedeutet
ja »das vorab Geformte«, also die Rahmengegebenheiten
eines Ereignisses und die daran geknüpften
Erwartungen und Wahrnehmungen) ist kein
bloßes Heischen nach Aufmerksamkeit und vordergründiger
»Neuigkeit«, wie es gern unterstellt wird, sondern eine
klare Stimme inmitten des lautstarken medialen Orchesters
unserer Gegenwart, die anders vernommen werden muss als
bloß innerhalb der Koordinaten eines Marktes, der alle ästhetischen
Erzeugnisse immer wieder nur zur Ware machen
muss, um fortzuexistieren.
»Unser sämtliches Wahrnehmungsvermögen
gleicht dem Auge. Die Objekte müßen
durch entgegengesetzte Media durch, um
richtig auf der Pupille zu erscheinen.«
(Novalis, Blüthenstaub)
42
»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«
© Anda Kryeziu (2020)
43
Today the lives of most people are dete r mi ned
so very much by hard, smooth surfaces that
they are apparently about to forget the threedimensional
sculptural diversity of our existence.
Screens and the firm casing of loudspeakers
are the useful cold bodies of reproduction.
Everything that is reproducible can
easily become a commodity. // These are originally
aesthetic dietary supplements. Ultimately,
nourishment will also be omitted.
What remains is the supplement. // Musicmusic,
that’s what one can hear, isn’t it? // It
has been reduced so much to solely its audible
components (which, by the way, wasn’t the
way it was originally), so that it always and at
all times fits perfectly into loudspeakers and
headphones. Prolific availability. // Now “the
music” is being equipped more and more with
promotional images. // There is hardly a piece
of music without a video clip. In filmfilm it
is the driver of emotions. // (Watch a crime
thriller without a soundtrack. No suspense.
Film is the two-dimensional total work of art,
a Gesamtkunstwerk, a priori.) // We are surrounded
by smooth, often glassy surfaces. //
A virtual space opens up behind, or to be
more precise, in them.
son to a head, the issue of a person’s perception
and the spaces. It is the composed process
itself that engages and incorporates the person,
where the person’s experience becomes
part of the work, which cannot be separated
from the event. Experience and event are two
sides of one and the same proceedings, and
dependent upon each other. It has to do with a
dignified and appropriate relation between
portrayal and reality.
The condition for this is to imagine and align
changing frames, frames of the events in the
performances of new music theater. That
makes demands on every member of the audience
in a special way. Through technological
media we are no doubt accustomed to react
almost by reflex to different formats, to
locate and classify them in order to be able to
encounter and follow them, in order to understand
them. We take in a news broadcast differently
than a private YouTube film, differently
than a Netflix series, and so forth. In music
theater, however, in these concrete, artificial,
composed situations a form of participation
and presence in formats is created, which
transports me into real, three-dimensional,
spatial, social situations. A total art work (Gesamt-Kunstwerk).
Art can be all around me. It
has to occasionally be discovered while wandering.
It speaks to the whole person, it is experienced
by the whole person. This flexibility
and complexity should be an enjoyable
challenge. It contradicts the naked consumerism
behind the disk and is capable of
serving to clarify and emotionally realize
exis tence, without having to hire itself out.
// It doesn’t have to do here primarily with
avoidance, for example, the avoidance of
technology. Screens are not forbidden anywhere
here. But they will be very consciously
used dramaturgically and situationally. They
also always question themselves–merely
through the complex relation in the respective
Opening up space. // The three-dimensionality,
plasticity of the real space: every living
being exists in a space. // It is physical. It is
“body space” (Raum-Körper), “body and soul
space” (Körper-und-Seelen-Raum).
One shouldn’t misunderstand us. It doesn’t
have to do with storming the machines. It has
more to do, rather, with shifting them into the
correct position. It has to do with clarifying
the relationships. A disk is a disk is a disk…
// Earth isn’t a disk.
situational overall context. This is not a didactic
or educational game. But rather it corresponds
to our everyday experience and to a
certain extent reverses it as well. Certain media
influences that we are familiar with from
technological end devices will be translated
into spatially analogue and complex (theatrical)
situations, will be mirrored, newly installed,
and “solved” in a different way than
would be possible in the technological media
themselves. And so reciprocally the possibility
is created to use them, to critically reflect
upon them. When one comparatively considers
humankind’s entire previous history of
media, then how young are Google, YouTube,
Twitter, and Instagram?
Albert Einstein remarked once that problems
cannot be solved by the means that they have
triggered. For this reason the technological
media issues in such concrete theatrical
streaming of events and responses are better
preserved, are seen more clearly and reflected
than, for example, in net usage, which permanently
feeds on itself like a mystical snake. It
is the addictive behavior with end devices that
generates all of the electricity expenses. //
Clarification could mean becoming aware.
Becoming aware of the singularity of what is
happening right now, becoming aware of the
location, of where it’s happening, of the situation’s
specialness, which at the same time
objectifies the relation to the real world, but
also is pointed at the respective person or
group of people, is opined, composed, spatially
substantiated, and dynamically designed.
// Music is the highest sculptural art form
(as Joseph Beuys already said).
Music theater, as we understand it, is a metamedium,
a wonderful dynamic instrument
that transforms the three-dimensional space
and also vice versa. It can bring together all
of the components of space by differentiating
them. Composition and performance take
care of this. We are always in tents (skené
originally meant tent) that are formed by the
palpable physical existence, space, and language
media that are involved. And we are
involved. Without the people who linger in
this space, who so to speak “activate” this
space, it wouldn’t take place. Novalis wrote,
“The world has a natural ability to be animated
through me (…).”
Now when the different dispositions, which
also incorporate the performance conditions,
become the subject matter of the composition,
in other words, part of the production
and the entire creation process, a human will
become aware that his or her concrete and
“But in the meantime, with all of your
businesses you are only concerned with
staying in business.”
(Australian aborigines)
physical presence is a condition for this experiencing:
the human will become aware of
himself/herself. A specific singularity is generated
from this. Here, only here, can it take
place. // And thus forms of results are produced,
which cannot become commodities
and which close themselves off from consumerism,
which do not fit into or behind the flat
screens (that, by the way, also do not ask us to
jump around like idiots in a space on account
of virtual realities and reach for things that
are not there at all). // And one doesn’t possess
these events either. One cannot possess them
like a disk that one plays or inserts. One cannot
even stream them. They are not available
everywhere at all times. This market deficiency
is also part of its quality. // New music
theater, composed installation, performance,
so-called immersive circuits, Stationen the ater,
one-on-one settings, etc., media-enhanced
analogue composition as a metamedium instrument–all
of this brings the issue of a per-
NEW Return
By Daniel Ott and Manos Tsangaris
It has to do with clarification, even with elucidation
(Aufklärung). Certain pestering
questions will always remain the same. Who
are we, where do we come from, where are we
headed? And, by what or by whom are we being
directed right now, defined, and perhaps
exploited? How do we achieve love and recognition?
The most recent music theater creates physically
concrete, variable, and simultaneously
musicalized spaces, which make the conditions
of a performance part of the production.
It can reflect the framework situations within
which it is taking place. It demands in a playful
manner from its users that they are willing
to accept and understand its dynamic process.
This also means to not automatically be
satisfied with conventional settings. This
“flexibility” of the formats and their reception
puts us into the position of being sly. Sly
in regards to the reproduction mechanisms,
sly in regards to a convention that wants to
limit making contributions. It’s more of a
guerilla tactic than a war of the masses.
The exploration and experimentation of new
forms in the most recent music theater works
(formatus means after all “shaped, formed”–in
other words, the fundamental factors of an
event and the expectations and perceptions
connected to them) are not merely begging for
attention and for the ostensible “novelty”, as
one likes to insinuate, but rather a clear voice
in the middle of the vociferous media orchestra
of our present times, which has to be
perceived differently than merely within the
coordinates of a market that continuously
must turn all aesthetic productions into commodities
in order to continue existing.
“Our entire perceptive ability is like the eye.
The objects have to pass through opposing
media in order to appear correctly on the pupil.”
(Novalis, Pollen)
Daniel Ott and Manos Tsangaris are
Composers and the Artistic Directors of
the Munich Biennale—Festival of New Music
Theatre.
— The text by Dietmar Dath that arrived shortly
before the printing of the program book
initiated this contribution.
44 45
»TRANSSTIMME«
© Fabià Santcovsky
46 47
Kompositionsaufträge der Landeshauptstadt München zur Münchener Biennale.
Koproduktion der Münchener Biennale mit der Deutschen Oper Berlin und dem
Onassis Cultural Centre Athen.
Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.
Kompositionsaufträge an Olga Neuwirth, Samir Odeh-Tamimi, Younghi Pagh-Paan und
Christian Wolff finanziert von der Ernst von Siemens Musikstiftung.
Mit Unterstützung von Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung.
ONCE TO BE
REALISED
Sechs Begegnungen
mit Jani Christous
Project Files
von Beat Furrer, Barblina Meierhans,
Olga Neuwirth, Samir Odeh-Tamimi,
Younghi Pagh-Paan und Christian Wolff
Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf: muenchener-biennale.de
Komposition: Beat Furrer, Barblina Meierhans, Olga Neuwirth,
Samir Odeh-Tamimi, Younghi Pagh-Paan, Christian Wolff
Regie: Michail Marmarinos
Bühne/Kostüm/Video: Yorgos Sapountzis
Konzeptentwicklung: Lenio Liatsou, Michail Marmarinos
Dramaturgie: Sebastian Hanusa
Musikalische Leitung: Cordula Bürgi
Mit: Verena Tönjes Mezzosopran
Matthew Cossack Bariton
Marius Boehm Schauspieler
Meik van Severen Schauspieler
Sofia Pintzou Tänzerin
Robyn Schulkowsky Schlagzeug
Ensemble dissonArt:
Jannis Anissegos Flöte,
Alexandros Stavridis Klarinette,
Theodoros Patsalidis Violine, Chara Sira Viola,
Vassilis Saitis Violoncello, Yiannis Chatzis Kontrabass,
Kostas Argyropoulos Schlagzeug, Lenio Liatsou Klavier
Cantando Admont:
Peyee Chen Sopran, Elina Viluma-Helling Sopran,
Cornelia Sonnleithner Mezzosopran, Helena Sorokina Mezzosopran,
Hugo Paulsson Stove Tenor, Bernd Lambauer Tenor,
Matias Bocchio Bariton, Vytautas Vepstas Bass
Über 130 zu realisierende Kompositionen skizzierte Christou in
seinen letzten Lebensjahren. Nur wenige davon hat er vor seinem
plötzlichen Tod bei einem Autounfall 1970, an seinem 44.
Geburtstag, ausarbeiten können. Der Großteil dieser visionären
Entwürfe wurde in den knapp 50 Jahren seit seinem Tod nicht
realisiert und erst jetzt werden sie zur Grundlage des Musiktheaters
»ONCE TO BE REALISED«: Zusammen mit dem renommierten
griechischen Regisseur Michail Marmarinos konfrontieren
sich sechs Komponist*innen, die zu den profiliertesten Schöpfer*innen
aktuellen Musiktheaters zählen, mit Christous Entwürfen.
Sie begegnen ihnen mit ihrer eigenen Musiksprache,
setzen sich ihnen aus und lassen sich inspirieren,
um mit ihren eigenen Mitteln und ihrer eigenen
Idee in die Zukunft fort- und weiterzuschreiben.
In the last years of his life Christou created in sketch
form more than 130 compositions to be realized later
on. He was only able to work out a few of them before
his untimely death in a car accident in 1970 on his 44th
birthday. Most of these visionary drafts were never realized
in the just under 50 years following his death, and only now will
become the foundation of the new music theater work “ONCE TO
BE REALISED”: Together with the renowned Greek director
Michail Marmarinos, six composers, who are among the most
distinguished creators of contemporary music theater, will tackle
Christou’s designs. They encounter them with their own musical
language, explore them, let themselves be inspired, and work
their way through them, in order to use their own means and their
own ideas to continue and write on into the future.
48
49
»ONCE TO BE REALISED«
Silhouette – Silence
© Younghi Pagh-Paan
50 51
Der Sprung
aus dem Vertrauten
Eine Art Sightseeingtour zu einigen
»Terms and Notions« von Jani Christou,
die seinen kurzen Weg durch die Kunst, das
Leben und die Musik bestimmt haben.
Von Michael Marmarinos
Regisseur von »ONCE TO BE REALISED«,
Aufgezeichnet von Sebastian Hanusa
Musikdramaturg und Komponist;
Dramaturg von »ONCE TO BE REALISED«
Das Festivalmotto Point of NEW Return hat für »ONCE TO
BE REALISED« eine mehrfache Bedeutung. Zunächst beschreibt
es den Rückgriff auf ein 50 Jahre altes Ausgangsmaterial
in Form der Project Files von Jani Christou. Diese 130
kurzen Texte skizzieren mal konkrekt eine musikalische
Struktur, mal den Formverlauf einer Komposition beziehungsweise
eines Abschnitts oder Teils einer Komposition,
mal sind sie eher Beschreibung einer ästhetischen Idee. Sie
entstanden im Hinblick auf eine spätere Realisierung, ein
»ONCE TO BE REALISED«: Es sind keine abgeschlossenen
Kompositionen, nichts final Fixiertes, sondern Ausgangspunkte
eines dynamischen Prozesses der Realisierung. »Once« ist
dabei Versprechen und zugleich Verweis auf die Unmöglichkeit,
etwas mit einem Titel zu fixieren, das dynamisch in ein
Offenes hin verweist. Denn wann kann dieses »Once« sein?
Formuliert wurde es in einer vergangenen Zeit, von jemandem,
der sich inzwischen in einer anderen zeitlichen
Dimension befindet. Vor diesem Hintergrund über
einen Point of NEW Return nachzudenken, ist ein
Flirt mit der Unmöglichkeit eines dal initio, eines
allerersten Anfangs. Denn bezogen auf Christou
ist es nahezu absurd, über die Rückkehr zu einem
bestimmten Punkt zu sprechen, da es diesen
»point« nie gegeben hat. Wir sind die ersten, die zu
einem Punkt gelangen, zu einem konkreten Ergebnis.
So kann es keine Rückkehr geben.
Nun sind wir gewohnt, Zeit als Strecke zwischen zwei im
Raum-Zeit-Kontinuum fixierten Punkten zu bemessen. Einem
Point of (NEW) Return geht immer ein anderer Punkt als Markierung
für einen gewissen Zustand von Welt voraus. Auf diesen
Punkt bezieht sich das »re« des »return«, er ist die Bezugsgröße,
an der sich ein mögliches Neues, Anderes bemisst. Doch
neben diesen fixierten Bezugspunkten, denen als Ereignissen
zu einem gewissen Zeitpunkt etwas Unveränderliches, Endgültiges
eigen ist, steht der ewig dahinströmende Fluss der Zeit.
Diesen als solchen unmittelbar zu fassen und nicht vermittelt
durch ein Symbolsystem wie etwa die Sprache, ist nicht möglich.
Die Sprache ist die Landkarte, mit der wir durch den Ozean
der Zeit und der Bedeutung navigieren. Ich muss hier oft an
Aristoteles’ Definition aus dem Organon denken: »Die gespro-
chenen Worte sind die Zeichen von Vorstellungen in der Seele
und die geschriebenen Worte sind die Zeichen von gesprochenen
Worten. So wie nun die Schriftzeichen nicht bei allen Menschen
die nämlichen sind, so sind auch die Worte nicht bei allen
Menschen die nämlichen; aber die Vorstellungen in der
Rede, deren unmittelbare Zeichen die Worte sind, sind bei allen
Menschen dieselben und ebenso sind die Gegenstände
überall dieselben, von welchen diese Vorstellungen die Abbilder
sind.«
Wenn wir mit unserem Verstand die Welt zu fassen versuchen,
sind wir darauf angewiesen, uns der Zeichen zu bedienen. Jeglicher
Art von Zeichen. Die Welt der Vorstellungen jedoch unmittelbar
erfahrbar zu machen, kann der Kunst und insbesondere
der Musik gelingen — jedoch nur sehr subtil, indirekt und
nicht mit Hilfe der Vernunft. Sie kann eine Art »Kanal« erschaffen,
durch den der Strom der Zeit und, konsequenterweise
damit auch der Fluss der Vorstellungen verläuft.
Taucht man dort ein, kann einem die Erfahrung einer
unmittelbaren Begegnung mit diesen Vorstellungen
widerfahren. Und so sehr dieser Fluss sich
dabei dem Zugriff durch den Verstand entzieht,
versuchen wir immer wieder, seiner habhaft zu
werden. Wir kehren, auch dies ein »return«, immer
wieder zu diesem Versuch zurück: Etwa, indem wir
bestimmte Theaterstücke oder Opern immer und immer
wieder auf die Bühne bringen, in dem steten Versuch,
dass die ihnen inhärenten Vorstellungen, ihr nicht-greifbarer
Kern doch greifbar werden. Diese Illusion ist der Antrieb unseres
Handelns. Mit der Vergeblichkeit dieses Tuns und der
Notwendigkeit zugleich, es immer wieder zu versuchen, ist
dem Menschen etwas zutiefst Tragisches zu eigen.
Es gibt einige zentrale Begriffe, die sich immer wieder bei
Jani Christou finden. Einer davon ist der des »Kontinuums«
als einem Strom von Klang, Geräusch oder anderen Dingen.
Ein weiteres Wort, das er in diesem Zusammenhang häufig
benutzt ist »preexist«: Es bezeichnet etwas, das immer schon
da ist, auch, wenn wir es nicht wahrnehmen. Und plötzlich
erscheint es unseren Sinnen, als eine Performanz von Zeitlichkeit
an sich. Hierzu hat Christou zeitlebens versucht, seine
Wahrnehmung wie sein Werkzeug zu schärfen — als ein
Mensch, der sich mit grundlegenden Fragen der Gegenwart
52 53
und Vergangenheit, Leben und Leben nach dem Tod, Zeit und
Ewigkeit beschäftigt hat. Es scheint mir, dass er gegen Ende
der 1960er Jahre hierin einen Höhepunkt erreicht hat, in einer
Zeit, die in vielerlei Hinsicht revolutionär und zugleich enorm
vital war. Und: dass er etwas erreicht hat, was immer noch
relevant und lebendig ist.
Weitere Begriffe, die in seinem Werk häufig auftauchen
wie etwa »Panik« oder »Alptraum« kreisen um Extremzonen
der menschlichen Existenz und sind zugleich Grenzbereiche
für die beteiligten Musiker*innen und Sänger*innen. Diese
hat er immer als Menschen verstanden, die mit ihren Aktionen
an Grenzen stoßen: hinsichtlich dessen, was sie leisten
können, aber auch, was sie innerhalb ihrer Ausbildung gelernt
und was ihnen als »Praxis« — auch dies ein wichtiger Begriff
bei Christou — vertraut ist. Christou geht es um ein Überschreiten
der Grenzen von »Praxis« hin zu einer »Metapraxis«: Die
Erfahrung eines Sprungs aus dem Vertrauten heraus in etwas
qualitativ Anderes. Die Implosion eines existierenden
Systems hin zur Erfahrung von etwas, das jenseits
hiervon liegt...
Christous Kosmos erleben wir in »ONCE TO BE
REALISED« nicht durch seine eigenen Kompositionen,
sondern durch die sechs Adaptionen einer
jeweils sehr individuellen Auswahl aus den Project
Files durch die sechs Komponist*innen Barblina Meierhans,
Younghi Pagh-Paan, Olga Neuwirth, Beat Furrer, Samir
Odeh-Tamimi und Christian Wolff. Interessant hierbei ist,
dass alle sechs Komponist*innen in unserer Produktion, die
jungen ebenso wie die erfahreneren, einen mehr oder weniger
philosophischen Zugang gewählt haben. In ihren Stücken setzten
sie sich kompositorisch mit Fragestellungen auseinander,
wie in und mit Musik ein Jetzt unmittelbar erfahrbar wird.
Wir haben lange diskutiert, ob es die richtige Entscheidung
war, keine griechischen Komponist*innen mit im Projekt zu
haben. Ich halte sie weiterhin für richtig. Christou hat einen
derartigen Einfluss in Griechenland und ist eine nahezu übermächtige
Legende, an der man sich abarbeitet. Einen gewissen
Abstand seitens der Komponst*innen halte ich für wichtig —
auch für jene, die Christou gut kennen. Denn erst dieser Abstand
bietet die Möglichkeit, sich nochmals neu auf seinen Kosmos
einzulassen und neue Perspektiven kennenzulernen.
»ONCE TO BE REALISED«
PROJ. 29 / BALLET; MONOLOTIC RELENTLESSNESS
© Samir Odeh-Tamimi
»ONCE TO BE REALISED«
PROJ. 32 / PIANO: THE PIANIST – ACTOR PERFORMER
© Samir Odeh-Tamimi
54 55
Auch für mich ist das Projet »ONCE TO BE REALISED« ein
»return«, und das auf eine unerwartete Weise. Es ist die Rückkehr
zu etwas Vertrautem und sehr Persönlichem. Vertraut
aufgrund dreier Begebenheiten: Gemeinsam mit zwei engen
Freunden haben wir uns im Keller einer ihrer Wohnungen getroffen,
um Neue Musik zu hören. Darunter die von Jani Christou,
der für uns, die wir damals noch sehr jung waren, fast wie
ein Prophet war. Hinzu kommt meine eher zufällige Beziehung
zur Familie Christou in jenen Jahren der Unschuld: Ich war 19,
als ich zusammen mit einem der oben genannten Freunde und
den Kindern von Christou auf einer Insel die Sommerferien
verbrachte. Und schließlich habe ich zwei Jahre später im antiken
Theater von Epidauros die Wiederaufnahme einer Schauspielproduktion
der Perser gesehen, für die Christou, damals
bereits gestorben, die Musik komponiert und den Chor einstudiert
hatte. Ich war überwältigt... Der Einfluss dieses Erlebnisses
war enorm und ich fühlte mich, als wäre ich das
Opfer einer übermächtigen Kraft, während ich als
Zeuge an einem alchemistischen Ritual teilnahm.
Zugleich ist »ONCE TO BE REALISED« eine
seltsame Form der Geisterbeschwörung, an der
ich zu meiner eigenen Verwunderung beteiligt zu
sein scheine: Ich beobachte mich als jemanden, der
aktiv an ihr teilnimmt, der zugleich aber versucht, sie
von außen zu betrachten und zu verstehen, aus einer sorgfältig
gewählten Entfernung heraus, die es ermöglicht, die einzelnen
Elemente mit ihrem jeweiligen Anteil einzuordnen. Dabei
spüre ich die Gegenwart von Christou, nicht direkt in der Musik,
sondern in Prinzipien, die der Arbeit zugrunde liegen. Genau
definieren, was dabei geschieht, kann ich jedoch nicht. Es
ist wie die Fahrt mit einem Segelboot, auf der wir uns gemeinsam
befinden. Und bei der wir vielleicht am Ende verstehen
werden, wo sie uns hingeführt hat. Unterwegs folgen wir unserer
Intuition, haben aber einige von Christou entlehnte Grundprinzipien
als Orientierungspunkte, die es ermöglichen, aus
einem sehr reichen Material, das aus der Begegnung mit der
Seele und der Welt der Anderen heraus entsteht, auszuwählen
und dieses zu formen. Ich muss gestehen, dass ich diese Form
von Kontrollverlust im Arbeitsprozess sehr genieße.
Auf der anderen Seite haben wir das Material der sechs Komponist*innen.
In diesem gibt es das Moment des Rückbezugs,
aber eben auch das einer Neuausrichtung innerhalb des durch
Christous Grundgedanken definierten Bezugsrahmens. Mit
diesen je eigenen, neuen Herangehensweisen umzugehen ist
für mich ebenso ein Abenteuer. Dazu beobachte und höre ich,
und versuche zu erspüren, was in diesen Stücken vor sich geht.
Ich versuche, die Theatralität dieser Musik erfahrbar zu machen,
die sowohl bei Christou als auch bei den neu entstandenen
Stücken darauf beruht, dass die Mitwirkenden, unabhängig
davon, dass sie exzellente Musiker*innen sind, sich nicht
ausschließlich als solche sehen, sondern als Individuen, die
sich auf die Erfahrung einer Invokation eingelassen
haben.
Das gilt ebenso für das Publikum. Insgesamt geht
es darum, durch die Musik die Art, wie wir Realität
erfahren, zu erweitern, eine dynamische, offene
und darin immer auch verletzliche Form von
Erfahrungsraum zu ermöglichen. Das Publikum ist
hierbei ein nicht beherrschbares Element. In »ONCE
TO BE REALISED« gibt es Momente der Interaktion. Diese
stehen exemplarisch für das Moment von Verletzlichkeit innerhalb
des gesamten Theaterabends. Das Publikum ist mit
seinen Aktionen (Gehen, Sitzen, Bewegen, Warten, Besuchen,
Sehen, Hören, Vermuten, Zuhören) und seiner körperlichen
Präsenz ein wichtiges Element der Aufführung. Über seine
reine Anwesenheit als Publikum hinaus manifestiert sich mit
ihm eine besondere Gegenwärtigkeit/ein JETZT (das Gegenstand
endlosen Strebens in Christous Werk war): das unvermittelte
Eindringen der Realität in die Konventionen der Bühne,
das Wahrnehmung, Bewusstsein und Musik provoziert.
Umgekehrt bedarf es einer spezifischen Situation, die durch
die Aufführung definiert wird. Das ist einer der Gründe, warum
ich Project 43 an den Beginn der Aufführung gesetzt
habe. Christou spricht in diesem Project von einer »consecration«,
einer Weihe. Das mag religiös klingen, ist es aber nicht.
Vielmehr verstehe ich es als das Setzen eines Rahmens, um
etwas Vertrautes oder bislang Übersehenes auf eine spezifische
Weise wahrzunehmen. Mit dieser Rahmung gelingt es,
Dinge anders zu betrachten, als Rhythmus, als Musik, als
etwas unter der Oberfläche Liegendes wahrzunehmen.
Mit anderen Worten: Christous Project 43 hat
die Funktion, unseren Wahrnehmungsapparat zu
erweitern und unsere Erfahrung für verborgene
Aspekte der Realität zu öffnen: Realität wird zu
poetischer Erfahrung transformiert. Ohne solche
Rahmen gäbe es kein Theater, keine Fotografie
und kein Kino. Es gibt einen Rahmen und innerhalb
dieses Rahmens geschieht etwas. Mit Christou wird
man behutsam an existenzielle Grenzen geführt: Indem er
nach dem Nicht-Fasslichen fragt, berührt er die dunkle Seite
unserer Existenz, die ›andere Seite‹ der geschlossenen Tür.
Er verlangt vom Publikum und allen Mitwirkenden, sich auf
dünnes Eis zu begeben, an die Grenzen der Wahrnehmung
vorzustoßen und Kontrollverlust zuzulassen. Dazu muss man
sich beschützt und sicher fühlen und darf keine Angst haben.
Denn erst dann gelingt der Schritt von der Praxis zur Metapraxis.
56 57
»ONCE TO BE REALISED«
Silhouette – Silence
© Younghi Pagh-Paan
58 59
Jani Christou, Project File nos. 21
© Heirs of the Jani Christou archive / Erben des Jani-Christou-Archivs
The Leap from
Familiarity
A type of sightseeing tour of several of Jani Christou’s
“terms and notions” that defined his short journey through
art, life, and music.
By Michail Marmarinos
director of »ONCE TO BE REALISED«,
Recorded by Sebastian Hanusa
dramaturge and composer;
Dramaturge of »ONCE TO BE REALISED«
The festival motto Point of NEW Return has
for “ONCE TO BE REALISED” multiple meanings.
To begin with, it describes regressing to
fifty-year-old primary material in the form
of the “Project Files” by Jani Christou. These
130 short texts at times outline concretely a
musical structure, at times the process development
of a composition—that is, a section or
part of a composition—and at times they are
more a description of an aesthetic idea. They
were created with regard to being produced at
a later date, a “ONCE TO BE REALISED”: they
aren’t completed compositions, nothing is set
in final form; they are rather starting points
of a dynamic process of realisation. This
“once” is a promise and simultaneously a cross
reference to the impossibility to secure something
with a title, which dynamically points to
an openness. For when can this “once” be?
This “once” was formulated in a past time, by
someone who in the meantime is in a different
temporal dimension.
Thinking about a Point of NEW Return
in front of this background is a flirt with the
impossibility of a dal initio, of the very first
beginning. For in reference to Christou it is
almost absurd to talk about the return to a
certain point, as this “point” never existed.
We are the first to reach a point, to achieve a
tangible result. And so there can be no return.
Now we are accustomed to measuring time as
a path between two fixed points in a spacetime-continuum.
