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ei ihm die Wissenschaft der Anatomie in einer Weise<br />
betrieben werde wie sonst nirgendwo in der Monarchie.<br />
Dr. Semmelweis sah sich die Statistiken an<br />
und stellte fest, dass die Sterblichkeit der Wöchnerinnen<br />
in der Zeit vor der neuen anatomischen Ausbildung<br />
wesentlich geringer gewesen war. Die Existenz<br />
von Bakterien und Viren war noch nicht bekannt.<br />
Dr. Semmelweis stellte also keine theoretischen Überlegungen<br />
an, er wollte lediglich empirisch untersuchen,<br />
ob ein Zusammenhang zwischen der Arbeit<br />
an Leichen und der Sterblichkeit der Wöchnerinnen<br />
bestehe. Er schlug vor, dass sich die Ärzte, wenn sie<br />
aus der Pathologie kamen, die Hände waschen, bevor<br />
sie den Frauen bei der Entbindung halfen. Er wurde<br />
ausgelacht. Und angefeindet. Die Herren Ärzte wollten<br />
sich nicht vom Jüngsten aus ihrem Kreis etwas<br />
vorschreiben lassen. Aber er gab nicht auf. Im Gegenteil.<br />
Er forderte nun sogar, dass die Hände nicht einfach<br />
mit Seife gewaschen, sondern mit Chlorkalk desinfiziert<br />
werden sollten. Schließlich willigte Professor<br />
Klein ein und erlaubte das Experiment. Begrenzt<br />
auf einen Monat. Dann würden sich die Flausen<br />
des jungen Kollegen erledigt haben. Der Erfolg war<br />
sensationell. Die Todeszahlen in der Gebärklinik<br />
sanken umgehend gegen null.<br />
Voll Stolz erzählten mir Jeff Conner und seine<br />
Frau Rita, dass dieser Erfolg auch und nicht nur<br />
zu einem kleinen Teil der Ururgroßmutter zu<br />
verdanken sei. In den Tagen, als Charlotte in die<br />
Klinik gebracht wurde, sei Dr. Semmelweis nämlich<br />
im Begriff gewesen, seinen Kampf gegen die Ignoranz<br />
seiner Kollegen aufzugeben. Er habe Charlotte später<br />
erzählt, gerade an dem Tag, als sie ihm vorgestellt<br />
worden sei, habe er sich entschlossen, die Klinik<br />
zu verlassen und nach Ungarn, woher er stammte,<br />
zurückzukehren. Er sei durch den Saal gegangen, in<br />
dem die Frauen lagen, ein letztes Mal, wie er dachte,<br />
da habe sie, Charlotte, ihn am Kittel festgehalten<br />
und nicht losgelassen.<br />
„Bitte, lieber Herr Doktor“, hatte sie gefleht,<br />
„bitte, helfen Sie mir gegen den Teufel! Ich habe große<br />
Sünde auf mich geladen, und ich will nicht sterben,<br />
bevor ich gebüßt habe, und büßen kann ich doch nur,<br />
indem ich aus meinem Kind einen guten Menschen<br />
mache.“<br />
Dr. Semmelweis setzte sich an ihr Bett, und sie<br />
beichtete ihm, dass sie Blutschande mit ihrem Cousin<br />
„Semmelweis schlug vor,<br />
dass sich die Ärzte, wenn<br />
sie aus der Pathologie<br />
kamen, die Hände waschen.<br />
Er wurde ausgelacht.“<br />
getrieben habe, aber dass sie und Hermann heiraten<br />
wollten, dass sie ihn so sehr liebe und er sie auch<br />
und dass Hermann bereits den Pfarrer gebeten habe,<br />
ein Wort für sie beide einzulegen, dass sie heiraten<br />
dürfen, beim Adel sei das ja auch möglich. So innig<br />
habe sie den Arzt gebeten, ihr zu helfen, er sei ihr<br />
Engel, habe sie gesagt, immer und immer, dass bald<br />
auch Dr. Semmelweis die Tränen aus den Augen gesprungen<br />
seien. Und da habe er sich aufgerafft und<br />
alle Kraft und Autorität zusammen genommen, diese<br />
eine Frau wenigstens sollte ge rettet werden, und<br />
habe seinen Chef, nein, nicht gebeten, sondern befohlen<br />
habe er ihm, zu tun, was getan werden müsse,<br />
nämlich: Hände waschen!<br />
Charlotte Könner habe überlebt und einen Sohn<br />
zur Welt gebracht, und sie habe Dr. Semmelweis versprochen,<br />
sie werde ihren Sohn Ignaz nennen, nach<br />
seinem Retter, und sie werde arbeiten und sparen<br />
und auch Hermann, der Vater, werde arbeiten und<br />
sparen, damit Ignaz studieren könne und Arzt werde.<br />
„Zum Arzt hat es dann doch nicht gereicht“, sagte<br />
Jeff und lachte, „aber Apotheker ist er ge worden,<br />
der Ignaz. Und was ist ein Apotheker anderes als<br />
ein kleiner Arzt.“<br />
Ignaz Könner studierte in Wien Pharmazie, er<br />
heiratete, seine Frau brachte vier Kinder zur Welt.<br />
Der älteste Sohn, Ignaz wie sein Vater, wurde wie<br />
dieser Pharmazeut, zog nach Coburg in Franken und<br />
eröffnete dort eine Apotheke. Dessen Ältester wiederum,<br />
auch er ein Ignaz, wanderte am Ende des Jahrhunderts<br />
nach Amerika aus. Der Staat North Dakota<br />
warb um deutsche Einwanderer; um sie anzulocken,<br />
war die Hauptstadt Edwinton in Bismarck umbenannt<br />
worden. In der neuen Heimat änderte Ignaz III. seinen<br />
Familienname von Könner in Conner.<br />
„Das ist unsere Geschichte“, sagte Jeff. „Ich bin<br />
zwar kein Ignaz, aber ein Apotheker. Vor ein paar<br />
Jahren haben wir unsere Apotheke umbauen lassen.“<br />
„Was sehr viel Geld gekostet hat“, ergänzte Rita.<br />
„Wir haben“, sagte Jeff, „unseren Laden exakt nach<br />
alten Fotos der Coburger Apotheke umbauen lassen,<br />
und so sind wir heute – ähnlich wie die Benediktinerabtei<br />
in Richardson – eine Sehens würdigkeit in ganz<br />
North Dakota.“<br />
Und Rita sagte: „Genauso wie in der Coburger<br />
Apotheke steht neben dem Eingang der Semmelweis-<br />
Brunnen. Zu Ehren des Dr. Semmelweis, der das<br />
Leben der Charlotte Könner gerettet hat.“<br />
„Und das Leben so vieler anderer Mütter“,<br />
sagte Jeff.<br />
Und dann stellten mir die beiden ihren Sohn vor,<br />
der mit seiner Familie in der Nachbarschaft wohnte:<br />
„Ignaz Conner.“<br />
„Der ist wieder ein Ignaz“, sagte Jeff.<br />
Als die Corona-Pandemie ausbrach, mailte ich<br />
nach Bismarck, North Dakota: „Lieber Ignaz<br />
Conner, erinnern Sie sich noch an mich?“<br />
Und bekam Antwort: „Ja, ich erinnere mich, ich<br />
erinnere mich gut. Meine Eltern sind schon vor über<br />
zehn Jahren gestorben. Sie haben oft von Ihrem Besuch<br />
erzählt. Ich wünsche mir, dass wir in dieser Zeit<br />
alle fest aneinander denken.“<br />
Ich schrieb zurück: „Das wünsche ich mir auch.“<br />
92 THE RED BULLETIN