Wina April 2020
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DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN
#4, Jg. 8 | April 2020 | Nissan 5780 | € 4,90 | wina-magazin.at
Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341
Bleiben
wir zu
Hause.
Achten wir aufeinander!
„Nach einer Zeit der Fassungslosigkeit und Angst
entsteht eine innere Kraft. Die Welt ‚endet‘,
aber in der Erfahrung, dass wir immer noch da sind,
entsteht eine Art Neu-Sein im Inneren.“
Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher
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Editorial
Julia Kaldori
© 123rf
Frühling ist Pessach und Pessach das Fest der Freiheit - des
Auszugs aus Ägypten, aus Mizrajim. Mizrajim bedeutet wörtlich
übersetzt auch Grenzen oder Einschränkungen. Damit
ist nicht nur der physische Auszug aus der Sklaverei, den
jede Jüdin und jeder Jude jährlich beim Pessachfest selbst
erfährt, gemeint. Vor allem ist es auch ein Symbol für das
Bestreben, innere Grenzen zu überschreiten, die Dunkelheit
des Winters hinter sich zu lassen und in die wieder
erblühten Natur hinaus zu treten. Frei zu sein. Jedes Jahr
fragen wir uns am Seder-Abend, was an diesem Tag anders
ist, als an allen anderen Tagen. Und heuer hat diese
Frage eine ganz besondere Bedeutung: Denn heuer feiern
wir das Fest, das meist auch ein rauschender Fest der Generationen
ist, im engsten Kreis - manche von uns auch alleine.
Heuer heißt unser höchstes Gebot social distancing -
heuer zeigen wir unsere Liebe und Fürsorglichkeit, in dem wir
uns von jenen fernhalten, die wir lieben, von unseren Eltern, von
unseren Verwandten und Freunden.
Heuer bleiben wir – nicht nur am Seder-Abend unter uns und mit
uns selbst, mit unseren Engsten: unseren Kindern und unseren
Partnern und allem voran mit uns selbst.
Am Anfang der Distanzierung war alles fremd, ich hatte das permanente
Gefühl – wie nach einem Popkonzert ins Bett zu fallen, wenn
alles wieder komplett still um mich ist, während die Erinnerungssplitter
der Bässe immer noch mein Trommelfell beschlagen. Erst in
der Stille, in der „Isolation“ wird klar, in welchem Rausch der Sinne
wir leben. Ein Rausch der Güter, der Erlebnisse, der äußeren Reize.
Eine Dauerberieselung, die uns dauerhaft fern hält von dem, was
uns am nächsten ist – am nächsten sein sollte: von uns selbst. Vom
Hineinhören, vom Begreifen, vom Auseinandersetzen mit dem ich,
mit den eigenen Wünschen und Träumen, mit den eigenen Ängsten,
mit den eigenen Erinnerungen.
Wir eilen durch das Leben wie der Märzhase im Wunderland und
merken dabei nicht, dass wir dabei unsere Freiheit freiwillig aufgeben,
unser eigenes Dasein – und damit auch das unserer Lieben
- so zu gestalten, dass es der für uns beste aller möglichen Lebensentwürfe
wird. Nicht fremdbestimmt, nicht eingeengt, nicht rastlos,
sondern achtsam, wertvoll und nachhaltig.
Zu Pessach brechen die Schranken der Zeit auf. Erzählen und erleben
wir den Auszug, die Befreiung von Generation zu Generation,
von Jahr zu Jahr immer wieder neu. Vielleicht gibt uns heuer diese
kollektive Erfahrung mehr denn je die mögliche Antwort auch auf
die Frage, wie wir unser Leben in Freiheit gestalten können. Vielleicht
brauchen wir doch ein bisschen weniger Sinnesrausch und
mehr Achtsamkeit, ein bisschen weniger Stadt und ein wenig mehr
Land, ein bisschen weniger Ego und eine Spur mehr Solidarität, ein
bisschen weniger Zukunftvision und umso mehr Jetzt und Hier.
Und vielleicht werden wir einmal, wenn all das vorbei ist, zurückblicken
und diese Zeit der social distancing, der gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Entschleunigung als das sehen, was es auch
sein könnte: ein Auszug unserer Welt aus der Gefangenschaft.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen eine stille und schöne
Zeit, einen frühlingshaften Pessach und allem voran Gesundheit
und Freude beim Lesen!
„Könnte es sein,
dass das Virus
unser Leben in
eine Richtung
geändert hat, in
die es sich sowieso
verändern
wollte?“
Matthias Horx*
wına-magazin.at
1
S. 32
Die Premiere von Geheimnisse einer
Unbekannten, Christopher Hamptons
Bühnenfassung nach einer Stefan-Zweig-
Novelle für das Theater in der Josefstadt,
wurde aus gegebenen Umständen
verschoben.
INHALT
MENSCHEN & MEINUNGEN
06 „Bin Journalistin“
Standard-Redakteurin Irene Brickner
schreibt seit vielen Jahren über Flucht
und Asyl und erhielt heuer den Ari-
Rath-Preis für kritischen Journalismus.
20 MenTschen
Als Sohn des Pianisten Friedrich
Gulda und der Schauspielerin Paola
Loew war Paul Gulda bereits früh von
Kunst und Musik umgeben.
„Viel zu viele Menschen
denken
einfach nicht
nach,
wollen nur eine gute
Zeit haben.“
IMPRESSUM:
Christopher
Hampton
Medieninhaber (Verlag):
JMV – Jüdische Medien- und Verlags-
GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien
Chefredaktion: Julia Kaldori
Redaktion: Inge Heitzinger
(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at
Anzeigenannahme: Manuela Glamm
(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at
Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl
Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann
Web & Social Media: Agnieszka Madany
a.madany@jmv-wien.at
Lektorat: Angela Heide
Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.
09 Museen neu erfinden
Die Wissenschaftlerinnen Ljiljana
Radoni und Heidemarie Uhl zur
Frage, wie Zeitgeschichte idealerweise
ausgestellt werden kann.
12 „Kritischer Historiker“
Der renommierte Wissenschaftler
Dariusz Stola im WINA-Interview über
Diskurskontrolle, die Schoah gestern
und Antisemitismus heute.
14 „Mitmensch sein“
Martha Keils Rede zum Internationalen
Tag des Gedenkens an die Opfer des
Holocaust am 27. Jänner 2020 im Festsaal
der Börse Wien.
22 Illustrierte Neue Welt
Die Journalistin Joanna Nittenberg –
ihre Geschichte und ihre Geschichte
mit ihrer Zeitung.
24 Homeoffice statt Events
Der selbstständige Eventmanager
Daniel Bessler unterstützt den grundlegenden
Umbau eines internationalen
Tabakkonzerns in Österreich.
„Was aus Auschwitz gelernt
werden muss, ist doch dies:
nicht
Gegenmensch,
sondern Mitmensch
zu sein.“
Martha Keil
S. 14
S. 30
Wie geschnitten.
An Pessach ist Matze der Star. Aber unser Herz schlägt heimlich
für die prächtigen Brotlaibe, die nach dem Fest wieder auf den
Tisch kommen. Vielleicht mit diesem Zubehör?
2 wına | März 2020
KULTUR
Wir wünschen
Ihnen ein frohes
Pessachfest.Chag sameach!
32 Parallelen zu den 30ern
Oscar-Preisträger Christopher
Hampton hat seine Bühnenfassung
einer Stefan-Zweig-Novelle für die
Josefstadt vorbereitet.
36 Die virtuelle Stadt
Yona Friedman hat mit seinen Theorien
Generationen von Stadtplanern
inspiriert. Ende Februar starb der
Architekt in Paris.
38 „Eine Art Eingebung“
Von Veronica Taussig zu Veronika
Jurkowitsch und wieder retour oder
der lange Weg zur Kunst.
40 Blick durch die Linse
Eine Würdigung des fotografischen
Werks von Michael Horowitz zu seinem
70. Geburtstag.
42 Von den vier Fragen
Joachim Schnerfs Roman Wir waren
eine gute Erfindung führt durch den Sederabend
und blickt zurück auf
ein ganzes Leben.
43 Familien und andere Banden
Maxim Billers Familiengeschichten:
traurig, komödiantisch, melancholisch
… und allesamt lesenswert.
44 Hunger, Willkür und Tod
Der Czernin Verlag veröffentlicht nun
Rachmil Bryks Erzählungen aus dem
Łód er Ghetto und dem KZ Auschwitz
auf Deutsch.
WINASTANDARDS
01 Editorial
16 Nachrichten aus Tel Aviv
Coronavirus und eine neue
Regierung. Von Gisela Dachs
18 Israel-Blog
Ein herausfordernder Monat voll
Solidarität und Menschlichkeit
26 Warum Wien
Nicolas Gold gründete mit Markus
Schaffer das Designstudio SHEYN
27 Generation unverhofft
David Losonci versucht, den
jüdischen Teil in sich zu finden
28 WINA_kocht
Wohin nur mit den ganzen Mazzen
nach Pessach …
30 WINA_Lebensart
Accessoires für die prächtigen
Brotlaibe nach Pessach
35 WINA_Werkstädte
Hamburg: die Haggada mit den
fünf Weisen von Bnei Brak
45 Urban Legends
Alexia Weiss über die Coronakrise
und die Frage nach dem
richtigen Weg
46 KulturKalender
WINA-Tipps für den April
48 Das letzte Mal
Autorin Anna Goldenberg über ein
besserwisserisches Kamel, motivierende
Angst und Einkaufshass
„Ich habe spät
begonnen und freue
mich, dass ich
an mir noch
ein Talent
entdeckt
habe.“
Veronica Taussig
S. 38
Die Cut-Outs von Henri Matisse
im New Yorker MoMA waren
die Initialzündung, der Anfang
der Metamorphose von Veronika
Jurkowitsch zur Künstlerin
Veronica Taussig.
Coverfoto: 123rf
WINAONLINE:
wina-magazin.at
facebook.com/winamagazin
wına-magazin.at
3
HIGHLIGHTS | 01
Kämpferin verlor
den Kampf gegen
Covid-19
Die in Paris geborene Frida Wattenberg
verstarb Anfang April an den Folgen einer
Covid-19-Infektion.
Die Tocher polnisch-jüdischer Einwanderer
in Paris trat früh der sozialistisch-zionistischen
Jugendbewegung HaSchomer
HaTzair bei und wurde im Sommer
1940 mit knapp 16 Jahren zum Résistance
rekrutiert. Nachdem sie 1942 die Freilassung
ihrer Mutter aus dem Internierungslager
Vel d’Hiv in Paris erwirkte, war sie
an der Rettung jüdischer Kinder beteiligt,
die in die Schweiz geschmuggelt wurden.
„Wir konnten die Erwachsenen nicht
immer retten. Aber wir haben versucht,
für die Kinder zu tun, was wir
konnten.“ Frida Wattenberg verstarb in
ihrem 95. Lebensjahr in Paris an den Folgen
einer Covid-19-Infektion.
1
Million Dollar
für den Kampf gegen den Coronavirus
hat Popstar P!nk gespendet,
nachdem sie und ihr Sohn positiv
auf Covid-19 getestet wurden und
in Folge auch schwer erkrankt sind.
P!nk, die sich auch gerne als jiddische
Mame bezeichnet, war vor allem
vom schweren Krankheitsverlauf
bei ihrem 3-jährigen Sohn Jameson
Moon: Diese Krankheit ist echt
und sie ist ernst. Die Menschen
müssen wissen, dass sie jung
und alt, arm und reich treffen
kann. Durch ihre Spende sollen
Tests für so viele Menschen wie möglich
erreichbar gemacht werden.
In Not &
Einsamkeit
In der IKG Wien bündelt man alle Möglichkeiten
um Menschen in Not zu helfen.
Infolge der Schließungen und Ausgangsbeschränkungen,
aber auch durch die Isolation,
erleben viele Menschen nicht nur unerwartete
finanzielle Probleme, sondern
stehen oft auch vor psychischen Belastungen,
die sie alleine nicht mehr überwinden
können: die Nöte von Alleinerziehe*innen,
die Einsamkeit Alleinstehender und häusliche
Gewalt sind dabei nur einige Stichworte.
Um bei all den Problemen Unterstützung
bieten zu können, haben die IKG Wien,
die Jüdischen Österreichischen Hochschüler,
ESRA und viele Freiwillige sich zusamengeschlossen
und eine Servicestelle
eingerichtet, die Helfer, Experten und Betroffene
miteinander verbindet. ikg-wien.at.
BU. Der GedIl mod
magnatet hitibus,
sitas sinulpa
conet enim fuga.
Faceste num
escim et laceaq
„Ich wünsche den Leserinnen und Lesern der jüdischen
Stadtzeitung wina und ihren Familien ein wundervolles
Pessachfest und alles Gute. Bleiben Sie alle gesund!“
Wünscht allen Lesern
und Gemeindemitgliedern
CHAG SAMEACH !!
4 wına BEZAHLTE | März ANZEIGE 2020
Dr. Michael Ludwig
Bürgermeister der Stadt Wien
© xxxxx
FOTO DES MONATS
Schutz vor dem Tod MitarbeitervonChevraKadischa*tragenbeim
Begräbnis in Jerusalem Schutzkleidung
als Präventivmaßnahme gegen
die Verbreitung des Coronavirus.
* Beerdigungsgesellschaft, die sich der vor allem auch der rituellen Bestattung Verstorbener widmen.
© Yonatan Sindel / Flash90
wına-magazin.at
5
Irene Brickner.
„Davor gab es tatsächlich
Zeiten, in denen man so
etwas schreiben konnte,
ohne dafür gemobbt zu
werden.“
WINA: Sie berichten seit vielen Jahren
über die Themen Flucht und Asyl. Wie hat
sich das ergeben?
Irene Brickner: Für den Standard berichte
ich seit 2005 über Asyl. Ich habe
dort als Niederösterreich-Berichterstatterin
angefangen, und Traiskirchen
befindet sich in diesem Bundesland.
Interessiert hat mich das Thema
aber schon viel länger. Die erste Reportage
über einen Asylwerber habe
ich in der neuen AZ geschrieben, das
war im Jahr 1991. Das wurde redaktionsintern
damals nicht unbedingt geschätzt,
denn es gab böse Leserbriefe
von deklarierten SPÖ-Mitgliedern.
INTERVIEW MIT IRENE BRICKNER
„Ich bin keine
Sozialarbeiterin,
sondern
Journalistin“
Der heurige Ari-Rath-Preis für kritischen Journalismus
ging an die Standard-Redakteurin und Chefin
vom Dienst Irene Brickner. Sie schreibt seit
vielen Jahren zum Thema Flucht und Asyl. Im
WINA-Interview erzählt sie, welche Herausforderungen
damit einhergehen.
Interview: Alexia Weiss, Foto: Daniel Shaked
Welche Herausforderungen ergeben sich,
wenn man über Flucht und Asyl schreibt?
I Es ist nicht leicht, in Österreich über diese Themen
zu schreiben, denn es gibt einen Boden von
Ausländerfeindlichkeit. Ich glaube nicht, dass dieser
ausgeprägter als in anderen Ländern ist, aber auf
seiner Grundlage wird schon seit der Haider-Zeit
Politik gemacht. Für mich hat sich von Anfang an
die Frage des Asylrechts gestellt. Ich habe stückweise
eine ziemliche Expertise entwickelt und kenne mich
mittlerweile im Asylrechts- und Fremdenrechtsbereich
aus, der ja relativ kompliziert ist – obwohl ich
nicht Jus studiert habe.
2005, als ich im Standard begann, Artikel zu
Asylthemen anzubieten, war die Reaktion zunächst
darauf: Das ist ein Orchideenthema, das interessiert
uns und die Leserschaft nur am Rande. Ich habe immer
gewusst, dass das nicht stimmt und dass dieses
Thema großes Konfliktpotenzial in sich birgt. Zunächst
ist es mir deswegen darum gegangen, Schicksale
von Flüchtlingen zu schildern, zu zeigen, wie es
ihnen geht. Das waren Beiträge über Einzelfälle. Ich
6 wına | April 2020
Konfliktpotenzial
wollte damit zu mehr Verständnis beitragen, doch
das hat sich dann im Zuge des Rechtsrucks fast verunmöglicht.
Davor gab es tatsächlich Zeiten, in denen
man so etwas schreiben konnte, ohne dafür
gemobbt zu werden. Ohne dass einem sofort entgegengeschleudert
wird, der Artikel stimme nicht,
dass das, was man geschrieben hat – wie es dann
heißt – gutmenschig sei.
Wer schleudert Ihnen das entgegen?
I Solche Reaktionen kommen von Lesern und Usern,
wobei das Ganze durch die Digitalisierung massiv
zugenommen hat. Nur wenige Prozent aller User von
derstandard.at posten, rund die Hälfte von ihnen bei
Asylthemen negativ. Diese recht kleine Gruppe ist
laut, widerlich und manchmal sogar bedrohlich.
Sie wird erst jetzt, wo das Thema Onlinemobbing
langsam durchsickert, wieder eingebremst. Dazu
kommt, dass ich eine Frau bin, was für diese Poster
ein Zusatzproblem ist. Ich habe kürzlich zur Situation
an der türkisch-griechischen Grenze einen
Kommentar geschrieben, Titel: Resettlement jetzt.
Sofort kamen Mails, sogar mit Klarnamen, wie ich
so etwas denn fordern könne, ich hätte ja keine Ahnung,
das sei typisch für eine emotionale Frau. Dabei
war Resettlement von Beginn an Teil des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens.
Wie gehen Sie damit um – einerseits mit Kommentaren
unter Artikeln, aber eben auch mit persönlichen Mails?
I Wenn es etwas Unsachliches ist, ignoriere ich es.
Wenn es etwas Persönliches ist, entferne ich es –
sofern ich es vor den Forenwartern des Standard
lese. Und wenn es etwas strafrechtlich Relevantes
ist, dann zeige ich es an. Wenn aber ein stichhaltiges
Argument vorgetragen wird, denke ich da rüber
nach. Ein Beispiel aus der analogen Welt: Die Art
und Weise, wie heute Asyl beantragt wird, ist antiquiert.
Ein Mensch muss es ad personam bis in ein
anderes Land schaffen und dort „Asyl“ sagen. Dieses
Prozedere ist eine Reaktion auf die Realitäten
in der Hitler-Zeit, als man Juden auf der Flucht aus
der Schweiz sowie aus Teilen Frankreichs zurückgeschickt
hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte
man Derartiges ein für alle Mal abstellen – dass es
jetzt an den Grenzen zur EU zum Teil wieder passiert,
ist schlimm genug. Aber entspricht das Asyl-
Prozedere noch den heutigen Umständen? Eric
Frey, ein Kollege im Standard, hat kürzlich gemeint,
man müsste heute Asyl eigentlich online beantragen
können. Das ist eine nachdenkenswerte Idee.
Im Grunde müsste man das Asylsystem verändern,
damit es auf der Höhe der Zeit ist.
In Griechenland sollen hunderte unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge unter 14 Jahren in den Lagern sein.
Darüber wird immer wieder berichtet. Können diese Texte
aber irgendetwas bewirken?
I Ich glaube nicht, dass Berichte allein die Positionen
der österreichischen Bundesregierung verändern.
Das geht nur – vielleicht – durch politischen Druck,
der aber wiederum nur entstehen kann, wenn über
diese Zustände auch berichtet wird. Ich glaube daher
schon, dass man als Journalistin oder Journalist
immer wieder auf solche Zustände hinweisen
muss und man solche humanitären Krisensituationen
nicht vergessen darf. Die Flüchtlingsmisere
in Griechenland und in Syrien, aber etwa auch in
Libyen dauert inzwischen ja seit Jahren an. Um sie
zu beenden, müsste man vor allem den Krieg in Syrien
beenden. Erst dann würde sich die Lage entspannen.
Sie schreiben vorrangig über die Situation von Flüchtlingen
in Österreich, und da gibt es sehr viele Fälle. Rennen
Ihnen da Betroffene und NGOs die Türen ein, damit Sie
über Problemfälle berichten?
I Nein, einrennen nicht – aber ich bekomme häufig
solche Informationen. Es sind meistens die Unterstützer,
die sich melden, wenn eine Situation ziemlich
verfahren ist, wenn zum Beispiel eine für einen
Flüchtling gefährliche Abschiebung droht. Die Fälle
sind rechtlich oft de facto aussichtslos. Die Betroffenen
haben schon einen langen Weg vor den Gerichten
hinter sich und wissen, jetzt steht es Spitz auf
Knopf. In der Zeit der türkis-blauen Regierung habe
ich nichts mehr über Einzelfälle geschrieben, weil
es kontraproduktiv gewesen wäre. Der damalige Innenminister
Herbert Kickl hat jeden, über den geschrieben
wurde, mit besonderer Härte behandeln
oder besonders rasch abschieben lassen. Jetzt haben
wir mit der neuen türkis-grünen Regierung eine
andere Situation. Zwei Mal bereits wurde jemand
IRENE BRICKNER,
geboren in Wien, ist Journalistin
und Autorin. Seit 2000
schreibt sie für Der Standard,
wo sie heute Chefin vom
Dienst ist. Ihr Schwerpunkt
sind Menschenrechtsthemen.
2012 erschien im Residenz
Verlag ihr Schwarzbuch Menschenrechte.
Sie wurde bereits
u. a. mit dem Prälat-Leopold-
Ungar-JournalistInnenpreis
und dem Dr.-Karl-Renner-Publizistikpreis
ausgezeichnet.
„2005, als
ich im Standard
begann,
Artikel zu
Asylthemen
anzubieten,
war die Reaktion
zunächst
da rauf: Das ist
ein Orchideenthema.“
wına-magazin.at
7
Ungerechtes abwenden
besonders Gefährdeter von einem Abschiebeflug nach
Afghanistan heruntergenommen, nachdem es Medienberichte
über die Fälle gegeben hatte. In einem
dritten Fall ist es vor Kurzem allerdings gescheitert.
Ein Afghane, der zum Katholizismus konvertiert ist,
wurde nach Kabul abgeschoben. Als eine vom Islam
abgefallene Person ist er in Afghanistan in Lebensgefahr.
Zwei Wochen später bekam er die aufschiebende
Wirkung, die Abschiebung wurde also rückwirkend
als widerrechtlich beurteilt. Aber zurückgebracht
wurde er bisher nicht. Nur wenn das Höchstgericht
endgültig in seinem Sinn entscheidet, darf er aus Afghanistan
wieder nach Österreich kommen.
Wie geht es Ihnen selbst emotional, wenn Sie über solche
Fälle berichten?
I Ich habe mittlerweile die Haltung, dass ich mit
dem Schlimmsten rechne und nicht überrascht bin,
wenn sich etwas negativ weiterentwickelt. Wenn
sich etwas zum Besseren entwickelt, freue ich mich
hingegen umso mehr. Mir tun die betroffenen Menschen
oft leid, aber ich bin keine Sozialarbeiterin,
sondern Journalistin. Doch ich weiß auch, was es für
eine Erleichterung ist, wenn jemand bleiben darf
oder etwas anderes Ungerechtes abgewendet werden
konnte. Und ich kenne auch Leute, die illegal
leben, und ich weiß, was das bedeutet. Das ist ganz
schlimm.