A Point of NEW Return always
precedes another point as a marking for
a certain condition of the world. The “re” in
“return” refers to this point, it is the reference
value against which a possible something
new, something different, is measured. And
yet alongside these fixed reference points,
which have the quality of being events at a
certain point in time with something unchangeable,
something final, there stands the
eternal flowing river of time.
To directly grasp this as such and not conveyed
via a system of symbols, such as language,
is not possible. Language is necessary
as a map, with which we navigate across the
ocean of time. Here I often have to think of
Aristoteles’ definition in Organon: “Spoken
words are the symbols of mental experience
and written words are the symbols of spoken
words. Just as all men have not the same writing,
so all men have not the same speech
sounds, but the mental experiences, which
these directly symbolize, are the same for all,
as also are those things of which our experiences
are the images.”
When we attempt to grasp the world with our
minds we rely on using symbols. Every type
of symbol. To make the world of conceptions,
however, directly experienceable, art and especially
music can succeed in doing this—but
only in a very subtle way, always only indirectly,
and not with the help of our minds. It
can create a type of “canal” through which
runs the stream of time and as a consequence
also with it the river of conceptions. If one
immerses herself or himself in it, one can have
the experience of an immediate encounter
with these conceptions. And as much as this
river dispossesses itself from the term through
one’s understanding, we attempt over and over
again to grasp it. And over and over again we
come back to this attempt, and this too is a
“return”: for instance by bringing certain
theater pieces or operas over and over again
to the stage, in the constant attempt to make
their inherent concepts, their intangible core,
tangible after all. This illusion is the stimulus
behind our action. The futility of this action
and the simultaneous necessity to attempt
this over and over again is a deeply tragic
quality of humans.
There are several central terms that can be
found time and time again in Jani Christou’s
work. One of them is the term “continuum” as
a stream of sound, noise, or other things. Another
word he often uses in connection with
this is “preexist”: it names something that
always was there, even if we do not perceive
it. And suddenly it appears to our senses. As
a performance of temporality in itself. For
this purpose, Christou searched his entire life
for paths, he sharpened his tools, and tried to
sensibilize himself. That occurred in a period
at the end of the 1960s, which were in many
aspects revolutionary and at the same time
extremely vital. And, that he achieved something
that is still relevant and alive.
Additional terms that frequently appear
in his work, such as “panic” or “nightmare,”
revolve around extreme zones of human existence
and are at the same time border areas for
the participating musicians and singers. He
had always viewed them as people who reach
their limits in their actions: in view of what
they can achieve, but also what they learn during
their training and what they are familiar
with through “praxis” (practice)—this is also
an important term of Christou’s. Christou
deals with crossing the boundaries of “praxis”
and going beyond to a “metapraxis”: the experience
of a leap from familiarity into something
qualitatively different. The implosion
of an existing system all the way to an experience
of something that lies beyond this…
We experience Christou’s cosmos in “ONCE
TO BE REALISED” not through his own compositions,
but rather through the six adaptions
of a respectively very individual selection
from the Project Files by the six composers
Barblina Meierhans, Younghi Pagh-
Paan, Olga Neuwirth, Beat Furrer, Samir
Odeh- Tamimi, and Christian Wolff. What is
interesting here is that all six of these composers
in our production, the young ones as
well as the more experienced ones, have more
or less chosen a philosophical approach. In
and with their pieces they examine in a compositional
manner issues as to how a “now”
will be directly experienceable in music.
We discussed for a long time whether it was
the correct decision to not have a Greek composer
participate in the project. I still think
this was a correct decision. Christou had such
60
61
an influence in Greece and is almost an overpowering
legend, a legend one works through
until one is exhausted. I feel it’s important the
composers maintain a certain distance—this
also applies to those who are very familiar
with Christou. For not until this evening is the
opportunity provided to approach this cosmos
anew and to become acquainted with new
perspectives.
The project “ONCE TO BE REALISED” is also
for me a “return,” and in an unexpected manner.
It is the return to something familiar and
very personal. Familiar because of three incidents:
I got together with two close friends
of mine in the basement of one of their apartments
to listen to new music. This included
the music of Jani Christou, who was almost a
prophet to us (we were very young at the time).
In addition to this there was the more or less
coincidental relationship to Christou’s family
in those innocent years: I was 19 when I and
one of the aforementioned friends and Christou’s
children spent a summer vacation on an
island together. And eventually two years
later I saw a revival of the theater production
The Persians in the ancient theater of Epidaurus
for which Christou, who had already
passed away by then, had composed the music
and rehearsed the choir. I was overwhelmed...
The influence this experience had on me was
enormous and I felt as if I were the victim of a
supernatural power as I witnessed and participated
in an alchemistic ritual.
At the same time, “ONCE TO BE REALISED”
is a strange form of necromancy, in which I,
to my astonishment, appear to be involved in:
I observe myself as someone who actively
takes part in it, but who simultaneously attempts
to examine it from the outside and to
understand it, from a carefully selected distance
that makes it possible to categorize the
individual elements with their respective allotments.
All the while I sense the presence of
Christou, not directly in the music, but rather
in several principles that are basic to the
work. However, I cannot exactly define what
happens during this. It is like a sailboat cruise
and we are all on the sailboat. And we will perhaps
understand at the end of the cruise where
»ONCE TO BE REALISED«
AFTER JANI CHRISTOU
© Christian Wolff
it has taken us. En route we follow our intuition,
but we have several basic principles derived
from Christou as reference points, which
make it possible to select from a rich material,
which is created from the encounter with the
soul and other people’s worlds, and to form
this. I must confess that I very much enjoy this
form of loss of control in the work process.
On the other side, we have the material of the
six composers. In this material there is the moment
of reference, but also that of a new direction
within the defined frame of reference in
Christou’s fundamental concept. And dealing
with these individual, new approaches is for
me an adventure by the same token. To this
end, I observe and listen, and attempt to sense
what is going on in these works. And I attempt
to make the theatricality in this music experienceable,
which with Christou as well as with
the recently created works is based on the
participants, independent of the fact that they
are excellent musicians, not seeing themselves
as such exclusively, but rather as individuals
who have become involved in the experience
of an invocation.
That also applies to the audience. Overall it
has to do with expanding through music the
manner in which we experience reality, to
enable a dynamic, open, and also always vulnerable
form of an experience realm. The
audience is in this an element that cannot be
controlled. In “ONCE TO BE REALISED”
there are moments of interaction. These represent
exemplarily the moment of vulnerableness
during the entire evening of theater.
With its actions (walking, sitting, moving,
waiting, visiting, seeing, hearing, suspecting,
listening) and its physical presence, the audi-
ence is an important element of the performance.
But beyond its pure presence as an
audience, with them is a demonstration of a
special presence/a NOW (which was the object
of an endless aspiration in Christou’s
work): the abrupt intrusion of reality into
stage conventions, which provokes perception,
awareness, and music.
Inversely, the specific situation is required
that will be defined by the performance. That
is one of the reasons why I positioned Project
43 at the beginning of the performance. In this
project Christou speaks of a “consecration.”
That may sound religious, but it isn’t. I see it
rather as laying a framework in order to perceive
something familiar or something previously
overlooked in a specific manner. One
succeeds with this framework to perceive
things differently—as rhythm, as music, as
something different lying under the surface.
In other words: Christou’s Project 43 has the
function of expanding our perception apparatus
and opening up our experience of hidden
aspects in reality: reality transforms into
a poetic experience. Without such frameworks
there would be no theater, no photography,
and no cinema: there is a framework and within
this framework something happens.
With Christou, one is gently led to existential
boundaries: by him exploring the incomprehensible
he touches the dark side of our existence,
the “other side” of the closed door. He
demands from the audience and all of the
participants that they walk on thin ice, forge
forward to the limits of perception, and allow
the loss of control. To do this one must feel
protected and secure, and one cannot be
afraid. For only then will the step from praxis
to metapraxis succeed.
62
63
»ONCE TO BE REALISED«
NOW
© Barblina Meierhans
64 65
Ein reizvoller Gedanke
— NOCH ZU
VERWIRKLICHEN
Von Costis Zouliatis
Pianist, Komponist, Musikwissenschaftler
66 67
Jani Christou, Project File nos. 17
© Heirs of the Jani Christou archive / Erben des Jani-Christou-Archivs
Er bleibt der große Fremde. Und doch zählte Jani Christou
(1926-1970) zu den wichtigsten Vertretern der musikalischen
Avantgarde des 20. Jahrhunderts. In der heutigen Musikszene
weitgehend unbekannt, startete er in den 1950er und 1960er
Jahren eine vielversprechende Karriere, ohne dass er die Popularität
und das Renommee eines Xenakis, Penderecki oder
Henze erreichte. Sein Werk kennzeichnet eine seltene Geschlossenheit
und Konsistenz, nicht nur hinsichtlich der innovativen
Notation und stilbildenden Medien, die mit ihm Einzug
in die Klangwelt hielten, sondern auch mit Blick auf das
philosophische Universum, das seine Kompositionen prägte:
Mythen, Transzendenz, das Primordiale, Ritual, Panik, Hysterie...
Sein Werk konstituiert Kontemplation und spirituelles
Handeln. Es inspiriert in seiner unendlichen Vielfalt und weit
über die Musik und Kunst hinaus.
Geboren in Heliopolis, Kairo, ein heiliger Ort so alt wie die
Zeit, und aufgewachsen in Alexandria komponierte
Christou schon im frühen Alter erste Musikstücke.
Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte er in Cambridge
Philosophie, wo Ludwig Wittgenstein, Bertrand
Russell, C. D. Broad und andere bedeutende
Philosophen Vorlesungen gaben. In Komposition
und Kontrapunkt unterrichtete ihn der prominente
Musikwissenschaftler sowie Alban Berg- Forscher
und -Biograf Hans F. Redlich, Instrumentationslehre
belegte er bei dem Filmkomponisten Angelo Francesco Lavagnino
und bei Vito Frazzi. In den 1950er Jahre bereiste er
ausgiebig Europa und verbrachte eine kurze Zeit bei seinem
Bruder Evey Christou, der ihn mit den Lehren C. G. Jungs vertraut
machte. Christous Kompositionen aus jenem Jahrzehnt
faszinieren durch die großartige Setzung des modernen Orchesters
post-strawinskyscher Prägung: Phoenix Music, Symphony
No. 1, Latin Liturgy, Six T.S. Eliot Songs, Symphony No.2.
Ab 1960 komponierte Christou ungemein dynamische
Orchesterstücke, darunter Toccata for Piano & Orchestra,
mit dem Klavier als Perkussionsinstrument, sowie Patterns
& Permutations, sein erstes Stück in denen er »Patterns« verwendet,
von ihm erfundene Strukturkomponenten, die sich
ableiten von der philosophischen Perspektive auf die Erneuerung
von Lebens- und Naturmustern und das auf sie bezogene
ritua lisierte, mythische Element im Verständnis des Menschen.
Und dann die fulminanten Oratorien: Tongues of Fire,
ein qualvolles und dennoch erlösendes Pfingstritual, und Mysterion,
zu alt-ägyptischen Texten aus dem Totenbuch.
Christous spätere Werke resultieren aus seiner radikalen
Epiphanie gegenüber der musikalischen Praxis. Das konventionelle
System der Noten und Linien wurde aufgehoben.
Christou entwickelte ein eigenes grafisches Notationsprinzip
mit Symbolen und Zeichen, die nicht nur auf musikalische Anweisungen
verweisen, sondern auch auf Gesten, Bewegungen
und psychische Verfasstheiten. Seine Partituren erinnerten
jetzt an Storyboards oder Comics. The Strychnine Lady steht
für die Öffnung hin zu anderen Kunstformen, wie Theater
und Performance, und zur konsequenten Integration psychologischer
Aspekte. Es evoziert das Primitive, Irrationale. Die
Präsenz Jungs ist spürbar. Das Stück basiert auf einer mittelalterlichen
Alchemistengeschichte und auf einem Traum
Christous von einer Frau, »die Strychnin und ungewöhnliche
Erfahrungen bietet«. Praxis und Metapraxis lieferten das
kohäsive Konzept, das die Kernessenz seines Werkes
jener Epoche darstellte. Bipolare Begriffe, die sich
als »Aktion« und »Transzendenz« interpretieren
lassen, definierten spezifische Aktionen und
charakteristische Gesten in der Komposition und
bestimmten dabei den gesamten Bedeutungsrahmen
seines Werkes und dessen Intention.
Gegen Ende der 1960er Jahre arbeitete Christou
intensiv an einer Inszenierung der Orestia von Aischylos,
seiner großen Oper mit psychodramatischen Episoden,
Elektronik, Visual Effects, Instrumentalist*innen, Performer*innen
und Tänzer*innen. Für die Orestia plante er die
Produktion von knapp vierzig Anaparastasis-Stücken (gewissermaßen
»Reinszenierungen«), von denen er nur zwei vollendete:
I – Astronkatitha nikteronomighirin und III – Der Pianist.
Parallel dazu inspirierte ihn der Ruf aus den USA zu einem
weiteren orchestralen Feuerwerk: Enantiodromia, eine
furiose Interpretation des heraklitischen Spiels mit Gegensätzen,
eine »Musik der Konfrontation«.
Die ambitioniert außerweltliche Oper wurde jedoch nie
vollendet. An seinem 44. Geburtstag starb Christou, einer der
vielversprechendsten und provokantesten Komponisten seiner
Generation, bei einem Auto unfall.
Die Project Files, auf denen »ONCE TO BE REALISED« basiert,
bleiben eines der großen Mysterien, die der viel zu früh verstorbene
Jani Christou hinterließ. Dabei liegt das Rätselhafte
nicht in der Unvollständigkeit der einzelnen Skizzen, sondern
manifestiert sich sehr real bei der Entschlüsselung ihres Inhalts,
beim Versuch, ihr wahres Wesen zu erfassen. Ein Corpus
von knapp siebzig Seiten und 130 durchnummerierten Projects,
händisch transkribiert irgendwann im Jahr 1969 — wenige Monate
vor dem Tod des Komponisten. Sie alle liegen in Textform
vor, mit einer Länge zwischen einer Zeile und fünfzehn Zeilen,
ohne jede musikalische Instruktion, die Hinweise auf eine
klangliche Ausführung gäbe. Eine klare, gleichwohl kodierte
Liste von Ideenentwürfen, die noch zu realisieren wären, eine
Kollektion kurzer, konzentrierter Szenarien, vielleicht ein Index
— wenn auch ohne dazugehörigen Inhalt, unfähig, für sich
selbst zu sprechen. Da keine Vorentwürfe oder andere, mit dem
Werkskörper zusammenhängende Skizzen überlebt haben,
scheint es heute unmöglich, mit Sicherheit sagen zu
können, wofür die einzelnen Projects stehen.
Eine gründliche Lektüre offenbart jedoch,
dass Christou selbst bereits einen signifikanten
Teil der Projects realisiert hatte (Anaparastasis I,
Epicycle). Andere sollten vermutlich in neuen Versionen
präsentiert oder überarbeitet werden. Wieder
andere waren für Premieren in den kommenden
Monaten vorgesehen (Anaparastasis III). Daneben gibt
es begonnene Schriften, die später in andere Werke eingefügt
werden sollten (die Orestia als aktualisierte Version des Epicycle).
Bei einigen handelt es sich nur um kurze Erinnerungen
an ergänzende, kleinere Aufgaben für den Komponisten selbst
(ein Anhang, ein Text, ein Band usw.). Manche enthalten nur
Verweise auf eine nicht-musikalische Veranstaltung, eine Lesung
oder ähnliches, oder sind ergänzende Elemente, Teile
eines größeren Ganzen, in wieder anderen Texten finden sich
Beschreibungen der Struktur, die die kleinformatigeren Konzepte
bindet. Um uns nicht der Gefahr der Überinterpretation
auszusetzen, schlagen wir vor, die Projects als Haftnotizen auf
dem Kühlschrank des Komponisten zu begreifen, als To-Do-
Liste verschiedener Aufgaben, die der unglaublich beschäftigte
Künstler noch zu erledigen hatte.
Vielleicht hatte er auch vor, die Projects in der Planung verschiedener
Veranstaltungen auf der Insel Chios zusammenzuführen.
Dort, in der Bucht von Kato Fana wollte Christou ein
neues internationales Festival für zeitgenössische Musik und
Mixed-Media-Performances begründen, eine Begegnung von
Künstler*innen aus aller Welt, Einwohner*innen der Dörfer
vor Ort, Tourist*innen und einem engagierten Ensemble, das
seine Stücke aufführen würde. Doch auch dieses Projekt wurde
nie realisiert.
A stimulating idea (Ein reizvoller Gedanke): Das schrieb
Christou auf seine Manuskripte, um Konzeptideen zu kennzeichnen,
die er der weiteren Ausarbeitung für würdig befand,
die zu einem Aufführungswerk oder zu einem philosophischen
Text werden, oder einer neuen, musikalischen Komponente
gar substanzielle Bedeutung zuweisen könnten. A stimulating
idea umfasst, wofür die Projects heute stehen könnten, frei
von jeder vergeblichen Pflicht, ihren Inhalt zu entschlüsseln.
Der Begriff beschreibt auch den Geist, in dem die sechs an
dem Musiktheater-Projekt »ONCE TO BE REALISED« beteiligten
Komponistinnen und Komponisten sich den dichten,
orakel gleichen Schriften genähert haben. Nicht mit der
Mission, zu vollenden, was unvollendet blieb, sondern
vielmehr im kreativen Bemühen um die Assemblage
all der Richtungen, in die ein inspirierender
Ausgangspunkt führen kann. Vor zwanzig
Jahren näherte sich Rupert Huber genau so und
als erster überhaupt zwei dieser Projects: im Bestreben,
ihnen aus der Perspektive des Komponisten
eine Form zu geben.
Zurückkehrend zur Frage, was Christou beabsichtigte,
müssen wir die Widersprüche betonen, die sich aus der Haltung
des Komponisten zu ergeben scheinen. Widersprüche, die einen
radikalen, ständig rastlosen Charakter offenbaren, der
»sich nie einfügen wollte«. Ein Künstler, der eine große Oper
für eine Welttournee vorbereitete, gleichzeitig jedoch »persönlich
gegen die musikalische Form rebellierte«. Ein Künstler,
der ein Musikfestival begründen wollte, die Kunstfestivals
seiner Zeit jedoch samt und sonders als »kulturellen Katzenjammer«
bezeichnete und selbst Festivals zeitgenössischer
Musik als »spießige Kulturveranstaltungen nach immer
gleichem Muster« kritisierte. Ein genuin unkonventioneller
Künstler, der sich entschieden gegen den Begriff »Musiktheater«
wehrte, jegliche Intervention der Regie ablehnte, und
gleichzeitig fabulöse Patchworks aus Musik, Theater, Psychodrama
und Performancekunst schuf.
68 69
Jedes Beispiel seiner Praxis — sei es ein Musikstück, eine theoretische
Abhandlung, eine konzeptionelle Erfindung oder
jede andere Komponente seiner musikalischen, künstlerischen,
historischen oder globalen Perspektive – bezeugt, dass
Christous Lebenswerk leidenschaftliche Geste ist. Eine Geste,
die die Grenzen jeder Idee überwinden soll, jede
Schranke, die das Handeln und Denken des Menschen
hemmt. Damit sich der Zweck und die Bedeutung
der Kunst erweitere, selbst wenn dabei
einzelne Aspekte abgelehnt werden: »Die Bedeutung
der Musik muss weiter gefasst werden. Wir
müssen die Schranken niederreißen, und nicht nur
als Exhibitionisten.«
So sollten wir den initialen Einfluss dieser stimulierenden
Ziffern als »Ritual der Kommunikation verstehen,
in dem nicht nur Klang, sondern auch Handlung und Geste eingesetzt
werden können, hier und da scheinbar zusammenhanglos,
doch immer in profunder, irrationaler Weisheit, wie
im Traum.« (Christou)
meaning for the work and its aims. In the late
1960s, Christou began working intensively on
a realisation of Aeschylus’ Oresteia, envisaged
as a large-scale opera that would incorporate
psychodramatic episodes, electronics, visual
effects, instrumentalists, performers and
dancers. In this spirit, he started producing a
body of nearly forty Anaparastasis (which can
be translated as “re-enactment”) pieces that
Oresteia would embody, of which he completed
only two: I–astronkatithanikteronomighirin
and III–The Pianist. In the meantime,
a transatlantic call brought forth another orchestral
firework: Enantiodromia, a ferocious
interpretation of Heraclitus’ play of the opposites,
“a music of confrontation.”
But the ambitiously otherworldly opera
was never to be completed; on his birthday,
Christou was killed in a car accident. He was
only 44 years old and one of the most promising
and provocative composers of his generation.
The Project Files, on which »ONCE TO BE
REALISED« is based, remain one of the
great mysteries that the untimely loss of Jani
Christou left behind. And the enigma lies not
in the incomplete nature of the individual
drafts, but in the substantive puzzle of deciphering
their content, asserting their actual
nature. A body of nearly seventy pages with
130 numbered Projects that were transcribed
by hand, sometime in 1969—mere months
before the composer’s passing; all of them in
textual form, varying from just one to fifteen
lines, without any musical instructions
to elucidate their sonic interpretation. A clear
yet encoded list of draft ideas to be realised,
a collation of brief, concentrated scenarios
to serve rather as an index—in fact, an index
without corresponding content, unable to
speak for itself. Since no preliminary rough
drafts or other associated sketches have survived,
it seems impossible now to pronounce
with some certainty what every single Project
stands for.
A meticulous reading, however, reveals
that a significant part of the Projects had already
been realised in a certain form by Christou
himself (e.g. Anaparastasis I, Epicycle), yet
some of the numbers were probably planned to
A stimulating idea —
ONCE
TO BE REALISED
Christou entered the 1960s delivering explosive
orchestral pieces: Toccata for Piano &
Orchestra, where the piano is regarded rather
as a percussion instrument; Patterns & Permutations,
into which he first integrated the
use of “patterns”, his own invention in terms
of structural components, derived directly
from a philosophical viewpoint concerning
the renewal of patterns in life and nature, as
well as the ritualistic mythical element in
man’s understanding of patterns. And then
the imposing oratorios: Tongues of Fire, a harrowing
yet still redemptive ritual of the Pentecost;
and Mysterion, on Ancient Egyptian
texts from the Book of the Dead.
His later works stem from a radical
epiphany in his approach to musical praxis.
Christou abolished the conventional musical
system of notes and staves, introducing his
own graphic notation with symbols and signs
By Costis Zouliatis
Pianist, Composer, Musicologist
Jani Christou, Project File nos. 105
© Heirs of the Jani Christou archive / Erben des Jani-Christou-Archivs
that could indicate not only musical instructions
but also gestures, movements and psychological
states. The scores resemble storyboards
or comic books. The Strychnine Lady
signifies the composer’s opening up to other
art forms, such as theatre and performance
art, and to the integral involvement of psychological
factors; a call to the primitive, to
the irrational. Jung is present here; the piece
incorporates a storyline borrowed from a
medieval alchemical tale, as well as one of
Christou’s dreams about a lady “who supplies
strychnine and unusual experiences”. Praxis
and Metapraxis are introduced, thereby providing
a cohesive concept that concentrates
the core essence of his works. The bipolar
terms, which could be interpreted as “action”
and “transcendence”, also define specific actions
and characteristic gestures within a
work, while determining the overall frame of
Returning to the question of what Christou
aimed for, one should point out the contradictions
that seem to emerge from the composer’s
stance; contradictions that reveal a radical,
always restless figure who “never wanted
to fit in.” Someone who was preparing a largescale
opera to tour around the world, but at
the same time was manifesting “a personal
revolt against musical form”; someone who
set out to initiate a music festival, but called
all art festivals of his time “cultural hangovers,”
dismissing even contemporary music
festivals as “stuffy cultural experi ences of
certain patterns”; a genuinely unconventional
artist who firmly renounced the term “musical
theatre,” rejecting the interference of
any director, while he crafted mesmerising
patchworks of music, theatre, psychodrama
and performance art.
Even though he remains a great stranger, Jani
Christou (1926–1970) numbers among the major
figures of the twentieth-century musical
avant-garde. While only some in the music
world are familiar with his work today, Christou
moved on a greatly promising trajectory in
the 1950s and 1960s, without sharing the renown
and prestige accorded to the likes of
Xenakis, Penderecki and Henze. His work is
characterised by a rare unity and consistency,
not only regarding his innovatory notation
and the pioneering means he introduced to the
sonic world, but also in terms of his own philosophical
universe, which inspires and runs
through his compositions: myth, the tran scendent,
the primordial, ritual, panic, hysteria…
His œuvre constitutes a kernel of contemplation
and spiritual action, which could truly
inspire people today in diverse ways, and not
just in terms of music or even art.
Born at Heliopolis of Cairo, a sacred place as
old as time, Christou was raised in Alexandria
and began composing at an early age.
After World War II he went to Cambridge to
study philosophy at a time when Ludwig Wittgenstein,
Bertrand Russell, C. D. Broad and
other great philosophers were lecturing there.
As for his advanced music education, he studied
composition and counterpoint with Hans
F. Redlich, a prominent musicologist and
scholar of Alban Berg, and orchestration with
film music composer Angelo Francesco Lavagnino
and Vito Frazzi. During the 1950s he
travelled widely in Europe, culminating with
a short period in Zurich, where, alongside his
brother, Evey Christou, he was exposed to the
teachings and ideas of C. G. Jung. His compositional
output within this decade unveils a
riveting mastery in dealing with the modern
orchestra of post-Stravinskian deri va tion:
Phoenix Music, Symphony No. 1, Latin Liturgy,
Six T. S. Eliot Songs, Symphony No.2.
What is witnessed in every single instantiation
of his praxis–be it a musical work, a theoretical
piece, a conceptual invention, or any
component of his perspective of music, of art,
of history, of the world–attests that Christou’s
life’s work is an anguished gesture to break
the barriers of every notion that restricts
Man’s thought and action, to broaden the purpose
and the importance of art, sometimes
even by rejecting aspects of it: “The meaning
of music must be enlarged. We need to break
down the barriers, not just as exhibitionists.”
And so, we should deem the initial influence
that comes from these stimulating ciphers as “a
ritual of communication, a ritual in which not
only sounds but actions as well as gestures may
be used, occasionally in a seemingly disassociated
manner, but always with a deeper irrational
wisdom, as in dreams.” (Christou)
be re-edited or re-presented in a different version;
and some others were planned to be premiered
in the months ahead (e.g. Anaparastasis
III). Some others were just incipient
scripts to be integrated later into other works
(e.g. Oresteia, the updated version of Epicycle),
while some were just brief reminders for
the composer to complete a side task (an appendix,
a paper, a tape etc.); some only suggested
a non-musical event, e.g. a lecture;
some prove to be subsidiary concepts belonging
to a wider structure, some others shape a
description of this structure which concentrates
on the lesser concepts. To avoid the risk
of over-interpretation, we should consider the
Projects as Post-it notes on the composer’s
fridge, a to-do list of miscellaneous tasks for
a fiercely busy artist.
And one should not rule out the possibility
that the Projects amounted to a draft planning
of various events to be realised on the
island of Chios. There, at the bay of Kato
Fana, Christou envisioned a ground-breaking
international festival of contemporary
music and mixed-media performances taking
place annually, to which performers from
all over the world, local villagers, tourists
and a committed ensemble performing his
works would have been invited. But this too
was fated to be just another project in vain.
A stimulating idea; a term which Christou
would note on his manuscripts, marking
every worthy conceptual idea to be further
elaborated, become a performative piece,
form a philosophical paper or even give substantial
meaning to an innovative musical
component.
A stimulating idea; this describes what
the Projects could stand for today, exempt
from a futile duty to decipher their content.
This term also describes the spirit in which
the six composers involved here have tackled
these condensed, oracle-like scripts. Not as
in a mission to complete what was left unfinished,
but rather as in a creative struggle
to assemble all the directions that an inspirational
starting point could generate. That
is also what maestro Rupert Huber was the
first to do with two of the Projects, a couple
of decades ago, endeavouring to give them
shape from a composer’s point of view.
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»ONCE TO BE REALISED«
NOW
© Barblina Meierhans
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»ONCE TO BE REALISED«
AFTER JANI CHRISTOU
© Christian Wolff
»ONCE TO BE REALISED«
AFTER JANI CHRISTOU
© Christian Wolff
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TRANSSTIMME
Oper in zwei Akten
Komposition: Fabià Santcovsky
Libretto: Anja Hilling
Regie/Bühne: Blanka Rádóczy
Kostüme: Andrea Simeon
Dramaturgie: Sarah Grahneis
Musikalische Leitung: Christopher Lichtenstein
Klangregie: Alexis Baskind
Mit: Jelena Banković Sopran
Georg Mitterstieler Schauspieler
Ensemble des Staatsorchesters Braunschweig
Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf: muenchener-biennale.de
Kompositions- und Librettoauftrag der Landeshauptstadt München
zur Münchener Biennale und des Staatstheaters Braunschweig.
