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The Red Bulletin Juni/Juli 2020

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ei ihm die Wissenschaft der Anatomie in einer Weise<br />

betrieben werde wie sonst nirgendwo in der Monarchie.<br />

Dr. Semmelweis sah sich die Statistiken an<br />

und stellte fest, dass die Sterblichkeit der Wöchnerinnen<br />

in der Zeit vor der neuen anatomischen Ausbildung<br />

wesentlich geringer gewesen war. Die Existenz<br />

von Bakterien und Viren war noch nicht bekannt.<br />

Dr. Semmelweis stellte also keine theoretischen Überlegungen<br />

an, er wollte lediglich empirisch untersuchen,<br />

ob ein Zusammenhang zwischen der Arbeit<br />

an Leichen und der Sterblichkeit der Wöchnerinnen<br />

bestehe. Er schlug vor, dass sich die Ärzte, wenn sie<br />

aus der Pathologie kamen, die Hände waschen, bevor<br />

sie den Frauen bei der Entbindung halfen. Er wurde<br />

ausgelacht. Und angefeindet. Die Herren Ärzte wollten<br />

sich nicht vom Jüngsten aus ihrem Kreis etwas<br />

vorschreiben lassen. Aber er gab nicht auf. Im Gegenteil.<br />

Er forderte nun sogar, dass die Hände nicht einfach<br />

mit Seife gewaschen, sondern mit Chlorkalk desinfiziert<br />

werden sollten. Schließlich willigte Professor<br />

Klein ein und erlaubte das Experiment. Begrenzt<br />

auf einen Monat. Dann würden sich die Flausen<br />

des jungen Kollegen erledigt haben. Der Erfolg war<br />

sensationell. Die Todeszahlen in der Gebärklinik<br />

sanken umgehend gegen null.<br />

Voll Stolz erzählten mir Jeff Conner und seine<br />

Frau Rita, dass dieser Erfolg auch und nicht nur<br />

zu einem kleinen Teil der Ururgroßmutter zu<br />

verdanken sei. In den Tagen, als Charlotte in die<br />

Klinik gebracht wurde, sei Dr. Semmelweis nämlich<br />

im Begriff gewesen, seinen Kampf gegen die Ignoranz<br />

seiner Kollegen aufzugeben. Er habe Charlotte später<br />

erzählt, gerade an dem Tag, als sie ihm vorgestellt<br />

worden sei, habe er sich entschlossen, die Klinik<br />

zu verlassen und nach Ungarn, woher er stammte,<br />

zurückzukehren. Er sei durch den Saal gegangen, in<br />

dem die Frauen lagen, ein letztes Mal, wie er dachte,<br />

da habe sie, Charlotte, ihn am Kittel festgehalten<br />

und nicht losgelassen.<br />

„Bitte, lieber Herr Doktor“, hatte sie gefleht,<br />

„bitte, helfen Sie mir gegen den Teufel! Ich habe große<br />

Sünde auf mich geladen, und ich will nicht sterben,<br />

bevor ich gebüßt habe, und büßen kann ich doch nur,<br />

indem ich aus meinem Kind einen guten Menschen<br />

mache.“<br />

Dr. Semmelweis setzte sich an ihr Bett, und sie<br />

beichtete ihm, dass sie Blutschande mit ihrem Cousin<br />

„Semmelweis schlug vor,<br />

dass sich die Ärzte, wenn<br />

sie aus der Pathologie<br />

kamen, die Hände waschen.<br />

Er wurde ausgelacht.“<br />

getrieben habe, aber dass sie und Hermann heiraten<br />

wollten, dass sie ihn so sehr liebe und er sie auch<br />

und dass Hermann bereits den Pfarrer gebeten habe,<br />

ein Wort für sie beide einzulegen, dass sie heiraten<br />