Ich finde das Recht auf Asyl auch deshalb wichtig,
weil mein Vater – er war jüdisch, meine Mutter katholisch
– den Holocaust nur überlebt hat, weil er als
Flüchtling nach England kam. Dass er dort gerettet
wurde, war für mich immer ganz wichtig, auch schon
als Kind. Und: Er ist danach zurückgekehrt, um, wie er
sagte, Österreich wieder aufzubauen. In diesem Sinn
ist es für mich selbstverständlich, mich in Österreich
für das Recht auf Asyl einzusetzen, ohne auf die Tränendrüsen
zu drücken. Das gilt auch global: Das Asylrecht
ist nötig in einer Welt, die ist, wie sie ist. Deswegen
schreibe ich, was ich schreibe. Oft wird mir und
anderen, die dazu arbeiten, unterstellt, wir seien alle
Gutmenschen und würden alles glauben, was uns erzählt
wird. Natürlich gibt es Asylsuchende, die nicht
DER ARI-RATH-PREIS
Der Ari-Rath-Preis für kritischen
Journalismus wurde
von einer Privatinitiative eingerichtet,
um im Sinn des 2017
verstorbenen ehemaligen
Chefredakteurs der Jerusalem
Post Journalistinnen und Journalisten
auszuzeichnen, „die
sich in ihrer Arbeit um eine kritische
und der Wahrung der
Menschenrechte verpflichtende
Berichterstattung über
Flucht, Vertreibung und Asyl
in hervorragender Weise verdient
gemacht haben“.
Bisherige Preisträgerinnen waren
Alexandra Förderl-Schmid,
ehemalige Standard-Chefredakteurin
und nun Korrespondentin
der Süddeutschen
Zeitung in Israel, sowie Silvana
Meixner von der ORF-
Redaktion Heimat, fremde
Heimat. Mitglieder der Jury
sind Gertraud Borea d’Olmo,
die Generalsekretärin des
Bruno-Kreisky-Forums, der
Medienhistoriker Fritz Hausjell,
Rubina Möhring von Reporter
ohne Grenzen sowie der Historiker
Oliver Rathkolb.
„Ich habe
mittlerweile
die Haltung,
dass
ich mit dem
Schlimmsten
rechne und
nicht überrascht
bin,
wenn sich
etwas negativ
weiterentwickelt.“
die Wahrheit sagen, die versuchen, es so irgendwie
zu schaffen, hier bleiben zu können. Aber trotzdem
brauchen wir das Recht auf Asyl.
Sie haben die Geschichte Ihres Vaters angesprochen. Wie
sehr hat Sie diese Geschichte auch zu dem Thema geführt?
I Sehr. Auf alle Fälle.
Gab es auch einen Punkt, an dem Ihnen alles zu viel wurde
und Sie das Bedürfnis hatten, sich von dem Thema zu
distanzieren?
I Immer wieder.
Können Sie sich an eine konkrete Situation erinnern?
I Ich habe relativ früh, als der Standard auf das Digitale
gesetzt hat, einen Blog gemacht, Brickners Blog hat
der geheißen. Die Rechten haben rasch verstanden,
dass sie sich da in dem Forum wunderbar breitmachen
konnten, um es für ihre Propaganda zu missbrauchen.
Ich wurde massiv gemobbt, was zu diesem
Zeitpunkt leider nicht in seinem ganzen Umfang erkannt
wurde. Seit damals habe ich bei manchen Postern
das Image von einer Depperten. Ich schleppe
diesen erfundenen Makel mit mir mit. Daher heißt
es in den Postings immer wieder: Schon wieder die
Brickner, ist alles unlogisch und dumm, kein Wunder,
wenn die schreibt.
Aber ich schreibe ja zum Glück nicht nur über Asyl,
sondern als Chronik-Redakteurin auch über andere
Themen, im Moment zwangsläufig etwa über das Coronavirus.
Auch gab es, was Asyleinzelfälle angeht,
diese bereits erwähnte lange Zwangspause, weil solche
Berichte unter Kickl keinen Sinn gemacht haben.
Das muss man sich einmal klarmachen: Wurde in einem
Artikel auf die existenzbedrohende Situation eines
Flüchtlings hingewiesen, wurde die betroffene
Person dafür bestraft. Das ist jetzt in Österreich nicht
mehr so, aber in anderen Ländern nach wie vor. Nehmen
wir etwa Ungarn, wo es noch weit schlimmer als
in Österreich unter Türkis-Blau war. Da gibt es in den
gleichgeschalteten Medien das Thema Flüchtlinge nur
noch als Propagandainstrument der autoritären Regierung.
8 wına | April 2020
INTERVIEW MIT LJILJANA RADONIC UND HEIDEMARIE UHL
Museen müssen sich
immer wieder
neu erfinden
Die Wissenschafterinnen Ljiljana Radonić und Heidemarie
Uhl setzen sich mit der Frage auseinander, wie Zeitgeschichte
idealerweise ausgestellt wird. Das betrifft auch die Arbeit von jüdischen
Museen. WINA bat die beiden Forscherinnen zum Gespräch.
Interview: Alexia Weiss, Fotos: Daniel Shaked
WINA: Die Errichtung von Museen in großem Stil ging mit
der Entwicklung von Nationalstaaten einher. Auch in Wien
gibt es ältere und neuere Museen, Beispiel Kunsthistorisches
Museum. Was war die Intention bei der Eröffnung
dieses Hauses?
Heidemarie Uhl: Kunstmuseen machten die Kunstschätze,
die man zur Repräsentation des Monarchen
und Imperiums einsetzte, sukzessive öffentlich. Die
Museumsbauten Ende des 19. Jahrhunderts sind genau
diese Öffnung der kaiserlichen Sammlungen.
Wobei das Museum eine Idee der bürgerlichen Moderne
ist, es ging darum, neue öffentliche Räume zu
schaffen. Zur gleichen Zeit entstand auch das Warenhaus.
Inhaltlich versicherten sich die bürgerlichen
Eliten vor allem in Nationalmuseen, welche lange Geschichte
und welche großen Helden und Märtyrer die
Nation hervorgebracht hat.
Warum entstand in Österreich kein Nationalmuseum?
Heidemarie Uhl: Die Kategorie der Nationalmuseen
entsteht fast in jedem Land, das sich seiner nationalen
Identität sicher ist. In Österreich ist das Problem,
dass man sich eigentlich nur auf die ruhmreiche Heeresgeschichte
einigen konnte. Das Heeresgeschichtliche
Museum wurde sozusagen ein Ersatz für ein Nationalmuseum.
Eines der neuesten Museen ist das Haus der Geschichte
Österreich. Hier gab es im Vorfeld langjährige Debatten
und schließlich eine abgespeckte Umsetzung. In diesem
Museum geht es nicht darum, eine Sammlung zu präsentieren,
sondern zum gesellschaftlichen Diskurs beizutragen.
Gelingt das?
„Das ist der
große Bruch
zu früheren
traditionellen
Museen,
die eine
Geschichte
erzählen.“
Ljiljana Radonic
Heidemarie Uhl: Das Haus der Geschichte hat die
ambivalente Situation der späten Geburt. Das Museum
hat ohne ein einziges Objekt begonnen, denn
die Sammlung musste erst aufgebaut werden. Andererseits
konnte es sich dadurch auch frisch definieren.
Das ist das erste Bundesmuseum, das genau
diesen Passus im Gesetz hat, eben ein Raum für Diskurse,
für Auseinandersetzungen zu sein.
Ljiljana Radoni : Im starken Kontrast zu Nationalmuseen
ist das Spannende hier, dass nicht nur die
Geschichte, sondern auch die Aufarbeitung der Geschichte
ausgestellt wird und dass auch Streitfragen
als Streitfragen thematisiert werden. Sagt man zum
Beispiel Austrofaschismus oder autoritärer Ständestaat.
Der Zugang, den das Haus der Geschichte Österreich
gewählt hat, ist, zu sagen, wer würde welchen
Begriff aus welchen Gründen verwenden. Das
ist der große Bruch zu früheren traditionellen Museen,
die eine Geschichte erzählen.
Das heißt, hier gibt es eine klare Abgrenzung zu Museen,
die so agieren, dass sie sagen, wir erklären, wie etwas ist.
Ist dieser Bruch nur im Haus der Geschichte gegeben, oder
zieht sich dieser inzwischen quer durch die Museumslandschaft?
Ljiljana Radoni : Das ist nicht durchgängig so. Das
Heeresgeschichtliche Museum etwa ist das Gegenteil
dessen, was das Haus der Geschichte Österreich
macht. Dort wird eine stolze heroische Schausammlung
präsentiert, die auch zum Teil mit Objekten
arbeitet, die gar nicht kontextualisiert werden.
Im Raum über den Nationalsozialismus kann sich
da jeder für die SS-Uniform frei von der Leber weg
wına-magazin.at
9
Raum für Diskurs
Gerade um jüdische Museen gab es zuletzt massive Diskussionen.
Einige Museumsleiter traten zurück, etwa Dariusz
Stola als Direktor des POLIN-Museums der Geschichte
der polnischen Juden in Warschau oder Peter Schäfer
als Direktor des Jüdischen Museums Berlin. Wie ist das zu
interpretieren?
Ljiljana Radoni : Sehr unterschiedlich. Die Berliner
Geschichte fällt genau in das hinein, was ich gerade
thematisiert habe. Die Kritik an der Führung
des Museums war, dass sie zu stark den Fokus auf Islamophobie
legte und dabei sogar Einladungen aussprach
an Leute, die selbst nicht frei vom Antisemitismusvorwurf
sind. In Polen, bei dem Museum für
die Geschichte der polnischen Juden, liegt die Geschichte
ganz anders. Dort ist das im Zuge des autoritären
Backlashs, den die Partei Recht und Gerechtigkeit
(PiS) in Polen gerade vollzieht, zu sehen. Hier
war gerade das Thematisieren des Antisemitismus das
Problem. Dariusz Stola hat einerseits das so genannte
Holocaust-Gesetz kritisiert, also die Novelle zum Gebegeistern.
Hier gibt es in Österreich also ein großes
Spannungsverhältnis.
Was sind die Möglichkeiten von Museen, wenn es um gesellschaftspolitische
Umbrüche geht, und wo liegen ihre
Grenzen?
Heidemarie Uhl: Gerade einige Nationalmuseen
mussten nach dem Systembruch 1989 ihre Geschichte
völlig neu erzählen. Museen sind zudem auch Bildungsinstitutionen
für die junge Generation. Da ist die
Qualität der Vermittlung wichtig. Heute macht man
Vermittlung nicht mehr so nebenbei. Üblich ist es zudem,
die Viele-Möglichkeiten-Geschichte zu erzählen.
Gerade in der aktuellen Kampf-gegen-Antisemitismus-
Debatte wird immer wieder gefordert, dass alle Schüler
und Schülerinnen eine KZ-Gedenkstätte oder ein jüdisches
Museum besuchen sollen. Wie sinnvoll ist das?
Ljiljana Radoni : Das sind zwei verschiedene Dinge.
Eine KZ-Gedenkstätte zu besuchen, halte ich auf jeden
Fall für sinnvoll, wobei gleichzeitig dazu gesagt
werden muss, dass das keine Heiltinktur ist. Aber der
Besuch eines Ortes der Verbrechen ist auf jeden Fall
zu begrüßen. Besuche in jüdischen Museen verpflichtend
für Schüler und Schülerinnen vorzusehen, halte
ich dagegen für absurd.
Heidemarie Uhl: Es sollten andere Institutionen als
jüdische Museen die Funktion haben, Antisemitinnen
und Antisemiten aufzuklären. Das Jüdische Museum
Wien weist es auch zurecht zurück, dieser Rollenzuschreibung
nachzukommen.
Stichwort jüdische Museen. Lange vermieden jüdische
Museen, Antisemitismus breiten Raum zu geben. Man
wolle jüdische Kultur vermitteln und nicht die Welt der
Judenhasser beleuchten. Barbara Staudinger, Direktorin
des Jüdischen Museums Augsburg-Schwaben, schreibt in
ihrem Beitrag zum Buch, dass sich jüdische Museen dem
Thema nicht mehr verschließen können. Sehen Sie hier
auch einen Paradigmenwechsel?
Ljiljana Radoni : Ja, es gab diesen Paradigmenwechsel,
aber wir sind schon einen Schritt weiter. Zuerst
wurde gesagt, wir müssen nur Positives vermitteln.
Dann wurde Antisemitismus in jüdische Museen integriert.
Jetzt sind wir so weit, dass manche Direktoren
und Direktorinnen überhaupt nicht mehr über
Antisemitismus sprechen wollen, sondern über aktuellen
Rassismus, Fremdenfeindlichkeit oder sehr
gerne auch über Islamophobie. Es gibt teils sogar ein
gewisses Unbehagen, über Antisemitismus zu sprechen,
aber nicht aus dem Grund, weil es etwas Negatives
ist oder den Tätern zu viel Raum gibt, sondern
weil gerade jüdische Museen neuerdings einen starken
Trend haben, universelle Botschaften und aktuelle
politische Fragen zu thematisieren. Das bringt
aber das Problem, dass sogar die Leiter und Leiterinnen
der jüdischen Museen absurderweise dann
so tun, als ob Antisemitismus kein aktuelles gesell-
schaftliches Problem wäre. Staudinger ist da ein Positiv-Beispiel,
weil sie immer gleichzeitig aktuellen
Antisemitismus und etwa antimuslimischen Rassismus
thematisiert.
LJILJANA RADONI ,
geb. 1981, leitet am Institut
für Kulturwissenschaften
und Theatergeschichte der
Österreichischen Akademie
der Wissenschaften (ÖAW) das
ERC-Forschungsprojekt Globalisierte
Gedenkmuseen. Ihre
Habilitation am Institut für Politikwissenschaft
der Universität
Wien, wo sie seit 2004 lehrt,
verfasste sie über den Zweiten
Weltkrieg in postsozialistischen
Gedenkmuseen.
10 wına | April 2020
Begegnungszone
Welche Aufgabe haben jüdische Museen heute aus Ihrer
Sicht? Sollten es vorrangig Museen für Nichtjuden sein,
in denen das Judentum dann aber auch „das andere“ verhandelt.
Oder sollten es auch Orte für Juden sein, in denen
innerjüdische Positionen verhandelt werden?
Ljiljana Radoni : Ich würde sagen, sie sollten beides
sein, wobei „Ort für Nichtjuden“ immer mit Vorsicht
zu genießen ist – was das heißt, ist die entscheidende
Frage. Da sehe ich die lange Geschichte des
Ausstellens von Judaika, die kontextlos oder ein bisschen
beliebig ausgestellt werden durchaus als Problem,
weil es auch Klischees davon befördert, was typisch
jüdisch ist. Natürlich geht das aber auch anders.
Im Jewish Heritage Museum in New York gibt es derzeit
eine temporäre Ausstellung, die heißt Auschwitz,
geht aber viel breiter darüber hinaus. Sie stellen auch
Judaika aus, aber nur sinnvoll kontextualisiert, also
zum Beispiel Judaika aus dem Ort O wi cim, um zu
zeigen, wie sich in diesem Ort die jüdische Geschichte
gewandelt hat. Die Objekte sind einer Phase, einer
Gruppe oder sogar einer Person zugeordnet, durch
diese Gegenstände wird also eine Geschichte erzählt.
Es sollte aber auch ein Ort der Auseinandersetzung
mit innerjüdischen Problemen sein. Das ist ja auch
interessant für nichtjüdische Besucher. Was sind die
Debatten, die verhandelt werden?
Heidemarie Uhl: Und es ist natürlich ein Ort, der
auch eine Begegnungszone ist. Es wäre sicher zu wenig
zu sagen, jüdische Museen sind nur dazu da, um
jüdische Identität zu stiften.
setz über das Institut für nationales Gedenken. Und
er hat eine temporäre Ausstellung verantwortet über
den Antisemitismus in Polen der 1968er. Entfremdet
hieß die. In Polen will ein immer autoritärer werdender
Staat die Meinungsfreiheit einschränken.
Soll man als Leiter eines jüdischen Museums besser unpolitisch
sein?
Ljiljana Radoni : Keinesfalls, aber man darf die Fälle
nicht über einen Kamm scheren. Im polnischen Fall
will die undemokratische PiS die Museen und die Leitung
zum Schweigen verdonnern. Im Falle von Berlin
wird das auch so diskutiert, aber da kommt es darauf
an, auf welcher Seite der Debatte man steht. Wenn
man findet, man muss über den heutigen Antisemitismus
sprechen, dann ist die Kritik an der Museumsführung
ja auch berechtigt.
HEIDEMARIE UHL,
geb. 1956, ist Historikerin am
Institut für Kulturwissenschaften
und Theatergeschichte
der ÖAW und Lehrbeauftragte
an den Unis Wien und Graz.
Ihre Forschungsschwerpunkte
sind Gedächtniskultur in
Bezug auf den Holocaust und
österreichische Zeitgeschichte
im europäischen Kontext.
Identität, Identitätspolitik sind Schlagworte unserer Zeit.
Inwiefern werden sie in zeitgeschichtlichen Museen verhandelt
– inwiefern trägt aber auch der Diskurs um Identität
wieder zu Nationalismus bei?
Heidemarie Uhl: Einerseits ist der nationale Rahmen
gerade bei Museen, die sich auf Zeitgeschichte
fokussieren, meist gegeben. Es gibt nur ein Museum
in Europa, das sich transnational definiert, und das
ist das Haus der europäischen Geschichte in Brüssel.
Die Frage der Identitätsstiftung ist gerade, wenn
wir an innovative zeitgeschichtliche Museen denken,
wie etwas das Haus der Geschichte Österreich, eine
ambivalente. Einerseits ist schon durch das Framing
klar, hier geht es um nationale Identität im weitesten
Sinne. Aber es ist ein Versuch, Identität eben neu zu
definieren und zu zeigen, dass das, was man sich unter
einer nationalen Identität vorstellt, immer eine
Konstruktion ist, die durchgesetzt wird und die sich
verändern kann. Identität ist vielfältiger als nur eine
nationale oder eine ethnische Zuschreibung.
Ljiljana Radoni , Heidemarie Uhl (Hg.):
Das umkämpfte Museum. Zeitgeschichte ausstellen
zwischen Dekonstruktion und Sinnstiftung,
transcript Verlag, 288 S., € 32,99
BUCHTIPP
Der Band Das umkämpfte Museum beschreibt das Spannungsfeld von Museen,
die sich mit Zeitgeschichte befassen. Sie bewegen sich je nach Standort und Rahmenbedingungen
im eigenen Land zwischen nationalistischen Darstellungen
und kritischer Reflexion des Nationalen. Wie wird die eigene Geschichte erzählt?
Woran macht ein Land seine Identität fest? Hier spielen auch Gedenkstätten und
jüdische Museen eine Rolle. Wirken sie hier wie ein Korrektiv?
wına-magazin.at
11
INTERVIEW MIT DARIUSZ STOLA
„Ein kritischer Historiker
ist hier fremd zu Hause“
Dariusz Stola, renommierter Wissenschaftler und ehemaliger
Direktor des POLIN-Museums in Warschau, spricht über Diskurskontrolle,
die Schoah gestern und Antisemitismus heute.
Interview: Marta S. Halpert
WINA: Als Gast des Wiener Wiesenthal Instituts (VWI)
haben Sie jüngst einen Vortrag über die verschiedenen
Phasen der Aufarbeitung des Holocausts in Polen gehalten.
Für die letzten 30 Jahre nannten Sie Polen als Vorbild
unter den osteuropäischen Staaten, wie diese vielschichtige
Materie angegangen wurde, nämlich mit einer breiten
öffentlichen und schonungslosen Debatte. Aber mit dem
Jahr 2010 datieren Sie nicht nur einen historischen Wendepunkt
dieser Diskussionskultur, sondern konstatieren
sogar einen dramatischen Rückschlag. Was ist da passiert?
Dariusz Stola: Fangen wir mit dem Positiven an: Mit
der beginnenden Erosion des kommunistischen Regimes
in den Achtzigerjahren, dem Erscheinen von
Untergrundpublikationen, an denen ich auch beteiligt
war, sowie der Ausstrahlung der TV-Serie von
Claude Lanzmann erhielt diese Debatte Aufwind. Die
Frage nach der eigenen kollektiven Identität drang
1987 durch die Solidarno -Bewegung stärker in das
öffentliche Bewusstsein und damit auch das Verhalten
der katholischen Polen zu ihren jüdischen Bürgern
während der Schoah.
Wurde da auch postkommunistische Selbstkritik hörbar?
I Ja, eindeutig. Denn der Mythos vom eigenen patriotischen
Bild des nur „Opfers, das sich kämpferisch
gegen die deutsche Aggression stellte“ begann
dem Bewusstsein zu weichen, dass man die Juden
den grausamen Mördern überlassen hatte. Ich behaupte,
dass die polnische Bevölkerung großteils als
passive Zuschauer alles gesehen, gehört und gerochen
hat. Während die meisten Mittel- und Nordeuropäer
„nur“ das plötzliche Verschwinden und
die Deportationen ihrer Nachbarn sahen, wurde die
Massenvernichtung der Juden vor den Augen der Polen
ausgeführt. Eine alte Frau, die nur sechs Kilometer
vom Vernichtungslager Belzec entfernt wohnt, er-
„Mein
Verhältnis
zur polnischen
Regierung
hat sich erst
getrübt, als ich
das sogenannte
Holocaust-
Gesetz scharf
kritisierte.“
Dariusz Stola
*Im Pogrom von Kielce
wurden am 4. Juli 1946
über vierzig Juden ermordet
und weitere 80
verletzt, nachdem ein
Gerücht über die Entführung
eines christlichen
Jungen verbreitet worden
war. Unter den Opfern
befanden sich auch
zwei nichtjüdische Polen,
die den Angegriffenen zu
Hilfe geeilt waren.
zählte mir, dass sie wegen des schrecklichen Gestanks
aus dem Lager die Fenster nicht öffnen konnte. Wenn
die Schoah ein beispielloses Verbrechen war, dann
war das Zu- oder Wegschauen ebenso ein beispielloses
Verbrechen.
Wie ist die nicht-jüdische Bevölkerung damit nach 1945
umgegangen?
I Sie haben eine Strategie entwickelt, um ein Minimum
an seelischem Gleichgewicht zu halten, indem
sie sich vom Schicksal der jüdischen Opfer distanzierten.
Doch diese Verdrängung hatte einen Preis,
den zahlten sie erst später. Unter der kommunistischen
Herrschaft wurde das Thema unterdrückt,
man durfte nicht darüber sprechen, und das führte
zu posttraumatischen Zuständen. Erst die Intellektuellen,
wie z. B. Czesław Miłosz, und Teile der Kirche
thematisierten in den späten 1980ern die emotionalen
und moralischen Aspekte und die als Christen
begangenen Sünden.
Obwohl man der kommunistischen Version der Geschichte
misstraute, gab es leider zu wenige jüdische
Überlebende, die von ihren persönlichen Erfahrungen
erzählen hätten können: Zu Beginn der
deutschen Besatzung lebten 3,3 Millionen Juden in
Polen, nur ein Zehntel davon überlebte die Schoah.
Nach dem Pogrom von Kielce 1946 * verließen wiederum
neunzig Prozent davon aus Angst das Land –
der Großteil davon rettete sich mit Hilfe der Bricha
nach Palästina.