Koproduktion der Münchener Biennale mit dem Staatstheater Braunschweig.
Mit freundlicher Unterstützung durch das Institut Ramon Llull.
In »TRANSSTIMME« fragt der Komponist Fabià Santcovsky sowohl
nach der existenziellen Bedeutung der menschlichen Stimme
für die Identität des Menschen als auch nach den Risiken eines
technischen Optimierungswahns. Mit seinem an mythologische
Stoffe wie Pygmalion, aber auch an den Allmachtswahn
eines Faust erinnernden Musiktheaterstücks
beleuchtet er die fragwürdigen technologischen Entwicklungen
unserer Gegenwart und ihre Auswirkungen
auf unsere menschlichen Beziehungen.
In “TRANSSTIMME” Fabià Santcovsky enquires
about the existential significance of the human voice
for a person’s identity, as well as about the risks involved
in the mania for technical optimization. With his
music theater piece, which reminds one of mythological material
such as Pygmalion, but also of the almightiness mania of a
Faustian character, he illuminates the dubious technological developments
of our present times and their effects on our human
relationships.
conversations (on time)
Von Anja Hilling
Theaterautorin; Librettistin der Produktion »TRANSSTIMME«
Der Gedanke des Festivals (Point of NEW Return) ist für mich
untrennbar mit dem Rauschen der Zeit verbunden. Einer
Rückkehr müsste ein Aufstand vorausgehen, angeführt von
der Sehnsucht, erlöst zu werden aus dem Regime des Moments,
der passiert, damit der nächste passieren kann, getrackt
wird, damit er spurlos bleibt in der Zeit. Es bräuchte den
Augenblick, der alle Zeiten versammelt, die, die waren, kommen,
sind. (es bräuchte eine Saison, die in den vier Quartetten
von T.S. Eliot spielt) Es bräuchte den Mut, die Strömung nach
vorne zu stören, Lücken in der Chronik, Flecken auf den Bildern,
den Gesichtern, Pausen in der Kommunikation, funktionslose
Stimmen, entkoppelte Bänder. Die Informationen
würden verschwimmen, die Archive gelöscht werden
zugunsten einer unfassbaren Erinnerung. Ich glaube,
dass so eine Erinnerung gespeichert wurde, an
einem Punkt im Körper, der nicht fixiert ist und
nur zugänglich in einem Zustand, den man
— Stille —
nennt. Ich glaube nicht, dass ich dort je gewesen
sein werde.
»At the still point of the turning world.
Neither flesh nor flesh less.« (t.s.e.)
Im Moment bin ich in einem Café, vor einem Bildschirm, vor
einer Fensterscheibe, vor einer Stadt, in der es regnet an diesem
Tag. Den ich nutzen wollte, um mit irgendwas weiterzukommen,
das sich am Anfang schon mal zeigte, im Ganzen,
das zu vergessen wahrscheinlich der Witz der Arbeit ist. Mein
Auge ist gerade mit einem Zucken beschäftigt. Ich kann nicht
sagen, wann es begann, nur dass ich schon jetzt nicht mehr
weiß, wie es sich ohne gelebt hat. Ich fange an, die Arbeit fallenzulassen
oder die Beschäftigung des Auges zu meiner eigentlichen
zu erklären. Das Zucken kommt nicht vom Auge,
nähert sich ihm aber, von außen wie von innen, bis zum Glaskörper,
einer Grenze, an der das Zucken nicht aufhört, sich zu
nähern.
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»TRANSSTIMME«
© Fabià Santcovsky
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»And do not call it fixity.
Where past and future are gathered.« (t.s.e.)
Die Zuckung ist weder zu steuern noch zu stoppen und versetzt
mich in einen Zustand, den ich Natur nennen würde,
wäre das Wort nicht verbraucht, was es absolut ist. Also bitte
ich die Maschine, es zu ersetzen, ein Synonym zu finden, das
mir so neu ist wie der Wunsch, runterzufahren.
»In my beginning is my end.« (t.s.e.)
Ich seh, wie früher, als ich noch ans Weiterkommen glaubte,
in die Maschine, die jetzt ein Körperteil zeigt im schwarzen
Spiegel. Meine Hand, genauer gesagt die linke, sie dreht sich
in die Luft, um sich selbst, kurz vor halb drei am Nachmittag,
ohne Anlass, ohne was zu wollen (wen begrüßen, was bestellen,
den Neustart, Kaffee), diese Gelenküberschreitung, die
ich weder fühlen noch wiederholen kann, die mir, wie
soll ich sagen: entspringt.
Woher ich das weiß, jemand hat gefragt, in
diesem Moment, in meinem Rücken, in der Nähe
des Tresens: »weißt du, wie spät es ist?« Jemand
anderes hat geantwortet, sehr genau, auf Englisch,
mit französischem Akzent: »two twenty
two.« Ich wollte mich umsehen, nach dem, der nach
der Uhrzeit fragte, weil ich mich nicht erinnern konnte,
wann ich die Frage das letzte Mal hörte, aber dann kam
die Antwort, so korrekt (2:22), und mit ihr die Erinnerung, an
— jemand, den ich kenne. Wie gut (ich weiß es nicht), ich kenn
ihn auf eine Weise, die mir sagt, dass ich ihn besser mit geschlossenen
als mit offenen Augen zeichnen könnte (was ich
natürlich beides nie versucht hab). Er hat mir gesagt, er wird
sterben, nicht irgendwann, sondern bald, und ich erinner
mich daran, hier, von einer neuen Ruhe in den Augen befallen,
den pausenlosen Blick durch die Scheibe, dass ich, in dem Moment,
in dem die Nachricht von seiner Krankheit mein Ohr
erreichte, mich selbst gesehen hab, in einem Café am Nachmittag,
vor einer Fensterscheibe, die Reflexionen meiner eigenen
Gesichtsfetzen geworfen in die vom Regen in sich gespülte
Bewegung auf der Straße, zwei Jahre nach seinem Tod.
»Quick now, here, now, always.« (t.s.e.)
80
Ich hab ein Verlangen, das wahnsinnige Verlangen zu quatschen,
jetzt, mit wem, irgendwem, mit ihr zum Beispiel, einer
Frau von heute. Sie hat grüne Augenbrauen, trägt ein headset
und kommt auf mich zu, aber sie will nur den Zucker, ich will
sie festhalten, ihre Hand, auf der Strecke zum Streuer, ich will
ihr die Hörer aus dem Ohr nehmen oder die Stimme sein, die
ihr Gesellschaft leistet, hier, wo wir in ein Gespräch geraten
über ihr Gesicht, denn sie hat so eins, das sich verschließt bevor
es einem was verraten kann, und ich sage ihr, dass sie in der
Lage ist, uns zu versetzen, kraft eines mystischen Lächelns,
dreihundert Jahre zurück, in die Zeit als wir uns Porzellan in
die Brauen flochten und einen Garten ins Haar und das Gesicht
unter Masken lag, die ein Protest waren gegen die Diktatur des
Glases, der Gedanken, der Träume, der Haut. Und ich frage die
Frau, die ja schon längst wieder weg ist, an einem der Tische,
mit ihrem süßen Tee und einem Gesicht, das sich jetzt verhält
wie jedes andere und alle Tiefe verliert, sobald es angesehen
wird: »weißt du noch (dass die Masken aus Silber und
die Schweißperlen darunter filigran waren und glitzerten?).«
Die Frau steht auf, plötzlich, zieht sich
einen Parka an im Gehen und sagt (in ein Mikro,
fast wütend): »glaubst du, der Mist hier wär erträglich,
wär man sich seiner bewusst?«.
Ist es möglich, was zu sagen dazu (ich weiß
es nicht), ich greife zum Telefon oder spüre die Spannung
in der Schulter kurz vor der Idee, jemand anzurufen,
Fabià Santcovsky zum Beispiel, den Komponisten, für
den ich das Libretto schrieb für das Festival, das also kreist um
den Punkt einer neuen Rückkehr, ich hätte es längst tun sollen.
Es gab Auseinandersetzungen über den Text, nicht am Anfang
(da war alles klar), nicht am Ende (da war es geworden, was es
nun ist), sondern auf der Strecke. Ein Streit zwischen Wort und
Musik um die Frage, welche Disziplin die Aufgabe hat, das Unfassbare
zu formulieren, welche, die Pflicht, es zu verschweigen
und wieviel des Schweigens und der Formeln es braucht, es
zu erhalten in den Rückkopplungen des Unerträglichen.
»To be conscious is not to be in time.« (t.s.e.)
Was soll ich sagen, nichts, ich kann es nicht finden, das Telefon,
nur meinen Griff danach, schwebend, auf der Suche, irgendwo
in den Tiefen meines uralten Rucksacks, und ich frag
einfach die Hand, ob es möglich ist: auf der Strecke zu bleiben.
ning, in its entirety, and forgetting that is
probably the entire point of the work. My eye
is busy right now with a twitch. I can’t say
when it began, only that I already don’t know
what life was like without it. I begin to neglect
the work or make the eye’s busyness my
own. The twitching does not come from the
eye, but draws close to it, from the outside as
well as from the inside, moving right up to
the vitreous body, a borderline towards
which the twitching perpetually advances.
conversations (on time)
By Anja Hilling
Theater author; librettist for the production
“TRANSSTIMME”
“And do not call it fixity.
Where past and future are gathered.” (t.s.e.)
The twitching cannot be controlled or halted
and puts me in a state that I would call nature
if the term were not so absolutely worn-out.
That is why I ask the machine to replace it, to
find a synonym that is as new to me as the
desire to shut down.
For me, the festival concept (Point of NEW
Return) is inseparably connected with the
noise of time. A return would have to be
preceded by an uprising, driven by a longing
to be released from the regime of the moment,
which happens so that the next moment
can happen, tracked so that it remains without
a trace in time. There would have to be the
moment that gathers together all the times
that existed, that are coming, that exist now.
(there would have to be a season set in T.S.
Eliot’s four quartets). There would have to be
the courage to disrupt the flow forward, gaps
“In my beginning is my end.” (t.s.e.)
81
I look, just as I used to when I still believed in
making headway, into the machine, which
now reveals a body part in the black mirror.
My hand, more precisely my left hand, turns
in the air, rotating around itself, just before
half past two in the afternoon, for no reason,
without wanting anything (to greet someone,
to order something, a fresh start, coffee), this
transgression of the joints that I can neither
feel nor repeat, which—how shall I put it?—
emanates from me.
How do I know that, someone asked, at
that moment, behind me, near the counter,
“do you know what time it is?” Someone else
answered, very precisely, in English, with a
French accent: “two twenty two.” I wanted to
look around to see the person who asked the
time, because I could not remember the last
time I heard the question, but then the answer
came, so correct (2:22), and with it the memory
of—someone I know. How well (I don’t
know), I know him in a way that tells me that
I could draw him better with my eyes closed
than with my eyes open (neither of which of
course I ever tried). He told me he was going
in the chronicle, blotches on the images, the
faces, pauses in communication, voices without
function, decoupled tapes. The information
would become blurred, the archives
would be deleted in favour of an unfathomable
memory. I believe that this kind of memory
is stored at a point in the body that is not
fixed and is only accessible in a state we call
—silence—
I don’t think I will ever have been there.
“At the still point of the turning world.
Neither flesh nor fleshless.” (t.s.e.)
At the moment I am in a café, in front of a
screen, in front of a windowpane, in front of
a city where it is raining on this day. The day
I wanted to use to make progress with something
that had already emerged in the begin-
to die, not sometime, but soon, and I remember,
here, seized by a new calmness in the
eyes, the uninterrupted gaze through the
window, that at the moment the news of his
illness reached my ear, I saw myself, in a café
in the afternoon, in front of a windowpane,
reflections of fragments of my own face cast
into the movement on the street, washed together
by the rain, two years after he died.
“Quick now, here, now, always.” (t.s.e.)
ning (everything was clear then), not in the
end (that’s when it had become what it is now),
but along the way. An argument between
word and music about which discipline has
the task of formulating the incomprehensible,
and which has a duty to keep it secret,
and how much silence and formulae are needed
to keep it within the feedback of the unbearable.
“To be conscious is not to be in time.” (t.s.e.)
I have a craving, an insane craving to chat,
now, with whom, with anyone, with her for
example, a modern woman. She has green
eyebrows, wears a headset and comes towards
me, but she just wants the sugar, I want
to hold on to her, to her hand moving towards
the sugar shaker, I want to take the earpieces
out of her ears or be the voice that keeps her
company, here, where we get into a conversation
about her face, because she has one of
those faces that closes itself off before it can
give anything away, and I tell her that she is
able, by a mystical smile, to shift us three
hundred years back in time, to the days when
we plaited porcelain into our brows and a garden
into our hair and our faces were under
masks that protested against the dictatorship
of glass, of thoughts, of dreams, of skin. And
I ask the woman, who has long since left
again, sitting at one of the tables, with her
sweet tea and a face that now behaves like any
other and loses all depth as soon as it is
looked at: “do you remember (that the masks
of silver and the beads of sweat beneath were
filigree and sparkling?”) The woman gets up,
suddenly, puts on a parka as she walks and
says (into a microphone, almost angry): “do
you think this shit would be bearable if people
were aware of it?”
Is it possible to say something about it (I
don’t know), I pick up the phone or feel the
tension in my shoulder just before the idea of
calling someone, Fabià Santcovsky for example,
the composer for whom I wrote the
libretto for the festival, which therefore revolves
around the point of a new return, I
should have done it long ago. There were altercations
about the text, not in the begin-
What can I say: nothing. I can’t find it, at the
moment, the phone, just my hand reaching
for it, hovering, searching, somewhere in the
depths of my ancient backpack, and I simply
ask my hand now if it’s possible: to fall by the
wayside.
82
»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«
Reise durchs Wohnzimmer oder wodurch? — Situation 2
© Tobias Eduard Schick / Katharina Vogt (2020)
83
»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«
Six Memos from the Last Millennium; II. Anonymity
© Yair Klartag (2020)
84 85
OPERA, OPERA,
OPERA!
revenants and
revolutions
verschollener vierter teil
der klimatrilogie
Musiktheater von
Ole Hübner und Thomas Köck
Komposition: Ole Hübner
Text: Thomas Köck
Regie: Michael v. zur Mühlen
Ausstattung: Martin Miotk
Ausstattungsassistenz: Jakob Boeckh
Konzeptionelle Mit arbeit/Dramaturgie:
Maria Huber, Kornelius Paede
Video: Stefan Bischoff
Musikalische Leitung: Michael Wendeberg
Mit:
Michael Taylor Countertenor
Robert Sellier Tenor
Michael Zehe Bass
Chor der Oper Halle
Kinder- und Jugendchor der Oper Halle
Staatskapelle Halle
Unsere Zeit erscheint als schier endlose Gegenwart – ein andauernder
Krisenzustand, in dem Zukunft eher als Bedrohung
denn Versprechen wahrgenommen wird. Gleichzeitig werden
immer neue Forderungen an diese mögliche Zukunft laut, die von
der alltäglich empfundenen Ohnmacht jedes*r Einzelnen im Angesicht
übermächtiger Problemlagen ausgehen. Das Neue
Musiktheater »OPERA, OPERA, OPERA! revenants and
revolutions« stellt sich dieser ambivalenten Situation:
Weit in der Zukunft befindet sich ein Chor mit teilweiser
Amnesie im Gespräch mit sich selbst und
Our times appear to be a sheer endless present—a
continuing state of crisis, where the future is perceived
more as a threat than a promise. Simultaneously,
new demands on this possible future are constantly
being voiced, demands that stem from the day-to-day impotence
felt by every individual faced with the overwhelming problems.
The new music theater work “OPERA, OPERA, OPERA!
revenants and revolutions” confronts this ambivalent situation: At
a point far in the future, a choir with partial amnesia converses
with themselves and with a cyborg about where they come from,
einem Cyborg darüber, woher sie kommen, wie alles wurde, und
wohin sie gehen. Der von eingespeicherten Erinnerungen geplagte
Cyborg sucht nach Antworten, aus seinem trüben Gedächtnis
erheben sich Fragmente, Heimsuchungen, individuelle
wie kollektive Erinnerungen. Angesichts dieser Momente stellt
sich immer wieder die Frage: Welches gesellschaftliche Potential
hat eine gemeinsame Stimme noch? Wohin mit
all diesen historischen Wendepunkten und utopischen
Sehnsüchten angesichts der Trümmer und
des menschlichen Scheiterns?
how everything came about, and where they are
headed to. The cyborg is tormented by stored memories
and searching for answers. Fragments, infestations,
individual and collective remembrances arise from
its murky memory. In the face of these moments, questions
are posed over and over again: Which social potential does a mutual
voice still have? Where should all of these historical turning
points and utopian desires go in light of the rubble and human
failures?
Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf: muenchener-biennale.de
Kompositions- und Librettoauftrag der Landeshauptstadt München
zur Münchener Biennale.
Koproduktion der Münchener Biennale mit der Oper Halle.
86 87
Mit den Geistern
am Point of NEW Return
Von Ole Hübner
Komponist des Musiktheaters
»OPERA, OPERA, OPERA!
revenants and revolutions«
Ein hauntologischer Definitionsversuch von
Ole Hübner — der, wie so vieles andere (ganze
Opern etc.), niemals hätte zustandekommen
können ohne jahrelanges Leben, Arbeiten,
Diskutie ren, Recherchieren, Erschaffen, Gegenseitig-
Bilden-und- Inspirieren, Abgründe-Durchqueren,
Gespenster-Jagen in & mit the paranormal ○| eer group
(= Jakob Boeckh & Maria Huber & moi-même), wofür ihr
ewiger & ausufernder Dank gebührt.
— Paris, Februar 2020
Point of NEW Return — das könnte so viel heißen wie: Die Paradoxie
des Abgrunds ganz annehmen und mit Leben füllen.
Vor dem Abgrund nicht zurückschrecken oder umkehren. In
ihm stattdessen das Abenteuerliche, Horizonterweiternde,
Bereichernde — ja, letztendlich das gute (Er-)Leben sehen. Ihn
als Chance wahrnehmen, größere Liebe, Freundschaft oder
Solidarität zu finden, weil sich die Erkenntnis, dass niemand
alleine besser ist als mit anderen, als lebensnotwendig herausstellen
wird. Point of NEW Return — offen dafür werden, sie
anzunehmen und selbst geben zu wollen. Das Vehikel finden,
bauen oder sein wollen, das man braucht, um über den Punkt
hinauszugehen, an dem man sonst hätte anhalten müssen.
Banden bilden, um weiter zu gehen, als man es alleine könnte
(das Kollektiv ist die Zukunft, ist, sich gegenseitig die Angst
vor der Zukunft zu nehmen, ist, aus Rückschlägen Energie
zum »Jetzt-erst-recht« zu generieren). Lasst uns unsere Projekte,
Unternehmungen, Zusammenkünfte, Raumnahmen
und Opern zu Gespensterjagden, zu Dante’schen Höllenfahrten,
Antarktisexpeditionen, orpheischen
Hadeswanderungen und Schiffbrüchen machen,
lasst uns gemeinsam Sirenengesängen lauschen,
uns mit voller Absicht und aller Hoffnung »hinab
in den Maelström« (Edgar Allan Poe) stürzen, weil
das Unvorstellbare in dessen Zentrum uns näher
zusammenführen wird. Oder, wie die International
Necronautical Society schreibt: »Wenn wir uns dem
Abgrund* zuwenden, uns ihm nähern, so erklärt Heidegger,
dann überantworten wir uns ihm, werden wir geworfen, projiziert.
Man unterzieht sich einem loswerfenden Loslassen*. In
was? Wagnis*. Was wirft uns? Das Sein. Das Sein läßt das Seiende
in das Wagnis los. […] Nach Heidegger hat das Wagnis
mit Wage* [sic!] zu tun und mit Gewicht*: ›Das Wagnis ist die
Schwerkraft‹, schreibt er. Was gewagt, projektiert, losgeworfen*
wird, ist ›zwar ungeschützt, aber weil es auf der Wage
liegt, ist es vom Wagnis einbehalten. Es ist getragen.‹« 1
1 International Necronautical Society, Navigation war schon immer eine schwierige
Kunst, in: dies., Offizielle Mitteilungen, Zürich: Diaphanes 2011, S. 34-39. (* bezeichnet
Wörter der Heideggerschen Terminologie, die im englischen Original unübersetzt
deutsch verwendet werden.) Die Interna tional Necronautical Society ist eine
semifiktio nale »Agentur« und als solche ein künstlerisch-philosophisches Kollektiv
des Schriftstellers und »Generalsekretärs« Tom McCarthy sowie des »Chefphilosophen«
Simon Critchley, das je nach Recherche- und/oder Kunstprojekt um weitere
Gäste im Büro für Antimaterie ergänzt wird.
Abgründe sind die Orte (und Zeiten) mit eigenen Gesetzmäßigkeiten
und (Un-)Logiken, die von Geistern bevölkert, konstituiert
und determiniert werden. Der Tod ist ein Abgrund
— oft als annähernd atopisch-achronischer (Nicht-)Zeit-Raum
gedacht: der Hades, in den Orpheus hinabsteigt wie in eine
Schlucht, oder Dantes Inferno. »Der Tod ist eine Art Raum,
den wir kartieren, betreten, kolonisieren und schließlich bewohnen
wollen.« 2 Die Burg Monsalvat in Wagners Lohengrin
ist ein Abgrund ebenso wie Schwarze Löcher, in denen Zeit
und Raum in extremer Verdichtung verschmelzen. Um den
Abgrund Antarktis entbrannte um 1900 ein wahnwitziger
Wettlauf, der viele in den Tod führte (Jahrzehnte, nachdem
die Polfahrt bereits in der romantischen Dichtung, ähnlich
der Winterreise, zu einer mit grausigen Todessymbolen geschmückten
Metapher für die »Vereisung der Herzen« im aufkommenden
Industriezeitalter geworden war). 3 In einer unbewohnbaren
Antipodenregion ist auch der Läuterungsberg
in der Commedia lokalisiert, dessen sieben Terrassen
auf dem Weg ins Paradies überwunden werden müssen:
Er steht an jenem Ort, der Jerusalem auf dem
Globus genau entgegengesetzt ist, und entspricht
offenbar dem Felsen der Sirenen, den (eine Dante’-
sche Version von) Odysseus nach seiner Trennung
von Kirke ansteuert. Der Versuch, ihn per
Schiff zu erreichen, die Projektion des Seins in eine
Region fernab des Mare Nostrum, ist ein radikales
Wagnis — nicht verboten, aber ausdrücklich nicht empfohlen.
Denn der Sirenengesang bezaubert »alle / Menschen […],
wer auch immer hinkommt zu ihnen. […] [M]it hellem Gesang
üben Zauber aus die Sirenen, / […] um sie ist ein großer Haufen
von Knochen / von verfaulenden Männern, und ums Gebein
schrumpft die Haut ein.« 4 Ihr singendes Regiment ist ein aus
sich selbst generierter emanzipatorischer Akt.
2 International Necronautical Society, INS-Gründungsmanifest 1999, a.a.O., S. 7.
3 Vgl. dazu Manfred Frank, Das Scheitern am ›Heil‹: die Reise ins ewige Eis, in: ders., Die
unendliche Fahrt. Zur Geschichte des Fliegenden Holländers und verwandter Motive,
Leipzig: Reclam 1995, S. 114ff.
4 Homer, Odyssee. Neu übersetzt von Kurt Steinmann, Zürich: Manesse 2011, S. 178.
88 89
Jeder Abgrund weist auf und zu ein(em) Zentrum hin, das zugleich
sein (kausaler) Grund ist: der Südpol, der Heilige Gral,
die von Schall umgebenen Sirenen, Eurydike im Hades, der
im Erdkern feststeckende Luzifer bei Dante. Das Schwarze
Loch hat als Zentrum die Singularität, einen zeitlich-räumlich
undefinierbaren Nullpunkt, dessen direkte Umgebung am
Ende jeder Raum-Zeit liegt; er selbst liegt außerhalb davon.
Frappierend ähnlich beschreibt die Commedia Gottes Aussehen
aus der Ferne als einen alle Energie in unendlicher Dichte
vereinenden »Punkt von so grellem Licht, daß jedes Auge sich
wegen dessen Überhelle schließen muß […]. Wie ein Mondhof
[…] kreiste um diesen Punkt ein Feuerring, so schnell — er
überträfe selbst die Bewegung, die unsere Welt am geschwindesten
umringt. Und dieser Kreis war von einem anderen umringt,
und der vom dritten und der dritte vom vierten, der vierte
vom fünften und der fünfte vom sechsten. Danach folgte
der siebte, […] der achte und der neunte […]. Von diesem
Punkt hängt der Himmel ab und die ganze Natur.« 5
Der Komponist Claude Vivier war sein Leben lang
besessen davon, im Zwischenraum zwischen zwei
Polen — einem Anfang und einem Ende, einem
vergangenen und einem zukünftigen Moment, einem
Ton und einem anderen Ton — die Unendlichkeit
zu finden. Oder besser gesagt: Er brauchte die
Unendlichkeit nicht zu finden, er wusste sie schon
längst in diesen Zwischenräumen und suchte deshalb nach
Wegen, sich in ihr zu versenken, sich etwas länger in ihr aufzuhalten
— und sei es auch nur für einen kurzen spürbaren Moment
—, sie zu bewohnen: Die Unendlichkeit war seine Zufluchtsstätte.
Eine kompositorische Methode, die einige seiner
wichtigsten Werke durchzieht, ahmt das aus der elektronischen
Signalverarbeitung stammende Prinzip der Ringmodulation
quasi-analog mit Instrumenten nach. Dazu werden zwei oszillierende
Ausgangssignale definiert und dann sowohl voneinander
subtrahiert als auch miteinander addiert — also z.B.:
500 Hz – 300 Hz = 200 Hz, und 500 Hz + 300 Hz = 800 Hz. Zwei
Töne paaren sich miteinander und bringen aus sich selbst, aus
der Vermengung ihrer Eigenschaften miteinander, zwei akustische
Schatten hervor. Im nächsten Schritt kann wiederum
5 Dante Alighieri, Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch, Frankfurt am Main:
Fischer 2017 (2. Aufl.), S. 443f.
das neu entstandene Signal 800 Hz mit dem Ausgangssignal
500 Hz ringmodulieren, um die neue Frequenz 1.300 Hz hervorzubringen
usw. — ein ganzer Stammbaum von Frequenzpaarungen
entsteht, wird komplizierter und verzweigter …
Dieses Prinzip, das, was zwischen zwei Tönen geschieht, auszuloten,
lässt sich, tatsächlich, bis ins Unendliche fortführen.
Claude Vivier äußerte einmal seine Begeisterung darüber, was
mit einem Ausgangsmaterial von nur zwei Tönen alles möglich
sei: für ihn war diese Reduktion ein Ausdruck von »purity«.
Elle est retrouvée. Quoi ? — L’Éternité.
Ausgehend vom jeweiligen Zentrum lässt sich jeder Abgrund
als Dispositiv (im Sinne Foucaults und Agambens) analysieren
und beschreiben. Wir können uns vorstellen, diese Dispositiv-Abgründe/Abgrund-Dispositive
als Heterotopien erfahrbar
und bevölkerbar zu machen, also: ein Leben mit den Geistern
zu ermöglichen. Wer eine Beziehung mit einem bestimmten
Geist — dem Zeit-Geist (»der Dämon, der im
Rücken der Systemzeit lauert. Wenn er Akteure zu
seiner Verkörperung gefunden hat, tritt er in Erscheinung.