dürfen, beim Adel sei das ja auch möglich. So innig<br />

habe sie den Arzt gebeten, ihr zu helfen, er sei ihr<br />

Engel, habe sie gesagt, immer und immer, dass bald<br />

auch Dr. Semmelweis die Tränen aus den Augen gesprungen<br />

seien. Und da habe er sich aufgerafft und<br />

alle Kraft und Autorität zusammen genommen, diese<br />

eine Frau wenigstens sollte ge rettet werden, und<br />

habe seinen Chef, nein, nicht gebeten, sondern befohlen<br />

habe er ihm, zu tun, was getan werden müsse,<br />

nämlich: Hände waschen!<br />

Charlotte Könner habe überlebt und einen Sohn<br />

zur Welt gebracht, und sie habe Dr. Semmelweis versprochen,<br />

sie werde ihren Sohn Ignaz nennen, nach<br />

seinem Retter, und sie werde arbeiten und sparen<br />

und auch Hermann, der Vater, werde arbeiten und<br />

sparen, damit Ignaz studieren könne und Arzt werde.<br />

„Zum Arzt hat es dann doch nicht gereicht“, sagte<br />

Jeff und lachte, „aber Apotheker ist er ge worden,<br />

der Ignaz. Und was ist ein Apotheker anderes als<br />

ein kleiner Arzt.“<br />

Ignaz Könner studierte in Wien Pharmazie, er<br />

heiratete, seine Frau brachte vier Kinder zur Welt.<br />

Der älteste Sohn, Ignaz wie sein Vater, wurde wie<br />

dieser Pharmazeut, zog nach Coburg in Franken und<br />

eröffnete dort eine Apotheke. Dessen Ältester wiederum,<br />

auch er ein Ignaz, wanderte am Ende des Jahrhunderts<br />

nach Amerika aus. Der Staat North Dakota<br />

warb um deutsche Einwanderer; um sie anzulocken,<br />

war die Hauptstadt Edwinton in Bismarck umbenannt<br />

worden. In der neuen Heimat änderte Ignaz III. seinen<br />

Familienname von Könner in Conner.<br />

„Das ist unsere Geschichte“, sagte Jeff. „Ich bin<br />

zwar kein Ignaz, aber ein Apotheker. Vor ein paar<br />

Jahren haben wir unsere Apotheke umbauen lassen.“<br />

„Was sehr viel Geld gekostet hat“, ergänzte Rita.<br />

„Wir haben“, sagte Jeff, „unseren Laden exakt nach<br />

alten Fotos der Coburger Apotheke umbauen lassen,<br />

und so sind wir heute – ähnlich wie die Benediktinerabtei<br />

in Richardson – eine Sehens würdigkeit in ganz<br />

North Dakota.“<br />

Und Rita sagte: „Genauso wie in der Coburger<br />

Apotheke steht neben dem Eingang der Semmelweis-<br />

Brunnen. Zu Ehren des Dr. Semmelweis, der das<br />

Leben der Charlotte Könner gerettet hat.“<br />

„Und das Leben so vieler anderer Mütter“,<br />

sagte Jeff.<br />

Und dann stellten mir die beiden ihren Sohn vor,<br />

der mit seiner Familie in der Nachbarschaft wohnte:<br />

„Ignaz Conner.“<br />

„Der ist wieder ein Ignaz“, sagte Jeff.<br />

Als die Corona-Pandemie ausbrach, mailte ich<br />

nach Bismarck, North Dakota: „Lieber Ignaz<br />

Conner, erinnern Sie sich noch an mich?“<br />

Und bekam Antwort: „Ja, ich erinnere mich, ich<br />

erinnere mich gut. Meine Eltern sind schon vor über<br />

zehn Jahren gestorben. Sie haben oft von Ihrem Besuch<br />

erzählt. Ich wünsche mir, dass wir in dieser Zeit<br />

alle fest aneinander denken.“<br />

Ich schrieb zurück: „Das wünsche ich mir auch.“<br />

92 THE RED BULLETIN

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