Ab 1989/90 war die gesellschaftliche Aufbruchstimmung
in Polen deutlich zu merken: Es gab kräftige Signale der
Zivilgesellschaft, die mit der Vergangenheit in allen Bereichen
des Lebens aufräumen wollte, um ein Teil der
westeuropäischen Demokratien zu werden. Sie setzen den
12 wına | April 2020
Fremd zuhause
Rückschlag mit 2010 an, warum?
I Da kamen einige Ereignisse zusammen: Der Flugzeugabsturz
von Smolensk war so ein historischer
Moment, der zum nationalen Trauma wurde. Dieses
Unglück erweckte unterbewusst den Kult um den
tragischen Heldentod und bescherte den rechten Medien
im Land den Auftrieb, abstruse Weltverschwörungstheorien
zu verbreiten. Unter anderem, dass
der frühere EU-Präsident Donald Tusk gemeinsame
Sache mit den Russen gemacht habe. Kasczinsky persönlich
und seine Partei wissen um die emotionale
Bedeutung von Geschichte und wie man durch deren
Umdeutung profitieren kann. Sie hören aufmerksam
auf die rechten Stimmen im Land: Kasczinsky oder
Orbán sind vielleicht keine Antisemiten, aber sie tolerieren
den Antisemitismus ungebremst.
Dariusz Stola.
„In Polen gibt es immer
wieder Proteste,
vor allem von Menschen
der Generation
zwischen 50 und 60,
die sich noch gegen
den Kommunismus
aufgelehnt haben.“
Warum nehmen die proeuropäischen Jugendlichen z. B.
die fortschreitende Aushöhlung der Justiz hin?
I Die Regierung ist wegen ihrer großzügigen Sozialpolitik
sehr beliebt. Der polnischen Wirtschaft geht es
viel besser als der ungarischen – und die soziale Umverteilung
funktioniert gut. Die Jugend protestierte
sehr wohl gegen die „Justizreformen“, aber weil die
EU langsam oder gar nicht reagiert, macht sich Resignation
und Gleichgültigkeit breit. Diese zwei Faktoren,
wie Zivilgesellschaft und EU reagieren, werden
die Zukunft meines Landes bestimmen.
Diese Entwicklungen in Ihrer Heimat haben auch Ihr berufliches
Leben verändert: Als renommierter Zeithistoriker
forschen Sie bis heute zur Migration im 20. Jahrhundert,
zur Schoah und den polnisch-jüdischen Beziehungen. Von
2014 bis Februar 2020 leiteten sie sehr erfolgreich das PO
LIN-Museum, in dem die Geschichte der polnischen Juden
erzählt wird. Seit 2018 scheinen Sie bei den Regierenden in
Ungnade gefallen zu sein?
I Mein Verhältnis zur polnischen Regierung hat sich
erst getrübt, als ich das so genannte Holocaust-Gesetz
scharf kritisierte. Dieses Gesetz stellte jeden unter
Strafe, der der polnischen Nation oder dem polnischen
Staat eine Mitverantwortung am Holocaust
gab. Unter dem Protest aus Israel und den USA entschärfte
das Parlament das Gesetz später.
© Stach Leszczyñski/picturedesk.com
Sie sehen noch einen einschneidenden Wendepunkt?
I Meine These lautet, dass der Rechtsruck einiges mit
der digitalen Revolution zu tun hat: Die Rechte war
in der breiteren Öffentlichkeit marginalisiert, weil
sie keine finanziellen Ressourcen für Massenmedien
hatte. Aber seit 2006 gibt es in Polen Twitter und You-
Tube, seit 2008 Facebook. So bekam diese Gruppe einen
leichten und billigen Zugang zu den sozialen Netzwerken
und kann dort ihre hetzerischen und revisionistischen
Inhalte gut verbreiten.
Wo ist der berühmte Widerstandsgeist der Polen, die viel
schneller und öfter protestieren als z. B. die Ungarn?
I Viktor Orbán hat die autoritären Maßnahmen viel
schneller durchgezogen. In Polen gibt es immer wieder
Proteste, vor allem von der Generation zwischen
50 und 60, die sich – wie auch ich – noch gegen den
Kommunismus aufgelehnt hat. Bei uns geht alles viel
langsamer. Die PiS-Partei hat vier Jahre für die Veränderungen
gebraucht.
DARIUSZ STOLA,
1963 in Warschau geboren, lehrt
als Zeithistoriker an der Akademie
der Wissenschaften und
an der Universität Warschau. Er
zählt zu den renommiertesten
Experten für die Geschichte
der Schoah und der polnischjüdischen
Beziehungen. Er publizierte
über die Aufarbeitung des
kommunistischen Regimes im
Nachkriegspolen.
Stola leitete das POLIN-Museum
von seiner Gründung 2014 bis
Anfang 2020.
Sie wagten es aber auch, mit einem Teil der Ausstellung
Fremd zu Hause die Kontinuität des Antisemitismus in
Polen aufzuzeigen?
I Der Anlass war unsere Ausstellung über Antisemitismus
unter der kommunistischen Führung, die 1968
mit ihrer antizionistischen Kampagne tausende Juden
aus dem Land vertrieben hatte. Wir haben mit
aktuellen Zitaten von PiS-Politikern und ihren Anhängern
klare Parallelen zur Gegenwart unter der
nationalkonservativen Regierung gezogen. Das hat
Kulturminister Piotr Gli ski überhaupt nicht gefallen,
und obwohl ich für eine neue Periode wiedergewählt
wurde, weigerte er sich, meine Ernennung
zu unterschreiben. Weil das POLIN unter dieser Situation
zu leiden begann, machte ich den Weg frei.
Wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus?
I Ich bin an die Akademie der Wissenschaften und die
Universität, wo ich auch vorher unterrichtet habe, zurückgekehrt.
Ich erhalte laufend auch interessante
Angebote aus den Ausland, aber ich möchte Polen
ungern verlassen: Ich habe vier Söhne, einen Enkel,
und meine Frau hat auch einen Job. Ein Freund, der
aus Deutschland zurückkam, wird hier jetzt belästigt
und verfolgt. So lange es möglich ist, bevorzuge ich
zu bleiben. Aber in der Geschichtspolitik der PiS ist
ein Warschauer Historiker wie ich zunehmend fremd
zu Hause.
wına-magazin.at
13
Aus Auschwitz, nicht aber
„Auschwitz bleibt uns
anvertraut“
Gedanken zu „Befreiung“ und „Vermittlung“. Martha Keils Rede zum
Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust 2020.
„Auschwitz bleibt uns anvertraut“ – das
ist ein Zitat von Siegfried Lenz aus seiner
Rede zur Verleihung des Friedenspreises
des Deutschen Buchhandels 1988. Doch
wie machen wir uns 75 Jahre nach der Befreiung
mit Auschwitz vertraut? Man hat
mich gebeten, über die letzten Tage von
Auschwitz zu sprechen – doch die letzten
waren keine für Auschwitz typischen Tage.
Bei der ersten Planung im Jänner 1940 war
das Gelände der ehemaligen Artilleriekaserne
Oświęcim noch als Konzentrationslager
vorgesehen und wurde schließlich ein
dreiteiliger Lagerkomplex: Das Stammlager
Auschwitz I, das ab Herbst 1941 errichtete
Vernichtungslager Auschwitz II-Birkenau
und das Produktionslager der IG Farben,
die Buna-Werke, Auschwitz III-Monowitz.
Je nach Bedarf wurden für Produktionszwecke
insgesamt 48 Nebenlager eingerichtet.
Von Anfang an wurden ausgewählt sadistische
Kriminelle als Funktionshäftlinge eingesetzt
und ein System zwischen einerseits
perfekter Organisation und andererseits
sinnloser Willkür etabliert, das jede Überlebensstrategie
scheitern ließ. Am 3. September
1941 wurde erstmals an 850 sowjetischen
und polnischen Kriegsgefangenen
mit Vergasung durch Zyklon B experimentiert.
Nach dem sukzessiven Ausbau der Anlagen
wurden in den sieben Gaskammern
für je 200 bis 1.000 Menschen im Stammlager
und in Auschwitz-Birkenau täglich
bis zu 8.700 Menschen ermordet, insgesamt
etwa 900.000. Rund 200.000 weitere
wurden durch Erschießen, Phenolspritzen,
Misshandlung, pseudomedizinische
Experimente, Verhungern und systematische
Unterversorgung ermordet, also insgesamt
etwa 1,1 Millionen Opfer, mehrheitlich
Jüdinnen und Juden, aber auch Roma
und Sinti, politische Gegnerinnen und Gegner,
Kriegsgefangene, Homosexuelle, Zeugen
Jehovas und sogenannte Asoziale. Wenn
ich korrekterweise nur gerundete Zahlen
angebe, liegt dies daran, dass die sofort
nach Ankunft für die Gaskammern Selektierten
nicht registriert wurden – ihre Zahl
ist aus den Transport- und Zugangslisten
zu erschließen. Den Holocaust-Leugnern,
sollten Ihnen welche begegnen, sei gesagt,
dass sowohl die Angabe der sechs Millionen
jüdischen Opfer wie auch der Opferzahlen
von Auschwitz von Eichmann, Höß
und anderen führenden SS-Männern stammen.
Die Lagerleitungen ließen zwar viele
Beweisdokumente vernichten, doch wurden
auch viele von mutigen Häftlingen hinausgeschmuggelt
oder versteckt. Bereits im
November 1942 besaßen die Alliierten gesicherte
Kenntnis von den Massenmorden an
den Juden, doch schien diese Information
weder glaubwürdig noch kriegswichtig. Am
22. März 1944 berichtete neben anderen US-
Tageszeitungen die Los Angeles Times von
der Ermordung – „von 500.000 Personen,
zum größten Teil Juden, im Konzentrationslager
Auschwitz südwestlich von Krakau“.
Von Mai bis August 1944 erreichte mit der
Ankunft von 437.402 jüdischen Männern,
Frauen und Kindern aus Ungarn das Morden
seinen Höhepunkt. Deren fast völlige
Vernichtung brachte die Lagerorganisation
zynischer Weise an ihre Grenzen.
Durch das Näherrücken der Front ab
Sommer und endgültig im November 1944
traf die SS Vorbereitungen, auch in Auschwitz
verbrannte Erde zu hinterlassen und
materielle Beweise und die letzten Zeugen
zu vernichten. Die Gaskammern und vier
der fünf Krematorien wurden abgebaut,
stattdessen folgten Massenerschießungen.
Noch in der letzten Woche, im Chaos der
Auflösung, erschossen SS-Patrouillen 648
Häftlinge. Von den beim letzten Appell am
17. Jänner 1945 gezählten 67.012 Insassen befanden
sich nach den Evakuierungen nur
noch etwa 8.800 todkranke Häftlinge und
etwa 600 Kinder im Lagerkomplex. In den
zehn Tagen bis zum Eintreffen von vier Divisionen
der Roten Armee starben weitere
1.100 Menschen. Die noch übrigen 7.600
wurden „befreit“, doch will ich dieses Wort
in Anführungszeichen setzen. Die Wienerin
Lucie Begov erzählte von diesem Tag
vor 75 Jahren: „Aber es sind viele gestorben
in dieser Nacht. Meine Bettnachbarin
war eine Ungarin, Elsie hat sie geheißen, ich
hab sie gerüttelt, hab ich gesagt: ,Elsie, ich
bitte dich, bleib, bleib. Die Russen sind da,
wir sind frei.‘ Leider, leider, sie hat’s nicht
mehr erlebt.“
Wie Elsie wurden auch die vielen nicht
befreit, die innerhalb weniger Tage an den
Folgen der Lagerhaft starben, auch weil sie
ohne fachkundige Betreuung zu viel und
ungeeignete Nahrung zu sich nahmen.
Nicht befreit wurden die geschätzten 15.000
Opfer der Evakuierungen, der Todesmärsche
von bis zu 300 Kilometern von Auschwitz
zu den Bahnstationen. Bei den Transporten
in offenen Güterwaggons in eisiger
Kälte nach Mauthausen starben noch einmal
mehrere Hundert. Nicht befreit wurden
die Tausenden in den Lagern und auf
den Todesmärschen, die noch bis Kriegsende
vor Hunger und Erschöpfung starben
oder von den Wachmannschaften erschossen
wurden. Und nicht befreit wurden die
Opfer der Racheaktionen der SS, der sogenannten
Endphaseverbrechen, wie die
228 ungarisch-jüdischen Männer, Frauen
und Kinder in Hofamt-Priel bei Ybbs-Persenbeug.
Nicht befreit wurden die in letzter
Minute Denunzierten oder Entdeckten,
wie die neun in einem Keller im 2. Bezirk
in der Förstergasse 7 Versteckten, die am
12. April 1945 von SS-Männern ermordet
wurden. Nicht befreit wurden diejenigen,
die während der Zwangsarbeit bei Fliegeralarm
nicht in Luftschutzbunker durften
und durch Bombentreffer starben.
Zwar aus Auschwitz, aber nie von Auschwitz
befreit waren die Überlebenden. Ich
möchte stellvertretend an einen mir lieben
Menschen erinnern, der vor Kurzem von
uns gegangen ist, an Walter Fantl-Brumlik,
geboren 1924 in Bischofstetten in Niederösterreich,
gestorben am 14. Oktober 2019
in Wien. Am Ende seines langen tapferen
und disziplinierten Lebens vergaß er fast
alles, doch die Demenz war nicht so gnädig,
ihm seine Erinnerungen an Auschwitz
und Gleiwitz 1 zu nehmen. Die Albträume
vom Transport im Güterwaggon quälten
ihn bis zuletzt. Nicht befreit sind auch die
meisten Nachkommen von Ermordeten
und Entronnenen – die israelische Psychoanalytikerin
Yolanda Gampel verglich das
Trauma der Schoah mit der Wirkung der
Atombombe: für die direkt Betroffenen sofort
tödlich oder mit lebenslangen körperlichen
und psychischen Folgen bis zum Suizid,
für die nächsten Generationen mit oft
schweren Belastungen.
14 wına | April 2020
... von Auschwitz befreit
Die meisten Nachkommen waren mit dem Schweigen
ihrer überlebenden Eltern konfrontiert, mit
dem Unsagbaren, „das sich jeder Einfühlung
entzieht“, wie dies Ruth Klüger ausdrückte.
Daher möchte ich auch die Vermittlung
des im Grunde Unvermittelbaren in
Anführungszeichen setzen. Auschwitz wird
buchstäblich bis zum heutigen Tag politisch
instrumentalisiert, bisweilen auch mit Biegen
und Fälschen der Fakten, deshalb haben
die historische Forschung und Vermittlung
eine stets aktuelle Verantwortung. Eine weitere
Herausforderung ist die manchmal von
Vermittlern fast selbstmitleidig beklagte Zeit
ohne Zeitzeugen. Ich gestehe, auch mein
erster Gedanke bei der Einladung zu dieser
Rede war, ob denn nicht Ruth Klüger,
Gertrude Pressburger oder andere Berufene
hier sprechen müssten. Ein Versuch,
die Verantwortung abzuwälzen? Die Überlebenden
können oder wollen nicht mehr
sprechen, und das ist ihr gutes Recht – wer
darf ihr Erbe antreten? Ihre Nachkommen,
weil sie emotional mitbetroffen sind? Oder
die Forschenden und Interviewenden, die
sich als „Zeugen der Zeugen“ verstehen? In
dieser Hilflosigkeit und Sorge, Auschwitz
könnte ohne lebendiges Bezeugen in Vergessenheit
oder gar Unglaubwürdigkeit geraten,
sprang die digitale Technik ein: Seit
2011 werden interaktive 3D-Hologramme
von KZ-Überlebenden entwickelt, die zwar
virtuell, aber mit ihrer eigenen Stimme Fragen
aus dem Publikum beantworten. Steven
Spielbergs Shoa Foundation hat im Projekt
Dimensions in Testimony bisher mit 22
Überlebenden derartige 3D-Rekonstruktionen
hergestellt. Die Illusion von Präsenz
und Authentizität kam in den Testläufen
sehr gut an. Die Digitalisierten wissen ihre
Botschaft über ihren physischen Tod hinaus
gesichert, und die Fragenden zeigten sich
angemessen emotional beeindruckt. Ob ihnen
klar war, dass die Antworten nicht von
ihren quasi Gesprächspartnern und -partnerinnen
kamen, sondern durch Algorithmen
ausgewählt wurden? Programmierte
Fragen, kurze, leicht fassliche Antworten,
kein Nachfragen, kein Dialog, kein Stocken
und kein Schweigen und auch kein Abbruch
wegen Erschöpfung – eine risikoarme Konfrontation
mit dem Abgrund Auschwitz. Zu
befürchten ist, dass sich künftig die museale
und schulische Vermittlung auf diese
so verführerische Technik reduziert und
somit auf die wenigen Überlebenden, die
noch imstande sind, sich den mehrtägigen
anstrengenden Aufnahmen zu unterziehen
– also Menschen, die damals Kinder
Was aus Auschwitz
gelernt werden
muss, ist doch
dies: nicht Gegenmensch,
sondern
Mitmensch zu sein.
oder Jugendliche waren. Welche Vielfalt und
Tiefe an Zeugnissen der damals Erwachsenen,
etwa in den literarischen Autobiografien,
mündlichen Interviews und mehr als
52.000 Videos, ginge verloren!
Doch was konnten und können diese
Zeugen bezeugen? Primo Levi, der bereits
1947 unter dem Titel Ist das ein Mensch?
seine Erinnerungen an Auschwitz verfasste,
gab zu bedenken: „Nicht wir, die
Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen.
[…] Wir Überlebenden sind nicht nur
eine verschwindend kleine, sondern auch
eine anormale Minderheit. Wir sind die, die
den tiefsten Abgrund nicht berührt haben.
Die Untergegangenen sind die eigentlichen
Zeugen […]. Sie sind die Regel, wir die Ausnahme.“
Die Betonung der ungeheuren Dimension
der Schoah ist mehr denn je nötig,
weil Auschwitz längst in der Populärkultur
angekommen ist, von fragwürdigen Computerspielen
bis zu pseudohistorischen Filmen
und Romanen, die suggerieren, Auschwitz
sei ein Ort der Liebe und des Mitgefühls
gewesen. Doch bei allem Bemühen um Vermittlung
und Verstehen bleibt in jeder Generation
aufs Neue die verstörende Frage:
Wie konnte es dazu kommen? „Auschwitz
ist geschehen, daher kann es wieder geschehen“,
so Primo Levi. Unter den vielen wissenschaftlichen
Erklärungen, alle richtig
und doch alle unzulänglich, finde ich eine
Theorie aus der Umweltgeschichte hilfreich:
Die sogenannten Shifting Baselines,
das heißt, sich schleichend verändernde
Grundkoordinaten, an die sich der Mensch
nach und nach gewöhnt. Der Sozialpsychologe
Harald Welzer wandte diese Theorie
auf den Nationalsozialismus an: Gleich
nach Hitlers Machtergreifung Anfang 1933
wäre ein Massenmord an der jüdischen Bevölkerung
noch undenkbar gewesen. Hasspropaganda,
Erniedrigung und Beraubung
verschoben die moralischen Grenzen sukzessive,
sodass, belohnt durch Nutznießung
und bedroht durch Terror, ein Protest gegen
die ab Februar 1941 durchgeführten Massentransporte
nicht mehr zu wagen war.
Auch wir können, Wachsamkeit vorausgesetzt,
beinahe täglich Shifting Baselines feststellen.
Sexistische, antisemitische, rassistische
und fremdenfeindliche Beleidigungen
und Drohungen sind auch für einige unter
Ihnen unzumutbarer Alltag. Bezüglich unserer
muslimischen Bevölkerung war von
Parallelgesellschaft die Rede, nun schon von
Gegengesellschaft. Die Flüchtlingsbewegung
wurde zur Flüchtlingswelle, und 2015
zur Flüchtlingskatastrophe – für wen katastrophal?
Was wäre damals den jüdischen
Flüchtlingen widerfahren, hätten alle Staaten
ihre Grenzen dicht gemacht? Auch der
geistige Klimawandel hat längst begonnen.
Österreichs jüdische Gemeinden können
heute mit starker Stimme für sich eintreten
und auf den Schutz und die Wertschätzung
der Republik zählen, daher erlaube ich mir,
hier ein Wort für die Schwächsten unserer
Gesellschaft einzulegen: Wenn in Flüchtlingen
nur mögliche Messerstecher und Vergewaltiger
gesehen werden, wenn in Überlebenden
der syrischen Foltergefängnisse
nur potenzielle Attentäter gefürchtet werden,
welchen Sinn hat unser Bemühen um
Vermittlung der Schoah? Leon Zelman erzählte,
wie er 1946 unfreiwillig, weil durch
die Lagerqualen schwer krank und traumatisiert,
in Wien strandete. Er betonte, dass
er nicht etwa vom österreichischen Staat,
sondern vom amerikanischen Hilfskomitee
Joint versorgt wurde, ich zitiere: „Den
meisten Österreichern allerdings war diese
Überlegung ebenso gleichgültig wie unsere
Vorgeschichte. Sie neideten uns die Zuwendungen,
[…] ohne wissen zu wollen, was
wir durchgemacht hatten. Sie sahen in uns
hauptsächlich ein Ausländerproblem.“ Die
Berichte von Auschwitz-Überlebenden rühren
zu Tränen, doch Flüchtlinge werden in
ihre lebensgefährlichen Systeme zurückgeschickt?
Niemand verlässt Heimat und Familie
grundlos und leichtfertig. Was aus
Auschwitz gelernt werden muss, ist doch
dies: nicht Gegenmensch, sondern Mitmensch
zu sein. Wenn Menschen in Österreich
Aufnahme finden, sind sie, wie alle
„Einheimischen“, nicht nur der Verfassung
und den Gesetzen unserer Demokratie verpflichtet,
sie erhalten auch Anteil an unserer
Kultur und Bildung und dadurch an
unserem kollektiven Gedächtnis. Dann ist
Auschwitz auch ihnen anvertraut.
Martha Keil ist Leiterin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs
(injoest.ac.at) sowie Senior Scientist am Institut für österreichische Geschichtsforschung
der Universität Wien.
wına-magazin.at
15
NACHRICHTEN AUS TEL AVIV
Tel Aviv im
Ausnahmezustand –
wie überall
Das Coronavirus hat Tausende von Israelis angesteckt,
erste Todesfälle verursacht und nach mehr als einem Jahr
eine neue Regierung produziert.
och wird jeder einzelne Todesfall, der
auf COVID-19 zurückgeht, gezählt und
explizit erwähnt. Bei Redaktionsschluss
gibt es in Israel, verglichen mit anderen
Ländern, bisher tatsächlich nicht viele
Corona-Opfer. Insgesamt fünfzehn,
hieß es heute früh im Radio. Und mittlerweile gehört
auch Benny Gantz’ Blau-Weiß-Bündnis dazu.
Es ist zerbrochen, nachdem Gantz sich nach einem
Wahlkampf gegen Benjamin Netanjahu entschieden
Ausnahmesituation und schwere
Krisen sind in Israel nichts Unbekanntes.
Bloß ist der Feind diesmal unsichtbar.
Und es gibt ihn überall.
hat, sich einer Einheitsregierung mit Netanjahu anzuschließen.
Die Einflusssphäre des Virus hat sich
somit auch auf die Politik erstreckt.