[…] Er wird nicht als Möglichkeit der
Wirklichkeit greifbar, denn er erscheint nur als
flüchtiger Augenblick einer anderen Wirklichkeit,
der nach Gestalt verlangt.«) 6 , dem Geist der
Unruhe, dem Kollektiv-Geist, dem Geist eines verstorbenen
Menschen, dem Geist einer imaginären Figur
— eingeht, wer einen solchen Geist mit oder ohne Absicht
beschwört, wird schiffbrüchig an der Hochglanz-Oberfläche
der systemisch-gesellschaftlichen Realität und in eine tiefere
Dimension von Wahrnehmung, Erfahrung und Perspektive
hineingezogen, die sich aber freilich auch als Täuschung, Enttäuschung
oder Verletzung herausstellen kann. Umgekehrt
gilt: Wer — allein oder mit mehreren, gewollt oder ungewollt
— in einen wie auch immer gearteten und verorteten Abgrund
gerät, wird dort mit ziemlicher Sicherheit dem einen oder anderen
Geist begegnen. Die Geisterschicht, die immer und
überall wie ein Schleier die Welt überzieht, ist in Abgründen
besonders stark konzentriert, geballt, verklumpt — weil in ihnen
die Zeit in umwegigen Kurven und abrupten Sprüngen
verläuft, wie David Foster Wallace poetisch zu fassen ver-
sucht: »Der Geist sagt, auch ein Feld-Wald-und-Wiesen-Geist
könne sich mit Quantengeschwindigkeit bewegen und jederzeit
überall sein und in sinfonischer Summe die Gedanken der
Lebenden hören, nur könne er für gewöhnlich niemanden und
nichts Festes affizieren, und er könne niemanden richtig ansprechen,
ein Geist habe keine laute eigene Stimme und müsse
daher quasi die innere Hirnstimme eines Menschen nehmen,
wenn er etwas kommunizieren wolle, […] und sehr wenige
Geister haben etwas so Wichtiges, um darüber zu konnektieren,
dass sie bereit sind, so lange still zu stehen, normalerweise
huschen sie lieber mit unsichtbarer Quantengeschwindigkeit
herum. […] Im Großen und Ganzen existieren […] Geister
in einer ganz anderen heisenbergschen Dimension der Kursänderungen
und Zeitverläufe. Zum Beispiel, fährt er fort, gingen
die Handlungen und Bewegungen normaler Lebender für
einen Geist ungefähr mit der Geschwindigkeit des Stundenzeigers
einer Uhr vonstatten und seien auch ungefähr genauso
interessant.« 7
Point of NEW Return — das könnte so viel heißen
wie: Hallo sagen zu den Geistern, nett sein zu den
Geistern, sie ernst nehmen, ihnen zuhören, keine
Angst vor ihnen haben, sondern sie in das eigene
Leben integrieren, Mut haben, sich von ihnen in
den Abgrund führen zu lassen, mehr denn je an sie
glauben, mehr denn je an Science Fiction glauben. The
one and only Thomas Köck lässt in unserem Stück »OPERA,
OPERA, OPERA! revenants and revolutions« die Geister (revenant
= wiederkommend, wiederkehrend) in Form kindlicher
Hologramme auftreten, die aus einer Zukunft kommen,
um als Hüter*innen und Verkünder*innen des Wissens einer
Vergangenheit eine Gegenwart zum Einstürzen zu bringen.
Vor einigen Monaten stellte er fest: »es gibt also geister und
sie sind hier mit uns im raum sie strukturieren ihn diesen
raum selbst dort wo man sagt dass er leer sei spüren wir sie
gespenstische materie hysteresis stabilisierung des habitus
durch zeichen worte gesten blicke strukturen stabilisierung
der macht durch wiederholungen iterationen identitäre missverständnisse
[…] all diese mächte die uns heimsuchen verfolgen
formen konstruieren schaffen erzeugen all diese ghostly
»OPERA, OPERA, OPERA! revenants and revolutions«
Skizzen
© the paranormal ○| eer group (Jakob Boeckh & Maria Huber & Ole Hübner)
90
6 Christian Unverzagt, Masse und Bewegung, Heidelberg: Econotion 2015, S. 185.
91
7 David Foster Wallace, Unendlicher Spaß, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 1193-
1207.
powers die durch uns hindurch weiter sprechen die schreiben
und schreiben und schreiben und schreiben diese unendlich
schöne welt die vor unseren augen verheizt wird für die ewig
gleiche geschichte von ausbeutung zerstörung profitmaximierung
[…] weil jedes erzählen die geschichte erneut aufreißt
erneut fragt was war da eigentlich woher kommt dieser
begriff woher kommt diese geschichte woher diese überzeugung
woher kommt macht deshalb heißt schreiben immer die
toten aufsuchen heißt schreiben immer die geister hereinlassen
heißt schreiben immer sich diesen geistern auszusetzen es
heißt das verschwinden zulassen es heißt die toten sprechen
lassen und sie treten auf und wie sie auftreten und sie sprechen
und wie sie sprechen und sie fluchen und wie sie fluchen und
sie klagen und wie sie klagen sie treten hier auf einer nach dem
anderen auf dem weg zur bühne verkörpernde nomaden zwischen
den zeilen entkorken noch eine flasche geben noch einen
aus in der krypta bei der weinverkostung und werden
nochmal greifbar spürbar für uns ghosts that matter
quality time mit all den geistern sie erzählen ihre
geschichten und im erzählen da passiert etwas da
halten die uhren an […] und für einen moment
sind sie dann sichtbar die toten und die spuren
dessen was sie hinterlassen was wir einmal hinterlassen
haben werden im gemurmel der toten
unsere eigene verantwortung das gemurmel der toten
echo aus der zukunft unser gemurmel das heißt es
nämlich das schreiben es heißt sich an den tod herantasten
an den tod heranschleichen es heißt sehen dass alles hier nur
eine wendung eine drehung im verschwinden ist es heißt sehen
dass ich nur in der auslöschung durch das ganz andere überhaupt
existiere […] die geschichte ist noch nicht vorbei die geschichte
und die zukunft die wissen dort wo es macht gibt gibt
es widerstand« 8
Point of NEW Return — das könnte so viel heißen wie: Das Leben
anreichern lassen von den Geistern, um beschützt von ihnen
in die Zukunft zu gehen, niemals mehr alleine zu sein.
Selber da sein für die Geister, die auf uns warten, sich nach uns
sehnen. Aus der Vergangenheit lernen, um nicht in der Verwaltung
ihrer Abwesenheit in post-historischen Stillstand zu verfallen,
sondern sie am Leben zu halten, mit ihr zu kommunizieren,
sie nachzuspielen, sich von ihr erzählen zu lassen und
ihr von sich zu erzählen, sie zu betreten und zu bewegen. »Wer
sagt denn aber, daß die Geschichte in der Vergangenheit beginnt
und sich nicht vielmehr krebsförmig auf sie zubewegt?« 9
Point of NEW Return — das verlangt von uns: die Ängste abzulegen,
das Magische und Immaterielle in eine entzauberte und
vergegenständlichte Welt zurückzuholen, mehr Barockoper
zu wagen, mehr Verkleidung, Verzauberung, Affekt, Drag,
Illusion, Liebe, Mythos, Queerness. Die Symbole dort zu verorten,
wo sie hingehören: im Universellen, nicht im Exklusiven.
Mit aller Kraft dafür einzutreten, dass unsere Freundschaft
und unsere gemeinsame Be-Geist-erung wichtiger sind
als die zerbröselnden Normen, Hierarchien und Strukturen
des Alten und viel besser als der Neoliberalismus und
das Patriarchat. Für uns drei — Maria & Jakob & Ole
— ist der größte NEW Return während unserer Arbeit
an »OPERA, OPERA, OPERA!« unser Zusammenwachsen
als Kollektiv, das Ergründen
und Schärfen unserer politischen Handlungsfähigkeit:
Wir erkennen uns zunehmend als
»kleinstmögliche demokratische Einheit« und radikal
diskursiv-hierarchielose Zelle mit queerem Anspruch
und utopischen Motivationen, in der wir praktisch
entwerfen, wie wir zusammenleben und zusammen-denken
wollen. Neue Arbeits-, Denk- und Lebensformen hinter den
Kulissen zu entwerfen, sie konsequent umzusetzen und dann
behutsam und sukzessive »nach außen« zu öffnen und zu tragen,
gehört zu dem Revolutionärsten, was Theater heute leisten
kann: Die Veränderungen, von denen auf den Bühnen geträumt
und gesungen wird, müssen in den Konzeptionssitzungen
und Proben anfangen. Oder man könnte auch sagen: eine
künstlerische Vision allein reicht nicht aus, um zukunftsweisende
Kunst zu machen, man braucht auch eine Vision von
Gemeinsamkeit und Liebe. Die haben wir drei in den letzten
zwei Jahren gefunden. Gegen Widerstände.
8 Thomas Köck, ghost matters. poetik vorlesung von thomas köck an der hochschule für
musik & theater hamburg, https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&-
view=article&id=17268:die-hamburger-poetikvorlesung-des-dramatikers-thomas-koeck&catid=53:portraet-a-profil&Itemid=83,
zuletzt aufgerufen am 24.1.2020.
92
9 Manfred Frank, a.a.O., S. 12f.
»OPERA, OPERA, OPERA! revenants and revolutions«
Skizzen
© the paranormal ○| eer group (Jakob Boeckh & Maria Huber & Ole Hübner)
93
Der Abgrund ist ein Nicht-Ort, ein Zwischenort — eine Auslassung
zwischen Orten, außerhalb von Lokalisierung, Verzeitlichung
und Sicherheit. »Der Zwischenraum zwischen dem vergangenen
und dem zukünftigen Augenblick, sofern er existiert,
wäre das Unendliche, und das Unendliche ist es, das die
Musik zum Schwingen bringt. Die Unmöglichkeit, vollständig
in diesem Zwischenraum zu leben, in dem die Menschen in
eine Art Schwarzes Loch des Bewusstseins fallen würden,
brachte die Musik hervor. Das verzweifelte Verlangen [...] erschuf
diese Schwingungen der Unendlichkeit, diese Tunnel
zur Nicht-Zeit inmitten von historischer Zeit, diese magischen
Beschriftungen auf der komplexen Zeit-Leinwand des Menschen,
diese Zeichen, die unsere Verzweiflung verbergen.« 10
Ein solches Dazwischen ist es auch, in dem ansetzen muss, wer
es wirklich ernst meint mit der Erneuerung des Musiktheaters.
Noch so radikale Musik, skandalträchtige Inszenierungskonzepte
oder Videofluten von allen Seiten werden darin scheitern,
revolutionäres Musiktheater zu erschaffen, wenn
nicht gerade auf die feinen, quasi synästhetischen
Verbindungen von Klang, Bild und Performanz,
auf ihre Überlappungen, Grenzbereiche und vertieften
Zwischenräume, der größte Wert gelegt
wird. Die wichtigste Herausforderung an neues
Musiktheater ist, dass alle bereit und befähigt
sind, nicht nur ihre »angestammten«, sondern
sämtliche Disziplinen jederzeit mitzudenken, mitzufühlen,
und dafür die alten Prozesse, Hierarchien, Machtstrukturen,
Legitimationen und Selbstverständlichkeiten rigoros
aufzugeben. Der Spalt zwischen den Künsten kann nur
dann erforscht werden und Neues, Ungesehen-Ungehörtes
hervorbringen, wenn ich — von der Klippe meiner eigenen
Kunst über den Abgrund auf die andere Seite hinüberblickend,
meine Methoden, Erkenntnisse, Erfahrungen, Interessen
und Probleme im Rücken — ausmachen kann, was es
dort an Gleichem und Anderem geben mag, und einzuschät-
10 Claude Vivier, Que propose la musique ?, zit. nach: Bob Gilmore, Claude Vivier — A
Composer’s Life, Rochester, NY: University of Rochester Press 2014, S. 342, u. übers.
v. Ole Hübner a. d. Engl. (»The interval between the past moment and the future moment,
if it exists, would be the eternal, and it’s the eternal that makes music vibrate. The
impossibility of living fully in this interval, which would throw human beings into a sort
of black hole of consciousness, created music; the desperate desire […] created these
vibrations of eternity, these tunnels toward non-time placed in historical time, these
magical writings marking the complex canvas of time of the human being, these signs
hiding our despair.«).
zen vermag, wo die Mitte liegt, an der wir uns einander und
mit den Geistern treffen werden, wenn wir ins Unbekannte
hinabsteigen. Die Zwischen-Töne, das Wissen und die Poesie
»zwischen« den Zeilen, die Interferenzen erfordern konsequente
Bereitschaft, Vertrauen, Verständigung und Einfühlung
— sonst bleiben sie unhörbar und unsichtbar. Die Begrenzung
einer Kunst — d.h. ihrer Methoden, Konventionen, Prozesse
und ihrer Terminologie — wird zum Point of NEW Return
in dem Moment, in dem sie überschritten wird.
Der Abgrund ist ein Freiraum, ein Third Space, ein Queer Space,
in dem die Regeln des hysterischen Absicherns nicht gelten, er
verlangt Grenzüberschritte und Risiken. Ein Safe Space ist er
nur etwa im speziellen Sinne des Heideggerschen Wagnis, denn
erst aus der Unsicherheit im Ausgeliefertsein generiert er notwendigerweise
seine Tiefe und Kraft — die Kraft einer absoluten,
solidarischen Neuartigkeit im Handeln, Kommunizieren
und Organisieren von Zusammen-Leben. Darum, Point
of NEW Return: Erfahren und betrauern, dass die
Welt zerfällt, die gewohnte Ordnung zerfällt, aber
im nächsten Schritt die Chance wahrnehmen, ihr
noch den Todesstoß zu geben und dann zurückzukehren
zu neuem Sehnen. Macht durch Liebe
ersetzen, Nehmen durch Geben, Ausschluss durch
Teilhabe, Bestimmen durch Reden. Spielen, Lieben,
Schweben, engagiertes Staunen. Annahme des
Vergangenen und Projektion des Zukünftigen. Besitzansprüche
aufgeben: an Materiellem, Ideellem und künstlerischen
Projekten. Konsequent kollektivieren, sich Projekte
suchen und sich von ihren (künstlerischen, politischen, sozialen,
kommunikativen, pädagogischen, epistemologischen,
infrastrukturellen, ökonomischen, ökologischen usw.) Zielen
und Zwecken »besitzen« lassen — nicht: »Dies ist mein Anteil
am Werk, jenes deiner usw.«, sondern: »Das Werk verpflichtet
mich, eine*n von vielen Unentbehrlichen, zu seinem Gelingen
beizutragen!« Aktives Passivsein als Strategie subtiler Weltwahrnehmung,
»loswerfendes Loslassen«, Affirmationismus
(im Sinne Badious) im Denken, Sprechen und Handeln als Strategie
subversiver Rebellion. Künstlerisch zu handeln in Zeiten
klimatischer und menschlicher Katastrophen bedeutet keineswegs,
die Realität einer zerfallenden Welt ausblenden zu wollen,
sondern sie wahrzunehmen, sie zu verstehen, und sich
nicht lähmen zu lassen. Unzählige, riesige Möglichkeiten zu
Neuanfang und Neuaufbau entstehen in der Katastrophe.
Point of NEW Return: Den Glauben bewahren
und daran arbeiten, dass (um Mark Fishers
berühmten Satz zu paraphrasieren) zuerst der Kapitalismus
endet und dann irgendwann die Welt,
nicht andersherum. Einfach wird das alles nicht –
aber schön.
94 95
»OPERA, OPERA, OPERA! revenants and revolutions«
© Ole Hübner (2017-2020)
96 97
Point of NEW Return—that could mean something
along the lines of: fully embracing the
paradox of the abyss and breathing life into
it. Not shrinking from or turning back from
the abyss. Instead, seeing in it the adventurous,
horizon-widening, enriching—yes, ultimately
viewing it as a positive experience (of
life). Considering it as a chance to find more
love, friendship or solidarity, because the
realization that no-one is better alone than
with others will prove to be vital. Point of
NEW Return—becoming open to accepting it
and wanting to give oneself. Finding, building
or wanting to be the vehicle you need to go
beyond the point where you would otherwise
have to stop. Forming alliances to go further
than you could alone (the collective is the future,
taking away each other’s fear of the future
means generating energy from setbacks
for a “now-more-than-ever” attitude). Let us
turn our projects, undertakings, meetings,
appropriation of space and operas into ghost
hunts, Dantesque descents into hell, Antarctic
expeditions, Orphean wanderings in Hades
and shipwrecks; let us listen to the siren’s
song together, let us plunge on a “descent into
the maelstrom” (Edgar Allan Poe) with clear
intent and full of hope, for the unimaginable
at its centre will bring us closer together. Or,
as the International Necronautical Society
writes: “To turn toward, to approach the *Abgrund,
Heidegger tells us, is to be given over,
flung, projected. It is to undergo a *loswerfende
Loslassen, a flinging-loose release. Into
what? Venture: *Wagnis. What flings us? Being.
‘Being lets beings loose into the daring
venture.’ ‘Das Sein läßt das Seiende in das
Wagnis los.’ [...] For Heidegger, the venture,
das Wagnis, is linked to balance, Wage [sic]
and to weight, Gewicht: ‘The venture is the
force of gravity,’ he writes. What is ventured,
projected, ‘losgeworfen’, is, of course, unprotected;
but because it hangs in the balance, it
is retained in the venture. It is upheld.” 1
With the Spirits
at the
Point of NEW Return
Abysses are places (and times) with laws and
(i)logic all their own, which are populated,
constituted and determined by spirits. Death
is an abyss—often conceived as an almost atopical-achronic
(non-)time-space: Hades,
into which Orpheus descends as if plummeting
into a ravine, or Dante’s Inferno. “Death
is a type of space, which we intend to map,
enter, colonise and, eventually, inhabit.” 2
Monsalvat Castle in Wagner’s Lohengrin is an
abyss, as are black holes in which time and
space merge due to extreme densification.
Around 1900, a crazed race broke out around
the abyss of the Antarctic and led many to
their deaths (decades after Romantic poetry
of the emerging industrial age made journeying
in polar climes, like winter voyages, into
a metaphor for the “freezing of hearts,” embellished
with gruesome symbols of death). 3
Mount Purgatory in the Commedia, with
its seven terraces that must be traversed on
the way to Paradise, is also located in an uninhabitable
antipodean region. It is positioned
precisely opposite Jerusalem on the
globe and apparently corresponds to the Sirens’
rocky coast that (a Dantesque version
of) Odysseus steered towards after his separation
from Circe. Attempting to reach it by
ship, projecting Being into a region far from
By Ole Hübner
Composer of the music theater work
“OPERA, OPERA, OPERA!
revenants and revolutions”
A hauntological attempted definition by
Ole Hübner—which, like so many other
things, (entire operas etc.) could never
have come into being without years of
living, working, discussing, researching,
creating, mutually educating and
inspiring each other, traversing abysses,
chasing ghosts in & with the paranormal
o| eer group (= Jakob Boeckh & Maria
Huber & moi-même), for which they
deserve eternal & abounding thanks.
—Paris, February 2020
Mare Nostrum, is a radical venture—not forbidden,
but explicitly not recommended. For
the Sirens’ song enchants “everyone that approaches
them. The Sirens […] charming this
victim with their clear-voice song. [...] while
the beach around them swells / with men rotting
on their bones as their skin shrinks
tight.” 4 The Sirens’ singing regiment is a selfgenerated
emancipatory act.
Every abyss references and points towards
a centre that is also its (causal) reason:
the South Pole, the Holy Grail, the Sirens surrounded
by sound, Eurydice in Hades, Lucifer
stuck in the earth’s core in Dante’s work.
The black hole has as its centre the singularity,
a zero point indefinable in temporo-spatial
terms, whose immediate surroundings
are at the end of every space-time; the black
hole itself lies outside of it. The Commedia
describes God’s appearance from a distance
in a strikingly similar way, as a point that
brings all energy together in infinite density,
“a Point that radiated light of such intensity
that the eye it strikes must close or ever after
lose its sight [...]. [Like] a halo [...] so close
around the Point, a ring of fire spun faster
than the fastest of the spheres circles creation
in its endless gyre. Another surrounded this,
and was surrounded by a third, the third by a
fourth, the fourth by a fifth and by a sixth the
fifth, in turn, was bounded. The seventh followed,
[...] the eighth and the ninth [...]. From
that one Point are hung the heavens and all
nature’s law.” 5
Throughout his life, composer Claude Vivier
was obsessed with finding infinity in the
space between two poles—a beginning and an
end, a past and future moment, one note and
the next. Or, to be more precise: he did not
need to find infinity, for he had long known
that it was in these interstices and was therefore
looking for ways to immerse himself in
it, to remain within it for a little longer—even
if only for a brief yet tangible moment—, to
4 Homer, Odyssey. Translated by Charles Weiss,
Cambridge: Cambridge University Press 2012, p. 109.
inhabit it. Infinity was his refuge. A compositional
method that runs through some of his
most important works in a sense emulates, in
analogue form and using instruments, the
principle of ring modulation, which originates
from electronic signal processing. To
that end, two oscillating output signals are
defined and are subsequently both subtracted
from each other and added together—e.g.:
500 Hz – 300 Hz = 200 Hz, and 500 Hz + 300 Hz
= 800 Hz. Two notes couple and produce two
acoustic shadows from themselves, from the
intermingling of their properties. In the next
step, the newly created 800 Hz signal can
again be ring-modulated with the 500 Hz output
signal to produce the new frequency
1.300 Hz, etc.; an entire family tree of frequency
pairings is created, growing ever
more complicated and bifurcating... This
principle of fathoming what happens between
two notes can, in fact, be continued ad infinitum.
Claude Vivier once expressed his enthusiasm
about how much is possible with
only two notes as source material: for him,
this reduction was an expression of “purity”.
Elle est retrouvée. Quoi? - L’Éternité.
Starting in each case from its centre, each
abyss can be analysed and described as a dispositive
(in Foucault and Agamben’s meaning
of the term). We can imagine making it possible
to experience and populate these dispositive
abysses/abyss dispositives as heterotopias,
in other words: enabling a life with the
spirits. Anyone who has a relationship with a
particular spirit—the time-spirit (“the demon
that lurks in the back of the system time.
When he has found actors for his embodiment,
he makes his appearance. [...] He does
not become tangible as a possibility of reali-
1 International Necronautical Society, Navigation Was
Always A Difficult Art, London: Vargas Organization,
2010 (* denotes words of Heidegger’s terminology used
in German in the English original). The International
Necronautical Society is a semi-fictional “agency” and
in this capacity is an artistic-philosophical collective of
author and “Secretary General” Tom McCarthy and
“Chief Philosopher” Simon Critchley. This team is supplemented
by further guests in the office for antimatter
as a function of each specific research and/or art project.
2 International Necronautical Society, INS Founding
Manifesto 1999, http://www.necronauts.org/manifesto1.htm.
3 Cf. Manfred Frank, Das Scheitern am ‘Heil’: die Reise
ins ewige Eis, in: id., Die unendliche Fahrt. Zur Geschich
te des Fliegenden Holländers und verwandter
Motive, Leipzig: Reclam 1995, p. 114ff.
ty, for he appears only as a fleeting moment
of another reality that demands form”), 6 the
spirit of restlessness, the collective spirit, the
spirit of a deceased person, the spirit of an
imaginary figure—, anyone who conjures up
such a spirit, with or without intent, will be
shipwrecked on the glossy surface of systemic
societal reality and drawn into a deeper
dimension of perception, experience and perspective,
which can, however, of course also
turn out to be a deception, disappointment or
injury. Conversely, anyone who—alone or
with several people, intentionally or unintentionally—falls
into any kind of abyss will almost
certainly encounter some spirit or other
there. The layer of ghosts that covers the
world like a veil, always and everywhere, is
particularly concentrated, intense, coagulated
in abysses, for time runs in circuitous
curves and with abrupt leaps in abysses, as
David Foster Wallace poetically seeks to convey:
“The wraith said Even a garden-variety
wraith could move at the speed of quanta and
be anywhere anytime and hear in symphonic
toto the thoughts of animate men, but it
couldn’t ordinarily affect anybody or anything
solid, and it could not speak right to
anybody, a wraith had no out-loud voice of its
own, and had to use somebody’s like internal
brain-voice if it wanted to try to communicate
something, [...] and very few wraiths had anything
important enough to interface about to
be willing to stand still for this kind of time,
preferring ordinarily to whiz around at the
invisible speed of quanta. [...] Wraiths by and
large exist [...] in a totally different Heisenbergian
dimension of rate-change and
time-passage. As an example, he goes on,
normal animate men’s actions and motions
look, to a wraith, to be occurring at about the
rate a clock’s hour-hand moves, and are just
about as interesting to look at.” 7
6 Christian Unverzagt, Masse und Bewegung,
Heidelberg: Econotion 2015, p. 185.
5 Dante Alighieri, The Divine Comedy, translated by John
Ciardi, New York: Penguin 2003 edition, p. 842-843.
7 David Foster Wallace, Infinite Jest,
Boston: Little, Brown & Company 1996, p. 831.
98 99
»OPERA, OPERA, OPERA! revenants and revolutions«
© Ole Hübner (2017-2020)
100 101
in the telling something happens the clocks
stop [...] and for a moment they are then visible
the dead and the traces of what they leave
behind what we one day will have left behind
in the murmuring of the dead our own responsibility
the murmuring of the dead echo from
the future our murmuring that is actually
what writing means it means groping our way
toward death sneaking our way up to death it
means seeing that everything here is only a
twist a turn in disappearance it means seeing
that I only exist at all in extinction by the entirely
other [...] history is not over yet history
and the future the knowledge that where there
is power there is resistance”. 8
Point of NEW Return—that could mean something
along the lines of: letting life be enriched
by the spirits, in order to move into the future
protected by them, never to be alone again. To
Point of NEW Return—that could mean something
like: saying hello to the spirits, being
nice to the spirits, taking them seriously, listening
to them, not being afraid of them, but
integrating them into your own life, being
brave enough to let them lead you into the
abyss, believing in them more than ever, believing
in science fiction more than ever. In
our play “OPERA, OPERA, OPERA! revenants
and revolutions,” the one and only
Thomas Köck has the ghosts (re-venant = returning,
coming back) appear in the form of
childlike holograms that come from a future
in order to overturn a present as guardians
and heralds of a past’s knowledge. A few
months ago he noted: “so there are spirits and
they are here with us in space they structure
this space even where it is said to be empty we
feel them ghostly matter hysteresis stabilization
of habitus through signs words gestures
glances structures stabilization of power
through repetitions iterations identitarian
misunderstandings [...] all these powers
haunting us persecuting forming constructing
creating producing all these ghostly powers
continuing to speak through us writing
and writing and writing and writing this infinitely
beautiful world that is burned before
our eyes for the eternally same story of exploitation
destruction profit maximization
[...] because every time the story is told tears
the story open again asks again what was actually
there where does this concept come
from where does this story come from where
does this conviction come from where does
power come from that is why writing always
means seeking out the dead means writing
means always letting the spirits in writing
means always exposing yourself to these
spirits it means accepting disappearance it
means letting the dead speak and make an
appearance and how they appear and they
speak and how they speak and they curse and
how they curse and they lament and how they
lament they appear here one after the other on
the way to the stage embodying nomads between
the lines pop the cork on another bottle
buy another round in the crypt at the wine
tasting and once again become tangible perceptible
for us ghosts that matter quality time
with all the ghosts they tell their stories and
be there for the spirits who are waiting for us,
longing for us. Learning from the past, not
lapsing into post-historical standstill to manage
its absence, but keeping it alive, communicating
with it, re-enacting it, letting it tell us
about ourselves and telling it about ourselves,
entering it and moving it. “But who says that
history begins in the past and does not rather
move towards it like a crab?” 9
8 Thomas Köck, ghost matters. poetics lecture by thomas
köck at the hochschule für musik & theater hamburg,
https://nachtkritik.de/index.php?option=com_
contentiew=articled=17268:die-hamburger-poetikvorlesung-
des-dramatikers-thomas-koeckatid=53:portraet-
a-profiltemid=83, last accessed on 24.1.2020.
9 Manfred Frank, op. cit., p. 12f.
ing and empathy—otherwise they remain inaudible
and invisible. Limitation of an artform—i.e.
its methods, conventions, processes
and terminology—becomes the Point of
NEW Return as soon as that limit is transcended.
The abyss is a non-place, an intermediate
place—an omission between places, beyond
localization, temporalization and security.
“The interval between the past moment and
the future moment, if it exists, would be the
eternal, and it’s the eternal that makes music
vibrate. The impossibility of living fully in
this interval, which would throw human beings
into a sort of black hole of consciousness,
created music; the desperate desire […]
created these vibrations of eternity, these
tunnels toward non-time placed in historical
time, these magical writings marking the
complex canvas of time of the human being,
these signs hiding our despair.” 10 This kind
of in-between is also where anyone who is
really serious about the renewal of music theatre
must begin. Even the most radical music,
controversial staging concepts or a flood of
videos from all sides will fail to create revolutionary
music theatre, unless the utmost
value is accorded to the fine, almost synaesthetic
connections between sound, image
and performance, to their overlaps, border
areas and deepened interstices. The most
important challenge for new music theatre is
that everyone is willing and able at all times
to think along and empathize not only with
their “native” discipline but with all disciplines,
and to radically abandon old processes,
hierarchies, power structures, legitimations,
and self-evident assumptions in order
to do so. The only way to explore the divide
between the arts and produce something
new, something unseen and unheard, is if—
looking over the cliff of my own art and
across the abyss to the other side, with my
methods, insights, experiences, interests
and problems at my back—I can identify what
may exist there that is the same and that is
different, and to assess where the centre lies,
where we will meet each other and will meet
with the spirits as we descend into the unknown.
Intermediate notes, knowledge and
poetry “between” the lines, interferences call
for consistent readiness, trust, understand-
10 Claude Vivier, Que propose la musique?, quoted from:
Bob Gilmore, Claude Vivier—A Composer’s Life,
Rochester, NY: University of Rochester Press 2014,
p. 342.
The abyss is a free space, a third space, a queer
space, in which the rules of hysterical safeguarding
do not apply; it challenges us to
cross borders and take risks. It is a safe space
only in the special sense of Heidegger’s Wagnis
(risk), because it is only from the uncertainty
of being utterly exposed that it of necessity
generates its depth and power—the power
of an absolute, solidarity-based new mode of
acting, communicating and organizing how
we live together. Therefore, Point of NEW Return:
experiencing and mourning how the
world is falling apart, how the familiar order
is disintegrating, but in the next step seizing
the opportunity to give it a fatal blow and then
returning to a new longing. Replacing power
by love, taking by giving, exclusion by participation,
dictating by discussing. Playing, loving,
floating, engaged amazement. Acceptance
of the past and projection of the future.
Giving up claims of ownership: of material,
ideational and artistic projects. Consistently
collectivising, looking for projects and letting
oneself be “possessed” by their (artistic,
political, social, communicative, pedagogical,
epistemological, infrastructural, economic,
ecological etc.) aims and purposes—
not: “That is my share of the work, that is
yours etc.,” but: “The work obliges me to contribute
to its success by being one of many
indispensable ones!” Active passivity as a
strategy of subtle perception of the world,
“loswerfendes Loslassen,” affirmationism (in
Point of NEW Return—that requires us: to put
aside our fears, to return the magical and immaterial
into a disenchanted and reified world,
to dare to go for more baroque opera, more
disguise, enchantment, affect, drag, illusion,
love, myth, queerness. Positioning the symbols
where they belong: in the realm of the universal,
not the exclusive. Advocating with all
our strength that our friendship and our shared
(spirit of) enthusiasm are more important than
old, crumbling norms, hierarchies and structures
and much better than neoliberalism and
patriarchy. For the three of us—Maria & Jakob
& Ole—, the greatest NEW return during our
work on “OPERA, OPERA, OPERA!” is the
way we have grown together as a collective,
how we explore and heighten our political capacity
to act: we increasingly recognize ourselves
as the “smallest possible democratic
unit” and a radically discursive, non-hierarchical
cell with queer aspirations and utopian
motivations, in which we design in practical
terms how we want to live and think together.
Designing new forms of work, thinking and
living behind the scenes, implementing these
consistently and then carefully and successively
opening up and carrying them “outwards”
is one of the most revolutionary things
theatre can do today. The changes that are
dreamt of and sung about on stages must begin
in the conception sessions and rehearsals.
Or, to put it in different terms: an artistic vision
alone is not enough to make pioneering
art, one also needs a vision of community and
love. The three of us have found this in the last
two years. Against resistance.
Badiou’s sense) in thinking, speaking and acting
as a strategy of subversive rebellion. Acting
artistically in times of climatic and human
catastrophes does not in any way mean wanting
to block out the reality of a disintegrating
world, but to perceive it, understand it, and
not let oneself be paralyzed. Countless, enormous
possibilities for new beginnings and
reconstruction arise in the catastrophe. Point
of NEW Return: keep the faith and work to ensure
(to paraphrase Mark Fisher’s famous
phrase) that capitalism ends first and then at
some point the world, not vice-versa. None of
that will be easy—but it will be beautiful.
102 103
»ONCE TO BE REALISED«
acusmata
© Beat Furrer
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Vorahnungsvoll (Prepper)
Von Schorsch Kamerun, Musiker, Regisseur, Autor;
Inszenierung »M — EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER«
M —
EINE STADT
SUCHT EINEN
MÖRDER
Eine Konzertinstallation von
Schorsch Kamerun und Cathy van Eck
nach Fritz Lang und Thea von Harbou
Komposition: Cathy van Eck
Inszenierung: Schorsch Kamerun
Bühne: Katja Eichbaum
Kostüme: Gloria Brillowska
Ton: Jan Faßbender
Dramaturgie: Leila Etheridge, Almut Wagner
Mit:
Ensemblemitglieder des Residenztheaters:
Valentino Dalle Mura
Massiamy Diaby
Evelyne Gugolz
Sophie von Kessel
Delschad Numan Khorschid
Max Rothbart
Lisa Stiegler
Oliver Stokowski
Yodit Tarikwa
Musiker*innen:
Schorsch Kamerun
Stephanie Müller
Johannes Öllinger
Carl Oesterhelt
Salewski
u.a.
Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf: muenchener-biennale.de
Kompositionsauftrag der Landeshauptstadt München zur Münchener Biennale.
Koproduktion der Münchener Biennale mit dem Residenztheater München.
Mit Unterstützung von Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung.
106
Die Mörder sind unter uns lautete der Arbeitstitel von Fritz Langs
berühmtem Film M von 1931. Angeblich von den Nationalsozialisten
zensiert, spiegelt er die Ambivalenz, mit der Lang und
Thea von Harbou die Jagd auf den Serienmörder Hans Beckert
schildern. Die eigentliche Hauptrolle spielt die zutiefst verunsicherte
Metropole, die Bevölkerung ist von den Kriegserlebnissen
und der Weltwirtschaftskrise gezeichnet.
In der Adaption durch den Musiker und Theatermacher Schorsch
Kamerun (Die Goldenen Zitronen) und die Komponistin
Cathy van Eck wird dieses Verhältnis umgedreht und
der Film zur Konzertinstallation, der Stoff zur Folie
der Gegenwart.
Schorsch Kamerun: »Ist M (München) noch die
Solidargemeinschaft Stadt, oder, wie mancherorts
behauptet wird, auf dem besten Weg, zu M (Mörder)
zu werden, also einer hoch gefährdeten, gespaltenen
Bedrohungslage, die von Rettern mit starken Armen
in Sicherheit gebracht werden muss?«
Cathy van Eck: »Die Konzertinstallation ›M — EINE STADT SUCHT
EINEN MÖRDER‹ entsteht aus vielen verschiedenen Elementen,
die sich zwar aufeinander beziehen, aber oft auch einfach gleichzeitig
passieren, ähnlich wie man dies auch in einer Stadt vorfinden
würde. So entsteht die musikalische Ebene unter Mitwirkung
aller Musiker und Musikerinnen. Sie bewegt sich zwischen Lied
und Geräuschkulisse, sucht nach einem Rhythmus, um dann wieder
in einem chaotischen Rascheln zu verschwinden.«
The Murderers Are Among Us was the working title of Fritz Lang’s
famous film M from 1931. Allegedly censored by the National Socialists,
it reflects the ambivalence with which Lang and Thea von
Harbou portray the hunt for serial killer Hans Beckert. The real
main role is played by the extremely rattled metropolis, whose
population is scarred by their war experiences and the world economic
crisis.
In the adaptation by the musician and theatermaker Schorsch
Kamerun (Die Goldenen Zitronen) and the composer
Cathy van Eck, this relationship is reversed and the film
becomes a concert installation, and the material becomes
a transparency for the present.
Schorsch Kamerun: “Is M (Munich) still a community
based on the principle of mutual solidarity,
or, as is said in many places, on the best path of becoming
M (murderer)—in other words, of heading toward
a highly dangerous, divided level of threat, which
has to be brought to safety by rescuers with strong arms?”
Cathy van Eck: “The concert installation ‘M — EINE STADT
SUCHT EINEN MÖRDER’ will be created from many different
elements; although they refer to one another, they often simply
also happen simultaneously, similar to what one would come
across in a city, too. And so the musical level is created through
the participation of all of the musicians. It moves between lied
and soundscape, it searches for a rhythm, in order to then disappear
again into a chaotic rustling.”
107
— Nichts hört auf —
Die Grenzen hören nicht auf /
Die Schilder hören nicht auf /
Die Zäune hören nicht auf /
Die Ordnungen hören nicht auf /
Die Formeln hören nicht auf /
Zensuren und Orden hören nicht auf (gegeben zu werden) /
Automaten hören nicht auf /
Die Uhren hören einfach nicht auf /
Die Erzieher, die Lehrer, die Ausbilder hören nicht auf /
Die Stammtischpolitiker hören nicht auf /
Die Soldaten hören nicht auf /
Die Panikmacher, die Denunzianten
und Beschuldiger hören nicht auf /
Wenn? Dann! hört nicht auf /
Die Heimatminister hören nicht auf /
Die Kreuzfahrer und Inbesitznehmer... fahren
weiter kreuz und quer, gegen Mensch und Meer /
Die Rassisten, die Faschisten, die Populisten —
die Macker und Kacker, die Chauvinisten auf den
Pisten... hören nicht auf...
sie alle, hören einfach nicht auf!!
— Schöner Moment trotz rosa Bein —
Gestern Nacht ging ich durch einen dunklen Park. Es kam mir
jemand entgegen. Das Gesicht konnte ich gut sehen, weil er
telefonierte. Also, weil sein Handydisplay wie eine Gesichtsbeleuchtungs-Laterne
fungierte. Ein... gutaussehender, aber
auch ein... durchschnittlicher Münchner... dachte ich, als er
mich passiert hatte. Ich schaute ihm noch eine Weile nach. Sein
Handylichtgesicht verschwand ganz ruhig, ganz langsam in
der Dunkelheit. Das Tänzchen eines Glühwürmchens. Ohne
jedes Gewackel. Er hatte sich also nicht nach mir umgedreht,
war einfach immer weiter gegangen. Als wäre ich unsichtbar
gewesen. Wie ein ganz gewöhnlicher Mensch. Das war der
schönste, der wertvollste Moment der letzten Jahre.
Meistens ist es leider anders. Manchmal ist es... dazwischen.
Scheiß drauf. Hat nicht jeder ein rosa Bein.
— Vorahnungsvoll (Prepper) —
Batterien. Und Kaugummipapier. Gaskocher. Wasserfilter.
Armbrüste. Und Elektroschocker. Risotto, Kichererbsen, Dosenbrot.
Teleskop-Abwehrstöcke. Extrem lang haltbare Lebensmittel.
Unzerbrechliche Selbstverteidigungsschirme.
Vakuumierung. Atemschutzmasken und Desinfektionstücher.
Weizenmehl. Haltbar. Bis 2025. Sechs Dosen à 1000
Gramm. Campingkocher, Toilettenpapier. Vier Matratzen.
Checkliste. Zehn Kilo Nudeln. 60 Liter Getränke. Kaliumjodidtabletten.
WASSER. Eine Lampe aus einer Kartoffel herstellen,
ein Handtuch aus einem Stück Stoff, einen Löffel aus
Pappe. 50 Zentimeter. Fensterscheiben. Fünffach verstärkt.
Jalousien? Aushebelsicher. Zwei Jahre lang. Genau, der Weinkeller...
Bohnen und Steckrüben anpflanzen, Brot backen,
Hühner züchten, Marmelade einkochen, Saatgut konservieren,
Pullover stricken, einen Dieselmotor mit Speiseöl zum Laufen
bringen, Regen oder Brunnenwasser nutzen. Energieautonom.
Luftzufuhr. Strom- und Wasserversorgung. Giftpflanzen.
Fluchtrucksäcke. Schweigen... Deutschland,
Österreich, Schweiz. Etc… Zwei 1000-Liter-Kanister?
Aus Plastik. Brauchwasser. Trinkwasser.
Ein Fläschchen Silberionen. Für das
Wasser. Sechs Monate lang haltbar. Gaspistole,
Messer. Funkgeräte. Für den Notfall. Die Zivilisation
neu einrichten können: weben, verarzten, recyceln,
sauberes Wasser beschaffen, schweißen und so
weiter. Totmannschalter? Kurzwelle? Russland? Terroranschläge.
Atomunfälle. Finanzcrash. Plünderungen. Kannibalismus?
Nordkorea? Noch zwei Messer. Noch eine Gaspistole.
Tarnfleck-Klamotten, Campinggeschirr, Fertignahrung. Silberunzen.
Armbrüste. Elektroschocker. Selbstverteidigungsschirme.
Borat, Natriumcarbonat, geriebener Käse. Der 50
Euro teure USB-Stick? Zerstört fast jedes Gerät. In Sekunden.
Der Memory Hacker? Wie man Menschen falsche Erinnerungen
ins Gehirn setzt. Best-vacation-ever man-of-my-life happiest-girl-alive
best-sommer-of-all-time love-my-life. Ein
Bild des Grabsteins meiner Oma posten. Avocado Toasts.
Trainings App. Meditations App. Allgemeinbildungs App.
Kultur Planer App. TRX-Trainings-Tool.
Beweglichkeit, Koordination, Gleichgewicht.
Aktives Ausruhen. Vorher/nachher Foto.
Trainingsergebnisse.
Übererfüllung.
108
— Extra Unruhig —
Gesund und mitmachend und strahlend.
Das war die Anforderung die man mir beibrachte.
Gesund und mitmachend und strahlend.
Das war der Unterschied, den es ausmacht. Ausmacht, gegenüber
den Beschuldigten, den Vergifteten, den Zerworfenen.
Den Geschwächten. Den Heldenlosen. Den Falschfarbigen.
Den Schwach- und Nichtgeschlechtrigen. Den Eigensinnigen.
Den Unruhigen. Den Abtrünnigen. Den Herumstolpernden.
Gegenüber denen, neben den Formen, neben den
Noten. Denen, die nicht zählen können oder wollen und die
deshalb nicht mit aufgezählt werden. Den Nichtmehrvorkommenden.
Gesund und mitmachend und strahlend.
Das war der Rat den man mir gab, den man mir auftrug
— und den ich nicht tat.
Gesund und mitmachend und strahlend.
Als beauftragte Antwort auf Beunruhigung.
Gesund und mitmachend und strahlend.
Ich fing aber trotzdem an, fing an zu fragen. Nach
den Beschuldigten, nach den Vergifteten, nach
den Zerworfenen. Nach den Geschwächten. Nach
den Heldenlosen. Nach den Falschfarbigen.
Den Schwachgeschlechtrigen. Nach den Eigensinnigen.
Den Abtrünnigen. Unformbar Unbenotbaren.
Extra Stolpernden, extra Nichtvorkommenen,
extra nicht Zählenwollenden, extra Unruhigen. Nach den
freiwillig Umgekehrten, den freiwillig Versehrten.
Gesund und mitmachend und strahlend?
Aß ich meine Suppe nicht — bis ich vergaß.
Texte aus Material zu Proben für
»M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER«
»M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER«
© Cathy van Eck
109
Foreboding (Prepper)
By Schorsch Kamerun
Musician, director and author; director of
“M — EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER”
— Nothing stops —
The borders do not stop /
The signs do not stop /
The fences do not stop /
The orders do not stop /
The formulae do not stop / Censorship and
medals do not stop (being proclaimed) /
Vending machines do not stop /
The clocks simply do not stop /
The educators, the teachers, the trainers
do not stop /
The armchair politicians do not stop /
The soldiers do not stop /
The alarmists, the informers and accusers
do not stop /
If? Then! does not stop /
The ministers of home affairs do not stop /
The crusaders and occupiers... journey on
here, there and everywhere, set against man
and sea /
The racists, the fascists, the populists— the
blokes and the boors, the chauvinists on the
slopes… do not stop...
all of them simply don’t stop!!
— A nice moment despite a pink leg —
Last night I was walking through a dark park.
Someone came towards me. I could see his
face clearly because he was talking on the
phone. You know, because his cell phone display
acted like a face-illumination lamp. A...
good-looking, but also a... run-of-the-mill
Munich resident... I thought when he’d gone
past me. I watched for a while as he walked
away. His mobile-phone-lit face disappeared
very peacefully, very slowly into the darkness.
The dance of a glowworm. Without wobbling
about at all. So he hadn’t turned around to
take a look at me, just kept on walking. As if I
were invisible. Just like an absolutely ordinary
person. It was the most beautiful, most
precious moment in years.
Sadly, it’s mostly a different story. Sometimes
it’s... ...somewhere in between. Fuck it.
Not everybody has a pink leg.
»TRANSSTIMME«
© Fabià Santcovsky
— Foreboding (Prepper) —
Batteries. And gum wrappers. Gas stove. Water
filters. Crossbows. And stun guns. Risotto,
chickpeas, canned bread. Telescopic batons.
Extreme long-life foodstuffs. Unbreakable
self-defence umbrellas. Vacuum-pack device.
Respiratory masks and disinfectant wipes.
Wheat flour. Long shelf life. Until 2025. Six
1,000-gram cans. Camping stove, toilet paper.
Four mattresses. Checklist. Ten kilos of pasta.
60 litres of drinks. Potassium iodide tablets.
WATER. Make a lamp from a potato, a towel
from a piece of cloth, a spoon from cardboard.
50 centimetres. Window panes. Fivefold reinforcement.
Blinds? Tamper-proof. For two
years. Right, the wine cellar... Planting beans
and turnips, baking bread, raising chickens,
making jam, preserving seeds, knit ting sweaters,
running a diesel engine on cook ing oil,
using rain or well water. Energy independent.
Air inflow. Power and water supply. Poisonous
plants. Escape backpacks. Silence... Germany,
Austria, Switzerland. Etc... Two 1,000-litre
canisters? Made of plastic. Utility water.
Drinking water. A flask of silver ions. For the
water. Six-month shelf life. Gas pistol, knife.
Radios. For emergencies. To rebuild civilization:
weaving, doctoring skills, recycling,
getting clean water, welding, and so on. Dead
man’s switch? Shortwave? Russia? Terrorist
attacks. Nuclear accidents. Financial crash.
Looting. Cannibalism? North Korea? Two
more knives. Another gas pistol. Camouflage
gear, camping plates, convenience food. Silver
ounces. Crossbows. Stun guns. Self-defence
umbrellas. Borate, sodium carbonate, grated
cheese. The € 50 flash drive? Destroys almost
any device. In seconds. The memory hacker?
How to put false memories into people’s
brains. Best-vacation-ever man-of-my-life
happiest-girl-alive best-summer-of-all-time
love-my-life. Posting a picture of my grandma’s
headstone. Avocado toasts. Training
app. Meditation app. General Education app.
Culture Planner app. TRX-Training Tool.
Mobility, coordination, balance.
Active resting. Before/after photo.
Training results. Over fulfillment.
— Deliberately Agitated —
Healthy and a good sport and with a big smile.
That was what they taught me I had to do.
Healthy and a good sport and with a big smile.
That was what made all the difference. Made
the difference between you and the incriminated
and the poisoned and the outcasts. The
weaklings. The unheroic. The ones that were
the wrong colour. The under-gendered and
the non-gendered. The headstrong. The agitated.
The renegades. The ones that stumbled
around. Made the difference between
you and them, alongside the forms, alongside
the grades. Those who can’t or won’t
count and therefore are not counted in.
Those who no longer exist.
Healthy and a good sport and with a big smile.
That was the advice they gave me, what they
told me to do—and that was what I didn’t do.
Healthy and a good sport and with a big smile.
The required response to all concerns.
Healthy and a good sport and with a big smile.
But I started all the same, started asking
questions. About the incriminated and the
poisoned and the outcasts. About the weaklings.
The unheroic. The ones that were the
wrong colour. The under-gendered. About
the headstrong. The renegade. The unformable.
Ungradable. Deliberately stumbling, deliberately
not existing, deliberately not
wanting to count, deliberately renegade. After
those who turned back voluntarily, those
who were injured voluntarily.
Healthy and a good sport and with a big smile?
If I didn’t eat my soup—until I forgot.
Texts from material on the rehearsals for
“M — EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER”
110
111
Nach einer Idee des Journalisten Bobby Rafiq und des Komponisten
Yoav Pasovsky nähert sich das Musiktheater-Projekt
»DAVOR« dem Thema Alltagsrassismus. Unter Verwendung von
szenisch aufgearbeiteten Interviews, die von der taz-Journalistin
Ebru Taşdemir geführt wurden, entwickelte der Regisseur Robert
Lehniger zusammen mit seiner Ausstatterin Irina Schicketanz,
der Dramaturgin Marion Hirte und dem Komponisten Yoav
Pasovsky eine begehbare Installation. »DAVOR« bricht die
klassische Trennung von Bühne und Zuschauerraum auf
und lässt das Publikum in einer labyrinthischen Installation
in Live-Szenen genauso wie in die Virtual Reality
mittels entsprechender Headsets eintauchen.
Based on an idea by the journalist Bobby Rafiq and
the composer Yoav Pasovsky, the music theater project
“DAVOR” approaches the topic of everyday racism.
Using staged interviews conducted by taz journalist Ebru
Taşdemir, director Robert Lehniger, together with his designer
Irina Schicketanz, dramaturge Marion Hirte and the composer
Yoav Pasovsky, developed a walk-in installation. “DAVOR” breaks
the classical separation of stage and auditorium and lets the audience
immerse themselves in a labyrinthine installation with live
scenes and virtual reality via the appropriate headsets.
Produktion der Münchener Biennale.
In Kooperation mit der Otto Falckenberg Schule.
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DAVOR
Ein dokumentarisches Musiktheater-Projekt
Komposition: Yoav Pasovsky
Regie: Robert Lehniger
Ausstattung: Irina Schicketanz
Dramaturgie: Marion Hirte
Sounddesign: Miguel Murrieta Vásquez
Interviews: Ebru Taşdemir
Mit:
Benita Sarah Bailey, Thu Trang Dong, Şiir Eloğlu,
Ernest Allan Hausmann
sowie: Studierende der Otto Falckenberg Schule:
Conrad Ahrens, Bless Amada, Maditha Dolle, Jan Fassbender,
Konstantin Gries, Daria von Loewenich, Jochanah Mahnke,
Valentin Mirow, Marlina Adeodata Mitterhofer, Anna K. Seidel,
Paul Wellenhof
Interviewpartner*innen:
Benjamin Adjei Politiker, Mitglied Bündnis 90/Die Grünen
Dr. Chadi Bahouth Coach, Dozent
Sanchita Basu Gründerin der Opferberatungsstelle »Reach Out«
Idil Baydar Comedian
Tülay Bilgen Bildungswissenschaftlerin
Ebow Musikerin
Nazanin Ghafouri Sozialpädagogin
Ilaaf Khalfalla Fotografin
Armin Langer Autor
David Mayomba Musiker, Moderator
Ario Mirzai Aktivist
Olimpio do Nascimento Petri Audiodesignstudent
Pantelis Pavlakidis Lehrer
An Phan Studentin
Ülkü Schneider-Gürkan Dolmetscherin
Ali Schwarzer Blogger
Phung Vu Tangh Wirtschaftstudentin
Nomazulu Thata Mitglied der Feministischen Partei Bremen
Ali Naki Tutar Aktivist
Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf: muenchener-biennale.de
Davor
Von Bobby Rafiq
Autor und Journalist
Davor — eine einfache temporale Präposition. Sie verrät,
dass etwas bevorsteht. Es wird etwas passieren, ein Ereignis
oder Zustand wird eintreten. Das Davor dieses Projektes beschreibt
eine Phase, eine Art Aggregatzustand, aber auch eine
Gefühlswelt im politischen und gesellschaftlichen Raum, die
den Alltag bestimmter Menschen in Deutschland bisher mindestens
negativ beeinflusste und inzwischen zunehmend
prägt. Es sind Angehörige von Minderheiten: Juden, Muslime,
Dunkelhäutige, Homosexuelle und andere Gruppen, die nicht
dem Mainstream der vermeintlichen christlich-weißen Norm
entsprechen. Menschen, die nicht in der großen Masse der
»Mehrheitsgesellschaft« untertauchen können und deshalb
zur Zielscheibe werden.
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Diesem Davor steht ein laut heraus posauntes Nie wieder! gegenüber.
Es wird nach jeder antisemitischen oder anderen
rassistischen Tat, nach jedem rechtsextrem motivierten Terroranschlag
oder an historisch passenden Jahrestagen wiederholt
geäußert. Der zur Floskel degenerierte und eigentlich
gutgemeinte, wenn man so will, appellative Imperativ steht
inzwischen vor allem für eines — Hilflosigkeit.
Man bemüht es immer erst nach einer Tat — Nie wieder! gewissermaßen
als eine Art Postposition. Diese Taten sind nämlich
nicht die ersten ihrer Art. Seit Jahrzehnten existiert in der
Bundesrepublik ein Kontinuum rechtsextremer Straf- und Gewalttaten,
mit zahlreichen Todesopfern. Nie wieder! wirkt im
besten Fall wie lautes Pfeifen im Wald. Im schlimmsten Fall
erscheinen diese ritualisierten Äußerungen wie eine Verhöhnung
der Opfer und ihrer Angehörigen. Denn NACH Nie wieder!
ist VOR der nächsten Tat. So stellt sich die Frage: Nie
wieder was eigentlich, wenn der Schrecken weiter zunimmt?
Betroffene fühlen sich allein gelassen. Im Davor äußert sich
einerseits ihre Sorge, dass sich aufgrund der Häufung
rechtsextremer Übergriffe und des Erfolges einschlägiger
Parteien sowie wegen rechtsextremer
Umtriebe in Behörden etwas manifestiert, das die
nächste Phase einleiten könnte. In dieser würden
sich dann Diskriminierung und Hass weiter verstärken
und vor allem zunehmend institutionalisieren.
Ein Davor, das mindestens im Ansatz an vergangene
Zeiten erinnern könnte.
Andererseits ist das Davor ein ständiger Zustand, eine Konstante
im Alltagsleben vieler Betroffener — seit Jahrzehnten: Sie
müssen als Sündenböcke herhalten, als Projektionsfläche für
Ängste, Neid und Furcht vor Identitätsverlust. Damit einher
ging schon immer die Sorge, was als Nächstes kommen könnte.
Blieb diese Sorge in den vergangenen Jahrzehnten eher diffus,
stellt sich im gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Klima
eine Frage ganz konkret: Was folgt auf das Davor?
Es gibt kaum eine Partei, die in der Vergangenheit nicht auf
der Klaviatur des Ressentiments gespielt hat, um Wählerstimmen
zu bekommen. Denn ohne ihr Wirken hätten offen nationalistisch
und rassistisch agierende politische Kräfte wahrscheinlich
keinen großen Erfolg und säßen inzwischen nicht
in allen Landtagen und im Bundestag. Der Rechtsruck des
Zeitgeistes begann lange vor dem vielzitierten Flüchtlings-
»DAVOR«
Ausschnitt aus einem von Pasovsky entwickelten Computerprogramm, das das
synchronisierte Abspielen eines 360°-Films über mehrere VR-Brillen ermöglicht.
© Yoav Pasovsky
114
jahr 2015. Seitdem aber werden Tabus noch unverblümter gebrochen.
Das Unsagbare wird zunehmend sagbar. Gesellschaftliche
Konventionen und Vorstellungen von Ethik und
Moral werden unterminiert. Selbstverständlichkeiten sind
eines nicht mehr: aus sich selbst heraus verständlich. Teile der
etablierten Parteien suchen weiterhin nach Antworten auf die
Krise des Konservatismus, indem sie hilflos mit dem rechten
Rand flirten und diesen dadurch erst stärken und die oft bemühte
Mitte weiter nach rechts verschieben.
Brennende Flüchtlingsheime, Schweinsköpfe vor Moscheen,
geschändete jüdische Friedhöfe und tätliche Angriffe sind das
eine. Hinzu kommt das Subtile, das sich immer mehr in den
Alltag von Familien hineinfrisst und von der Öffentlichkeit
kaum wahrgenommen wird: Die Tochter eines deutsch-türkischen
Paares fragt weinend die Eltern, warum denn alle etwas
gegen Muslime hätten. Eine Gymnasiastin möchte den iranischen
Teil ihres Doppelnamens streichen, um nicht so
sehr aufzufallen. Aus Angst vor Übergriffen trauen
sich Juden immer seltener, Symbole ihres Glaubens
offen zu tragen. Dunkelhäutige meiden bestimmte
Strecken des öffentlichen Nahverkehrs,
weil es dort schon zu Übergriffen gekommen ist.
»No-Go-Areas« sind für die meisten kein Relikt
vergangener Zeiten.
Hinzu kommt die aufgrund der Herkunft widrige Suche nach
einer Wohnung oder einem Arbeitsplatz, das Misstrauen bei
einer Kontoeröffnung und bei Behördengängen. Die Sorge, ob
einem wirklich geholfen wird, wenn man die Polizei um Hilfe
bittet oder ob die Justiz neutral Urteile fällt. Die Frage, ob der
Arzt einen tatsächlich richtig untersucht oder man ihm egal ist.
Das Projekt »DAVOR« möchte diese Welten der steten Zermürbung
nachvollziehbarer machen. Worte und Taten entstehen
nicht im luftleeren Raum. Sie haben immer einen Kontext
im Alltag der Menschen. Mit konkreten Beispielen und Äußerungen
Betroffener, mit szenischen Sequenzen will »DAVOR«
Alltagsrassismus, Diskriminierung, und Hass sinnlich erfahrbar
machen. Vorfälle, die selten oder weniger prominent medial
Erwähnung finden — derartigen Erfahrungen will »DAVOR«
versuchsweise nahekommen. Denn die physischen und seelischen
Folgen sind nur für die Betroffenen selbst spürbar.