Auf Facebook schrieb Gantz: „Wir sind an einer
Weggabelung angekommen, an der einige meiner
Freunde fanden, dass Wahlen dem Versuch, Kompromisse
zu finden, vorzuziehen wären. Ich werde
nicht derjenige sein, der nicht versucht hat, die fortgesetzten
Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit für
wenigstens ein weiteres Jahr zu verhindern, ich
werde nicht derjenige sein, der nicht versucht
hat, eine vierte Wahl zu verhindern, und ich
werde nicht derjenige sein, der sich der Kran-
Von Gisela Dachs
kenbahre in nationalen Notzeiten verweigert.“ Alle
seine Versuche, das Blau-Weiß-Bündnis doch noch
zusammenzuhalten, hätten nichts gefruchtet. Die
Abtrünnigen in seiner Partei wiederum unterstellen
Gantz, dass er von vorneherein auf genau dieses
Szenario hingearbeitet habe. Ein ewiger Zweiter sozusagen,
bar jener für Spitzenpolitiker so charakteristischen
Antriebskraft, es bis nach ganz oben schaffen
zu wollen.
Jedenfalls wird es nun endlich wieder eine richtige Regierung
geben. Eine Neuwahl im September ist somit erst
einmal vom Tisch, wenn das praktisch überhaupt
möglich wäre. Keiner weiß, wie sich die Corona-Pandemie
weiterentwickeln wird. Auch die Gantz-Wähler
sind deshalb in zwei Lager gespalten. Das eine
bringt Verständnis dafür auf, dass man in Zeiten wie
diesen alles tun muss, um eine funktionsfähige Koalition
hinzubekommen, auch wenn dies jetzt eben
nur mit Netanjahu an der Spitze geht. Das andere
Lager ist entsetzt darüber, was mit ihren Stimmen
passiert ist. Sie haben schließlich Gantz gewählt, weil
er sich als Alternative zu Netanjahu präsentiert hat.
Aber da war der Corona-Virus noch in seinen Anfangszeiten.
Inzwischen ist das öffentliche Leben
völlig zum Stillstand gekommen. Auch ist das Gerichtsverfahren
gegen Netanjahu, das Ende März
hätte beginnen sollen, verschoben worden. In der
Fernsehsatire Eretz Nehederet (Ein wunderbares Land)
ironisiert die Figur des amtierenden Premiers:
„Ihr wolltet alle, dass ich im Gefängnis sitze,
16 wına | April 2020
jetzt seid Ihr alle eingesperrt, und ich bin der einzige,
der frei herumlaufen darf.“
Vereinbart ist eine Rotation an der Spitze der Regierung.
Die ersten achtzehn Monate wird Netanjahu
Regierungschef bleiben, dann soll Gantz übernehmen.
Bis dahin aber kann noch viel passieren. Gantz
soll nun erst einmal Verteidigungsminister werden.
Vor allem aber geht auch das Justizministerium in
die Hände seiner Restverbündeten. Damit will er die
Schwächung des Rechtssystems aufhalten, eines der
Hauptziele der Regierung in den vergangenen Jahren.
Auch soll das Kulturministerium nicht mehr in
den Händen von Miri Regev bleiben, deren Vorstellungen
sie auf Konfrontationskurs mit der kritischen
Kunstszene im Land gebracht hat.
© flash90
Doch sind dies nicht die wichtigsten Dinge, die die Menschen
gerade beschäftigen. Israel hat früher
und flexibler auf die Krise reagiert
als Europa. Die Grenzen waren bald geschlossen.
Man hat sofort mit Fernunterricht
in Schulen begonnen und die
Dozenten an den Universitäten auf das
Online-Teaching vorbereitet, so dass das Semester
fast wie geplant beginnen konnte. Aber es gibt hier
im Vergleich auch weniger Krankenbetten und Beatmungsmaschinen.
In Bnei Brak und in Mea Shearim
hielt man sich anfangs zudem nur sehr bedingt an
die Anordnungen der „säkularen Regierung“.
Die aktuellen Angaben (Stand: 31. März) beziffern
sich auf 4.831 Fälle von Ansteckungen. 80 sind in kritischem
Zustand. Auch bittet man im Radio gerade
eindringlich, diesmal den Sederabend nur im engsten
Familienkreis zu feiern, also n-i-e-m-a-n-d-e-n
einzuladen. Mit Großeltern wird schon länger nur
mehr aus der Ferne kommuniziert. Das Straßenbild
im sonst so lebendigen Stadtzentrum von Tel Aviv
macht depressiv. Beim Einkauf dürfen neuerdings
nur mehr eine bestimmte Anzahl an Kunden gleichzeitig
in den Laden. Man fragt sich auch, wie viele
der vielen kleinen Läden auf der Ben Jehuda nach
der Krise wohl noch über genug Ressourcen für eine
Wiedereröffnung verfügen werden.
Ausnahmesituationen und schwere Krisen sind in Israel
nichts Unbekanntes. Bloß ist der Feind diesmal
unsichtbar. Und es gibt ihn überall. Das verbindet.
Während man sich bei früheren Krisen oft schwer
tat, den Menschen anderswo die eigenen Lebensumstände
zu vermitteln, fällt das gerade sehr leicht.
Das Straßenbild im sonst so lebendigen
Stadtzentrum von Tel
Aviv macht depressiv.
Am Strand von Tel Aviv.
Das Leben geht weiter. Sich
an die Lebensumstände
anzupassen, daran ist man
in Israel gewöhnt.
WIR WÜNSCHEN
IHNEN EIN
FROHES UND
VOR ALLEM
GESUNDES
PESSACHFEST
IHR GRÜNER KLUB
IM PARLAMENT
wına-magazin.at
17
ISRAEL BLOG
Die Helden
der Nachbarschaft
Dieser Monat war eine Herausforderung für uns alle,
aber die Momente der Solidarität und Menschlichkeit
machten ihn zu einem ganz besonderen Monat.
Trotz vieler leerer Regale bemüht sich
das Personal, Ordnung zu halten.
s gehört viel Geduld dazu, Distanz in der
Schlange vor dem Supermarkt einzuhalten.
Seitdem es fast täglich Updates vom Gesundheitsministerium
gibt, wie man sich richtig
verhalten soll, wenn man das Haus verlässt,
steigt die Unsicherheit. Muss ich Handschuhe
tragen beim Einkauf, soll ich mir eine Schutzmaske besorgen,
gehöre ich vielleicht zu der Risikogruppe, die
den Supermarkt gar nicht betreten
soll? Solche und andere Fra-
Von Iris Lanchiano
gen gehen einem durch den Kopf,
bevor man die Reise um Lebensmittel und Haushaltswaren
antritt.
Vor meinem Supermarkt steht Sicherheitsmann Vitali,
der diese angespannte Situation etwas erträglicher
macht. Vitali ist Mitte sechzig, hat einen Schnurrbart
und einen Bierbauch. Er hat eine Zahnlücke, die nicht
zu übersehen ist, denn er lacht sehr oft. Er sitzt auf einem
Hochstuhl beim Eingang des Victory-Supermarkts
in der Lincoln-Straße in Tel Aviv. Vitali kommt jeden Tag
mit dem Fahrrad in die Arbeit, und nach seiner Schicht
packt er frisches Gemüse, Schwarzbrot und ab und zu
auch eine Flasche Vodka in seinen Fahrradkorb. Ihm gegenüber
sitzt Mischa, er ist zur Unterstützung gekommen,
da es in diesen Tagen viele gereizte Gemüter gibt
und die beiden dafür sorgen müssen, dass alles nach
den neuen Verordnungen glatt abläuft.
Nachdem ich 15 Minuten vor dem Supermarkt in der
Schlange stehe, darf ich endlich hinein. Vitali winkt
mich rüber, und ich mache automatisch meine Einkaufstasche
auf, damit Mischa sie kontrollieren kann.
Bevor ich den Supermarkt betreten darf, sagt Vitali
zu mir: „Zuerst die Kontrolle vom
Doktor.“ Wir lachen, und er hält
mir das Fieberthermometer an den
Kopf. „Du darfst eintreten“, sagt Vitali.
Bis zu diesem Zeitpunkt habe
ich das nur in den Nachrichten gesehen,
aber jetzt wird auch hier Fieber
gemessen. Ich bedanke mich
bei ihm, dass er unter diesen Umständen
noch arbeitet, und packe
meine Einkaufsliste aus meiner Jackentasche.
Er lächelt und sagt: „Wir haben keine Wahl,
wir müssen weiterarbeiten, das sind die Vorschriften.”
Seine gute Laune bleibt unverändert. Bevor er die
nächste Person zu sich bittet, langt er zu seinem Fahrradkorb
und schiebt sich eine Erdbeere unter seiner
Schutzmaske in den Mund.
Trotz vieler leerer Regale bemüht sich das Personal,
Ordnung zu halten. Die Kassiererinnen sind geduldig
und freundlich. Die Kunden nehmen aufeinander
Rücksicht und drängeln nicht an der Kasse. Viele Supermärkte
bieten Zustellservice und Onlinebestellungen
an, doch aufgrund der hohen Nachfrage kann die
Lieferung bis zu einer Woche dauern. In meiner Nachbarschaft
ist der Supermarkt gut besucht und für die
meisten der einzige Kontakt zur Außenwelt. Für mich
ist es auf jeden Fall mein Highlight, denn in der Küche
finde ich meinen Trost in dieser Zeit.
Im gegenüberliegenden Haus wohnt eine junge Familie
mit drei kleinen Kindern und einem wunderschönen
Balkon mit wuchernden Pflanzen. Am Freitagnachmittag
höre ich die Kinder kichern und laut
von ihrem Balkon im dritten Stock runter rufen: „Opa,
Oma!“ Auf dem Gehsteig stehen ihre Großeltern, die ihnen
mit ausgestreckten Armen zuwinken. Es wird geplaudert,
und die Kinder erzählen, was sie schon alles
zuhause gemacht haben. Die Mutter holt die Zeichnungen
der Kinder, und diese halten sie stolz in Richtung
ihrer Großeltern. Langsam,
langsam lassen die Kinder an einem
Seil ein kleines Paket herunter:
„Wir haben für euch Challa gebacken.
Schabbat Schalom!“ Die
Großeltern nehmen das Paket entgegen
und verabschieden sich. Zwischenmenschliche
Beziehungen in
Zeiten von Corona.
Supermarktangestellte arbeiten
auch in der Coronakrise auf Hochtouren.
© flash 90
18 wına | April 2020
HIGHLIGHTS | 02
Energie
mit Monokel
Zum 124. Geburtstag des Dadaisten
und Poeten Tristan Tzara am 16. April.
Ombula take biti solunkola tabla
tokta tokta takabla taka tak.“ Das
schallte 1916 von der Bühne des Zürcher
Cabaret Voltaire. Das gab der totenbleiche
Hugo Ball von sich. Dada kam zur
Welt. Die kleine Gruppe der Dadaisten
fragte sich und andere: „Was ist dada?
Eine Kunst? Eine Philosophie? Eine Politik?
Eine Feuerversicherung? Oder: Staatsreligion?
Ist dada wirklich Energie? Oder ist
es gar nichts, d. h. alles?“ Einer der Oberdadaisten
und schier berstend vor vitaler
Energie: der knapp mittelgroße rundbebrillte
Tristan Tzara aus Paris, ein gebürtiger
Rumäne, der eigentlich Samuel Rosenstock
hieß und Französisch mit noch
immer starkem Akzent sprach. 1896 im
rumänischen Moinesti geboren, gehörte
er 1916 in Zürich mit seinem Freund und
Landsmann Marcel Iancu/Janko, mit dem
er schon 1912 eine Zeitschrift gründete,
dem gebürtigen Elsässer Hans/Jean
Arp, dem in die Schweiz emigrierten
pazifistischen Autor Hugo Ball,
Emmy Hennings und Richard Huelsenbeck
zu den Gründern von Dada,
das mit allen sprachlichen Konventionen
brechen wollte und dabei ausdrücklich
den Eklat und den Schock
miteinbezog. 1919 zog er nach Paris. Dort
heiratete der Monokelträger reich, ließ
sich von Adolf Loos in Montmartre ein
extravagantes Haus bauen, schloss sich
in den frühen 1930er-Jahren den Pariser
Surrealisten an und trat der KPF bei, die
dem damals staatenlosen Juden als einziger
Widerstand gegen den Faschismus
erschien, kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg,
engagierte sich nach 1940 aktiv
in der Résistance. Bis zu seinem Tod
1963 schrieb er Gedichte, die, unverdient,
kaum bekannt sind. A.K.
www.tipp
Zoom – Videokonferenzen
in Zeiten der sozialen
Distanzierung
So beliebt waren Videochats noch nie.
In Zeiten, in denen der soziale Kontakt
fast gänzlich eingeschränkt ist und viele
von zuhause arbeiten, bieten Apps wie
Zoom eine interessante Alternative, um
mit seinen Liebsten und Arbeitskollegen
in Kontakt zu bleiben. Die kostenlose
Version bietet bis zu 40 Minuten Teamvideokonferenzen
mit bis zu 100
Teilnehmern.
zoom.us
Tristan Tzara
(1896–1963),
eigentlich Samuel
Rosenstock,
gehörte zu den
Gründern von
Dada.
WINA PLOTKES
Die lang ersehnte
Hitserie Fauda ist
zurück
Mitte April erscheint die dritte Staffel
der Erfolgsserie Fauda auf Netflix. Die
Serie rund um Doron Kavillio (Lior Raz) und
seine Spezialeinheit feierte 2015 ihr Debüt
und ist seither ein weltweiter Hit. Letztes
Jahr schaffte sie es unter die Top Ten der
New York Times-Liste der besten internationalen
TV-Shows des Jahrzehnts.
Fauda (arabisch für „Chaos“) wurde von
Lior Raz, der auch die Hauptrolle spielt, und
dem Journalisten Avi Issacharoff kreiert und
erzählt die Geschichte einer Undercover-
Spezialeinheit der israelischen Streitkräfte.
In der dritten Staffel arbeitet Doron Kavillio
getarnt als Boxlehrer in einem Sportverein,
der einem hochrangigen Hamas-Mitglied
gehört. Nach zahlreichen tödlichen Zusammenstößen
mit der Hamas und einem tragischen
Vorfall, der die Moral des Teams
stark erschüttert, befinden sich Kavillio und
sein Team auf unbekanntem Gebiet: Gaza.
Unterstützung bekommt das Team diesmal
von der Sängerin und Schauspielerin
Marina Maximilian, die eine Ermittlerin des
Shin Bet spielt.
Raz und Issacharoff wurden zu Stars nach
den ersten Staffeln und reisten mit der Serie
um die Welt. Die beiden stehen für Netflix
auch hinter der neuen Action-Serie Hit
& Run. Raz wird dabei ebenfalls nicht nur
als Produzent fungieren, sondern auch als
Hauptdarsteller vor der Kamera stehen. Erst
kürzlich war er im Netflix-Film 6 Underground
in der Regie von Michael
Bay mit US-Star Ryan Reynolds
zu sehen. I.L.
Hauptdarsteller und
Co-Creator Lior Raz wurde
durch Fauda international
bekannt und arbeitet schon an
der nächsten Serie für Netflix.
© Henri Martinie/Roger Viollet/picturedesk.com; zoom.us; Oded Balilty/picturedesk.com
wına-magazin.at
19
20 wına | April 2020
„,Vienna waits for you‘,
singt Billy Joel – er weiß, warum.“
MEN T SCHEN: PAUL GULDA
„Das Virus sollte Anlass geben,
über Gerechtigkeit zu denken.“
Pianist, Komponist, Dirigent, Dozent: Als Sohn des Pianisten
Friedrich Gulda und der Schauspielerin Paola Loew, die auch mit dem Schriftsteller
Friedrich Torberg eine Beziehung führte, war Paul Gulda bereits in jungen
Jahren von den schönen Künsten umgeben.
Redaktion und Fotografie: Ronnie Niedermeyer
WINA: Ihre Mutter hatte ein turbulentes Leben. Geboren in Italien,
verbrachte sie die Kriegsjahre in Argentinien und lernte dort Ihren
Vater kennen. In Wien spielte sie in Filmen, am Volks- wie auch am
Burgtheater. Naheliegend ist, dass Sie als Musiker von Ihrem Vater
stark geprägt wurden. Inwieweit wurde Ihr Schaffen auch von Ihrer
Mutter beeinflusst?
Paul Gulda: Stark. Ich war bei der Scheidung der Eltern vier
Jahre alt, und wer zuhause Klavier spielte, das war sie, die in
ihrer Jugend von einer Bartók-Schülerin erstklassigen Unterricht
bekommen hatte. Sie war es, mit der ich dann erste Erfahrungen
im Ensemblespiel sammelte; wir haben uns vierhändig
durch Symphonien gebüffelt; ich spielte Klarinette, sie
den schweren Klavierpart einer Brahms-Sonate, ich barocke
Flötensonaten, sie Continuo. Unsere besten Stunden zusammen.
Meine Affinität zu Theatermusik – ich habe das ab 1995
mit Freude einige Male verantwortet – stammt von dort, und
ihre große Bibliothek begleitete mich damals und tut es noch
heute. Wenn ich heute komponiere, dann meist Gedichtvertonungen
– die Liebe zu den vielen Sprachen (eine polyglotte
Gesellschaft waren wir) ist mir geblieben. Auf einer tieferen
Ebene noch: Da war ein ewiges Streben bei meiner Mutter in
Sachen Musik – das habe ich auch. Vater dagegen: Es war zwar
nicht so, aber es schien ihm alles in den Schoß gefallen zu sein.
Welche Rolle spielte daheim das Judentum? Welche Rolle spielt das
Judentum in Ihrem heutigen Leben und Ihrer Arbeit?
I Hier ist gleich Friedrich Torberg zu nennen, der Lebenspartner
meiner Mutter nach der Scheidung. Mit ihm wurde Judentum
bewusst wahrgenommen – mein Großvater Loew war dagegen
sehr säkular. Religiös ist Mami nicht geworden, aber,
wie Torberg, gesellschaftlich dezidiert jüdisch. Heute speist
sich meine Spiritualität aus diversen Quellen; darunter auch
dem Judentum. Als Musiker lege ich seit 30 Jahren ein Augenmerk
auf jüdische Komponisten, oft auch verknüpft mit Literatur.
2018 habe ich ein Gedicht von Jehuda Amichai in Iwrit
vertont. Das war kurz nach einer Schönberg-Phase, beides zusammen
hat die Erfindung in ganz neue Richtungen gelenkt;
ein Nigun wird auch zitiert. Und mit Shmuel Barzilai bin ich
oft aufgetreten – Opas Großvater war übrigens Chasan in Oradea/Nagyvárad.
Sehr gern spiele ich für Centropa oder im
Maimonides. Dieses Publikum saugt die Musik förmlich auf!
Und eine CD mit der israelischen Sängerin Shira Karmon ist
in Vorbereitung. Da ist das Jüdische zentral, aber Beethoven
und Mozart desgleichen.
Ab dem 15. Lebensjahr wurde Ihr Vater zu Ihrem Klavierlehrer. Wie
haben Sie das damals als Teenager empfunden?
I Es war sehr ehrenvoll, dass er das ernst nahm, aber auch
(über)fordernd. Denn bis dahin war die Methodik meines Unterrichts
schwach. Als Musiker konnte man von Friedrich Gulda
so viel lernen – als Pianist sehr wenig. Er hatte Basisprobleme
längst hinter sich gelassen, konnte sie auch nicht lösen. Er hat
auch ganz vehement die Beschäftigung mit Jazz gefordert – was
in seiner Jugend, nach der NS-Diktatur, enorm wichtig war. Für
mich war das ein wenig Zwangsbeglückung. Aber ich bin natürlich
froh, dass ich improvisieren kann. Das müsste tatsächlich
viel mehr in die Studiengänge einfließen. Nicht wegen Jazz per
se, sondern wegen der musikalischen Eigenkreativität.
„Musikstadt Wien“: Wie wahr ist dieses Klischee heute?
I Aus meiner Sicht: kein Klischee. Die Dichte an Konzerten,
Ausbildung, kreativen Köpfen sucht immer noch Ihresgleichen,
finde ich. Nennen wir auch ruhig den Faktor Wertschöpfung
– es ist ein Markenzeichen der Stadt, ein Magnet.
Ich wohne in Döbling, unweit der Beethoven-Häuser. Das Fluidum
ist immer noch da; die Sprache, die Gassen, die Lokale.
„Vienna waits for you“, singt Billy Joel. Er weiß, warum.
Aufgrund der Sicherheitsvorkehrungen rund um das Coronavirus
wurden zahlreiche Konzerte abgesagt. Wie gehen Sie und andere Musiker
damit um?
I Bei den Musikern ist es so wie überall: Die in abgesicherter
Stellung haben plötzlich viel freie Zeit bei vollem Bezug. Die
freien Künstler wie ich dürfen Formulare ausfüllen. Und wer
denkt an die sozial ganz Schwachen, an Asylwerber, Flüchtlinge?
Das sollte der Anlass sein, über gerechtere soziale Lösungen
nachzudenken. Modelle gibt es, z. B. in Belgien. Und/oder
gleich ein bescheidenes Grundeinkommen für alle.
Angenommen, Budget und Publikumsinteresse wären kein Thema:
Welches Projekt würden Sie verwirklichen?
I Mich interessiert das ganze weite Feld. Ich habe schon viele
ungewöhnliche Projekte realisiert und war immer zuversichtlich,
dass es Publikum findet. Und wenn nicht – mach ich's
für mich. Wenn Sie mir etwas schenken wollen, dann wünschen
Sie mir bis 120, damit mir genug Zeit bleibt, neugierig
und schöpferisch zu sein. Wenn ich einmal sagen kann,
ich habe die Menschen etwas gelehrt, aber noch viel mehr
bewegt – dann bin ich glücklich.
wına-magazin.at
21
„
Illustrierte Neue Welt
hre kleine Erscheinung täuscht. Joanna
Nittenberg ist nicht zu übersehen. In der
„jüdischen Gasse“ scheinbar allgegenwärtig,
ist die Journalistin bei kulturellen
und gesellschaftlichen Events ebenso
präsent wie bei politischen Diskussionen
oder wenn es um Angelegenheiten der Gemeinde
geht. Und wenn sie für einige Zeit
im Jahr in Tel Aviv wohnt, dann verlegt
sie ihre diesbezüglichen Aktivitäten eben
dorthin und breitet ihr Netzwerk von Exil-
Österreichern und entsprechenden Gesinnungsgenossen
sogar am Strand um sich
herum aus. Ihr professionelles Interesse
an Neuigkeiten und Menschen kommt ihrer
grundsätzlichen Neugierde entgegen,
und das Ergebnis von beidem fließt gedruckt
viermal jährlich in die Illustrierte
Neue Welt ein, die sie seit 1974 „ihr Baby“ ist.
„Du darfst mich nicht unterbrechen“,
lautet ihre Anweisung zu Beginn unseres
Gesprächs, das daher nicht als klassisches
Frage-Antwort-Interview geführt werden
kann und in dem auch einiges Off the record
zur Sprache kommen wird, wie es
eben ist, wenn man sich schon lange, sehr
lange kennt.
Lemberg. Hanias Eltern stammten beide
aus Lemberg, sie haben sich dort im Jüdischen
Gymnasium kennengelernt und
noch vor dem Krieg 1938 geheiratet.
„Mein Großvater war ein großer Anhänger
des Deutschen. Und obwohl mein Vater
aus einem religiösen jüdischen Haus
Die Journalistin Joanna
Nittenberg. Ihre Geschichte
und ihre Zeitung.