115
Ein dokumentarisches Musiktheaterstück wie dieses kann
lediglich eine Ahnung vermitteln, versucht das aber so konkret
wie möglich: Innerhalb eines labyrinthischen Innenraums
bewegt sich der Zuschauer, die Zuschauerin als Bestandteil
entsprechender Szenen. Passagenweise kommen
VR-Headsets zum Einsatz und verstärken die sinnlichen Eindrücke.
Man wird vom Beobachter, von der Beobachterin zum
Teilnehmer, zur Teilnehmerin einer persönlichen Erfahrung.
Vielleicht gelingt es zu verdeutlichen, wie viele Menschen in
Deutschland schon längst ein Leben führen müssen, vor dem
andere immer noch Nie wieder! rufend warnen.
»DAVOR« möchte mahnen und Bewusstsein schaffen. Denn
der Point of no Return ist für viele gefühlt bereits überschritten.
Immer mehr denken offenbar konkret über das Auswandern
nach. Dennoch gibt es die Chance auf einen Point of
NEW Return. Die große Mehrheit in Deutschland ist
laut Umfragen nicht rechtsextrem eingestellt. Im
Gegenteil, sie sieht den Rechtsextremismus als
eine der großen Gefahren für die Demokratie.
Hoffnung macht auch, dass — wenn auch viel zu
langsam und zu wenige — zunehmend mehr Menschen
mit augenscheinlich nichtdeutscher Herkunft
in Medien, Politik und Kultur vertreten sind.
Nach Hanau sprachen prominente Politiker und Politikerinnen
das erste Mal fraktionsübergreifend von einem
Rassismus-Problem, das Deutschland habe und vieles mehr.
Und dennoch: Als Barack Obama zum ersten schwarzen Präsidenten
der USA und damit zum großen Hoffnungsträger
einer offenen und multikulturellen Gesellschaft wurde, konnte
kaum jemand erahnen, wer ihm nach zwei Amtszeiten ins
Weiße Haus folgen würde. Von den Machtverhältnissen am
Ende der Weimarer Republik ganz abgesehen, als es keiner
gewählten absoluten Mehrheit bedurfte, um Despoten an die
Macht zu verhelfen. Thüringen ist die Chiffre in der Jetztzeit.
»(...) Weil ich davon überzeugt bin, dass wir nur dann die richtigen
Lehren für uns heute und in Zukunft ziehen können, wenn
wir die Novemberpogrome 1938 als Teil eines Prozesses verstehen,
dem mit der Shoa ein schreckliches Danach folgte, dem
aber eben auch ein Davor vorausging. (...)
(...) Weil wir so sehen können, wohin es führt, wenn — wie im
Nationalsozialismus — ein zuvor strafbares Verhalten erst geduldet
und schließlich zum erwünschten Verhalten erklärt
wird. Vorher beziehungsweise immer schon gehegte Vorurteile
konnten nun ungestraft in offene Gewalt umschlagen.
Begleitet wurde dies von dem Wegschauen, dem Schweigen,
der Gleichgültigkeit, vor allem aber auch dem Mitlaufen einer
großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung. (...)«
morals are becoming undermined. Self-evident
aspects have lost one quality: they are no
longer understandable on their own terms.
Sections of the established political parties
continue to search for answers to the crisis of
conservatism by helplessly flirting with rightwing
fringe groups, and by doing so they initially
strengthen them and cause the often
anxious mainstream to shift more to the right.
Burning refugee homes, pig heads in front of
mosques, defiled Jewish cemeteries, and daily
attacks are one thing. In addition to this,
there is the subtleness that is eating its way
more and more into the everyday life of families
and is barely perceived by the general
public. The daughter of a German-Turkish
couple is in tears as she asks her parents why
does everyone have something against Muslims.
A high school student would like to have
the Iranian part of her hyphened, compound
surname erased so she doesn’t attract too
much attention. More and more, for fear of
attacks Jews seldom dare to wear symbols of
their faith in public. Dark-skinned persons
avoid certain public transportation routes,
because there have been previous attacks on
these routes. For most of them, “no-go zones”
are no longer a relic of past times.
Furthermore, because of their family background
they have to endure an adverse search
for an apartment or job, distrust when opening
a bank account and when they are at governmental
agencies and civil services offices.
The anxiety of whether one will really
be helped when one asks for assistance from
the police, or whether the justice system will
pass judgements in a neutral manner. The
question of whether a doctor will actually examine
them correctly or whether the doctor
doesn’t care about them at all.
The project “DAVOR” would like to make
these worlds of attrition comprehensible.
Words and deeds are not created in a vacuum.
They always have a context in people’s everyday
lives. By using concrete examples and
statements of the aggrieved persons and scenic
sequences, “DAVOR” wants to make everyday
racism, discrimination, and hate sensuously
Das sagte Angela Merkel auf der Zentralen Gedenkveranstaltung
zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht in Berlin.
Es sind wichtige Worte. Und trotzdem nähren auch
diese das Unbehagen der Menschen, die sich in der
Phase des Davors befinden. Denn es war dieselbe
Kanzlerin, die nach dem Auffliegen des NSU
größt- und schnellstmögliche Aufklärung versprach
und bewegende Worte nach dem rechtsterroristischen
Anschlag in Hanau fand. Bis heute ist
nicht viel Licht ins Dunkel der NSU-Täterschaften
und deren Strukturen gekommen. Und nach Merkels
Äußerungen zum Terroranschlag war von ihr nicht mehr
viel zu diesem Thema zu vernehmen. Die Ergebnisse des
vergangenen Integrationsgipfels, die u.a. die Einrichtung
eines Kabinettausschusses gegen Rassismus und Rechtsextremismus
beinhalteten, lesen sich gut, es bleibt abzuwarten,
wie die Handlungsempfehlungen des Ausschusses umgesetzt
werden.
Als dieser Text entstand, befand sich das Land noch nicht auf
dem Höhepunkt der Corona-Pandemie — wirtschaftliche Folgen,
steigende Arbeitslosenzahlen und damit wohl ein größeres
rechtsextremes Potential waren und sind noch nicht absehbar.
Es ist Zeit, auf bedeutungsschwangere Reden wirksames Handeln
folgen zu lassen. Wann, wenn nicht jetzt? Aber auch diese
Worte lesen sich wie ein Déjà-vu.
116
Die Ursprungsidee kam von Yoav Pasovsky. Der 1980 in Israel
geborene Komponist zog mit 23 Jahren nach Berlin und gründete
dort eine Familie. Seine Urgroßeltern flohen 1935 aus
München nach Palästina. Angesichts der politischen und gesellschaftlichen
Entwicklungen der letzten Jahre fragt er sich
immer öfter, ob Deutschland ein sicheres Land für ihn und
seine Familie bleiben könne. Noch nie habe er so sehr nachvollziehen
können, wie sich seine Urgroßeltern damals gefühlt
haben müssen.
Gemeinsam mit dem Autor und Journalisten Bobby Rafiq entwickelte
er das Konzept und die Idee für »DAVOR«. Bobby
Rafiq ist 1976 in Kabul geboren worden und als Flüchtlingskind
in Berlin aufgewachsen. Zeit seines deutschen Lebens
kennt er dieses Gefühl des Davors und beschäftigt sich in seinen
Arbeiten wiederholt mit den Themen offene Gesellschaft,
Rassismus und Demokratie.
Those affected feel left alone. On the one
hand, in before their anxiety is expressed that
something is being manifested that could initiate
the next phase when they perceive the
frequency of far-right attacks and the successes
of the corresponding political parties,
as well as the presence of extreme right-wing
individuals in civil service offices and among
the authorities. In this phase then, discrimination
and hate would continue to intensify
and become for the most part increasingly
institutionalized. A before, which at least in
the early stages could call to mind past eras.
Davor (“Before”)
By Bobby Rafiq
Author and journalist
Before—a simple temporal preposition. It betrays
that something is impending. Something
will happen, an event or situation will
occur. The before of this project describes a
phase, a type of aggregation state, but also an
emotional world in the political and social
arena, which up until now has at least negatively
influenced the everyday life of certain
people in Germany and in the meantime is
increasingly affecting their everyday life.
They are members of minorities: Jews, Muslims,
people with dark skin, homosexuals,
and other groups that do not correspond to
the mainstream of the supposedly Christian,
white norm. People who cannot immerse in
the large mass of “majority society” and therefore
become targets.
A loud trumpeting never again! is in contrast
to this before. It is expressed repeatedly after
each anti-Semitic or other racist act, after
every far-right motivated terrorist attack, or
on relevant historical anniversaries. The appellative
imperative, if one wishes to call it
this, although well-intended has degenerated
into a set phrase and in the meantime stands
primarily for one thing—helplessness.
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On the other hand, the before is a constant
state, and has been a constant in the everyday
life of many of the aggrieved persons for decades
now: They must be used as scapegoats,
as projection screens for anxieties, envy, and
the fear of losing one’s identity. And in addition
always have to worry about what could
come next. If this anxiety remained in past
decades more or less diffuse, the tangible
question in the present climate of society is:
What follows after the “before”?
There is hardly a political party that in the
past didn’t play the keyboard of resentments
in order to get votes. For without their actions,
openly active nationalistic and racist
political groups would more than likely not
have had any extensive success, and they
would not have won in the meantime seats in
all of the state parliaments and in the Federal
Parliament. The shift to the right in the zeitgeist
began long before the oft-quoted spring
of 2015. Since then, however, taboos have
been broken even more bluntly. The unutterable
is becoming more and more utterable.
Social conventions and concepts of ethics and
One always makes an effort only after an act
has been committed. Never again! as, in a
manner of speaking, a type of “post-position.”
These acts are, namely, not the first of
their kind. For decades there exists in the
Federal Republic of Germany a continuum of
far-right criminal offences and violent acts,
with numerous fatalities. In the best case ne ver
again! appears to be a loud whistling in the
forest. In the worst case these ritualistic statements
seem to be ridiculing the victims and
the members of their families. For AFTER
never again! is BEFORE the next act. And so
the question is posed: Never again what, actually,
when the terror continues to increase?
experienceable. Incidents that are rarely mentioned
in the media or not very prominently
mentioned—“DAVOR” wants to experimentally
approximate such experiences. Because
the physical and emotional consequences can
only be perceived and felt by the aggrieved
persons themselves.
A documentary music theater piece like this
one can only convey an impression, but it will
attempt to do this as tangibly as possible: the
individual members of the audience move
within a labyrinthine interior space as a component
of corresponding scenes. At times
virtual reality headsets will be used, and they
will intensify the sensuous impressions. One
transforms from an observer into a participant
in a personal experience.
Perhaps the project will succeed in making it
clear how many people in Germany for a long
time now have already had to lead a life that
others are still warning about by saying never
again!
“DAVOR” would like to warn and generate
awareness. For the Point of no Return has already
been crossed for many people. More
and more people are apparently openly thinking
concretely about emigrating. However,
there is still the chance of a Point of NEW Return.
According to surveys, a large majority
in Germany do not share the views of the farright.
Just the opposite, the majority sees farright
views as one of the biggest dangers to
democracy. There is also cause for hope that
more and more persons—even if it’s happening
too slowly and they are too few—with an
evidently non-German family background
are increasingly present in the media, politics,
and culture. After the incident in Hanau
prominent politicians spoke for the first time
in a multi-partisan manner about Germany’s
racism problem, and about much, much more.
And yet, when Barack Obama became the first
black president of the U.S. and therefore became
a huge beacon of hope for an open and
multi-cultural society, hardly anyone could
have suspected who would enter the White
House after his two terms. Apart from the
power relationships at the end of the Weimar
Republic when an elected absolute majority
was not needed to help despots take power.
Thüringen is the cipher in our present times.
“(...) I do so because I firmly believe that we can
only learn the right lessons for us today and in
the future if we consider the November pogroms
of 1938 to be part of a process that was
not only followed by the terrible chapter that
was the Shoah, but also had a pre-history.”
“(...) Because in this way we can see what the
consequences are if—as under National Socialism—what
was once punishable behavior
is first tolerated and then, ultimately, declared
to be desirable behavior. Prejudices
that had previously or always been held could
now give way to open violence with impunity.
This was accompanied by a large majority of
the German population looking the other way,
remaining silent and indifferent and, above
all, going with the flow. (...)”
This is what Angela Merkel said at the central
commemorative event marking the 80th anniversary
of the Reichspogromnacht (“Night
of Broken Glass”) in Berlin. These are significant
words. And despite this, this also nourishes
the uneasiness of the people who find
themselves in the “before” phase. For this was
the same chancellor who promised after the
National Socialist Underground (NSU), the
far-right German neo-Nazi terrorist group,
was uncovered the criminal case would be
cleared up as extensively and quickly as possible,
and who spoke touching words after the
right-wing terrorist attack in Hanau. To this
day, not very much light has been shed on the
dark deeds of the NSU and its structures. And
after Merkel’s remarks on the terror attack
she didn’t have much more to say about this
subject. The results of the recent Integration
Summit Conference that, among other
things, involved establishing a cabinet committee
against racism and the far-right, read
well. It remains to be seen how the committee’s
recommended course of actions will be
implemented.
When this text was written the country was
not yet at the height of the corona pandemic—
the economic consequences, increasing numbers
of unemployed, and as a result probably
a greater potential capacity of the far-right
were and are not yet foreseeable.
It is time to follow up speeches fraught with
meaning with effective actions. When, if not
now? But these words also read like a type of
déjà-vu.
The original idea came from Yoav Pasovsky.
Born in 1980 in Israel, this composer moved
to Berlin when he was 23 years old and started
a family there. His great-grandparents fled
from Munich to Palestine in 1935. In view of
the political and social developments in recent
years, he has been asking himself more
and more frequently if Germany can remain
a safe country for him and his family. Never
before has he been able to comprehend so well
how his great-grandparents must have felt
back then.
Together with the author and journalist Bobby
Rafiq he developed the concept and idea
for “DAVOR”. Bobby Rafiq was born in 1976
in Kabul and grew up in Berlin as a refugee
child. From the time he has spent in Germany
he knows this feeling of before, and in his
works he has repeatedly examined the themes
of an open society, racism, and democracy.
»ONCE TO BE REALISED«
Silhouette – Silence
© Younghi Pagh-Paan
118
119
Das Musiktheaterprojekt »ACH! Fast eine Funkoper« setzt das
Partizipationsprojekt »GAACH — quasi eine Volksoper« fort, das
2016 im Rahmen der Münchener Biennale in Zusammenarbeit
mit der Münchner Volkshochschule mit über 280 Teilnehmer*innen
in den Foyers des Gasteig uraufgeführt wurde. Während bei
»GAACH« Geschichte und Bewohner des Münchner Stadtteils
Haidhausen im Mittelpunkt standen, geht es in diesem Projekt
vorrangig um den Aspekt der »locality«. Die Teilnehmer*innen,
Menschen unterschiedlicher Herkunft allen Alters, untersuchen
textlich, kompositorisch, musiktheatralisch, aber auch mit
Mitteln des klassischen Hörspiels, Orte und Räume, die
in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für jeden
einzelnen von Bedeutung waren, sind oder
sein werden.
ACH !
FAST EINE FUNKOPER
Ein Partizipationsprojekt von und mit
Kursteilnehmer*innen
der Münchner Volkshochschule
Komposition/Konzept/künstlerische Gesamtleitung:
Cathy Milliken, Robyn Schulkowsky,
Dietmar Wiesner
Raum/visuelle Dramaturgie: Doris Dziersk
Text: Kathrin Röggla
120
The music theater project “ACH! Fast eine Funkoper”
is a sequel to the first participation project,
“GAACH—quasi eine Volksoper,” which premiered in
2016 with over 280 participants at the Munich Biennale
in the foyer of the Gasteig Cultural Centre in cooperation
with the Munich Volkshochschule. Whilst “GAACH” focussed on
the history and residents of Munich’s Haidhausen district, this
year’s production centres around the aspect of “loca lity”: the
participants, invited to take part from all walks of life, examine locations
and places, significant to them in the past, present, and
future using new texts, compositions as well as classical means
of radio play production.
Mit:
Jessica Aszodi Sopran
Rike Huy Trompete
Steffen Ahrens E-Gitarre
Nikola Kerkez Akkordeon
Wolfram Winkel Percussion
Simon Brusis Schauspieler
sowie: Kursteilnehmer*innen der
Münchner Volkshochschule
Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf: muenchener-biennale.de
Produktion der Münchener Biennale und der Münchner Volkshochschule.
Mit freundlicher Unterstützung der Versicherungskammer Kulturstiftung.
Point of
NEW Return
— NOW
Von Kathrin Röggla
Schriftstellerin;
Autorin des Textes zu »ACH ! Fast eine Funkoper«
»Die Sache kommt ja in Wellen.«
»So. Jetzt haben wir eine Situation«, ruft die Redakteurin neben
mir aus. Jetzt sind wir drinnen. Jetzt gibt es den nationalen
und internationalen Krisenstab, die News Ticker, die
Live-Schalte, die Experten, die Neologismen, die zeitgleichen
Bemühungen, die Parallelszenarien, die Erinnerung an andere
Krisenherde, das Modellhandeln, die vorsichtigen Prognosen,
die Vorwärts- und Rückwärtsnachrichten, die volle
Stunde und die halbe. Jetzt sitzen wir fest in diesem Studio,
wie wir eben noch woanders festgesessen sind.
Gehen wir zurück zu dem Punkt, als es noch Entscheidungen
zu treffen gab. Als wir darüber nachdachten, wie wir die Sache
einbremsen können, wie wir Vorsorge treffen können.
Gehen wir zurück in die Situation ohne Raumteiler. Saßen wir
damals schon im Großraumstudio und husteten uns an? Natürlich
in Armbeugen hinein, und meist sind es auch
die eigenen, nur in globalen Wirtschaftszusammenhängen
husten wir bekanntlich in die der anderen.
Der Kurs der Börse hat uns allerdings
gleich direkt ins Gesicht geblasen. Das sei nicht
so schlimm, informiert man uns an diesem beliebigen
Montagmorgen zur besten Sendezeit, man
müsse es nur aussitzen und solle JETZT GERADE
nicht aus seinen Aktienfonds aussteigen. Aber JETZT
GERADE passieren so viele Dinge gleichzeitig, da kann es
schon sein, dass man seine Aktienanteile abstößt, quasi unfreiwillig.
Aus Panik. Angst ist ein schlechter Ratgeber, hat
jemand im Raum ohne Raumteiler bereits zu oft gesagt, das
funktioniert jetzt auch nicht mehr. Jetzt wurden die Raumteiler
eingeführt, und Deutschlandfunk hatte längst die Verkehrsnachrichten
abgestoßen, aber nicht aus Panik, sondern
aus reichlich überlegten Gründen, die hätten sich nämlich
überlebt. Die würden nicht mehr für die Ohren gebraucht,
Verkehrsnachrichten seien heute mehr etwas für die Augen,
und die Augen gehören ins Netz. Welches bekanntlich immer
up to date ist. Nur das Netz kann auch die vielen Life-Ticker
gebären, die unsere hypertrophe Gegenwart erzeugen, ein
vielschichtiges Ineinander von Jetztzeitigkeiten, die einzeln
für sich genommen stimmen mögen, aber zusammen einen
ziemlich falschen Chor ergeben. Sie verschieben ja auch andauernd
Sichtbarkeiten im Raum, als würden sie den Verkehr
121
regeln zur besseren Durchfahrt, zur Flüssigkeit, aber in Wirklichkeit
kommt es zu Auffahrunfällen der gröberen Sorte.
Den Verkehr, der offiziell für die Augen ist, hören wir uns ja
auch meist an. Draußen in den Reihenhäuschen und Großsiedlungen
in Flughafennähe genauso wie am Funkerberg von
Königs Wusterhausen neben der Autobahn gen Osten, oder
drinnen in den Großraumbüros nahe dem Stadtring, in der
Einflugschneise. Genau in so einem sitze ich gerade und höre
den redaktionellen Sitznachbarn des Radiosenders zu, wie sie
in sanftem Gemurmel besprechen, welche Nachricht man nun
wie platziert. Z.B. wurde »der erste Patient in Berlin« schon
in den 8:00-Nachrichten bekannt gegeben (Äonen her), der
sogenannte Berliner Nullpatient, (oder gibt es nur den italienischen
Nullpatienten?), Bote einer Pandemie, für die man
Krankenhäuser bereit zu stellen gewillt ist, auch wenn man
diese gar nicht zur Verfügung hat. Um 9:00 wurden wir davon
informiert, dass die Anzahl der Menschen, die alleine leben,
in den nächsten zwanzig Jahren rapide ansteigen wird,
jeder vierte ist es 2040, ohne uns die Konsequenzen
zu verraten. Ja, was heißt das denn alles? Was also
ist um 10:00 dran? Etwa die stetige Bodenversiegelung,
die 80% der Arten und »Masse der Tiere«
vernichtet? Nein, sie stellt keine Neuigkeit dar,
sie ist keine Situation. Eher schon die Parallelszenarien,
nach denen die Wallstreet gegenwärtig Ausschau
hält, auch wenn sie keine Nachricht ergeben,
aber der Zeitpunkt des Erinnerns ist brandaktuell. Also werden
wir uns Szenarien vergegenwärtigen, aus denen angeblich
klare Handlungsanweisungen erfolgen, auch wenn ihnen niemand
nachgekommen ist, denn nach der Krise ist eben nach
der Krise.
habe, um im Schnellverfahren aus den alten, bereits vergessenen
Katastrophen zu lernen. Angesichts unserer Lernfaulheit
ein kühnes Unterfangen. Nebenan bewegen sich noch einige
»auf den Märkten«, wie ein Radiosprecher gerade noch weismachen
möchte, hier lebe ich als Schriftstellerin schon relativ
unbeweglich im Prognosekeller, zugestellt von fiktiven Szenarien,
Ausgeburten der Film- und Gamingindustrie, und suche
im Vergangenen — Epidemien, Ausbrüchen und Abbrüchen
— Handlungsmuster des heutigen Tages, um festzustellen,
sie sind gar nicht vergangen. Ansonsten ist alles still,
lahmgelegt. D.h. der im Raum mit Raumteiler stehenden Frage,
welche Modelle für uns tauglich sind, folgt der Seufzer:
»Neue Zukunft braucht das Land, aber sie muss auch zu hören
sein, sende fähiges Material.«
Die Anrufung der Finanzkrise 2008 beginnt an diesem Montagmorgen,
parallel zu der Beschwörung der Situation 2015,
doch die Situation 2015 will, soviel sei schon verraten, weniger
die gegenwärtige Lage der Geflüchteten im griechischen
Lager von Moria auf den Punkt bringen als die unsrige angesichts
der Flüchtlingsströme und was da sonst noch so alles
auf uns zukommt. Ja, kehren wir zurück zu dem Zeitpunkt,
als noch Entscheidungen zu treffen waren, und warum wir sie
nicht getroffen haben. Niemand beantwortet diese Frage,
aber wir befinden uns ja auch in einem schalltoten Raum. So
nennt man das Studio, in das einzutreten ich versprochen
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»ACH ! Fast eine Funkoper«
Wasser Was
© Dietmar Wiesner/Manuela Malakooti
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can also give birth to the many live news
feeds, which generate our hypertrophic present,
a multilayered intertwinement of “nownesses”
which when taken individually may
be right, but together they produce a rather
false chorus. After all, they constantly misalign
conspicuities in the room, as if they
were controlling traffic so that it flows better,
as a fluid, but in reality, it results in very abrasive
types of rear-end collisions. We normally
listen to the traffic that is officially for the
eyes, too. Out there in the tiny townhouses
and large residential areas close to the airport
as well as at Funkerberg in Königs Wusterhausen
along the highway heading east, or in
the open plan offices near the ring road in the
city, in the airport’s approach flight path. I’m
sitting right at this moment in precisely such
an open plan office and listening to the radio
station editor sitting next to me discussing in
a gentle murmur how one should position
which news piece. For example, “the first patient
in Berlin” was already announced during
the eight o’clock news (eons ago), the socalled
Berlin zero patient (or is there only the
Italian zero patient?), a messenger of a pandemic
for which one is willing to make hospitals
available, even if one doesn’t have these
available at all. At 9:00 a.m. we were informed
that the number of people who live alone will
rapidly increase in the next twenty years, it
Point of
NEW Return
— NOW
By Kathrin Röggla
Writer; author of the text for
“ACH ! Fast eine Funkoper”
“It will, after all, come in waves.”
“So. Now we have a situation,” called out the
editor sitting next to me. Now we are in. Now
there are the national and international crisis
task forces, the news tickers, the live broadcast,
the experts, the neologisms, the simultaneous
efforts, the parallel scenarios, the
remembering of other trouble spots, the creating
of models, the cautious prognoses, the
news making predictions and the news summarizing
past events, on the hour and on the
half-hour. Now we’re trapped in this studio,
like we were trapped somewhere else not too
long ago.
Let’s go back to the point when there were still
decisions to be made. When we were thinking
about how we could slow the matter down,
how we could take precautions. Let’s go back
will be every fourth person in 2040, and they
didn’t reveal the consequences to us. Yes,
what does all of that mean then? What, then,
is coming at 10:00 a.m.? Perhaps the constant
increase in soil sealing, which will destroy
80% of the species and “hordes of animals”?
No, it’s not something new, it’s not a situation.
It’s more the parallel scenarios that Wall
Street currently is keeping its eyes out for,
even if they don’t result in any news, but the
point in time for remembering is right now.
So, we will bring to mind scenarios from
which apparently clear instructions on how to
act will be the result, even if no one followed
them, because after the crisis is simply before
the crisis.
The evocation of the finance crisis in 2008
begins this Monday morning, parallel to the
conjuration of the situation in 2015, but the
to the situation without room dividers. Were
we already sitting in the huge studio back then
and coughing on one another? Of course, into
the crooks of our elbows, and they were usually
our own elbows, we only, as is generally
known, coughed into the crooks of other people’s
elbows when it had to with global economic
contexts. The stock exchange quotation,
however, spewed straight into our faces.
We were informed on that arbitrary Monday
morning during the best airtime that this isn’t
so bad, one just had to sit it out and shouldn’t
bail out of his or her mutual stock fund
RIGHT NOW. But RIGHT NOW so many
things are happening simultaneously, it could
happen that you get rid of your stocks shares,
more or less involuntarily. Because you panic.
Fear is a terrible advisor, someone already
said too frequently in a space without room
dividers, now that doesn’t function any more
either. Now the room dividers have been introduced,
and Deutschlandfunk, the public-broadcasting
radio station in Germany,
had stopped broadcasting traffic reports a
long, long time ago, but not out of panic, but
rather because of well-thought-out reasons,
they, naturally, had outlived themselves. They
weren’t needed for the ears anymore, traffic
announcements today are more for the eyes,
and eyes belong on the net. Which is, as is
well-known, always up-to-date. Only the net
situation in 2015 wants to—this much is already
known—not so much point out the current
situation of the refugees at the Greek
camp at Moria as point out our situation in
view of the stream of refugees, and everything
else that is coming our way. Yes, let’s return
to the point in time when there were still decisions
to be made and why we didn’t make
them. No one is answering this question, but
we are, after all, also in an anechoic room.
That’s what you call the studio in which I
promised to enter in order to learn from the
old, already forgotten catastrophes during a
high-s peed process. A bold undertaking, in
view of our laziness in learning. Next door to
the studio several people are still working
“the markets,” as a radio announcer just wanted
to make us believe, I live here as a writer
already relatively immobile in a forecasting
basement, blocked in by fictional scenarios,
spawns of the film and gaming industries, and
searching in past events—epidemics, eruptions,
and demolitions—for today’s instructions
on how to act, only to determine that
they haven’t elapsed at all. Apart from that,
everything is quiet, paralyzed. That is to say,
the question hanging in the air in the space
with room dividers as to which models are
suitable for us is followed by a sigh: “The
country needs a new future, but it also must be
audible, material suitable for broadcasting.”
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SUBNORMAL
EUROPE
Konzept/Komposition/Dramaturgie/Regie/Kostüm/
Text/Video- & Audioproduktion:
Óscar Escudero
Belenish Moreno-Gil
Mit:
Noa Frenkel Contralto
Sebastian Schottke Stimme
ZKM | Hertz-Labor:
Ludger Brümmer Projektleitung
Götz Dipper Projektkoordination/Live-Elektronik
Moritz Büchner Videostudio: Technische Leitung Video
Andy Koch Videostudio: Kamera
Güzide Coker Videostudio: Klappe & Skript
Xenia Leidig Videostudio: Videobearbeitung/Set-Photos & -Videos
Hans Gass Set-Bühne & -Licht
Sebastian Schottke Live-Elektronik/Klangregie
Jakob Schreiber Tonaufnahme
Bernd Lintermann iPad Software
Manfred Hauffen technische Unterstützung
Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf:
muenchener-biennale.de
Kompositions- und Librettoauftrag der Landeshauptstadt München
zur Münchener Biennale.
Koproduktion der Münchener Biennale mit dem Hertz-Labor des ZKM Karlsruhe.
In Kooperation mit Gare du Nord und ZeitRäume Basel und Wien Modern
im Rahmen des Netzwerks für formübergreifende Musiktheaterformen.
Mit freundlicher Unterstützung durch das Instituto Cervantes München.
Óscar Escudero ist Multimedia-Komponist und Multimedia-Performer,
der mit Ton, Video und virtuellen
performativen Räumen arbeitet. Belenish Moreno-Gil
ist multidisziplinäre Künstlerin, Performerin und Musik o-
login. Neben zahlreichen eigenen Arbeiten kreieren sie gegenwärtig
gemeinsam Musiktheaterstücke.
»SUBNORMAL EUROPE« entsteht in Zusammenarbeit mit
der Sängerin Noa Frenkel, dem Toningenieur Sebastian Schottke
sowie in Kooperation mit dem Zentrum für Kunst und Medien
Karls ruhe (ZKM).
Óscar Escudero is a multimedia composer and multimedia performer
who works with sound, video, and virtual performance
spaces. Belenish Moreno-Gil is a multidisciplinary artist, performer,
and musicologist. Besides numerous own works they are currently
creating together musical theatre plays.
“SUBNORMAL EUROPE” is being developed in collaboration
with the singer Noa Frenkel and the sound engineer Sebastian
Schottke, and in cooperation with the Center for Art and Media
Karlsruhe (ZKM).
In Philosophie und Soziologie war in jüngerer Zeit häufig die
Rede von der sogenannten Krise der Gegenwart. Die Definition
zeichnet im Grunde eine globale Gesellschaft, die in der
Logik der permanenten Vervielfachung des Privaten gründet.
Verzweigungen der Identität wirken als notwendige Axiome
der Perpetuierung eines Ökosystems, in dem das Sein
durch Präsenz ersetzt wird. Wissenschaftler*innen identifizieren
in der Europäischen Union FOMO (fear of missing out,
die Sorge, etwas zu verpassen) als eine der Hauptursachen für
Ängste und Depressionen, die beiden häufigsten psychischen
Störungen, die bei EU-Bürger*innen diagnostiziert werden.
Ständig und überall präsent zu sein bedingen jedoch automatisch
Frustration und die Aufgabe individueller Projekte, die
wiederum das Impfkristall für zwei Grundwerte der Europäischen
Union — die Schaffung von Gemeinschaft und das Gefühl
der Zusammengehörigkeit — darstellen.
Angesichts der eigenwilligen Wege, die heute verfolgt
werden, wiesen die Generaldirektion für Beschäftigung,
Soziales und Inklusion, die Generaldirektion
für Bildung, Jugend, Sport und Kultur und die
Vizepräsidentin der EU-Kommission mit Zuständigkeit
für die Förderung der europäischen Lebensweise
der Münchener Biennale die anspruchsvolle
Aufgabe zu, ein Innovations- und Entwicklungsprogramm
zur Reflektion über die Ursachen des
Problems zu initiieren. Dieses soll im Rahmen der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft von Juli bis Dezember 2020 realisiert
werden.
Mit Verweis auf das Biennale-Motto Point of NEW Return sieht
der Text der Vereinbarung der Parteien den »wesentlichen
Zweck dieser Initiative in der exakten technischen Reproduktion
der Gründungsmomente, die unsere Geschichte des Fortschritts
im Bereich Audiovision kennzeichnen. Die Nachbildungen
beziehen sich auf eine/einen von den Komponist*innen
auszuwählende/n Künstler*in und umfassen Fragmente
wie die erste Tonaufnahme der Geschichte, die erste Bewegtfilmsequenz
oder die erste große Veranstaltungsübertragung.
Die Sammlung soll Audio- und Videodateien ent halten,
die, da eine Unterscheidung zwischen Original und Kopie
nicht möglich ist, zusammen mit den Originalen ausgestellt
werden können.«
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In der Umsetzung dieser Leitlinien schufen Belenish Moreno-
Gil und Óscar Escudero zusammen mit dem Toningenieur
Sebastian Schottke und der Sängerin Noa Frenkel eine Live-
Aufnahmesession mit einem »offenen Ende« der jeweiligen
Performance. Technologisch wird angestrebt, eine absolute
Mimesis der Fragmente der Pionierzeit und der neuen Stücke
zu erreichen. Eine Postproduktion findet nicht statt, denn nur
so lässt sich die Partizipation des Publikums bei der Vollendung
eines Zirkels, der mit der Schaffung des Originalfragments
beginnt, gewährleisten. Der Autor Agustín Fernández
Mallo spricht hier von einer »year zero baseline«. Das letzte
historische Verbindungsglied entsteht in der Vorstellung. Auf
diese Weise kann die Gestaltung der Objekte in zeitliche und
räumliche Fakten münden, die sich zeitgleich erfüllt und entleert
von Geschichte präsentieren. Es bilden sich die Points of
NO NEW Return.
Allerdings stellt die Performance »SUBNORMAL
EUROPE« nur eine Ebene des Gesamtprojekts dar.
Die in Auftrag gegebene künstlerische Erkundung
wird ergänzt durch eine Reihe von Interviews mit
Europäer*innen aller Altersgruppen und gesellschaftlichen
Schichten, die sich unterschiedlichen
Fragen zur kulturellen Zugehörigkeit und
Identität stellen, sowie durch die abschließende
Ausstellung, in der die Ergebnisse der Live-Performance
gezeigt werden. Die Vereinbarung formuliert »das
Ziel, dem aktuellen Zustand der europäischen Werte auf den
Grund zu gehen, das Gefühl der citizenship der EU-Bürger*innen
zu stärken und das Wissen über unsere gemeinsame
Geschichte und ihren Beitrag zur menschlichen Entwicklung
des Europagedankens in schwierigen Zeiten zu fördern. Allein
der umfassende Blick auf unsere Identität und der Ansatz
der Gegenseitigkeit können uns helfen, die Herausforderungen
zu bewältigen, die sich den Bürger*innen Europas durch
die Lebensgewohnheiten in heutiger Zeit stellen. In diesem
Projekt muss die Förderung des Bewusstseins über die Vorteile
kooperativer und flexibler Arbeit, Unternehmertum und
internationaler Mobilität im Schengen-Raum klare Priorität
haben.«
Given these wayward paths that are being taken,
the Directorate for Health and Social Affairs
of the European Union, the Directorate
General for Education and Culture, together
with the Vice-Presidency for protecting our
European way of life have delegated to the
Münchener Biennale the commission of a project
of innovation and development, which is
expected to reflect on the causes of the problem.
It will take place in the context of the
German Presidency of the European Commission
between July and December 2020.
Taking advantage of Biennale’s theme, The
point of NEW return, and quoting the text of
the agreement between the parties, “the main
purpose of this initiative is the exact technical
reproduction of those inaugural instants,
which have marked our History of progress
in the audiovisual field. The replicas will be
In recent years, there have been many voices
among the field of philosophy and sociology
that have broadly talked and written about a
so-called “crisis of the presence”. This definition
may portrait a global society, which is
erected on the logics of constant personal
multiplication. Consequently, these branches
of identity act as necessary axioms to perpetuate
an ecosystem, in which being is replaced
by being present. Researchers have identified
FOMO (fear of missing out) as one of the main
causes for anxiety and depression in the European
Union, which are the two most common
mental disorders among its citizens. The
achievement of the absolute presence is automatically
translated into frustration and loss
of individual project, which, in turn, is the
seed of the creation of community and sense
of togetherness, two of the founding values
of the European Union.
made out of a living performer, to be chosen
by the composers, and will include fragments
such as the first sound recording in History,
the first moving picture sequence or the first
large event in being broadcasted. The collection
must be composed by a set of audio and
video files, which may be exhibited together
with their originals, not being able to distinguish
one from another.”
Following these guidelines, Belenish Moreno-
Gil and Óscar Escudero have designed a liverecording
session leaded by sound engineer
Sebastian Schottke, who will assist singer
Noa Frenkel throughout the completion of
the process. The success in its achievement
remains open for each of the performances.
The technological goal lies in the accomplishment
of an absolute mimesis between the pioneer
fragments and the new ones, taking into
account that no further post-production is
possible. Only in this way will the audience
actively participate of the conclusion of a circle,
which started at the moment when the
original fragment was created (a “zero year
line”, in the words of writer Agustín Fernández
Mallo) and will find its last historical link
right during the show. In this manner, the
generation of this set of objects may lead to
facts in time and space, which are simultaneously
full and emptied of History: points of
NO NEW return.
The performance of “SUBNORMAL EUROPE”
is, though, just one layer on the overall project.
The commissioned artistic research will
be completed with a series of interviews to
European citizens of all ages and social sectors,
addressing several topics around cultural
belonging and identity, as well as with the
final exhibition, which will show the outcomes
of the live performance. All of this, and
coming back to the signed agreement, “with
the objective of taking the pulse of the current
state of the European values and to reaffirm
the sense of citizenship of its inhabitants, as
well as the knowledge of our common History
and its contributions to human development in
difficult times for Europeanism. Solely by
taking a broad perspective on our identity and
mutual project, can we be able to counteract
the challenges that contemporary living habits
pose for European citizens. Furthermore, a
clear priority of the project must be to raise
awareness of the benefits of cooperative and
flexible jobs, entrepreneurship, as well as the
assets of international mobility within the
Schengen area.”
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»SUBNORMAL EUROPE«
Belenish Moreno-Gil & Óscar Escudero
© BELOS Editions
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»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«
Reise durchs Wohnzimmer oder wodurch? — Situation 4
© Tobias Eduard Schick / Katharina Vogt (2020)
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GROSSE REISE IN
ENTGEGEN-
GESETZTER
RICHTUNG
Expeditionen ins Archiv
der Wirklichkeitsfabrik
von Yair Klartag, Anda Kryeziu,
Christiane Pohle/Zahava Rodrigo,
Tobias Eduard Schick/Katharina Vogt
und Ror Wolf
Eine große Reise in entgegengesetzter Richtung unternimmt man
besser in Begleitung. Vor allem dann, wenn die Reiseroute innerhalb
des eigenen Hauses verläuft. Im vorliegenden Fall machen
sich deshalb gleich mehrere Personen zeitversetzt auf den Weg:
die Musiker*innen des Instrumentalensembles hand werk, die
Komponistinnen und Komponisten Yair Klartag, Anda Kryeziu,
Tobias Eduard Schick und Katharina Vogt, die Regisseurin Christiane
Pohle, die Bühnen- und Kostümbildnerin Zahava Rodrigo,
der Dramaturg Malte Ubenauf sowie der Schriftsteller Ror Wolf.
Letzterer ist nicht unwesentlich dafür verantwortlich, dass nach
dem Durchschreiten einer gut getarnten Wandöffnung plötzlich
eine Gruppe absolut unbekannter Hausbewohner*innen in Erscheinung
tritt. Was bedeutet die irritierende Begegnung für die
Fortsetzung der geplanten Musiktheaterexpedition: Weggabelung,
Kreuzung oder Sackgasse?
Ror Wolf fasst den Stand der Dinge wie folgt zusammen: »Bis
zu dieser Stelle bin ich also gekommen, hier ist vielleicht das
Ende oder, wenn ich genau sein will, nicht das Ende, aber der
Augenblick vor dem Ende, oder vielleicht im Gegenteil,
nicht das Ende, nicht einmal der Augenblick vor dem
Ende, sondern erst der Anfang, oder auch nicht der
Anfang, sondern etwas anderes, drittes: etwas zwischen
Anfang und Ende.«
Kompositionsaufträge der Landeshauptstadt München zur Münchener Biennale.
Gefördert durch die Kunststiftung NRW.
Mit Unterstützung von Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung.
Komposition:
Yair Klartag, Anda Kryeziu, Tobias Eduard Schick,
Katharina Vogt
Text: Ror Wolf
Regie: Christiane Pohle
Raum: Zahava Rodrigo
Kostüme: Christiane Pohle, Zahava Rodrigo
Dramaturgie: Malte Ubenauf
Klangregie: Maximiliano Estudies
Mit:
hand werk:
Daniel Agi Flöte
Heni Hyunjung Kim Klarinette
Lola Rubio Violine
Niklas Seidl Violoncello
Claudia Chan Klavier
Jens Ruland Schlagzeug
Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf: muenchener-biennale.de
A grand journey in the opposite direction is best undertaken
with companions. Especially if the journey’s
route is within your own home. In the present
case, for this reason right away several people set off at
different times: the musicians of the instrumental ensemble
hand werk, the composers Anda Kryeziu, Yair Klartag, Tobias
Eduard Schick and Katharina Vogt, the director Christiane Pohle,
stage and costume designer Zahava Rodrigo, the dramaturge
Malte Ubenauf, and the writer Ror Wolf. The latter is more or less
essentially responsible for a group of completely unknown tenants
suddenly appearing after they pass through a well-camouflaged
wall opening. What does this irritating encounter mean for
the continuation of the planned music theater expedition: is it a
fork in the road, an intersection, or a dead end?
Ror Wolf summarizes the state of things as follows: “So, I
came as far as this point and this is perhaps the end here, or, if I
want to be precise, not the end, but the moment before the end,
or perhaps the opposite, not the end, not even the moment before
the end, but rather only the beginning, or not the beginning
either, but something else, a third element: something between
the beginning and the end.”
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»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«
© Anda Kryesziu (2020)
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Richtungswechsel in
den Archiven der
Wirklichkeitsfabrik
Von Malte Ubenauf
Dramaturg der Produktion »GROSSE REISE IN
ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«
Warum wünscht man sich den vor wenigen Wochen
im Alter von 87 Jahren verstorbenen Schriftsteller
und bildenden Künstler Ror Wolf als Expeditionsleiter
für eine »GROSSE REISE IN ENTGEGEN-
GESETZTER RICHTUNG«? Vermutlich deshalb, weil er zu
den wenigen Personen gehört, denen man die Planung und
Durchführung einer solchen Reise tatsächlich zutraut. Es ist ja
so: Um sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen zu können,
müssen die Koordinaten des Weges, auf dem man bisher
unterwegs war, vollkommen neu berechnet werden. Genau
dies war (und ist) Ror Wolfs Spezialgebiet. Schon früh unternahm
er einen Ausflug an den vorläufigen Rand der Dinge,
schickte seine Nachrichten aus der bewohnten Welt an die bewohnte
Welt, publizierte Notizen aus dem zerschnetzelten Leben
und machte — last but not least — seine Aufzeichnungen aus
dem Archiv der Wirklichkeitsfabrik öffentlich zugänglich. Keine
schlechte Expertise, wenn es darum geht, einen Point of
NEW Return ausfindig zu machen. Ror Wolf, dem es Zeit seines
Lebens immer wieder gelang, die offiziell registrierten
Bestandteile der Wirklichkeit so zusammenzusetzen, dass
man sie (glücklicherweise) kaum noch wiedererkannte, wäre
mehr als zuversichtlich gewesen, den überfüllten Sackgassen
der Gegenwart den Rücken kehren zu können. Eine so genannte
180°-Wende allerdings hätte er wohl eher vermieden. Ror
Wolf war Labyrinthist. Das ist so etwas Ähnliches wie Alpinist,
nur dass es nicht um Steigeisen und Sauerstoffgeräte geht,
sondern um außergewöhnliche Fähigkeiten im Auslegen von
Ariadnefäden. Und darum, nicht überrascht zu sein, wenn einem
beim Einschlagen entgegengesetzter Richtungen Orkane
der Stärke 12 um die Ohren fliegen.
Bliebe die Frage, ob Ror Wolf einverstanden gewesen wäre, mit
dem von ihm 2006 veröffentlichten Text Die Grenzen der Vertraulichkeit
oder Große Reise in entgegengesetzter Richtung im
Gepäck eine Expedition ins Musiktheater zu unternehmen?
Er war es! Was alles andere als eine Selbstverständlichkeit
darstellt.
sondern aus Schichten zusammengesetzt, aus sich überlagernden
Spuren, Klängen, Ahnungen, Hoffnungen, Überraschungen.
Und selbst das Basislager, von dem aus die Reisenden
aufbrechen würden, sähe immer anders aus. So wie die Zimmer,
Flure, Keller und Dachgeschosse in Ror Wolfs Text, die
vom Autor einer immerwährenden räumlichen Metamorphose
unterworfen sind. Nie ergibt sich für den/die Leser*in ein wirklich
eindeutiges Bild. Man wähnt sich in einem Haus, geht entlang
der Erzählbruchstücke Treppen hinauf und hinunter.
Doch kaum erscheinen die architektonischen Umstände für
Momente stabil, berechnet Ror Wolf die Statik neu. Die entgegengesetzte
Richtung scheint keinen linearen Charakter zu
besitzen. Vielmehr strebt sie in unterschiedliche Himmelsrichtungen,
bildet wilde Gummibandmuster und krasse Knoten,
verfügt über verschiedene Dichtegrade und lässt sich entsprechend
nicht gut dokumentieren mit den üblichen Abbildungsverfahren
des 20. und 21. Jahrhunderts.
Vielleicht stimmte er zu, weil es ihn interessierte, wie
die vier jungen Komponist*innen Yair Klartag, Anda
Das Haus, von Ror Wolf als unerschöpfliches System
entworfen, ist Hirnmasse und Herzmuskel,
Kryeziu, Tobias Eduard Schick und Katharina
Vogt seine Texte NICHT vertonen würden. Zumindest
nicht für singende Stimme(n). Er wäre
all gibt es versteckte Türen, die darauf warten,
Nervenbahn und Sprachzentrum zugleich. Über-
möglicherweise neugierig gewesen, wie ein Musiktheater
klingt und aussieht, das auf der Lektüre
de Alpträume und nie gekannte Euphorien hervor.
geöffnet zu werden. Tut man es, treten verstören-
seines Textes beruht, jedoch mehr oder weniger
Geht man einen Schritt hindurch, wird der Boden
sprachlos in Erscheinung tritt. Ror Wolf, dem alles allzu
Homogene unausgegoren vorkam, hätte sich allerdings
ken bzw. wundervolles Gleiten ohne Bremseffekte. Wer den
weich oder spiegelglatt und ermöglicht tiefes Einsin-
auch darüber gewundert, dass die Beteiligten des Biennale-Projektes
zunächst eine Weile mit der Frage rangen, wie
tung wirklich folgt, sammelt kilo weise Mut. Die wohl zentrals-
Hinweisen in Ror Wolfs Große Reise in entgegengesetzter Rich-
individuell die einzelnen Expeditionen in entgegengesetzter
te aller möglichen Ressourcen, wenn es darum geht, über die
Richtung zu denken wären, wie unterschiedlich die Ausrüstungen,
die Routen, die Zeitpläne. Sollte das Ziel eine gemeinsame
turn ins Werk zu setzen. Nicht ohne Grund sprach Wolf von der
Ausdrucksformen des Künstlerischen einen Point of NEW Re-
Reise sein, eine sich aus einer Vielzahl von Kompromissen
WirklichkeitsFABRIK. Mithilfe der dort rotierenden Spezialmaschinen
generierte er neue Tatsachen. Reihenweise. Für
zusammensetzende Szenerie, die zu beweisen versucht, dass
kollektives künstlerisches Erfinden möglich ist? Die Antwort
Zwecke weit abseits des Üblichen. Wenn die Mitwirkenden der
lag wohl stets auf der Hand. Und musste dennoch erst (wieder-)
Münchener »GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER
entdeckt werden. Sie lautete: auf keinen Fall!
RICHTUNG« nunmehr die Archive dieser Wirklichkeitsfabrik
erkunden, dann wählen sie keine Samthandschuhe und
Stattdessen würden verschiedene Personenkonstellationen verschiedene
Reisen unternehmen an diesem Abend in der Münber,
Gold, Holz, Metall, Fell und zielen hiermit auf bisher un-
Pinzetten. Stattdessen operieren sie mit Instrumenten aus Silchener
Muffathalle. Die entgegengesetzte Richtung würde von
bekannte Resonanzmöglichkeiten für die Kunst des außergewöhnlichen
Wirklichkeitserfinders und radikalen Richtungs-
den beteiligten Künstler*innen gleich mehrfach angepeilt werden.
Nicht aus einem Guss würde dieses Musiktheater sein,
wechslers Ror Wolf.
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Changing Direction
in the Reality Factory
Archives
By Malte Ubenauf
Dramaturge of the production
“GROSSE REISE IN
ENTGEGENGESETZER
RICHTUNG”
Why is it that one hopes to have writer and
visual artist Ror Wolf, who died a few weeks
ago at the age of 87, as the expedition leader
for a »GROSSE REISE IN ENTGEGENGE-
SETZTER RICHTUNG« (Great Journey in
the Opposite Direction)? Probably because he
is one of the few people you actually believe
would manage to plan and implement that
kind of trip. The thing is: moving in the opposite
direction means completely recalculating
the coordinates of the route pursued so far.
That was (and is) Ror Wolf’s specialty. Even
at an early stage, he set off on a Trip to the
Temporary Edge of Things, sent his News From
the Inhabited World to the inhabited world,
published Notes from Fragmented Life and—
last but not least—made his Records from the
Reality Factory Archive publicly accessible.
All of that is pretty good background and
know-how when it comes to finding a Point of
NEW Return. Having repeatedly succeeded
his whole life long in assembling the officially
registered components of reality in a way
that made them (fortunately) hardly recognizable,
Ror Wolf would have been more than
confident that he could turn his back on the
overcrowded dead ends of the present. However,
he would probably have avoided doing
a complete U-turn. Ror Wolf was a labyrinthist.
That is something akin to an alpinist,
except that the focus in this case is not on
crampons and oxygen supplies, but rather on
extraordinary skill in laying out Ariadne’s
threads. And not being surprised when Force
12 hurricanes gust around your ears when you
shift course for the opposite direction.
The question remains of whether Ror Wolf
would have agreed to undertake an expedition
into music theatre with the text he published
in 2006, The Limits of Discretion or
Great Journey in the Opposite Direction in his
luggage? He most certainly did! Which is anything
but self-evident.
Perhaps he agreed because he was interested
in how the four young composers, Yair Klartag,
Anda Kryeziu, Tobias Eduard Schick and
Katharina Vogt, would NOT set his texts to
music. At least not for singing voice (s). He
might have been curious to know how music
theatre would sound and look when it is based
on a reading of his text yet is more or less devoid
of speech. Ror Wolf, who thought anything
too homogeneous was half-baked, would,
however, also have been surprised that the
participants in the Biennale project initially
struggled for a while with the question of how
individually each particular expedition in the
opposite direction should be imagined, how
different the equipment, routes, schedules
should be. Should the goal be a shared journey,
a setting made up of myriad compromises,
trying to prove that collective artistic invention
is possible? The answer was probably
always obvious. And yet it first had to be (re-)
discovered. That answer was: no way!
Instead, different constellations of people
would undertake different journeys that
evening in Munich’s Muffathalle. The artists
participating would set off several times aiming
to head in the opposite direction. Rather
than being created as one single unit, this music
theater would be composed of layers, of
overlapping traces, sounds, premonitions,
hopes and surprises. And even the base camp
from which the travellers would set off would
always look different. Just like the rooms,
corridors, cellars and attics in Ror Wolf ’s
text, which the author subjects to perpetual
spatial metamorphosis. The reader never
gleans a truly unequivocal picture. You imagine
that you are in a house, walking up and
down stairs, guided by fragments of the story.
Yet as soon as the architectural circumstances
appear stable for a few moments, Ror Wolf is
busy recalculating the structural stability. The
opposite direction does not seem to be linear
in nature. Instead, it reaches out to all the
points of the compass, forms wild rubber band
patterns and intense knots, has varying degrees
of density, and as a result is hard to document
properly with the usual representational
techniques of the 20th and 21st centuries.
The house, designed by Ror Wolf as an inexhaustible
system, is brain mass and heart
muscle, nerve pathway and speech centre all
at the same time. Everywhere there are hidden
doors waiting to be opened. If you do, disturbing
nightmares and unprecedented euphoria
emerge. If you take a step through the
doorway, the floor becomes soft or smooth as
a mirror, letting you sink down deep or slide
wonderfully along, free of friction. Any one
who really follows the suggestions in Ror
Wolf ’s Great Journey in the Opposite Direction
gathers courage by the kilo. That is probably
the most central of all conceivable resources
when it comes to setting a Point of NEW Return
within the work by deploying forms of
artistic expression. There were good reasons
why Wolf referred to the Reality FACTORY.
By means of the special machines rotating
there, he generated new facts. By the dozen.
For purposes far removed from standard
uses. Now, when participants in the Munich
»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZ-
TER RICHTUNG« explore the archives of
this reality factory, they do not pick out velvet
gloves and tweezers. Instead, they operate
with instruments made of silver, gold, wood,
metal or fur, aiming to find previously uncharted
resonant scope for the art of that extraordinary
inventor of reality and radical
changer of direction, Ror Wolf.
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»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«
Six Memos from the Last Millennium; II. Anonymity
© Yair Klartag (2020)
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»SUBNORMAL EUROPE«
Belenish Moreno-Gil & Óscar Escudero
© BELOS Editions
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»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«
Reise durchs Wohnzimmer oder wodurch? — Situation 4
© Tobias Eduard Schick / Katharina Vogt (2020)
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JOURNAL RAPPÉ
Künstlerisches Team:
Keyti alias: Cheikh Séne
Xuman alias: Makhtar Fall
Mansour Diop Editor
Informationen zu den Aufführungsdaten finden Sie auf: muenchener-biennale.de
In dem 2013 von den senegalesischen Rapper-Stars Keyti und
Xuman entwickelten satirischen Nachrichtenprogramm »JOUR-
NAL RAPPÉ« rappen Sprecher*innen und Korrespondenten*innen
ihre Beiträge. Das aus der Hip-Hop-Bewegung entstandene
Projekt nutzt die Möglichkeiten der neuen Technologien und ist
ein hervorragendes Beispiel für die sprühende Kreativität und
das gesellschaftliche Engagement der Jugend im Senegal. Das
medienübergreifende Format setzt verschiedene Plattformen
wie Radio, TV und Internet ein, um einen Raum zu
schaffen, in dem die Medien- und politischen Diskurse
der Herrschenden hinterfragt werden. Daraus
ist ein neuer »Bürger-Künstler-Journalismus« entstanden,
der sich intensiv mit politischen, gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Themen auseinandersetzt
und die Grenzen zwischen Kunst, Aktivismus,
Journalismus und digi talen Medien in Frage
stellt. Durch das eingehende Kuratieren von Nachrichtenmeldungen,
die insbesondere die senegalesische Bevölkerung
betreffen, fordert »JOURNAL RAPPÉ« Macht zurück und
lässt durch alternative Medien, Musik, digitale Medien und Aktivismus
neue Macht entstehen. Schließlich reflektiert das Projekt
die Wirkung dieser gerappten Nachrichtensendung und die angesprochenen
Themen, mit denen ein Gegengewicht zu den
beherrschenden senegalesischen und westlichen Mediendiskursen
geschaffen werden soll.
Koproduktion der Münchener Biennale mit der Music In Africa Foundation.
In Kooperation mit der Siemens Stiftung.
Gefördert durch das Goethe-Institut.
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Founded in 2013 by Keyti and Xuman, two leading rappers in
Sene gal, “JOURNAL RAPPÉ” is a news broadcasting program
where presenters and correspondents rap the news stories. This
combination of a history of hip-hop and the opportunities of new
technologies constitutes a key example of the vibrant creativity
but also of the social commitment of youth in Senegal. Its
transmedia format, disseminated across multiple platforms
(radio, TV and the Internet) offers a space where
to contest hegemonic media and political discourses.
It has fostered a new “citizen-artist journalism”
with in-depth commentaries on political, social and
economic issues, that challenges the boundaries
between art, activism, journalism and digital media.
Through a thorough curation of news concerning the
Senegalese population, particularly, “JOURNAL RAPPÉ”
reclaims power through the creation of power from alternative
media, through music, digital media and activism. Finally, it
reflects on the impact this rapped news broadcasting program
has been having and the kind of topics addressed in order to
counter-act the mainstream Senegalese and “Western” media
hegemonic discourses.
AFRIKA IST DIE ZUKUNFT!
Von Keyti Melakh alias Cheikh Séne
Hip Hop Artist; Künstlerischer Leiter und Co-Moderator von
»JOURNAL RAPPÉ«
AFRICA IS THE FUTURE! Unübersehbar in gelben Großbuchstaben
prangte der Slogan auf einem blauen Sweatshirt,
das ich vor ein paar Jahren trug. Ich hatte es in Amsterdam bei
einem Freund gesehen und wollte es unbedingt besitzen. Ich
gab ihm Geld, damit er es für mich kaufen und nach Dakar
schicken würde. Man bekam es nur in Paris, wo Oghene Kologbo,
der Gründer der Marke, die es produzierte, lebte. Ohne
den Aufdruck war es ein ganz gewöhnliches Kleidungsstück.