Aufgezeichnet von Anita Pollak
kam, ging er in eine evangelische deutsche
Volksschule, das Deutsche hat ihm
dann später sehr geholfen.“
Zum ungünstigsten Zeitpunkt, am ungünstigsten
Ort, mitten im Krieg und mitten
im Ghetto von Lemberg wurde dann
Hania, ihr einziges Kind, geboren.
„Als es im Ghetto eine Razzia gab, haben
sie mich einem Ukrainer übergeben,
den mein Vater vom Studium kannte, und
der hat mich als sein Kind ausgegeben.
Da war ich sechs Monate alt. Mein Onkel
hat mich manchmal besucht und gemeint,
ich wurde nicht besonders gut behandelt,
aber ich kann mich absolut nicht
erinnern.“
Bis Kriegsende blieb Hania bei der ukrainischen
Familie versteckt. Ihre Eltern
waren aus dem Ghetto geflüchtet und
dann über eine Organisation der katholischen
Kirche mit arischen Papieren nach
Szeged in Ungarn gekommen und haben
dort „irgendwie“ überlebt.
„Meine Mutter ist mich gleich nach
1945 suchen gegangen. Sie ist die eigentliche
Heldin. Sie war immer so bescheiden,
aber wenn sie zu etwas nein gesagt
hat, dann konnte sich mein Vater auf den
Kopf stellen. Sie hat sich alleine nach Polen
aufgemacht und wurde anfangs als
Spionin verdächtigt und kam sogar kurz
ins Gefängnis. Der Bruder meines Vaters,
der eine hohe Position beim russischen
Militär hatte, kam dann nach Warschau
zurück und hat meiner Mutter geholfen.
Die ukrainische Familie, bei der ich war,
wollte mich nicht hergeben, denn ich war
sozusagen ein Pfand, dass sie ein jüdisches
Kind gerettet hatten, weil sie mit den
Deutschen zusammengearbeitet hatten.
Man hat mich bei Nacht und Nebel gestohlen
und nach Ungarn gebracht. Ich war ein
schwer geschädigtes, krankes Kind, hatte
Rachitis und alles Mögliche.“
Nachkriegszeit. Wien, wohin die kleine
Familie als Flüchtlinge 1946/47 gelangte,
sollte nur eine Zwischenstation auf dem
Weg nach Israel bzw. Palästina sein. Die
erste Anlaufstelle war, wie für sehr viele,
das Displaced-Person-Lager im Rothschild-Spital.
„Dort haben wir zu sechst
in einem Zimmer gewohnt, gemeinsam
mit anderen Flüchtlingen und alle immer
auf Koffern. Daran hab‘ ich noch Erinnerungen.
Zu den anderen Flüchtlingen gab
es engen Kontakt, sie waren eine Art Familienersatz,
und mein Vater war dort bald
in einer leitenden Position.“
Seine Kontakte zu Flüchtlingen sollten
die zukünftige Berufslaufbahn Anton
Winters bestimmen, der noch in Lemberg
Jus studiert hatte und dann in Wien eine
Kanzlei eröffnete. Der Anwalt Dr. Winter
war im Nachkriegswien und bis zu seinem
© Petra Paul
22 wına | April 2020
Weltweit vertrieben
Jetzt kommt
die Vergangenheit
immer stärker zurück“
Tod 2002 eine bekannte jüdische Persönlichkeit,
dem viele Menschen viel zu verdanken
hatten. „Er hat Leuten, die keine
Staatsbürgerschaft hatten, zur Einbürgerung
verholfen, später auch Russen, die in
den 90er-Jahren gekommen sind. Eigentlich
war er Strafverteidiger und spezialisiert
auf Schmuggelgeschichten, und ich
erinnere mich, dass man ihn öfter während
der Feiertage aus der Synagoge rausgeholt
hat. Denn in Wien wurden die Leute
am liebsten zu den Feiertagen verhaftet,
weil dann die Kaution höher war. Einmal,
als er schon Vizepräsident der Kultusgemeinde
war, haben Neonazis am Karmeliterplatz
einige amerikanische religiöse
Juden angepöbelt, die haben die Angreifer
spitalsreif geschlagen und wurden daher
verhaftet. Da hat die Polizei meinen
Vater angerufen, denn diese amerikanischen
Juden wollten im Gefängnis koscheres
Essen etc. Daraufhin hat die Kultusgemeinde
eine Kaution gezahlt, und die
Amerikaner gingen frei.“
Anton Winter, religiös erzogen und seit
früher Jugend sehr zionistisch, war 40
Jahre lang Präsident von Keren Hajessod.
„Er stammte aus einer sehr reichen Familie.
Ich hab‘ in Lemberg das Haus meiner
Großeltern gefunden und am Giebel steht
noch immer SW – Salomon Winter.“
Nach dem Krieg war es aber die eher
modern aufgewachsene Mutter, die religiöser
wurde und einen koscheren Haushalt
führte. Die Tochter erzogen sie liberal
und selbstbewusst jüdisch. Eine Episode
aus ihrer frühen Schulzeit findet sie diesbezüglich
bemerkenswert:
„Wir haben in einem arisierten Haus
gewohnt, in einem Zimmer, das andere
war total zerbombt. Nebenan wohnten
noch eine Grete und ein Hans, und wir
Kinder waren befreundet. Einmal hat
mich die Grete nach der Schule in einen
deutschen Turnerverein mitgenommen.
Meine Eltern haben mich überall gesucht,
bis sie erfahren haben, wo ich war. Dann
haben sie sich getraut, dort hineinzugehen
und mich rauszuholen und gesagt:
Dort hast du nichts verloren. Das zeigt
schon das Selbstbewusstsein, dass entstanden
ist.“
Aus ihrer eigenen Schüchternheit
habe sie aber erst die links-zionistische
Jugendbewegung Haschomer Hazair befreit.
„Da waren rückblickend betrachtet
alle geschädigt. Es war auch der einzige
Ort, wo österreichische und Juden
von auswärts beisammen waren, denn in
die Synagoge sind wir damals nicht hineingekommen.
Wir beteten früher in so
kleinen Schils (Betstuben), im Pax zum
Beispiel. Im Schomer gab es tolle Diskussionen
und viele Freundschaften, aber irgendwann
bin ich rausgeschmissen worden,
weil ich Stöckelschuhe getragen und
am Bal Paré getanzt habe. Dort habe ich
auch meinen Mann kennengelernt.“
Ihr Mann, Jizchak Nittenberg, kam
nach der Befreiung in Mauthausen mit
einem Kindertransport nach Israel in einen
Kibbuz, den er später verließ, um zu
studieren. In Wien wurde er schließlich
Augenarzt.
„Jizchak war als Kind im KZ, darüber
hat er nie gesprochen. Er hat mit seinem
Bruder überlebt, seinen Vater hat man vor
seinen Augen am Todesmarsch erschossen.
Erst drei Jahre später hat die Mutter
ihre beiden Söhne gefunden.“
Hania begann zu studieren, heiratete
jung und stellte nach der Geburt ihres
zweiten Kindes fest, „dass ich mich nicht
zur Hausfrau eigne. Ich hab dann mein
„Mein Vater hat
Leuten, die keine
Staatsbürgerschaft
hatten, zur Einbürgerung
verholfen.“
Joanna Nittenberg
unterbrochenes Studium der Zeitungswissenschaften
mit einer Dissertation
über Kurt Tucholsky beendet. Damals waren
an diesem Institut unter den Professoren
und den Studenten noch viele mit
nazistischer Gesinnung.“ Denen die Studentin
aber mit ihrem neu gewonnenen
Selbstbewusstsein begegnete.
„Neue Welt“. Nach einer kurzen Zeit im ORF
ergab sich 1974 die Gelegenheit, die traditionsreiche
jüdische Zeitung Neue Welt gemeinsam
mit Marta Halpert zu übernehmen.
Seit Ende der 1980er-Jahre ist Franz
C. Bauer mit ihr journalistisch für das Blatt
verantwortlich.
„Die Zeitung war immer unabhängig,
und mehr als der finanzielle Erfolg war und
ist mir wichtig, dass die Leute das Blatt bekommen.
Wenn die Abos gezahlt würden,
ginge es natürlich besser. Die Zeitung wird
weltweit vertrieben und geschätzt. Vor allem
auch die Nachkommen österreichischer
Juden in Israel, in England und den
USA schätzen uns sehr. Wir haben auch
viele nicht jüdische Leser. Unser thematischer
Fokus ist das europäische Judentum
und die Aufklärung über Israel. Über
die heutige Wiener Gemeinde schreiben
wir nur wenig, dafür gibt es ja genug andere
Medien. Ich denke, dass Österreich
eine Verpflichtung hat, diese Zeitung aufrecht
zu erhalten, denn sie geht auf eine
Gründung der Zeitung Neue Welt zurück, die
Theodor Herzl 1897 anlässlich des ersten
Jüdischen Weltkongresses gegründet hat.“
Deren Geschichte ist in dem Band
Wandlungen und Brüche nachzulesen, den
Joanna Nittenberg in der Edition INW herausgegeben
hat. Außerdem sind in der
INW Edition noch mehrere andere Bücher
erschienen.
Ans Aufhören denkt Hania überhaupt
nicht, vielleicht auch, weil sie ihre diversen
Aktivitäten von manchen Gedanken
ablenken.
„Jetzt im Alter kommt die Vergangenheit
immer stärker zurück, vor allem
auch die Geschichte meiner Eltern und
die Folgen der Schoah. Ich glaube, dass
ich ein sehr ängstliches Mädchen war. Ich
hatte lange wenig Selbstvertrauen, das zu
überwinden, hat mir erst viel später mein
Mann geholfen. Dass Jizchak 1975 so jung
gestorben ist, war sicher auch eine Spätfolge.
Die Zeit nach seinem Tod war für
mich und meine beiden Kinder Daniela
und Ronnie die schwerste. Jetzt sind sie
natürlich längst erwachsen und führen
ihr eigenes Leben.“
wına-magazin.at
23
Einmann-Agentur
Homeoffice
statt Events
Daniel Bessler arbeitete viele Jahre als
selbstständiger Eventmanager und als DJ. Jetzt
unterstützt er den grundlegenden Umbau eines
internationalen Tabakkonzerns in Österreich.
Text und Foto: Reinhard Engel
Ein Interview in ungewöhnlichen
Zeiten. Die Skype-Verbindung
der Videokonferenz will nicht so
recht klappen zwischen den Welten von
Microsoft und Apple. „Probieren wir es
mit Face Time.“ Daniel Bessler hat in den
letzten Tagen eine Vielzahl von Videokonferenzen
absolviert, ihn bringt ein kleines
technisches Problem nicht gleich aus
den Schienen.
Dabei ist auch in seiner täglichen Berufswelt
nichts wie früher. Seit mehr als
einem Jahr arbeitet er für den internationalen
Tabakkonzern Philip Morris, mit
mehr als 77.000 Mitarbeitern weltweit.
„Lead Hospitality & New Business. Events,
Horeca & B2B Partnerships“ steht auf seiner
Visitenkarte. Gemeint ist damit, dass
er sich um die Beziehungen zu Eventveranstaltern,
Hotellerie, Gastronomie und
Caterern bemüht.
„Philip Morris befindet sich in der
größten Transformation seiner Unternehmensgeschichte“,
erklärt er. „Das
kann man von der Größenordnung her
nur mehr vergleichen mit einer völligen
Umstellung eines Automobilerzeugers
auf Elektrofahrzeuge.“ Bei Philip Morris
sind in den letzten zehn Jahren dank
der Investition von mehr als sieben Mrd.
USD alternative Produkte entwickelt worden.
Das erfordert eine Vielzahl an Veränderungen
für das Unternehmen und
seine Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter. Die gesamte Organisation wurde auf
neue Beine gestellt und agiert nun „project-based“
und losgelöst von tradierten
Hierarchien.
Daniel Bessler ist seit etwas mehr als
einem Jahr Teil der ca. 70 Mitarbeiter zählenden
Österreich-Gesellschaft von Philip
Morris. „Ich war immerhin 15 Jahre
selbstständig, da überlegt man sich so einen
Wechsel schon genau.“ Auf ein entsprechendes
Angebot ging er nach eingehendem
Räsonieren ein: „Ich habe mir
gedacht, wenn sich so ein großes Unternehmen
traut, sich derart gravierend zu
ändern, dann traue ich mich auch.“ Im
Rückblick sollte es die richtige Entscheidung
gewesen sein: „Es ist eine extrem
spannende Arbeit.“
Bessler konnte selbst einiges bieten. Als
Ein-Mann-Eventagentur mit einem weit
gespannten Netzwerk hatte er etwa für
Großereignisse verantwortlich gezeichnet
wie die Mobile Marketing Innovation
Days, eine der größten Konferenzen zum
Thema „Mobile“ in Österreich. Sieben
Jahre hatte er diese organisiert, gemeinsam
mit einem Kollegen. Die Partner aus
der Wirtschaft trugen renommierte Namen:
T-Mobile, McDonald´s, Facebook,
Google und Microsoft. Aber er betreute
auch zahlreiche individuelle Firmenkunden,
darunter etwa die John-Harris-Fitnessstudios
in Wien.
Das war aber nur die eine Seite seiner
beruflichen Welt: „Montag bis Freitag
habe ich voll in meiner Agentur gearbeitet,
am Wochenende dann aufgelegt.“
Bessler war einer der bekanntesten und
beliebtesten österreichischen DJs, gebucht
nicht nur in Wiener Clubs, sondern
im ganzen Land. „Ich habe es gerne
gemacht“, resümiert er, „aber es war schon
extrem anstrengend: lange Nächte, man
musste immer gute Stimmung machen,
auch wenn man selbst müde war oder
nicht ganz so gut drauf.“ Die Arbeit erforderte
darüber hinaus große Disziplin. Drogen
waren ohnehin tabu, aber auch mit Alkohol
musste man vorsichtig sein, nicht
jede Einladung annehmen, ausreichend
Schlaf und Ausgleichssport waren ebenfalls
wichtig. Dennoch blieb es eine über
mehr als zehn Jahre anhaltende berufliche
Dauerbelastung, nichts, das man ewig
durchhalten kann.
Wie kam Daniel Bessler zu diesen Jobs? Er
besuchte als gebürtiger Wiener das Lycée
Français und übersiedelte nach der
Matura, dem Baccalauréat, ins englische
Nottingham, um dort Volkswirtschaft zu
studieren. Mit einem Master im Gepäck
kehrte er nach Österreich zurück und arbeitete
erst als angestellter Consultant, um
sich bald selbstständig zu machen.
24 wına | April 2020
Großes Netzwerk
© Nick Rainer
Daniel Bessler.
„Ich habe es gerne gemacht,
aber es war schon
extrem anstrengend.“
„Das kann man
von der Größenordnung
her
vergleichen mit
einer völligen
Umstellung eines
Automobilerzeugers
auf Elektrofahrzeuge.“
Daniel Bessler
Zu den Turntables kam er indirekt
durch seine Eltern. Sein Vater besaß eine
umfangreiche Plattensammlung zwischen
Pop, Blues und Jazz. „Und ich habe
mir die nicht nur angehört, sondern immer
wieder Kassetten aufgenommen und
meinen Schulfreunden gegeben. Irgendwann
wollten sie dann, dass ich bei Partys
auflege.“
Das waren einerseits Partys im privaten
Kreis, von Schülern des Lycée, anderseits
solche der linkszionistischen Jugendorganisation
Hashomer Hatzair. „Ich war ursprünglich,
von meiner Mutter her, bei der
Agudah gewesen, aber das war mir zu religiös.
Ich bin ein säkularer Jude. Beim Schomer
habe ich mich gleich wohl gefühlt, das
Zionistische hat mir gefallen.“ Selbst Alija
zu machen, stand für ihn nie zur Diskussion,
„dafür bin ich zu sehr Europäer.“ Aber
seine Schwester lebt seit zwei Jahren in Israel:
„Sie ist sehr glücklich dort, und ich
besuche sie gern.“
Von den Schüler- und Blauhemdenpartys
war es ein kurzer Weg auf die DJ-
Bühne. „Meinen ersten Auftritt habe ich
mit 18 gehabt, im Tanzcafé Grinzing“, erinnert
er sich. Dieser muss erfolgreich gewesen
sein, denn dann ging es ganz schnell
in andere Wiener Clubs, anschließend in
die Bundesländer.
„Das steht jetzt alles still“, bedauert er.
„Für die gesamte Event- und Gastronomieszene
ist die Lage momentan sehr schwer.“
Und auch er selbst ist froh darüber, trotz
Krise sein Gehalt zu bekommen. Aber
schon vorher hatte sich seine Lebensqualität
mit dem Übergang von der Ein-Mann-
Firma zum Angestellten eines Konzerns
deutlich verbessert. „Ich hatte auf einmal
einen wesentlich ausgeglicheneren Alltag,
eine bessere Work-Life-Balance. Und ich
habe das erste Mal seit zehn Jahren einen
Urlaub ohne Laptop machen können.“
Der Laptop ist jetzt im Homeoffice wieder
wichtiger geworden. Doch die „Corona-Zeit“
wird irgendwann zu Ende sein,
dann geht es wieder los. Und Bessler kann
sich auch vorstellen, für seine Arbeit in das
Ausland zu ziehen. „Vielleicht nicht gleich
jetzt, aber in ein paar Jahren. Warum nicht
in einem anderen europäischen Land für
Philip Morris Erfahrungen sammeln und
diese dann in Österreich umsetzen?“
wına-magazin.at
25
26
wına | April 2020
Nicolas Gold:
Dabegannichmich
in Wien zu
verlieben
NICOLAS GOLD
wurde 1985 in Rosario, Argentinien, geboren.
Im Rahmen von NAALE, einem Programm
für jüdische Jugendliche, zog er als Sechzehnjähriger
nach Israel. Nach Abschluss des
Architektur-Bachelors an der Universität von
Tel Aviv erlangte er 2018 seinen Master an der
Angewandten in Wien. Nach einigen Jahren
Arbeit als Grafikdesigner im Bereich des
3D-Modeling gründete er 2016 mit Markus
Schaffer das Designstudio SHEYN.
Foto & Redaktion: Ronnie Niedermeyer
Aufgewachsen bin ich in der jüdischen
Gemeinde von Rosario, Argentinien. Ich
besuchte die jüdische Schule, übte israelischen
Volkstanz, aß zu Pessach kein Chamez
und träumte von der Alija. 2002 war es dann soweit:
In Argentinien herrschte eine Wirtschaftskrise,
und viele jüdische Familien nahmen dies
als Anlass, in das Heilige Land zu ziehen. Da ich
mich schon seit meiner Kindheit für Architektur
und Design interessierte, begann ich 2005
an der Universität von Tel Aviv mein Architekturstudium.
Nebenbei arbeitete ich abends als
Grafikdesigner. Eines Tages erfuhr ich von Zaha
Hadids Masterclass für Architektur an der Universität
für angewandte Kunst in Wien. Ich war
noch nie in Wien gewesen und wusste auch
nicht viel über diese Stadt. Da ich aber schon
andere europäische Städte kannte, dachte ich
mir: Was wird in Wien denn schon anders sein?
Die Überraschung war vorprogrammiert. In Tel
Aviv hatte ich ein sehr spontanes Leben geführt:
Kurzfristig die Wohnung zu wechseln oder um
zwei Uhr früh etwas aus dem Supermarkt zu holen,
gehörte bei mir zur Norm. In Wien musste
ich vier Monate im Voraus den Mietvertrag unterschreiben
und um 18.50 Uhr noch rasch zum
Billa rennen, um mein Abendessen sicherzustellen.
Es dauerte seine Zeit, bis ich diesen Kulturschock
überwinden konnte. Und obwohl ich
mir sagte, dass ich nach Abschluss meines Masters
wieder zurück nach Tel Aviv ziehen würde,
begann ich während dieses dreijährigen Studiums
langsam, mich in Wien zu verlieben. Die
Gemütlichkeit, das Gefühl von Sicherheit und
Stabilität – das waren Dinge, die ich unterbewusst
immer gesucht hatte. In dieser Zeit lernte
ich auch Markus kennen, der heute sowohl mein
Geschäftspartner wie auch mein Lebenspartner
ist. Gemeinsam gründeten wir das Designstudio
SHEYN. Bekannterweise handelt es sich dabei
um das jiddische Wort für „schön“ – bei uns steht
es für Ästhetik und die Suche nach ansprechenden
Formen. Zudem betont die Wahl eines jiddischen
Namens den Schnittpunkt zwischen unseren
beiden Sprachen, Hebräisch und Deutsch.
TIPP: „Gottfried & Söhne“ heißt der von Elisabeth
Gottfried geführte Store im Jüdischen Museum
Wien. Hier findet man Arbeiten von israelischen
und jüdischen Designern – auch meine Schmuckkollektion
ist vertreten.
GENERATION UNVERHOFFT
„Das Judentum ist nicht nur Tod“
David Losonci war einzig durch seine Familiengeschichte mit
dem Judentum verbunden. Das will er nun ändern.
Die erste Israelreise bringt junge jüdische
Menschen oft näher zu ihren Wurzeln.
Text & Foto:
Auch bei David Losonci war das so, als
Anna Goldenberg
er 2014 gemeinsam mit seiner älteren
Schwester hinflog. Damals war er 25 und
hatte sein Jus-Studium in Wien beendet.
Die beiden besuchten Familie und sahen sich das Land an.
Und dann? „Ich habe beschlossen, Österreicher zu werden“,
sagt David. „Ich bin doch hier zuhause.“
Davids Mutter kommt aus der Slowakei, sein Vater aus
Ungarn. Geboren wurde David in Bratislava; als er zwei
„Es gibt nicht den Prototyp Juden,
das sollen die Leute sehen.“
Jahre alt war, kam die Familie nach Österreich. Bis vor
einigen Jahren war David, der neben Deutsch fließend
Ungarisch und Slowakisch spricht, ungarischer Staatsbürger.
David ging in Niederösterreich auf öffentliche
Schulen und war in nicht-jüdischen Kreisen unterwegs.
Der einzige Bezug zum Judentum blieb die Familiengeschichte:
Drei seiner vier Großeltern sind Holocaust-
Überlebende. Mit ihren Schicksalen hat sich David in den
letzten Jahren vermehrt beschäftigt und beispielsweise
recherchiert, wie sein Großvater als 17-Jähriger aus einem
ungarischen Ghetto in die Zwangsarbeit verschleppt
wurde und dann einen Todesmarsch über die österreichische
Grenze bis nach Oberösterreich überlebte, wo er von
amerikanischen Truppen befreit wurde.
„Es ist gut, dass wir uns damit beschäftigten“, sagt David.
„Aber das Judentum ist nicht nur Tod, sondern auch
Leben.“ Nach diesem Leben sucht David, nicht zuletzt, weil
kaum jemand weiß, dass es in ihm steckt. Seine Eltern, in
kommunistischen Ländern aufgewachsen, praktizierten
jüdische Religion und Kultur nicht. Seine Schulfreunde,
seine Arbeitskollegen in dem Technologiekonzern, bei
dem David als Unternehmensjurist arbeitet, sie alle wissen
nichts von seinem Judentum. „Man soll’s nie sagen,
wenn’s nicht notwendig ist. Also sag ich’s nie“, beschreibt
David die Einstellung, mit der er aufwuchs. Das, erzählt
er, kann durchaus auch belastend sein – schließlich gehört
das Judentum trotzdem zu ihm.