AFRICA IS THE FUTURE! machte es jedoch zu etwas Besonderem.
Für mich war es nicht nur ein provokantes Statement
oder ein naiver Wunsch, sondern viel mehr. Für mich,
wie für Millionen auf dem Kontinent und in der Diaspora,
war es eine Überzeugung, die ich nun, schrill und
für alle sichtbar, dem Rest der Welt verkündete.
Es folgten Diskussionen — mit Freund*innen, mit
Fremden in der U-Bahn in New York, mit anderen
Afrikaner*innen, die ich auf meinen Reisen traf.
Paradoxerweise ging es dabei allerdings nie um die
Zukunft Afrikas, sondern um die Gegenwart oder Vergangenheit
des Kontinents. Als könnten wir uns nicht wirklich
vorstellen, wie diese Zukunft aussehen würde. Die Skeptiker*innen
verwiesen auf den Zustand unserer Länder im Vergleich
zum Rest der Welt: Unterentwicklung, Armut, Kriege,
Putsche, fehlende Demokratie, mangelnde Freiheit, Genozide,
Hungersnöte, Verschuldung, manipulierte oder überhaupt keine
Wahlen, Frauendiskriminierung, Arbeitslosigkeit, ein abgewirtschaftetes
Bildungssystem und vieles mehr. All das vor
dem Hintergrund einer Bevölkerungsexplosion, die, so hieß
es, Afrika zum jüngsten Kontinent der Erde machte. Wie sollten
wir uns unter solchen Bedingungen eine rosige Zukunft
für die vier Milliarden Afrikaner*innen vorstellen, die es in
achtzig Jahren geben wird? Je länger wir miteinander sprachen,
desto deutlicher wurde mir, dass unter uns Afrikaner*innen
wenig Klarheit herrscht hinsichtlich der Frage, was aus
unserem Kontinent werden soll, beziehungsweise, was es heißt,
die aktuelle Realität in eine andere Realität zu wenden, in der
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unsere Hoffnung auf Frieden, Wohlstand, Unabhängigkeit,
wirtschaftliche Stärke, Freiheit, Gleichheit und mehr wahr
werden kann. Wir sind verwirrt, weil man uns indoktriniert
hat, weil wir glauben, die Zukunft Afrikas käme aus dem Westen,
aus Asien oder Nahost. Wir haben aufgehört, die unterschiedlichen
Realitäten auf dem Kontinent zu reflektieren,
die in genuin afrikanische Visionen von unseren möglichen
künftigen Wegen münden könnten.
Damit meine ich natürlich nicht, dass Afrika sich der eigenen
Entwicklung verweigern soll, wie die kamerunische Autorin
Axelle Kabou vor einigen Jahren ironisch vorschlug.
Es ist vielmehr eine Bitte um Aufschub. Hunderte
Millionen Afrikaner*innen arbeiten Tag für Tag,
damit unsere — formellen und informellen — Ökonomien
weiter funktionieren, in der Hoffnung,
dass wenn nicht wir hier und heute, zumindest
morgen unsere Kinder und Kindeskinder vom
Wohlstand profitieren, den wir geschaffen haben,
und dass ihnen unsere alltäglichen Schwierigkeiten erspart
bleiben. Als genügte eine starke Wirtschaft und Reichtum,
damit es den Massen gut geht...
Kabou hat recht, wenn sie sagt, dass die »Unterentwicklung«
Afrikas nicht auf Kapitalmangel zurückzuführen sei. Afrika
ist reich. Der Kontinent verfügt — alle Rohstoffe zusammengenommen
— über ein Drittel der globalen Mineralienvorkommen,
ist für Investoren attraktiver denn je, und erhält
regelmäßig und großzügig »Entwicklungshilfe«. Doch Afrika,
so die Autorin, leidet unter der herrschenden Klasse, die
sich nie in der Lage sah, »Pakte mit der Bevölkerung zu schließen,
um Wohlstand zu generieren. Eine Ausnahme stellen
allein die oberen Zehntausend dar, die mit Unterstützung aus
dem Ausland die natürlichen Ressourcen monopolisieren.«
Die Plünderung der afrikanischen Ressourcen durch die intellektuellen
und politischen Eliten schwächt unsere Staaten,
unsere Ökonomien und die sozialen Strukturen, und führt
dazu, dass Grundbedürfnisse wie der Zugang zu einem funktionierenden
Gesundheitssystem, zu Bildung, Beschäftigung,
Trinkwasser usw. nicht befriedigt werden.
Dennoch ist »Unterentwicklung«, wie der senegalesische
Ökonom und Autor Felwine Sarr in seinem Essay Afrotopia
schreibt, nicht das größte Drama in Afrika, insofern als der
Begriff selbst Voreingenommenheit signalisiert und auf die
profanen Ambitionen des Westens verweist, der die Völker in
den verschiedenen Teilen der Welt hierarchisieren will, um
seine Hegemonie über den Kurs und die Narrative der Geschichte
der Menschheit zu wahren. »Entwicklung« lässt sich
nicht importieren. Sie ist keine gesellschaftliche Konfektionsware,
die Menschen und geografische Räume unter Missachtung
ihrer kulturellen und historischen Besonderheiten
gelegentlich anziehen und dann weitergeben. Nach der afrikanischen
Unabhängigkeit war es aber genau das, was man
von unseren Staaten erwartete. Während die meisten
Nationen Asiens beschlossen, auf ihren Kulturen
aufzubauen und sie aufzuwerten, um Institutionen
im Einklang mit der modernen Welt zu schaffen,
musste sich Afrika dem Wettlauf um »Entwicklung«
stellen und dabei die eigene Geschichte,
Kultur und die traditionellen politischen, ökonomischen
und sozialen Modelle über Bord werfen.
Modernisierung hieß Assimilation anderer Lebensweisen,
hieß mit Blick auf eine Realität denken und handeln,
die nicht die unsere war, und uns nach dem Muster des Westens
als neuer Referenz zu verändern. Das hatte und hat die
Folgen, die wir seit den 1960er Jahren kennen: Afrika, der
ewige Nachzügler an der Tafel der »Entwickelten«; Afrika,
das immer noch versucht, Eigenverantwortung zu lernen und
immer wieder anfällig ist für lokale und internationale Räuber.
Und vor allem: Afrika, das keine Kapazitäten mehr hat,
kreativ zu sein und selbst für sich zu entscheiden.
Nein, »Unterentwicklung« ist nicht das größte Drama in Afrika.
Dieses ist vielmehr das ständige Bemühen unserer herrschenden
Klasse, aus dem Kontinent ein zweites Europa zu
machen. Vielleicht ein weniger perfektes, doch eines, das wir
mit Stolz all jenen Institutionen präsentieren, die seit Jahrzehnten
die Fäden ziehen. Oder ein zweites Amerika oder —
ganz aktuell — ein zweites China.
Dies gilt umso mehr im Zeitalter der digitalen Zivilisation, die
in jüngerer Vergangenheit immer wieder als rettender Anker
für einen Kontinent propagiert wurde, der unterzugehen
droht. Trotz der afrikaweiten Begeisterung für digitale Unternehmer,
den Mobile-Banking-Boom und die neuen führenden
Nationen in der Branche — Kenia, Nigeria, Südafrika —
haben nach wie vor nur Wenige auf dem Kontinent einen Internetzugang
(2018 waren es 24 Prozent der Bevölkerung), und
noch weniger verfügen über ein Bankkonto. Das reicht nicht,
um einen Mehrwert für das BIP zu generieren. Überdies besteht
eine Kluft zwischen den angebotenen Dienstleistungen
und den tatsächlichen Bedürfnissen der Bevölkerung. Wie in
anderen Sektoren wird auch in der digitalen Wirtschaft Afrikas
der Fehler gemacht, dass Software und Services, die in
anderen Gesellschaften in Antwort auf spezifische lokale oder
kulturelle Bedürfnisse entwickelt und angeboten werden,
schlicht in einen gänzlich unterschiedlichen afrikanischen
Kontext verpflanzt werden. So entstehen blasse, lokale
Imitate, die häufig mit großem Tamtam und nationalem
Furor gelauncht werden, um danach rasch
wieder zu verschwinden. Und es überrascht nicht,
dass Facebook, WhatsApp und Uber die am häufigsten
genutzten Apps und Plattformen in Afrika
sind. Hier erweist sich entweder unsere Unfähigkeit,
den Menschen vor Ort kulturell passende Tools
anzubieten, oder das von Sehnsucht geprägte Denken
der afrikanischen Bevölkerung, die nur akzeptiert, was aus
der Ferne kommt. So oder so ist es problematisch.
Das Drama beginnt also, wenn der afrikanische Traum gekapert
wird, wenn unsere Chance, uns und unsere Welt neu zu
erfinden, dem Wunsch, genau wie die anderen zu sein und zu
handeln, geopfert wird. Sami Tchak beschreibt das als den
Versuch, »die Vergangenheit der anderen zu unserer Zukunft
zu machen«, denn Europa, Amerika und China werden sich
natürlich weiterbewegen oder dem Untergang geweiht sein,
bis wir ihr aktuelles Niveau erreichen.
Zum Glück erlebt die Dekolonialisierungsbewegung, die uns
in die Unabhängigkeit führte, mit einem aktualisierten Ansatz
seit einigen Jahren ein Revival und trifft auf immer mehr Zustimmung
bei der jungen Generation. Sie war seit den 1960er
Jahren nie ganz verschwunden, doch realisieren wir heute,
dass es notwendig ist, die Dynamik über Regierungsformen
und -strukturen hinaus auszuweiten, um diese wirklich in unseren
Kulturen und Gesellschaften zu verankern. Für unsere
Generation ist das eine Möglichkeit, zu eigenen Werten zurückzukehren,
die als Ausgangspunkt für ein kommendes Afrika
gedacht werden müssen. Dabei geht es nicht um die pauschale
Ablehnung der aktuellen Realität, um sich Hals über
Kopf in die Lebensweise und das Denken unserer Vorfahren zu
stürzen, sondern um die Neudefinition der Moderne und unserer
Beziehung zum Rest der Welt, auf der Grundlage dessen,
was wir aus ihr mitnehmen und was für die Gegenwart Afrikas
relevant ist. Afrikanische Künstler*innen und Intellektuelle
bemühen sich zunehmend um eine Definition der Konturen
dieser Idee und um ihre Implementierung im politischen, ökonomischen
und gesellschaftlichen Kontext. So kämpfen die
frankophonen Staaten Afrikas aktuell beispielsweise für die
Abschaffung des CFA-Franc. Sie werfen damit die Frage nach
Währungssouveränität auf und mobilisieren die Bevölkerung
auch jenseits der kleinen Zirkel der Wirtschaftswissenschaftler*innen
und Politiker*innen.
In die gleiche Richtung weist der Kampf um die
Restitution der afrikanischen Kulturobjekte, die
in der Kolonialzeit geraubt wurden und sich heute
überall in der Welt in Museen befinden.
Diese kontinentalen und diasporischen Initiativen lassen
uns auf die Wiederaneignung unserer Geschichte und
unseres Schicksals insgesamt hoffen. Beide sind eng miteinander
verknüpft. Zu recht appellierte Cheikh Anta Diop immer
wieder an uns, die Geschichte Afrikas weit über die Kolonialzeit
und den Sklavenhandel hinaus neu zu betrachten, und
dies nicht in wonniger Rückschau und Glorifizierung einer
fernen Zeit, oder in einem Prozess der Viktimisierung, sondern
um zu lernen und zu begreifen, was unsere Philosophien
waren, unsere Formen gesellschaftlicher Organisation, unsere
Spiritualität und vieles mehr. All das, in der Auseinandersetzung
mit unserer einzigartigen oder geteilten Realität,
wird uns helfen, Afrika und die Afrikaner*innen der Zukunft
besser zu verstehen.
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Während ich diese Zeilen schreibe, hat die COVID-19-Pandemie
die Welt seit acht Wochen fest im Griff. In China, wo das
Virus herkam, wütet es schon seit fünf Monaten. Es heißt, es
sei eine unserer größten Herausforderungen seit dem Zweiten
Weltkrieg, mit täglich neuen Zahlen von Infizierten und Gestorbenen,
mit geschlossenen Grenzen und Flugzeugen, die
am Boden bleiben. Die ganze Welt ist zum Stillstand gekommen,
Geschäfte haben geschlossen, die Straßen sind leer, für
die Hälfte der Weltbevölkerung herrscht Ausgangssperre, und
die Zeit scheint überall angehalten. Der afrikanische Kontinent
schien in den ersten Wochen verschont worden zu sein.
Jetzt verbreitet sich das Virus auch dort, und es gibt wenig,
was man ihm entgegensetzen könnte. Neben der Sorge angesichts
einer medizinischen Tragödie, zeichnet sich am Horizont
eine weitere Angst ab: die Angst, sich dem Virus allein
stellen zu müssen, die Angst, dass die Hilfe, die wir bisher immer
erhielten, wenn es auf unserem Kontinent zur »Katastrophe«
kam, dieses Mal ausbleibt, da unsere »Wohltäter*innen«
damit beschäftigt sind, selbst die Pandemie
zu überleben und nun mit den Defiziten ihres
eigenen Systems — um das wir sie einst so beneideten
— fertig zu werden. Sie begraben ihre Toten
und versuchen, die noch Lebenden zu retten und
gleichzeitig ihre Wirtschaft vor dem Kollaps zu
bewahren. Afrika realisiert, dass wir praktisch allein
sind, und plötzlich wird uns unser kollektives Versagen
klar: Wir können unsere Gesundheit nicht schützen.
Wir können nicht einmal Lösungen vorschlagen, die unseren
Völkern und unseren sozialen Realitäten entsprechen. Man
sagt, wir sollten die Hände häufig waschen, Abstand wahren,
in den Ellbogen husten und zuhause bleiben. Kurz, das zu tun,
was anderswo getan wird. Doch wie überzeugt man die Leute
von der Notwendigkeit des social distancing, wenn die Regierungen
kaum testen, und die Mehrheit der Bevölkerung (im
wahrsten Sinn des Wortes) von der Hand in den Mund lebt,
und länger als zwei Tage im Voraus ohnehin nicht planen
kann? Welche Maßnahmen soll man für Wohnraum ergreifen,
den sich zwölf Personen oder mehr teilen? Was soll mit denen
geschehen, die da leben, wo es keinen Zugang zu sauberem
Wasser gibt? Wie setzt man Hygienevorschriften in Tausenden
von Slums auf dem Kontinent durch, wo die Menschen mit
einem Dollar pro Tag auskommen müssen? Wie viele können
im home office bleiben und online arbeiten? Das sind Fragen,
die wir uns stellen, und auf die es praktisch keine Antwort gibt.
Das heißt gleichwohl nicht, dass man in Afrika untätig rumsitzt
und wartet, bis das Virus da ist. Viele Staaten haben Ausgangssperren
verhängt, um die Mobilität ihrer Bürger*innen
wenigstens um die Hälfte zu reduzieren. Kürzlich installierten
die Bewohner*innen einiger ärmerer Viertel in Dakar provisorische
Wasserhähne und Seife am Eingang zu bestimmten
Straßen, damit jede*r, die/der den Sektor betritt, die Hände
wäscht. Eine Gruppe von Studierenden der Naturwissenschaften
produzierte ein Wasser-Alkohol-Gel, um angesichts der
Verknappung dieses Produkts eine Alternative anzubieten.
Selbst in den abgelegensten Dörfern Senegals versucht die lokale
Bevölkerung, sich vor dem Virus zu schützen. Das ist
zweifellos die wichtigste Lektion, die wir Afrikaner*innen
aus dieser Pandemie mitnehmen können: Wir müssen uns auf
uns selbst verlassen können und lernen, mit dem Wenigen, das
wir haben, auszukommen, und Wissen für alle zugänglich zu
machen, damit es jede*r für sich selbst und die eigene
Community nutzen kann. Unsere Resilienz ist gefragt.
Heute mehr denn je.
AFRICA IS THE
FUTURE!
foresee a bright future for the four billion Africans
whose arrival is expected in eighty
years? The more those discussions took place,
the more obvious it became to me that we Africans
are, for the most part, confused as to
what we want this continent to become or rather
by what means to manage to transform our
reality into another more suited to the natural
aspirations of our peoples: peace, abundance,
independence and economic power, freedom
and equity among others. Confused because
by indoctrination we have come to believe that
the future of Africa will only be what comes to
us from the West, Asia or the Middle East,
thereby inhibiting all our will to reflect and
analyze our different realities on the continent
in order to give shape to purely African visions
of what our future trajectories could be.
A few years ago, I was still proudly wearing
my blue sweatshirt with the inscription
AFRI CA IS THE FUTURE ! stamped in yellow
capital letters on the front so that they are
visible to everyone. It was during a trip to
Amsterdam that I saw a friend wearing one
and I became totally obsessed with it and left
him money to buy me one and send it to Dakar
because it was only on sale in Paris, the city
where the creator of the brand resided. Obviously,
without the slogan, there was nothing
special about that sweatshirt and it looked
like any other but AFRICA IS THE FUTURE !
made it special, because for me it was more
than just a provocative statement or a naive
wish. It was a conviction as it was for millions
of people on the continent or elsewhere and
the slogan allowed us to affirm it to the rest of
the world.
Of course, I’m not saying that Africa would
refuse to work for its development, as Cameroo
nian author Axelle Kabou ironically suggested
a few years ago. African people are only
asking for respite and every day, hundreds of
millions of us are busy keeping our economies
afloat (formally or informally) with the hope
that, if not today, tomorrow our children and
grandchildren will benefit from the riches that
we will have created and will not face the current
difficulties that we experience in our daily
lives. As if only strong economies and wealth
were enough to create the well-being of the
masses... In this, Kabou is very right to say
that Africa’s “underdeve lopment” is not due
to lack of capital. Africa is rich (the continent
has a third of the world’s total mineral wealth),
it attracts investors more than ever and it always
receives a lot of aid. But, as she notes,
the continent suffers from its ruling classes,
which have not been “capable of making pacts
with the populations to create wealth,” representing
instead “the dominant strata which
monopolize natural resources with the assistance
of foreigners.” That race of our elites,
both intellectual and political, to pillage African
resources has as a direct consequence
the weakening of our states, our economies
and subsequently our various social structures
and the non-satisfaction of basic needs
such as access to viable health systems, education,
employment, drinking water, etc.
Then came the discussions raised by this
statement with friends, strangers on the subway
in New York, other Africans met here and
there during trips. But as paradoxical as it
may seem, those discussions were never
about the future of Africa but rather about its
present or its past, as if it was actually difficult
for us all to imagine what would or could
be the future of the continent. Skeptics bore
witness to the state of our countries compared
to the rest of the world: underdevelopment,
poverty, wars, coups, lack of democracy and
liberties, genocides, famine, debt, rigged
elections or no elections, poor condition of
women, unemployment, decaying education
system, etc. All of this against the backdrop
of a demographic explosion which, we are
told, makes Africa the youngest continent in
the world. How, in such conditions, can we
By Keyti Melakh alias Cheikh Séne
hip-hop artist; artistic director and
co-moderator of “JOURNAL RAPPÉ”
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This is all the more true in the age of digital
civilization that has been touted in recent
years as the last lifeline of a continent that is
adrift. But despite the excitement of this sector
at the continental level with the appearance
of digital entrepreneurs, the surge in
mobile banking and the emergence of leading
countries in this field such as Kenya, Nigeria
or South Africa, the general public’s access to
the internet is still low (24% according to 2018
figures) and bank enrollment rates are even
lower, making it difficult to create added value
on the GDP of our countries. But, added to
these reasons, there is also a gap between the
services offered and the real needs of the population.
As in other fields, one of the big errors
of the African digital sector is the reproduction
of services or applications that have
been created for other societies as responses
to specific local (cultural) needs but are just
However, as the Senegalese economist and
author Felwine Sarr suggests in his essay
entitled Afrotopia, “underdevelopment” is
prob ably not the greatest drama in Africa in
the sense that this label is biased and bearer of
the secular ambitions of the Western world to
hierarchize the peoples and the different parts
of the world and thus maintain its hege mony
over the course and narratives of humanity’s
history. “Development” can’t be imported, it
is not a “societal ready-to-wear” that people
and geographic spaces would wear on and off
and pass on to each other while ignoring their
cultural and historical singularities, he tells
us. But that is exactly what was asked of our
countries in the aftermath of African independence.
While most Asian countries have
decided to revalue their cultures and rely on
them to set up institutions in tune with the
modern world, Africa had to embark on the
race for “development” by getting rid of its
history, its cultures as well as its traditional
political, economic and social models. Modernization
was then understood as assimilating
other ways of living, thinking and acting
on a reality that was not ours and that we had
to transform with the West as a new reference
model. This has had and continues to have the
consequences that we have known since the
Sixties, with Africa always lagging behind in
“development” league tables, still struggling
to be responsible for itself, and vulnerable
again and again to local predators and those
from elsewhere, but above all this removes
any ability to be inventive or to decide by and
for itself...
No, “underdevelopment” is not the greatest
drama in Africa but rather the persistent endeavors
of our ruling classes to make out of
the continent another Europe (one that would
undoubtedly be less perfect but which we
would brandish with pride to all these institutions
that have been pulling the strings for
decades) or another America and, recently,
another China.
transposed to a very different African context.
These pale local imitations are often
launched with great fanfare and a sense of
nationalism but disappear almost immediately
afterwards and it is unsurprising that the
most used applications and platforms on the
continent are Facebook, WhatsApp or Uber…
That shows either our inability to offer culturally
appropriate tools for Africans or the
ardent desire of African populations to appropriate
only what comes from elsewhere.
In both cases, it is problematic.
The drama is therefore the hijacking of the
African dream, of our capacity to reinvent
oneself and one’s universe, which has been
replaced by the desire to forget oneself and to
be and act like the others. This is what Sami
Tchak describes as the desire to “make the
past of others our future” because, logically,
As I’m writing these lines, the COVID-19 pandemic
has now been raging around the world
for 8 weeks. In China, where the virus originated,
it has already been 5 months. It is said
to be one of our biggest challenges since the
Second World War with its daily share of
newly infected, fatalities, closed borders and
grounded planes. The whole world has suddenly
come to a standstill, shops have closed,
streets have been left deserted, half the globe
is confined indoors and time seems to have
stopped everywhere. The African continent,
spared during the first weeks, now faces the
spread of the virus... with its meager resources.
Faced with the fear of probable health
tragedy, another fear looms on the horizon:
that of having to face it alone, of not receiving
the help to which we are accustomed each
time a disaster strikes the continent because
our “benefactors” are also busy surviving the
pandemic and are realizing the flaws of their
own system that we so envy. They bury their
dead and try to protect those still alive while
saving their economy. And Africa realizes that
it is almost alone and now we fully see our collective
failure to ensure protection of our own
health or to even propose solutions that are in
line with our people and our social realities.
All we are asked to do is to wash our hands
frequently, put some distance between us,
cough into our elbow and stay at home. In
short, to do what is applied elsewhere. However,
how do you convince people of the need for
social distancing when governments are barely
testing and the majority of the population
lives from hand to mouth and cannot make
provisions for more than two days? What
measures for family houses where a dozen or
more people usually live? How do you handle
people living in areas that don’t have access
understand what our philosophies were, our
modes of societal organization, spirituality,
etc. All of this, confronted with our singular
or shared realities, will undoubtedly allow us
to better understand Africa and the African
in the making.
Europe, America or China will have moved
on or fallen into decline when we will reach
their current levels.
Fortunately, for a few years now, the decolonization
movement which led to our independence
has been brought up to date and has
increasingly echoed among the new generation
of Africans. Not that it had stopped after
the Sixties but now we are even more aware of
the need to extend the dynamic beyond the
modes and structures of governance in order
to really install it in the cultural and social
realms. Such an approach, I think, constitutes
for our generation a point of return to
ourselves and our own values, which will have
to serve as an anchor point to think about the
Africa to come. Of course, it is not about totally
rejecting our current reality to rush
headlong towards ancestral lifestyles and
thoughts but about effecting a redefinition of
our modernity, our relationship to the rest of
the world on the basis of what we will have
extracted from it, which will be relevant to
the present of Africa. That is the reason why
African artists and intellectuals are increasingly
committing nowadays to define the contours
of this reflection and implement it in all
fields, be they political, economic or social.
In recent years, for example, we have seen the
fight by French-speaking African countries
to abandon the CFA franc. A fight which is
still far from being won but which has had the
merit of raising the question of monetary sovereignty
and of mobilizing populations beyond
the restricted circles of economists and
politicians. It is in this same vein that there is
also the fight for restitution of African cul tural
objects scattered throughout the museums of
the world and stolen mainly during the colonial
period.
Such continental and diasporic initiatives give
hope for the re-appropriation of our history
but also of our destiny because the two are
closely linked. As Cheikh Anta Diop has professed
all his life, it is incumbent on us to revisit
the history of Africa far beyond colonization
and the slave trade, not in a blissful
glorification process of a distant time or in a
process of victimization but to relearn and
to clean water? By what means can hygienic
precautions be enforced in the thousands of
slums around the continent where people
barely live with $1 a day? How many can stay
at home and work online? These are some of
the questions we ask ourselves but to which
there are practically no answers.
But that doesn’t mean that Africans sit around
waiting for the virus to come to them. Many
countries have implemented a curfew, for example,
to reduce the mobility of people even
by half. In recent days, in some working-class
neighborhoods of Dakar, residents have installed
makeshift taps and soap at the entrance
of certain streets so that everyone going
there can wash their hands before going
in. A group of science students has begun to
manufacture hydroalcoholic gel to help alleviate
shortages of this product. Even in the
most remote villages of Senegal, locals are
working to find ways to protect themselves
from the virus. This is undoubtedly the greatest
lesson that we Africans can learn from
this pandemic: that we must first count on
ourselves, that we can and must learn to act
with the little that we have and make knowledge
accessible to all so that each of us can be
useful to himself or herself and to the community.
Now more than ever, our resilience
must be used for that.
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»TRANSSTIMME«
© Fabià Santcovsky
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»GROSSE REISE IN ENTGEGENGESETZTER RICHTUNG«
© Anda Kryesziu (2020)
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Wir danken allen unseren Partnern und Förderern
Festivalteam
Künstlerische Leitung: Daniel Ott, Manos Tsangaris
Dramaturgie: Marion Hirte, Malte Ubenauf
Produktion und Veranstaltungsleitung: Tilmann Broszat
Künstlerisches Betriebsbüro: Katrin Beck
Leitung Festivalbüro/Werbung: Karl Beckers
Festivalbüro/Assistenz KBB: Maria Mosca
Festivalbüro/Verwaltung/Verträge: Franziska Alfons
Produktionsleitung: Walter Delazer, Annette Geller, Nora Niethammer
Presse- & Öffentlichkeitsarbeit: Kathrin Hauser-Schmolck, Christiane Pfau
Kommunikationskoordination: Max Horch
Partnership Management: Alexandra Hermentin, Alexandra Zöllner
Webdesign und Programmierung: Kolja Buscher
Poet in Residence: Mara Genschel/Cindy Press @MUCBiennale
Social Media: Chris Schinke
Festival-Fotograf: Armin Smailovic
Technische Gesamtleitung: Ulli Napp
Technische Planung: Werner Kraft, Peter Mentzel, Peter Weyers
Medienpartner
Mobilitätspartner
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Wir danken auch herzlich allen Personen, die mit ihrer Initiative, Förderung, Anregung,
Kritik und Engagement das Festival nachhaltig unterstützt und ermöglicht haben.
Impressum
© 2020 Münchener Biennale — Festival für neues Musiktheater
Alle Rechte vorbehalten
Veranstalter:
in Zusammenarbeit mit Spielmotor München e.V. –
eine Initiative der Stadt München und der BMW Group
Künstlerische Leitung: Daniel Ott, Manos Tsangaris
Herausgeber (V.i.S.d.P.):
Münchener Biennale, Kulturreferat der Landeshauptstadt München
Lothstraße 19, 80797 München, Tel 089–280 56 07, Fax 089–280 56 79
e-mail: info@muenchenerbiennale.de, www.muenchenerbiennale.de
Redaktion: Katharina Ortmann, Marion Hirte, Malte Ubenauf, Max Horch
Übersetzungen aus dem Deutschen: Robert Rowley, Helen Ferguson
Übersetzungen aus dem Englischen: Lilian-Astrid Geese
Gestaltung: Müller+Hess; Beat Müller, Wendelin Hess
Druck: Druck-Ring GmbH & Co. KG, Kirchheim bei München
Redaktionsstand: 29. April 2020, Änderungen vorbehalten