Wie der jüdische Teil von ihm aussieht, das versucht
David gerade herauszufinden. Weshalb er sich nach einigem
Zögern zu diesem Interview bereit erklärte. Denn:
„Es gibt nicht den Prototyp Juden, das sollen die Leute sehen.“
Sein nächster Schritt ist, mehr über die Religion
zu erfahren. Synagogen kennt er nur als Tourist, die Inhalte
sind ihm größtenteils fremd. Was für ein Umfeld
wünscht er sich, um mehr zu lernen? „Das muss ich noch
rausfinden“, erklärt er. Liberal soll es sein, denn Frauen
nicht die Hand geben zu dürfen, kann sich David schwer
vorstellen. Nachdenklich fügt er hinzu: „Ich müsste mal
mit einem Rabbiner reden.“ Das hat er nämlich noch nie
getan.
wına-magazin.at
27
WINAKOCHT
Wohin nur mit den ganzen Mazzen, …
... und was hat es mit Miriams Becher auf sich? Die Wiener Küche steckt voller köstlicher
Rätsel, die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Kochirrtum, Kaschrut
oder Kulinargeschichte: Leser fragen, WINA antwortet.
Liebe WINA-Kochexperten!
Ob Mazza oder Mazze, Matzen oder Mazzen – mir
stellt sich nach Pessach immer dieselbe Frage: Was
nur tun mit den Unmengen von Fladenbrot? Wochenlang
Mazzebrei essen?
Lara Z. aus 1180 Wien
Ja, Pessach ist eben das „Fest der ungesäuerten
Brote“. Da bleibt schon mal was übrig.
Glücklicherweise lassen sich Matzen durch
ihre wenigen Grundzutaten nicht nur zu Mazzebrei
verarbeiten, sondern auch sehr gut in
verschiedenste Rezepte einbauen. Dafür stecken
Sie die Fladenbrotreste einfach in einen
Mixer und zermahlen sie darin gründlich.
Schon ist die Matzemehlbasis für Kuchen,
Kneidlach und Co. fertig oder kann beim Panieren
zum Einsatz kommen.
Ansonsten hilft etwas Fantasie über das
Brei-Level hinaus. Belegen Sie das Fladenbrot
doch einfach mit Tomaten und Käse
und überbacken es im Ofen. Fertig ist die
schnelle Pizza. Oder setzen Sie die Matzen für
die nächste Lasagne anstatt der Pastaplatten
ein. Ein Tipp: Matzen vorher 20 Sekunden in
Wasser einweichen. Wenn Sie mexikanische
Snacks den italienischen vorziehen, dann
brechen Sie die Matzen stattdessen in Stücke
und dippen Sie sie wie Nachos oder Tortilla-
Chips in Guacamole, Käsesauce oder Tomaten-Salsa.
Und wenn Sie es lieber süß mögen,
können Sie die Matzen mit einer Schicht aus
flüssigem Karamell und Schokolade überziehen
und noch mit gehackten Nüsse und einer
Prise grobem Salz bestreuen. Köstlich!
Unser „Recycling“-Favorit ist aber Mazze-
Granola (siehe Rezept). Gibt man davon ein
paar Löffel über den Mazzebrei, dann isst
man den sogar freiwillig wochenlang!
Sehr geehrte Redaktion,
neulich bekam ich eine so genannte „Miriam’s Cup“
geschenkt. Was mach ich denn nun genau damit?
T
Michaela G. aus 4020 Linz
atsächlich ist der so genannte Kos Miryam
eine relativ neue Pessach-Tradition
rund um die Prophetin Miriam, die gemeinsam
mit ihren Brüdern Moses und Aron die
MAZZE-
GRANOLA
4 Matzen
50 g grob gehackte Mandeln
50 g grob gehackte Pecannüsse
oder Cashewkerne
50 g ungesüßte Kokosnuss-
Chips
3 TL Honig
2 TL brauner Zucker
1/2 TL Zimt
2 EL Pflanzenöl
halber geriebener Apfel
4 getrocknete Feigen
4 Datteln
1 Prise Salz
ZUBEREITUNG:
Honig, Zucker, Zimt, Öl und
geriebenen Apfel in einer
Pfanne langsam erhitzen,
bis sich der Zucker aufgelöst
hat. Matzen in kleine Stückchen
brechen, gemeinsam
mit Mandeln, Nüssen/Kernen
und Kokosnuss in die Pfanne
mit dem Zucker geben. Gut
durchmischen und mit einer
Prise Salz würzen. Den Ofen
auf 150° C vorheizen. Blech
mit Backpapier auslegen und
die Matzestücke darauf verteilen.
Für 30 bis 40 Minuten
backen, nach der Hälfte der
Zeit wenden. Aus dem Ofen
nehmen und Granola gut
auskühlen lassen. Feigen und
Datteln kleinhacken und untermischen.
Schmeckt gut in
Joghurt, Milch oder aber auf
Mazzebrei.
Juden aus der Knechtschaft in Ägypten führte.
Ursprünglich ein feministischer Brauch, der
in den 1980er-Jahren in einer Bostoner Rosch-
Chodesch-Gruppe entstand, um die Aufmerksamkeit
auf die Bedeutung von Miriam
und den anderen Frauen in der Exodus-Geschichte
zu lenken, ist Miriam’s Cup inzwischen
in Israel und den USA aber weit verbreitet.
Wenn Sie Ihre Miriam’s Cup als neues Ritualobjekt
in die Seder-Zeremonie am Pessach-
Vorabend integrieren möchten, um sie inklusiver
zu gestalten, dann findet der Becher
seinen Platz neben dem fünften Glas beziehungsweise
Gedeck für den Propheten Elija.
Miriams Becher wird jedoch nicht mit Wein,
sondern mit Wasser gefüllt. Schließlich war
Miriam während der Wüstenwanderung dafür
verantwortlich, dass die Kinder Israel immer
genug Wasser hatten. Wie das Glas für Elijahu
ist auch Miriams Pokal von symbolischer
Natur: Es steht für alles, was uns auf unseren
eigenen Reisen (unter-)stützt – ganz so wie Miriams
legendärer Brunnen, der ihr auf ihrer
Wanderschaft folgte und dessen Wasser heilende
Kräfte besaß.
Da Miriam's Cup noch immer recht neu ist,
ist seine Verwendung nicht genau festgelegt.
Einige füllen den Becher gleich zu Anfang des
Seder – schließlich erscheint Miriam ja auch
am Beginn der Exodus-Geschichte. Andere
wiederum heben den Becher nach der Rezitation
der Zehn Plagen und vor dem Lied
Dayyenu – Momente, in denen Miriam eine
wichtige Rolle spielte. Und ein weiterer Ansatz
ist, den Seder zu schließen, indem man
Miriams Pokal herumreicht …
Sie können und dürfen Ihren eigenen Weg
finden. Wie wäre es zum Beispiel, alle am
Tisch einzuladen, etwas Wasser aus ihren
Trinkgläsern in Miriam's Cup zu gießen, statt
ihn aus einem Krug zu befüllen. So wird betont,
dass jeder einen Beitrag zur Wiederbelebung
der Geschichten von Frauen leistet.
Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle
Fragen haben, schicken Sie sie bitte an
office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.
© 123RF
28 wına | April 2020
KOCHEN & ESSEN
Wenn wir nicht ins Restaurant können,
dann kommt das Essen eben zu uns.
Alterantiv: Koscher speisen in der Quarantäne und alles für die Pessach-Vorbereitungen
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Für die Herstellung sowie die
Abholung und Zustellung von
Speisen gelten besondere
Hygienebestimmungen.
Bitte beachten Sie die Hinweise
der Lieferanten!
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+43/(0)1/235 05 82 oder
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auch während der Pessach-Woche.
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Wochen bereits in Quarantäne.
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Isolation – neben den neuesten
Serien-Tipps und Haarschneidetricks
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Die einen wissen nicht mehr,
was sie kochen sollen, die anderen
versuchen sich als Gourmetchefs
und wieder andere sehnen
sich einfach nach der Abwechslung.Deshalb
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ferszt.at
© Robert B. Fishman/picturedesk.com
wına-magazin.at
29
LEBENS ART
Wie geschnitten
An Pessach ist Matze der Star. Aber unser Herz
schlägt heimlich für die prächtigen Brotlaibe, die
nach dem Fest wieder auf den Tisch kommen.
Vielleicht mit diesem Zubehör?
Kunst am Korb
Mohn, Sesam, Kürbiskerne, kleine
Brösel, große Brösel ... mit allen versteht
sich „Matta“ von Villa Collection ganz
hervorragend. Nur mit zu viel
Wasser darf man dem schönen
Brotkorb aus festem Papiergeflecht
naturgemäß nicht kommen. Z. B. über
westwingnow.de
Steht Schmiere
Wer meint, „Fanfaron“ möchte
nur mit seinem hübschen Gefieder
aufschneiden, der irrt. Der bunte
Paradiesvogel ist ein praktisches
Buttermesser. Und damit er die
Tischdecke nicht dreckig macht,
hat man ihm zwei Vogelfüßchen
zum Stehen verpasst.
pylones.com
Echter Naturbursche
Das Körbchen „Patinn“ von Simla
hält dank festem Gemisch aus
Baumwolle und Leinen alle Krümel
im Zaum. Und wenn ihm die
Arbeit doch einmal zu schmutzig
wird, wandert es bei 40 Grad in die
Waschmaschine. Z. B. über
westwingnow.de
Kross-Trainer
Der „ID Toaster HT 5015 WH“ hört sich
nicht nur futuristisch an, er ist auch ein
echter Backroboter: Er toastet in 13
variabel einstellbaren Bräunungsgraden,
hat eine Bagelfunktion (sorgt für
einseitiges Bräunen) und eine Zange
zur Sandwich-Zubereitung.
braunhousehold.at
Die feine Klinge
Für einen sauberen Schnitt sorgt
dieses Brotmesser von Opinel mit
seinem besonders scharfen Wellenschliff.
Die Klinge besteht aus
rostfreiem Sandvik-Stahl, der Griff
aus naturfarbenem, lackiertem
Buchenholz.
opinel.com
K(l)eine Überraschung
Diese Dose trägt den hübschen
Namen „Blütenfülle“, und unter ihrer
Haube findet sich natürlich am
besten handgeschlagene, duftige
Heumilchbutter von wahnsinnig
glücklichen Kühen.
anthropologie.com
© Hersteller
30 wına | April 2020
HIGHLIGHTS | 03
Bilderatlas
der Welt
„Aby Warburg: Bilderatlas“: ein opulentes
Künstler-Bilderbuch der Welt
Es war eines der legendärsten Projekte
der Kunsthistorie im 20. Jahrhundert.
Ab dem Jahr 1925 arbeitete der Hamburger
Kunst- und Kulturwissenschaftler
Aby Warburg, Abkömmling der bekannten
hanseatisch-jüdischen Bankiersfamilie,
bis zu seinem Tod vier Jahre später
obsessiv an einem schier kosmisch
entgrenzten Bilderprojekt, das er „Bilderatlas“
nannte. 400.000 Einzelbilder
von Kunstwerken aus aller Welt wollte er
referenziell universal miteinander visuell
verknüpfen. Zum Abschluss konnte er es
nicht mehr bringen. Nun haben der Kunsthistoriker
Roberto Ohrt und der Künstler
Axel Hell mit Aby Warburg: Bilderatlas, herausgegeben
im Auftrag des Berliner Hauses
der Kulturen der Welt und The Warburg
Institute, London, einen opulenten
Folioband arrangiert (Hatje Verlag, 200
Euro). Sichtbar wird, mit welcher Verve
Warburg unorthodox sämtliche Konventionen
schleifen und alle Kulturen als
Uomo-universale-Nachklang der Renaissance,
der auch als Ethnologe unterwegs
war, zusammenführen wollte. A.K.
hatjecantz.de
Aby Warburg:
Bilderatlas
MNEMOSYNE.
Hg. v. Haus der
Kulturen der Welt.
Hatje Cantz 2020,
600 S., € 52
DAS MÄDCHEN
MIT DER LEICA
Ein verschollener Koffer mit
unzählige Negativen, eine unbekannte
Fotografin, der Spanische
Bürgerkrieg und Robert Capa.
Erinnerungssplitter, aus denen ein berührendes
literarisches Denkmal für die
vergessene Rebellin Gerda Taro entsteht.
Helena Janeczek, Das Mädchen
mit der Leica. Piper Verlag
2020, 352 Seiten, € 22,00.
Milton Glaser:
Graphic Design.
Abrams Books 2020,
240 S., € 43,17
Das Logo
der Welt
Milton Glasers Buch Graphic
Design ist neu aufgelegt worden
Eigentlich ist Milton Glaser der bekannteste
US-Amerikaner überhaupt. Und
das schon seit einem halben Jahrhundert.
1929 wurde Glaser in der Bronx geboren.
Vergangenen Juni wurde der noch immer
rege und auskunftsfreudige Designer 90.
Wer kennt nicht sein „I NY“, global verbreitet?
Eine rhetorische Frage. Dabei entstand
dieses Logo nebenbei, Glaser kritzelte
es im Taxi auf einen Briefumschlag.
(Heute gehört das Kuvert dem Museum of
Modern Art.)
Einer der ikonischen Bände von ihm und
über seine ersten Arbeitsjahrzehnte ist nun
neu aufgelegt worden: Milton Glaser – Graphic
Design. Diese üppig illustrierte Bildmonografie
schwelgt im psychedelischen
Stil der Sechzigerjahre, dann in den kreativ
überschwänglichen der 70er – von
Plattencovern bis Restaurantmenükarten,
Magazinen bis Spielzeug. Dass Glaser kein
zynischer PR-Mensch ist, zeigt sein humanistisches
Credo: Gute visuelle Kommunikation
heißt, sein Gehirn einzuschalten.
Ein Band, der in jede gut sortierte Bibliothek
von Bild-Aficionados gehört. A.K.
abramsbooks.com
MUSIKTIPPS
OFFENBACH
ImQuizzumJacques-Offenbach-Jubiläum
2020 wäre eine
Frage nach der dreiaktigen Opéra-comique
BelleLurette (DieschöneLurette)einetückische.Sounbekanntistsie.Alsnachgetragenes
Geburtstagsgeschenk ist nun die Einspielung
der deutschen Fassung dieser sehr späten
Operette, entstanden 1880, durch das RundfunkorchesterLeipzigvon1958umsoschöner.DerMitschnittwurdeimArchiverst2019
(!) gefunden.
DESSAU
Paul Dessau (1894–1979), 1979), der
Kantorenabkömmling,
war
mehr als nur ein sozialistisch linientreuer
Vertoner von Bertolt-Brecht-Songs. Rund 450
Werke stammen von ihm, heute alle fast ig-
noriert. Das Leipziger Ensemble Avantgarde
hat nun einen eminenten Querschnitt seiner
Kammermusik (MDG) eingespielt, vom Con-
certino von 1924 und den Jüdischen Tänzen
von 1946 bis zu Grasmückenstichen für Mü-
cke Gras (1974).
ARGERICH
Leidenschaftlich. Geradezu vulkanisch.
Und beneidenswert
frühgenial. Auf Martha Argerich – The Suc-
cessful Beginning (Profil – Hänssler) finden
sich auf vier CDs Einspielungen der blutjungen
Pianistin. Damals gerade einmal 14 bis
knapp 20 Jahre alt, spielte sie Ravel, Bartók,
Liszt, Chopin, Prokofjew, Beethoven und Sarasate
ein. Eine beeindruckende, spottbillige
Ergänzung der Argerich’schen Gesamtdiskografie.
A.K.
© xxx
wına-magazin.at
31
sonst gut besuchte Kantine des Theaters in der Josefstadt ist
Die zu dieser Mittagsstunde menschenleer. Der Kantineur spart,
hat nicht alle Lampen aufgedreht. Hier ist es gespenstisch still, genauso
wie im Zuschauerraum. Zu dritt sitzen wir an einem Ecktisch und versuchen
dem Interview den Anschein der Normalität zu geben. Die ausgestreckte
Hand des britischen Oscar-Preisträgers haben wir zögerlich
und linkisch ergriffen. Eigentlich sind wir zum Trösten da, denn die für
den nächsten Tag anberaumte Premiere von Geheimnisse einer Unbekannten
wurde erst vor wenigen Stunden abgesagt. „Mit der Generalprobe waren
wir alle sehr glücklich, aber jetzt muss ich zurück nach London – und
bin auf Abruf“, flüstert Christopher Hampton, der Dramatiker und Regisseur
dieser Produktion.
WINA: Sie haben die Stefan-Zweig-Novelle Briefe einer Unbekannten
für das Theater in der Josefstadt dramatisiert
und die Bühnenfassung wesentlich verändert: Zweigs namenlose
Figuren heißen bei Ihnen Marianne und Stefan.
Weiters haben Sie die Handlung in die 1930er-Jahre verlegt.
Was sind Ihre Motive dafür?
Christopher Hampton: Beeinflusst hat mich vor allem
der amerikanische Spielfilm von Max Ophüls
aus dem Jahr 1948 mit Joan Fontaine und Louis Jourdan.
Dieser basiert auch auf Zweigs Novelle, die dem
österreichischen Schriftsteller 1922 den eigentlichen
künstlerischen Durchbruch brachte. In der Vorlage
ist der männliche Darsteller eher passiv, daher habe
ich ihm mehr Kontur verliehen: Er heißt Stefan und
ist der jüdische Schriftsteller, der genauso wie Zweig
bereits antisemitische Repressalien erlebt.
Sehen Sie denn Parallelen zu heute?
I Ja, eindeutig. Wir sehen eine Rezession auf uns zukommen.
Der Nationalismus, Populismus und Antisemitismus
sind erstarkt. Man sieht das auch in
Großbritannien, wo der Antisemitismus aus schier
dummen, unerklärlichen Gründen angestiegen ist.
Das Verhalten der Labour Party unter James Cobyn ist
zum Schämen, auch was den Brexit betrifft. Ebenso
unwahrscheinlich ist es, dass Johnson bis Jahresende
ein Abkommen mit der EU schafft, und dann stehen
wir vor einer echten Katastrophe. Der gesamte Brexit
ist aus Versehen passiert, ebenso wie der Erste
Weltkrieg.
Sie wurden auf den portugiesischen Azoren geboren, weil
ihr Vater als Ingenieur dort arbeitete. Während Ihrer Volksschulzeit
lebten sie in Ägypten. Wegen der Suezkrise 1956
mussten Sie Alexandria verlassen und beendeten die Schule
in England. Ab 1964 studierten Sie Deutsch und Französisch
am New College in Oxford. Woher kam diese Affinität zur
deutschen Sprache und Literatur?
I Dafür gibt es mindestens zwei Gründe: Fünf Jahre
verbrachte ich in der British Boys’ School in Alexandria,
da gab es zwar kaum „british boys“, dafür
aber Kinder, die mit acht Jahren schon mindestens
fünf diverse Sprachen konnten. Das imponierte mir,
und ich bemerkte, dass ich auch schnell Sprachen
erlernte. Mit 14 Jahren konnte ich in London dann
Sprachfächer wählen, und so kam Deutsch zu Französisch
dazu. Ich hatte großes Glück mit den Lehrern,
denn sie fütterten uns gleich zu Beginn mit Werken
von Zweig und Kafka. So bestimmte die deutschsprachige
Literatur auch meine Studienzeit, und ich war
ihr für der Rest meines Lebens verfallen.
Ödön von Horváth zählt zu Ihren besonders favorisierten
Autoren. Sie haben seine Werke übersetzt und fünf seiner
Dramen realisiert, z. B. 2009 Jugend ohne Gott am Theater
in der Josefstadt. Bereits 1979 schrieben Sie gemeinsam mit
Maximilian Schell das Drehbuch für die Verfilmung von Geschichten
aus dem Wienerwald mit den Schauspielgrößen
Helmut Qualtinger, Adrienne Gessner, Birgit Doll und Hanno
Pöschl. Die Zwischenkriegszeit hat Sie literarisch ebenso interessiert
wie die Auswirkungen des NS-Regimes auf die
menschliche Natur?
INTERVIEW MIT CHRISTOPHER HAMPTON
„Starke Parallelen zu
den 1930-er Jahren werden sichtbar“
Oscar-Preisträger Christopher Hampton erzählt über seine Bühnenfassung
einer Stefan-Zweig-Novelle für das Theater in der Josefstadt und warum er
schon früh der deutschsprachigen Literatur verfallen ist.
Interview: Marta S. Halpert, Fotos: Reinhard Engel
32 wına | April 2020
Deutschsprachige Literatur
I Ja, genau, weil ich so viele Parallelen zu heute sehe:
Viel zu viele Menschen denken einfach nicht nach,
wollen nur eine gute Zeit haben. Daher hat mich der
österreichische Dokumentarfilm von Christian Krönes
Ein deutsches Leben fasziniert: Darin bezeichnet
sich Brunhilde Pomsel, die von 1942 bis April 1945 als
persönliche Sekretärin bei Reichspropagandaleiter
Joseph Goebbels arbeitete, als ahnungslos und „unpolitisch“,
obwohl sie im Herzen dieser Nazi-Propaganda-Maschine
tätig war. Sogar nach Goebbels‘ Suizid
in den letzten Kriegstagen tippte sie im Bunker
noch Schriftsätze. 2016 sagte sie noch Sätze wie: „Ich
kann mich nicht erinnern, ob ich für Hitler gestimmt
habe, vielleicht doch? Mir haben die farbigen Fahnen
so gut gefallen.“
Sie haben einen Bühnenmonolog verfasst, der auf dem Interview
mit Pomsel basiert, das sie gab, bevor sie 2017 im
Alter von 106 starb. 2019 hatte Ihre One-Woman-Show Premiere
im Londoner Westend. Wer spielte die Hauptrolle?
I Es ist mir tatsächlich gelungen, den Downton Abbey-
Star, die zweifache Oscar-Gewinnerin Maggie Smith
nach zwölf Jahren auf die Theaterbühne zurückzuholen.
Es gab leider nur 30 Vorstellungen, denn Smith
spielte solo eine Stunde und 40 Minuten – und sie ist
85 Jahre alt. Ich hoffe, dass wir die Aufführung noch
mit ihr filmen können.
„[...] weil ich
so viele Parallelen
zu heute
sehe: Viel zu
viele Menschen
denken
einfach nicht
nach, wollen
nur eine gute
Zeit haben.“
Christopher
Hampton
Christopher
Hampton.
Stunden nach der
Absage der Premiere
von Geheimnisse einer
Unbekannten im leeren
Zuschauerraum der
Josefstadt.
Sie sind mit Josefstadt-Direktor Herbert Föttinger seit über
zwanzig Jahren bekannt und befreundet. Hat er kein Interesse
an Ihrem brisanten und aufwühlendem Stück Ein deutsches
Leben?
I Aber ja, er ist auf der Suche nach einer geeigneten
Schauspielerin, sozusagen nach einer deutschsprachigen
Maggie Smith. Das Stück wird bereits in
Frankreich, Italien, Spanien und auch in der Nachbarschaft,
in Budapest gespielt.
Sie kennen Direktor Föttinger auch als Schauspieler, denn
2007 hat er gemeinsam mit Andrea Jonasson die Hauptrolle
in Gefährliche Liebschaften gespielt, ein Drama, für dessen
Verfilmung Sie 1989 den Oscar erhielten. Als Vorlage für den
Film über verhängnisvolle Affären und Intrigen des französischen
Adels während des 18. Jahrhunderts diente Ihr Bühnenstück
Les Liaisons dangereuses, das wiederum auf dem
gleichnamigen Briefroman von Choderlos de Laclos beruht.
Woher kannten Sie diesen Roman?
I Natürlich von meinem Studium in Oxford, ich entdeckte
ihn mit neunzehn Jahren und war begeistert.
Viele Jahre später wollte ich eine Bühnenfassung daraus
machen, aber es hat sich niemand dafür interessiert.
Acht Jahre hat es gedauert, bis die Royal
Shakespeare Company 1985 meine Bearbeitung mit
großem Erfolg und vielen Auszeichnungen für sie
und mich produziert hat.
wına-magazin.at
33
Wortgetreu
Ihr literarisches Interesse geht aber weit über das 17.
oder 20. Jahrhundert hinaus: Sie haben sich außer vier
Horváth-, fünf Ibsen-, zwei Molière- und drei Tschechow-
Werken auch der Übersetzung und Bearbeitung zeitgenössischer
Autoren wie Yasmina Reza und Florian Zeller
gewidmet. Wie kam es dazu?
I Ich habe mich sehr geärgert, dass das Theaterleben
in London ab den 1990er-Jahren so konservativ
wurde und keine fremdsprachigen Stücke mehr
gezeigt wurden. Daher habe ich mit dem ersten Erfolgsstück
von Reza, Art (Kunst), begonnen. Die Rechte
dafür musste ich dem James Bond-Star Sean Connery
abkaufen: Er hatte diese für seine französische Frau
erworben. Das Stück lief insgesamt acht Jahre, dann
habe ich noch vier weitere Arbeiten von Reza übersetzt
und sechs des französischen Erfolgsautors Florian
Zeller. Sein Bühnenwerk Der Sohn wird aktuell
mit großem Erfolg in den Kammerspielen in Wien
gespielt. Ich hoffe sehr auf eine Verfilmung dieses
Stückes.
Zurück zu Stefan Zweig und der verschobenen Premiere
von Geheimnisse einer Unbekannten. Es ist Ihre zweite
Regiearbeit am Theater in der Josefstadt nach der Uraufführung
Ihrer Bühnenrealisierung von Eine dunkle
Begierde (The Talking Cure). Die Regie des Filmklassikers
Abbau. Mit der
Generalprobe war
Christopher Hampton
noch recht zufrieden –
hier mit WINA-Autorin
Marta S. Halpert (re.).
All About Eve, den Sie für die
Kammerspiele der Josefstadt
adaptiert haben, mussten Sie
kurzfristig an Föttinger übergeben,
weil sie krank wurden.
Daniel Kehlmann hat sowohl
All About Eve wie auch Ihre
Zweig-Dramatisierung übersetzt.
Seit wann arbeiten Sie
zusammen?
I Bereits vor zehn Jahre hat
Daniel mich eingeladen, bei
den Salzburger Festspielen
die Regie bei der Lesung seines
ersten Theaterstücks zu
übernehmen. Danach habe
ich noch zwei seiner Arbeiten
ins Englische übertragen.
Noch enger wurde die Zusammenarbeit, als er
2014 für mich The Talking Cure, also Eine dunkle Begierde,
übersetzte. Wir dachten künstlerisch sehr ähnlich:
Wenn dir ein Stück, ein Text gefällt, dann spiele den
auch wortgetreu. Diesmal habe ich ihn gefragt, ob er
meine Zweig-Bearbeitung ins Deutsche übersetzen
würde. Zum Glück hat er zugesagt.
Sie haben
Fragen an das
Bundeskanzleramt?
service@bka.gv.at
0800 222 666
Mo bis Fr: 8 –16 Uhr
(gebührenfrei aus ganz Österreich)
+43 1 531 15 -204274
Bundeskanzleramt
Ballhausplatz 1
1010 Wien
ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG
34 wına | April 2020
Das Bürgerinnen- und Bürgerservice des Bundeskanzleramts freut sich
auf Ihre Fragen und Anliegen!
bundeskanzleramt.gv.at
WINA WERK-STÄDTE
Hamburg
Kein Buch der jüdischen Tradition erfährt seit
dem Mittelalter mehr künstlerische Aufmerksamkeit
als die Pessach-Haggada. Die Ausführung
unterliegt allerdings verschiedenen Moden.
Von Esther Graf
Auch heute noch sind
die fünf Weisen von Bnei
Brak in Pessach-Haggadot
abgebildet.
ie künstlerische Ausgestaltung von
Pessach-Haggadot ist ein wichtiger
Bereich innerhalb der jüdischen
Kunst. Auch wenn das Bildprogramm
seit Jahrhunderten gleich
ist, variieren Schriftbild, Raumdarstellung
und Kostüme nach dem jeweiligen
Zeitgeschmack. Die frühesten überlieferten illuminierten,
also mit Bildmotiven ausgestatteten
Haggadot stammen aus dem 13. Jahrhundert.
Im frühen 16. Jahrhundert nach Einführung des
Buchdrucks werden diese von gedruckten Versionen
abgelöst, die sich weit verbreiten, jedoch
ein viel schlichteres Bildprogramm aufweisen.
Die Herausbildung einer wohlhabenden jüdischen
Führungsschicht im 17. und 18. Jahrhundert
(Hofjuden) mag dazu geführt haben, dass
die Buchmalerei im 18. Jahrhundert in Österreich,
Mähren, Deutschland und Holland eine
Renaissance erlebte. Die namentlich bekannten
Künstler schufen rein statistisch Haggadot mit
den meisten Illustrationen.
Jacob ben Judah Leib aus Berlin schuf 1740 u. a.
die vorliegende Illumination Die fünf Weisen von
Bnei Brak für eine Haggada. Zu sehen ist links im
Bild eine aus Männern bestehende Tischgesellschaft,
die mit Kelchen in der Hand in das Gespräch
vertieft scheint. Während es sich bei den
in Rot gekleideten um die im Text benannten
Rabbiner handelt, gehört die am Tisch stehende
bärtige Figur in Lila zum Personal. Die geöffnete
Türe im Hintergrund entstammt dem Motivkanon
der niederländischen Malerei und steht für
Weltoffenheit.
HAMBURG
DiezweitgrößteStadtDeutschlandshatca.1,8Mio.Einwohner.DerweltweitbedeutendeHafenzognachderVertreibungvonderIberischenHalbinselabdem16.Jahrhundert
sephardischeJudenan.Aschkenasendurftensicherstim17.Jahrhundertansiedeln.1925
lebten ca. 20.000 Juden im Raum Hamburg, 2 Prozent der Stadtbevölkerung. Das NS-
Regime forderte davon knapp 9.000 Menschenleben. Für die 2.700 Mitglieder gibt es
heuteeineliberaleundeineorthodoxeSynagoge,einSpital,einenMakkabi-Sportverein,
einen Kindergarten und eine Grundschule.
© Jheald, 2014, Commons Wikimedia
60 wına | April 2020
Umfassende Kreativität
Modulare Stadt auf
Säulen. Mit seinem Konzept
der „Ville Spatiale“,
der „Raumstadt“, wurde
er in den späten 1950er-
Jahren bekannt.
Der Architekt der
virtuellen Stadt
Die Kombination aus spielerischem,
kreativem Zugang und elegantem Hinwegwischen
realer Unmöglichkeiten sollte
das Leben und die Karriere Friedmans
über viele Jahrzehnte bestimmen. Er selbst
baute zwar kaum etwas, genoss aber unter
Architekten und Stadtplanern hohen
Respekt, lehrte – ohne ordentliche Professur
– an renommierten Universitäten
wie dem Massachusetts Institute of Technology
MIT, an der Columbia University
in New York, an der Harvard University
sowie an der Princeton University. 2018
wurde ihm der österreichische Friedrich-
Kiesler-Preis verliehen.
Im Kern von Friedmans Theorien standen
flexible, mobile Wohneinheiten, die
sich die Menschen selbst gestalten können
sollten. Mit seinem Konzept der
„Ville Spatiale“, der „Raumstadt“, wurde
er in den späten 1950er-Jahren bekannt.
Dabei handelte es sich um eine modulare
Stadt auf Säulen, die man sowohl über Gewerbegrund,
Bahngeleisen oder bereits bestehenden
älteren Stadtteilen errichten
könnte. Die Wohneinheiten aus Betonkuben
sollten möglichst frei gestaltbar
sein, mit viel Zwischenraum für Licht
und Luft.
Stark beeinflusst war Friedman dabei
vom deutschen Architekt Konrad
Wachsmann. Dieser hatte erst in Berlin
und später in Sachsen schon in den
20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts
sehr konkret mit modularen Holzbauten
experimentiert, auch – wenig erfolgreich
– mit kommerziellen Anwendungen.
Er errichtete dennoch eine Reihe
von Gebäuden, unter anderem ein Sommerhaus
für Albert Einstein in der Nähe
von Potsdam.
Wachsmann wurde zwar noch in der
Weimarer Republik geehrt, floh aber –
als Jude – unmittelbar nach der Machtergreifung
Hitlers zuerst nach Italien und
dann in die USA. Er sollte übrigens in
den späten 1950er-Jahre eine Zeit lang
die Architekturklasse der Internatio-
Yona Friedman starb Ende Februar 96-jährig in Paris.
Er hatte zwar selbst kaum etwas gebaut, aber mit seinen
Theorien ganze Generationen von Stadtplanern inspiriert.
Von Reinhard Engel
Besucher seiner Wohnung und seines
Ateliers staunten stets darüber,
wie sich der alte Herr in seinem
Wirrwarr von Kunstgegenständen, Design-Trouvaillen
und gesammeltem Alltagskram
zurechtfinden könne. Als ihn
etwa vor zwei Jahren der Architekturjournalist
des Wiener Standard, Wojciech
Czaja, fragte, wie er sich in dem Chaos
seines Wohnzimmers überhaupt zurechtfinde,
antwortete Yona Friedman augenzwinkernd:
„Mein Atelier auf der anderen
Seite des Flurs sollten Sie sehen! Dort ist
Chaos. Aber das hier, das ist kein Chaos.
Hier hat alles seine Ordnung und ist ganz
genau durchstrukturiert. Hier die Zeichnungen,
da die Fotomontagen und dort
die Modelle. In einem Kistchen liegen die
Korken, dort die Lämpchen, und schauen
Sie hier ... Erst unlängst hat mir jemand
diese Plastikverschlüsse geschenkt. Sind
das nicht wunderschöne Objekte? Ich
denke, das könnte ein Hochhaus werden.“
Im Kern von
Friedmans
Theorien standen
flexible,
mobile Wohneinheiten,
die
sich die Menschen
selbst
gestalten können
sollten.
36 wına | April 2020
Mobiles Bauen
nalen Sommerakademie für bildende
Kunst Salzburg leiten. Friedman hatte
ihn 1953 als Gastdozent am Technion in
Haifa getroffen, und Wachsmanns Ideen
fielen bei ihm auf fruchtbaren Boden.
Arbeit als Bauarbeiter. Friedman,
1923 geboren als János Antal Friedman,
stammte aus einer jüdischen Familie
in Budapest. Er studierte an der Technischen
Universität Budapest, die damals
noch Palatin-Josef-Universität für
Technik und Wirtschaft hieß. Zugelassen
zum Architekturstudium wurde er
trotz sehr früher antijüdischer Beschränkungen
übrigens nur deshalb, weil einer
der Professoren sein Talent erkannte
und ihm eine Ausnahmegenehmigung
beschaffte. Friedman schloss sich während
der deutschen Besetzung Ungarns
dem Widerstand an und entging nur
knapp der Verhaftung nach einem Verrat.
Unmittelbar nach dem Krieg emigrierte
er via Rumänien nach Israel. Dort
Yona
Friedman.
Der in Ungarn
geborene franzö-
sische Architekt in
einer Installation in
seinem Sommer-
haus in London.
schloss er an der Technischen Universität
in Haifa sein Studium ab.
Finanziert hatte er sein Leben übrigens
als Bauarbeiter – einer der theoretischsten
Architekten arbeitete wirklich
physisch mit Ziegeln, Mörtel und Holz.
Auch seine ersten Jahre nach dem Studienabschluss
blieb er der praktischen Welt
verpflichtet, er lebte von 1945 bis 1957
im Kibbuz Kfar Glikson im Hinterland
von Caesarea, später in Haifa. 1957 übersiedelte
er nach Paris. Schon 1956 hatte
er auf dem X. Congrès Internationaux
d’Architecture Moderne (CIAM) in
Dubrovnik erstmals sein Manifeste de
l’architecture mobile veröffentlicht, das
„Manifest der mobilen Architektur“ über
neue Konzepte von Haus- und Städtebau.
Daraus sollte dann die Raumstadt,
„La Ville Spatiale“, werden. Und er gründete
auch rund um dieses Konzepte die
Groupe d’étude d’architecture mobile
(GEAM), die „Gruppe für Studien mobiler
Architektur“.
© Daniel Leal-Olivas/picturedesk.com
Diese Gruppe, die einige Jahre lang
lose zusammenarbeitete, kritisierte die
damalige Städteplanung scharf. Sie sei
veraltet und überteuert, führe zu Verkehrsstaus
und schlechter Wohnqualität,
fordere sogar die Flucht aus den Städten
heraus – und bedinge damit wiederum
neuen Verkehr. Die Antwort stelle
eben die flexible urbane Architektur dar,
in der sich die Bewohner selbst mit verwirklichen
könnten, die sie auch zum
Bleiben bewegte. Doch auch trotz aller
internationaler Bekanntheit: Direkt umgesetzt
wurde von den Konzepten Friedmans
nichts. Schon bei einem ganz frühen
Plan zur Bebauung von Teilen des
Pariser Bois de Boulogne musste er erkennen,
wie weit seine Ideen von öffentlicher
Akzeptanz entfernt waren.
Als er das verstand, widmete er sich
nun intensiv der Lehre und dem Propagieren
seiner Theorien, um damit zumindest
jüngere Architekten zu beeinflussen.
Dabei war er überaus fleißig
und kreativ, schrieb eine Reihe von Büchern
und mehr als 500 einschlägige Artikel
in Fachzeitschriften. Und sein Interesse
beschränkte sich nicht bloß auf
das virtuelle Errichten von städtischen
Strukturen und Gebäuden, sondern wucherte
weiter in Richtung Soziologie. Er
blieb auch geografisch nicht auf Frankreich
und die reichen westlichen Länder
beschränkt, im Gegenteil: Ein Gutteil
seiner Studien beschäftigte sich mit
„armer Architektur“, dabei versuchte er
seine Konzepte des mobilen Bauens auf
Länder der Dritten Welt mit ihren völlig
anderen Materialien wie etwa Bambus
zu übertragen. Er arbeitete wiederholt
für die UNO und die UNESCO und
gab Handbücher für Bau-Laien heraus.
Seine umfassende Kreativität spiegelte
sich in seiner eigenen Pariser Wohnung
wider, heißt es in einer Biografie
Friedmans: „Die Wände sind bedeckt
mit allen Arten von Zeichnungen und
Gemälden, in denen sich magische Figuren,
etwa Einhörner, mit philosophischen
Texten abwechseln. Diese Wände
werden ergänzt mit Skulpturen aus gefunden
Objekten und Verpackungsmaterial.“
Bei einer großen Personale in
den Niederlanden im Jahr 1999 wurde
sein Wohnzimmer eins zu eins präsentiert.
Die Ausstellung hieß Yona Friedman.
Structures serving the unpredictable:
„Die Strukturen dienen dem Unvorhersehbaren.“
Friedmann starb Ende Februar
in Paris.
wına-magazin.at
37
Späte Berufung
Veronica Taussig. „Ich
arbeite unter meinem
Mädchennamen, denn ich
wollte nicht, dass sich mein
Mann für mich blamieren
muss.“
Ein besonders tiefes Rot, ein
sehr sonniges Gelb, mit diesen
intensiven Farben umgibt sich
Veronika Jurkowitsch am liebsten.
Vorhänge, Wandbespannungen,
Polstermöbel im wunderschönen Hietzinger
Haus, die Blumen im großen Garten,
wenn es Sommer ist, und ihre Kunstwerke
im Atelier leuchten gleichsam um
die Wette. Von innen strahlen ihre roten
Light-Boxen, von außen werden ihre
hohen Skulpturen angestrahlt, und sie
selbst strahlt auch, wenn von ihrer Arbeit
die Rede ist. Detailliert und wortreich
beschreibt sie etwa ein Werkstück,
an dem sie gerade arbeitet, eine Technik
oder ein Material.
„Ich mache zum Beispiel Collagen mit
gedrehtem, buntem Papier, da entstehen
dann diese dreidimensionalen Bilder mit
speziellen Effekten. Ich habe solche Arbeiten
noch nirgends sonst gesehen, obwohl
ich viele Ausstellungen besuche.
Auf diese Technik bin ich selbst gekommen.
Es war eine Art von Eingebung.“
Veronika vertraut Eingebungen, lässt
sich von ihrer Phantasie leiten, von Bildern,
Formen und Farben, die ihr nachts
durch den Kopf gehen, wie sie erzählt. Als
sie vor einigen Jahren mit ihrem Mann im
New Yorker MoMA vor den Cut-Outs von
Henri Matisse stand, muss sie wohl auch
so eine Art von Eingebung gehabt haben.
„Du Franz, das kann ich auch!“, hat sie
da plötzlich ihrem erstaunten Mann erklärt.
Und als der sie bald darauf in Wien
daran erinnerte und sehen wollte, ob sie
das „auch kann“, da hat sie jede Menge
Material eingekauft und begonnen, eigene
Cut-Outs zu machen. Das war die
Initialzündung, der Anfang ihrer Metamorphose
von Veronika Jurkowitsch zu
Veronica Taussig, wie sie sich als Künstlerin
nennt. „Ich arbeite unter meinem
Mädchennamen, denn ich wollte nicht,
dass sich mein Mann, der ursprünglich
etwas skeptisch war, für mich blamieren
muss. Jetzt wäre das, so glaube ich, schon
etwas anders.“
Von Temesvár nach Wien. Doch erst einmal
zurück zu den Anfängen und damit zur
Familiengeschichte der Taussigs, die aus
Rumänien stammen.
„Mein Vater kommt aus einer Fabrikantenfamilie
in Temesvár, die eine Spiritusfabrik
hatte, und meine Mutter aus
Arad in Rumänien. Ihre Eltern hatten einen
Gewürzhandel. Beides waren jüdische
Familien, aber wir sind überhaupt
nicht religiös erzogen worden. Nur zu
den großen Feiertagen war ich manchmal
mit meiner Großmutter im Tempel.“
Den Krieg haben die Taussigs in Temesvár
überlebt. „Man hat ihnen aber
natürlich alles weggenommen. Meine
Eltern wollten schon 1948 weg und haben
sich danach lange um Auswanderung
in verschiedene Länder, unter
anderen auch Israel, bemüht, aber als Juden,
Kapitalisten und Bourgeois hatten
wir schlechte Karten. Erst 1961 gelang es
uns, nach Wien zu kommen. Meine Muttersprache
war Ungarisch, aber ich habe
in Temesvár die deutsche Nikolaus-Lenau-Schule
besucht und konnte daher
Deutsch. Ich habe dann alle Gymnasien
Wiens besucht, denn ich war wahnsinnig
neugierig auf Schulen“, kommentiert sie
lachend ihre wenig erfolgreiche Schulkarriere.
Schon sehr jung hat Veronika ihren
Mann Franz kennengelernt, hat geheiratet
und Zwillinge bekommen und war
damit zunächst vollauf beschäftigt. Doch
lange hat sie das nicht ausgelastet, und
© Mikolaj Tym
38 wına | April 2020
Plötzlich herausgebrochen
„Es war eine Art
von Eingebung“
Von Veronica Taussig zu Veronika Jurkowitsch
und wieder retour oder der lange Weg zur Kunst.
Ein Porträt von Anita Pollak
kaum waren die Kinder herangewachsen,
suchte sie eine andere Herausforderung.
„Die Firma Warimpex, bei der mein
Mann Miteigentümer ist, hat Hotels gebaut
und entwickelt, und nachdem mich
die Innendekoration immer gereizt hat
und ich mir das auch zugetraut habe, hat
mir mein Mann die Chance
gegeben, Hotels einzurichten.
Ich habe dann viele Häuser
im Vier- und Fünfsterne-
Bereich ausgestattet.“
Diese Phase fand mit der
geänderten Firmenstrategie
ein natürliches Ende,
und da traf es sich glücklich,
dass Veronika, offenbar
auf der Suche nach Neuem,
in New York schließlich Matisse
und damit ihre künstlerische
Berufung entdeckte.
Auf die von ihm inspirierten
Cut-Outs, die sie bald langweilten,
folgte bald Größeres, Raumgreifendes,
sprich Skulpturen, die sie nun in
vielen Variationen, Dimensionen und Materialien
entwirft.
Vom Entwurf zur Skulptur. „Ich mache den
Entwurf und bemale ihn ich auch, und
Spezialwerkstätten setzen diesen dann in
die entsprechenden Materialien um. Ich
habe zuerst mit Holz, dann mit Aluminium,
Nirosta, Messing und Plexiglas gearbeitet.
Ich entwerfe auch Light-Boxen,
also von innen beleuchtete Skulpturen.
Seit Jahren arbeite ich regelmäßig viele
Stunden am Tag und habe seit Kurzem
daheim ein eigenes Atelier. Wenn meine
Entwürfe aus der Werkstätte zurückkommen,
habe ich eine Riesenfreude. Zuerst
die Freude, dass ich einen Einfall realisieren
konnte, und dann die Freude, dass es
wirklich schön gemacht ist. Denn ich arbeite
mit Styropor oder Kapa-Platten, das
sind natürlich keine tollen Materialien,
und wenn das dann aus edleren Materialien
verwirklicht wird,
„Ich habe spät
begonnen und
freue mich,
dass ich an mir
noch ein Talent
entdeckt
habe.“
Veronika
Jurkowitsch
ist es eben eine große
Freude.“
Ihre ungebrochenen
Lieblingsfarben Rot,
Schwarz und Gelb und
ihre klaren, oft geometrischen
Formen sind mittlerweile
so etwas wie ihre
Trademark, etwas, woran
man eine Veronica Taussig
sofort erkennen kann,
auch wenn sich manchmal
vielleicht ein starkes
Grün, ein Violett, ein
Blau oder frei schwingende
Linien darunter mischen.
Eine ganz andere Stimmung verbreiten
die Wohnräume, wo sich an den Wänden
Bild an Bild in enger Hängung drängt.
„Diese Bilder hier sind zum Großteil
von meinen Großeltern, auch die haben
schon gesammelt, und ich habe gerettet,
was ich konnte. Wir selbst sammeln ganz
Verschiedenes. So zum Beispiel Werke des
ungarischen Impressionismus, der mir
immer gefallen hat. Vom Österreicher Georg
Eisler haben wir eine große Sammlung
an Grafiken und einiges von zeitgenössischen
polnischen Malern, die wir zum Teil
selbst gekannt haben.“
Ihre künstlerischen Vorbilder kommen
allerdings nicht aus diesen Bereichen. In
der Plastik sind Alberto Giacometti und
Constantin Brâncuși ihre Götter, und zur
Malerei „mit dem Pinsel“ fühlt sie sich ohnehin
nicht berufen.
„Wenn ich Leinwand verwende, dann
schütte ich aus Tiegeln und sehe, wie die
Farben zusammenlaufen und Schüttbilder
entstehen. Dazu hatte ich einige Zeit
Lust, habe dann aber damit aufgehört.“
Neues auszuprobieren, reizt sie immer
wieder, und dass ihr dabei einmal
die Ideen ausgehen könnten, diese Befürchtung
hat sie nicht. „Wenn ich einige
Tage keine Ideen habe, bin ich verzweifelt,
aber dann gehe ich in mein Atelier, und da
kommen plötzlich Ideen.“
Eine Inspiration kann manchmal auch
ein ganz banales Material auslösen.
„Ich habe zum Beispiel nach dem Tod
meiner Mutter bei ihr fantastisch besticktes,
wunderschönes Bettzeug gefunden,
das ich nicht brauchen kann. Da habe ich
die bestickten Teile ausgeschnitten, auf
ein Platte montiert, drüber gemalt und
das Ganze dann in einen alten Fensterflügel
eingespannt.“
Ausstellungen. Bei all der offensichtlichen
Kreativität muss man sich fragen, wo
diese so viele Jahrzehnte verborgen war.
„Die Lust, etwas zu machen, hatte ich
immer und habe oft bedauert, dass ich
nicht irgendein Handwerk erlernt habe.
Durch einen Zufall ist das dann aus mir
herausgebrochen, es war wirklich wie eine
Explosion. Wenige Künstler haben wie ich
diese Möglichkeit, so viel zu produzieren,
ohne etwas verkaufen zu müssen, obwohl
ich schon einige Stücke verkauft habe,
aber darauf kommt es mir nicht an. Ich
möchte mich einfach verwirklichen.“
Trotzdem sucht Veronica Taussig mit
ihrer Kunst schon auch eine etwas größere
Öffentlichkeit, und so hatte sie bereits
Ausstellungen in Berlin, in Prag, in
Łódź, in St. Petersburg und jüngst in Warschau.
„Die Galerie dort ist schneeweiß,
und alle meine Exponate sollten schwarz
und weiß sein, obwohl ich meist farbig
arbeite. In Liechtenstein, wo die nächste
Ausstellung kommenden November sein
wird, darf es dann wieder bunt sein.“
veronica-taussig.com
wına-magazin.at
39
Street Photography
Michael
Horowitz:
Simon
Wiesenthal
(1976).
Michael Horowitz.
Bilder aus seiner
mehr als 25-jährigen
Karriere als Fotograf –
zu sehen in der Wiener
Albertina.
Ein humaner Blick
durch die Linse
Am Sonntag, dem 16. April 1972
gab es ein starkes Erdbeben in
Wien. Der 22-jährige Michael
Horowitz saß mit seinem jüdischen Vater,
einem berühmten Theaterfotografen,
im Wiener Musikverein und erlebte Leonard
Bernstein zum ersten Mal am Dirigentenpult.
Fotografiert hat er Lenny erst
viele Jahre später, auch bei den Salzburger
Festspiele. 2018 verfasste der bereits zum
erfolgreichen Autor avancierte Horowitz
eine faszinierende, faktenreiche und liebevolle
Biografie dieses großen Musikers
und Humanisten.
Der mehr als 25-jährigen Karriere von
Horowitz als Fotograf widmet die Albertina
jetzt eine Ausstellung, die wegen der
Corona-Krise in den Frühsommer hinein
verlängert wird. „Ich habe 1989 mit
der Gründung des Freizeit-Magazins im
Die Albertina würdigt das
fotografische Werk von
Michael Horowitz
zu seinem 70. Geburtstag.
Von Marta S. Halpert
AUSSTELLUNG
MICHAEL HOROWITZ
ALBERTINA, Wien
Die ALBERTINA ist aktuell geschlossen,
derMuseumsbetriebbisaufWeiteres
eingestellt.DerzeitführenvirtuelleRundgänge
durch die Ausstellungsräume und
Sammlungen des Betriebs. Zu sehen unter
albertina.at.
Kurier aufgehört zu fotografieren. Daher
sind nur zwei Fotos aus dem vergangenen
Jahr in der Ausstellung zu sehen:
Willi Resetarits und Friederike Mayröcker“,
erzählt Horowitz, Wiener des Jahrgangs
1950.
Wie eindringlich und aussagekräftig
die Wirkung von Schwarz-weiß-
Fotografie ist, weiß jeder Liebhaber der
Street Photography von Budapest über
Paris bis New York: Namen wie Robert
Frank, Lee Friedlander, Helen Levitt,
Saul Leiter, André Kertész und der unerschrockene
Kriegsreporter Robert Capa
stehen für das Universelle dieser Kunstrichtung.
Gleichfalls unvergessen in und
für Österreich sind Franz Hubmann und
Erich Lessing. Daher war die Freude von
Michael Horowitz zurecht groß, als Albertina-Direktor
Klaus Albrecht Schröder
ihn zum „österreichischen Henri Car-
© Starpix/picturedesk.com; Besitz des Künstlers © Michael Horowitz (4)
40 wına | April 2020
Pressefotograf
Michael
Horowitz: Kiki
Kogelnik (1969).
Michael Horowitz:
Künstler von Gugging
(1981).
Michael Horowitz:
Friederike
Mayröcker
(2019).
tier-Bresson“ adelte und so
mit dem größten europäischen
Fotokünstler verglich.
Literarische Porträts. Horowitz
zeigt in seinen Arbeiten
sowohl einen wunderbaren
Einblick in das
blühende Wiener Kulturleben
wie auch – als hochpolitischer
Mensch mit humanistischer Haltung
– Fotoreportagen von brisanten und
einschneidenden Ereignissen in Österreich
von 1960 bis Ende der 1980er-Jahre:
Bereits als 15-Jähriger dokumentierte er
die Proteste gegen den antisemitischen
Professor Taras Borodajkewycz und das
erste österreichische Nachkriegstodesopfer
Ernst Kirchweger. Simon Wiesenthal
positionierte er ganz unten vor seiner riesigen
Landkarte, in die alle europäischen
„Meine Kamera
war
für mich
nicht nur
eine Komplizin,
sondern
eine Freundin.“
Michael
Horowitz
KZs eingezeichnet waren
und die hinter seinem Arbeitsplatz
im Büro hing. Ein
wahrlich gespenstisches Bild.
Seine engen Künstlerfreunde
Ernst Qualtinger,
Helmut Leherb, Arik
Brauer, Arnold Schwarzenegger,
Senta Berger, Oskar
Werner porträtierte er in alltäglichen
und auch oft schrägen Situationen.
Eine Reportage der „Mühl-Kommune“
bestellte der Spiegel, aber die schnell
berühmt werdenden Maler von Gugging
entdeckte Horowitz selbst. Er war erst 18,
als er in New York Kiki Kogelnik besuchte
und in all ihrer Besonderheit einfing. Horowitz
war aber auch dabei, als 1969 John
Lennon und Yoko Ono in Wien aus dem
Flugzeug stiegen und als 1980 Andy Warhol
hier Johanna Dichand porträtierte.
Als Journalist und Pressefotograf traf
Horowitz viele Vertreter aus Politik, Wissenschaft,
Kunst und Kultur – das wäre
noch nichts Besonderes. Das Außergewöhnliche
dieser Fotos manifestiert sich
in der Vertrautheit zwischen dem Mann
mit der Kamera und den so genannten
„Promis“ vor der Linse. Nur vor einem
engen Freund entblößt man sich derart
im seelischen wie körperlichen Sinn.
Doch Horowitz, der derzeit im Spectrum
der Tageszeitung Die Presse literarische
Porträts von vielschichtigen Persönlichkeiten
schreibt, wollte in dieser Ausstellung
nicht nur Prominente vertreten wissen:
Ein sehr berührendes Foto zeigt zwei
alte Frauen, die im Bellaria Kino auf eine
Filmvorführung warten. „Meine Kamera
war für mich nicht nur eine Komplizin,
sondern eine Freundin“, resümiert der
Vielseitige.
wına-magazin.at
41
Penible Schilderung
Von den vier Fragen
Was unterscheidet diese Nacht
von allen anderen Nächten?
Für den alten Salomon ist die
Antwort klar. Erstmals wird er den Sederabend
ohne seine geliebte Ehefrau feiern
müssen. Die „heilige Sarah“, wie er sie für
sich nennt, ist vor Kurzem gestorben, und
der Witwer sieht eine fast unlösbare Aufgabe
vor sich. Wie heute den Sederabend
über die Runden bringen, zu dem sich wie
alljährlich die Familie im Elternhaus versammeln
wird? Seine „großartige“ jüdische
Familie mit allen ihren möglichen
und unmöglichen Macken, die besonders
an den Feiertagen immer schon explosionsgefährdet
war. Michelle, die Mutter
zweier Pubertierender, terrorisiert alle
mit ihren gefürchteten Schreiattacken,
Denise, die ältere, kinderlose Schwester,
ertränkt ihren Frust im Alkohol, ein
Schwiegersohn flüchtet vor den Konflikten
chronisch aufs Klo, der andere, der
„Araber“, ein sephardischer Jude aus Marokko,
mit der Schwiegermutter in die
Küche. Doch diese, das Zentrum und
der ruhige Pol im Chaos, ist nun nicht
mehr da, um all das auszugleichen und
ihren Salomon während der langen Rituale,
Gebete und Gesänge zu unterstützen.
Der wiederum schockiert gerne mit
KZ-Witzen über Schornsteine, gestreifte
Anzüge, Duschen und provokanten Assoziationen
zum Lagerleben, die bei seinen
wöchentlichen Treffen mit Altersgenossen
im „Shoah-Café“ gut ankommen.
Tragikomisch. Bei allem Sinn für schwarzen
Humor und tragikomisches Familiendrama
mag es doch ein wenig frivol
wirken, wenn ein junger Autor der Enkelgeneration
sich in die alte Haut eines
Mannes begibt, der als einziger seiner
Familie die Nazizeit überlebte. Dass
Salomon etwa bei der Geburt der ersten
Tochter im Kreißsaal den Rauch der Krematorien
assoziiert, ist nicht nur ein „gefundenes
Fressen für den Psychoanalytiker“,
wie er selbst feststellt, sondern
eben ein überaus gesuchtes und unpas-
„Wir waren eine gute Erfindung.“ Der
kleine Roman des Elsässers Joachim
Schnerf führt durch den Sederabend
und blickt zurück auf ein ganzes Leben.
Von Anita Pollak
bis zum Lämmchen
sendes Bild, wie es wohl nur der Fantasie
eines Nachgeborenen, Jahrgang 1987,
entspringen kann. Fast rührend ist andererseits
dessen Sensibilität für die Trauer
eines untröstlichen Witwers und Familienvaters,
der sich um die Zukunft seiner
zerstrittenen neurotischen Töchter
sorgt und dem, man ahnt es, wohl kein
„nächstes Jahr in Jerusalem“ vergönnt
sein wird.
Sicherlich aus eigener Anschauung
kann der Straßburger hingegen schöpfen,
wenn es um das penibel geschilderte
Prozedere des Sederabends geht – von den
vier Fragen bis zum Lämmchen –, das als
Genießen mag so mancher Parallelen und
Abweichungen zu eigenen Seder-Erfahrungen.
Joachim Schnerf:
Wir waren eine
gute Erfindung.
Aus dem Französischen
von Nicola Denis.
Antje Kunstmann 2019,
144 S., € 18
leitmotivische Regieanweisung durch das
Buch führt. Von wörtlichen Zitaten aus der
Haggada bis zu den jeder Familie eigenen
Ritualen beim Verstecken und Finden des
Afikoman sind dem einschlägig gebildeten
Leser jede Menge Déjà-vus sicher. Das
macht nicht zuletzt den Charme dieses
kleinen Romans aus, der an einem einzigen
Tag spielt und doch auf ein ganzes
Leben zurückblickt.
Genießen mag so mancher vielleicht
auch Parallelen und Abweichungen zu
eigenen Seder-Erfahrungen. Wenn man
sich sagen kann, na ganz so arg ist´s oder
war es bei uns doch nicht, so hat es die
ebenso kurzweilige wie kurze Lektüre
bereits gelohnt. Einem Gedicht von Jehuda
Amichai ist übrigens der poetische
Titel des Romans geschuldet, der im Original
knapper und passender Cette nuit
heißt.
42 wına | April 2020
Suchgeschichten
Familien
und andere Banden
Maxim Billers ausgesuchte Familiengeschichten:
komödiantisch, melancholisch,
traurig, von Traumata gezeichnet, aber
allesamt so lesbar wie lesenswert.
Von Alexander Kluy
© picturedesk.com
Maxim Biller:
Sieben Versuche
zu lieben.
Familiengeschichten.
Mit einem Nachwort
von Helge Malchow.
Kiepenheuer & Witsch
2020, 368 S., € 22,70
Notizen zur Geschichte des Fühlens
nannte der Wiener Philosoph
Günter Anders vor fast 35
Jahren ein Buch. Dessen Haupttitel: Lieben
gestern. Der neueste Band Maxim
Billers ließe sich ebenso titulieren. Er
vereint darin 13 seiner besten Kurzerzählungen
zu einer Geschichte des Fühlens,
die hart am Puls der Zeit ist. Einst fühlte
er der Zeit als streitbarer Kolumnist das
Tempo, heute ist er ein angesehener Erzähler
und Dramatiker (und einige Zeit
lang auch Mitglied der sacht umstrittenen
TV-Sendung Das literarische Quartett).
Sein Beziehungsschlüsselroman Esra zog
vor Jahren ein literaturnotorisch gewordenes
Gerichtsverfahren nach sich.
Die an der klassischen amerikanischen
short story orientierten Prosastücke seiner
Sieben Versuche zu lieben spielen an Orten,
die Biller – er wird heuer im August
seinen 60. Geburtstag begehen – sehr gut
kennt, in Berlin, München und Hamburg,
in Prag und in Israel. In einer ungemein
direkten, schnellen, manchmal
rabiaten Sprache entwirft Biller Konstellationen
der Liebe zwischen Anziehung,
Sehnsucht, Vergehen, Ausweichen, Verlustangst,
triebhafter Lust und diffuser
Sprach- und Gefühllosigkeit. Dies vor
dem zeithistorischen Prospekt eines totalitären
wie eines „ganz normalen“ Antisemitismus
in Ost und West. Zumeist sind
seine Protagonisten in den Dreißigern
In einer ungemein
direkten, schnellen,
manchmal rabiaten
Sprache entwirft Biller
Konstellationen der
Liebe zwischen Anziehung,
Sehnsucht,
Vergehen, Ausweichen,
Verlustangst,
triebhafter Lust und
diffuser Sprach- und
Gefühllosigkeit.
und Vierzigern, manche sind Künstler,
andere tauchen berufslos in scharf umrissenen
Situationen auf. Alle sind Großstädter.
Und allen eigen ist, so einst der
Titel einer schlimmen deutschen Filmkomödie,
Das merkwürdige Verhalten
geschlechtsreifer Großstädter zur Paarungszeit.
Aus 30 Jahren stammen die „Familiengeschichten“,
die Helge Malchow zusammengestellt
hat, von einem von Billers
frühesten Bänden Wenn ich einmal
reich und tot bin (1990) – da gehörte er
noch zur „Tempo“- und Zeitgeistequipe
– bis zu den Short Storys aus Liebe heute
von 2007.
Es sind allesamt Suchgeschichten. Immer
wieder wird aufgebrochen, etwas
Verschollenes ausfindig zu machen, von
dem in der Vergangenheit nie (mehr) so
richtig die Sprache war. Und immer wieder
werden im Schatten von
Traumata Varianten der Wahrheit
präsentiert, besser: aufgetischt
– Essen und Trinken sind
wichtig bei Biller, als sozialer Akt
wie als Wiederspiegelung innerfamiliärer
Verhaltensmuster –,
die zeigen: Alles schwankt. Alles
wird schwankend gemacht.
Halt, richtigen, festen, eindeutigen
Halt unter den Füßen gibt
es nicht. Dafür sorgt die Literatur.
Jene, die in Maxim Billers Erzählungen
gelesen wird, Poeme
Marina Zwetajewas oder Ossip
Mandelstams, und jene, in denen
Autoren auftauchen, von Ilja
Ehrenburg bis Joseph Heller oder
David Vogel, die Maxim Biller in
einem halben Leben selber geschrieben
hat.
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43
Abarbeiten
Hunger, Hunger,
Willkür und Tod
Humoristische Pointen sucht man
in dem Erzählband Eine Katze im
Ghetto vergeblich. Der polnischjüdische
Schriftsteller Rachmil Bryks hat
das Łód er Ghetto und das Konzentrationslager
Auschwitz erlebt. In seinen Geschichten
hat er sich an dem an diesen
Schreckensorten Erlebten bis zu seinem
Tod 1974 in den USA abgearbeitet. In ihnen
schildert er, was es bedeutete, als Jude
unter den Nazis zu überleben. Es bedeutete
Hunger, Hunger und nochmals Hunger.
Es bedeutete, der Willkür der Peiniger
völlig ausgeliefert zu sein, und es bedeutete
zu wissen, dass jeder Tag der letzte sein
könnte.
Immer wieder schildert Bryks diese
Horrorjahre aus der Perspektive von Kindern.
Manche Passage ist dabei kaum
auszuhalten. Da versteckt sich ein kleines
Mädchen in Auschwitz, um dem Gang in
die Gaskammer zu entgehen, bekommt
aber mit, dass, wenn es nicht gefunden
wird, statt ihr 100 andere Menschen getötet
werden. Was soll sie tun?
Aber auch Erwachsene kommen in den
Geschichten Bryks immer wieder in Situationen,
in denen sie überlegen, welche Entscheidung
nun die richtige und auch moralisch
vertretbare wäre. Man spürt, dass
es dem Überlebenden dabei auch darum
ging zu zeigen, dass viele Juden und Jüdinnen
trotz der widrigen Umstände nicht zu
dem wurden, was die Nazis aus ihnen zu
machen versuchten: Sie benahmen sich
nicht wie Bestien. Sie fielen nicht übereinander
her. Sie versuchten, einander
nach Kräften zu helfen und auch das we-
Der Czernin Verlag veröffentlicht
nun Rachmil
Bryks Erzählungen aus
dem Łódźer Ghetto und
dem KZ Auschwitz auf
Deutsch. Seine Tochter
Bella Bryks-Klein meint,
dass die Übersetzung ins
Deutsche gerade in einer
Zeit wichtig sei, „in der
wir erleben, dass der
Antisemitismus wieder
erwacht“.
Von Alexia Weiss
Rachmil Bryks:
Eine Katze im Ghetto und
andere Erzählungen.
Erstmals erschienen auf
Jiddisch in New York 1952, nun
von Andrea Fiedermutz ins
Deutsche übertragen und im
Czernin Verlag im März 2020
veröffentlicht.
208 S., € 22
nige Brot, das sie erhielten, zu teilen. Hart
ins Gericht ging er allerdings mit den jüdischen
Aufsehern, den Kapos.
Immer wieder schildert Bryks diese Horrorjahre
aus der Perspektive von Kindern. Manche Passage
ist dabei kaum auszuhalten.
Beschreiben, was war. Was bei der Lektüre
der schmerzhaften Geschichten auch klar
ist: Die Bestien verortete Bryks auf der Seite
der Deutschen, auf der Seite der Nazis. Immer
wieder schildert er den Sadismus der
Aufseher und vor allem der Aufseherinnen
in Auschwitz.
Oft wird heute die Frage gestellt, wie es
so weit kommen konnte. Diese Frage stellt
Bryks nicht. Er beschrieb, was war. Nüchtern,
nahezu emotionslos. Die Emotion
stellt sich beim Lesen dadurch ein, indem
man sich vorstellt, wie man selbst es ertragen
könnte, wenn einem Ähnliches passieren
würde.
Seine Tochter Bella Bryks-Klein, die in
Israel lebt, hat für die deutsche Ausgabe
ein Nachwort beigesteuert. „Mögen die Beschreibungen
seiner authentischen Erfahrungen
im Łód er Ghetto und in Auschwitz
den deutschsprachigen Lesern einen
Einblick in die Erfahrungen eines unschuldigen
friedlichen jüdischen Bürgers
im Europa des Zweiten Weltkriegs geben“,
schreibt sie darin. „Die Themen in diesem
Buch sind heutzutage, im 21. Jahrhundert,
nicht weniger dringend und relevant als
damals, als ich als junges Mädchen zusah,
wie sie mein Papa schrieb.“
44 wına | April 2020
URBAN LEGENDS
Hysterie
und Vernunft
Das Coronavirus hat die Welt fest im Griff. Welches Land wird die
Krise am Ende am besten bewältigt haben?
oran wird man sich im Rückblick zuerst
erinnern, wenn man an das Jahr 2020
denkt? An tausende Geflüchtete, die
versuchten, von der Türkei nach Griechenland
und damit die EU zu gelangen,
nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip
Erdoğan die Grenze geöffnet hatte? Oder an das Virus
Covid-19, das sich rasch von China aus in alle Welt
verbreitete – Globalisierung funktioniert
auch analog.
Von Alexia Weiss
Noch sind wir in beiden Themen massiv verstrickt,
wobei sich Ersteres vor allem in Form von Bildern, Videos
und Berichten den Weg in unseren (Medien-)Alltag
bahnt, während das Virus sehr nah gerückt ist. Theoretisch
kann man sich jederzeit auf der Straße, am Arbeitsplatz,
in der U-Bahn oder im Supermarkt mit dem Coronavirus
anstecken. Praktisch auch.
Mitten in einer Krise sieht man oft den Wald vor lauter
Bäumen nicht, heißt es gerne. Was ist der richtige Weg?
Das Land und seine Menschen sofort abschotten? Oder
einmal abwarten und sehen, was passiert? Schließlich
schwächeln auch schon die Börsen – ist es das Virus, ist
es der Ölpreis? China ist jedenfalls in weiter Ferne, die
TV-Berichte über Menschen, die in Wuhan ihre Häuser
nicht verlassen durften und ein Spital, das binnen Tagen
hochgezogen wurde, waren eindringlich, aber eben doch
gefühlt sehr weit weg.
Die Reportagen aus Italien haben da schon ganz andere
Sprengkraft. Italien ist das Stück Sonne, das in wenigen
Zug- oder Autostunden zu erreichen ist. Durch
Mailand schlendern, in Südtirol wandern, in Venedig
die Seele baumeln lassen, das ist vielen nahe. Nicht nur
geografisch, sondern auch emotional. Die Berichte aus
dem Nachbarland sind dramatisch, die Zahl der Toten
erschüttert. Und es stellt sich die Frage: Warum breitet
sich in Italien das Virus so viel schneller aus als in anderen
Ländern? Hat man zu spät reagiert? Kam das Schließen
von Schulen, Kinos, Museen zu zögerlich?
Indessen machte sich Israel Anfang März daran, das
Land sukzessive abzuriegeln. Zunächst wurde den Bürgern
verschiedener Länder, darunter auch Österreich, die
Einreise verboten und Israelis, die aus diesen Staaten zurückkehrten,
eine zweiwöchige Heimquarantäne verordnet.
Der nächste Schritt war, alle Rückkehrenden in Quarantäne
zu schicken.
Was für eine Hysterie, sagten derweilen immer noch
viele Österreicher. Panikmache! Es gebe viel mehr Grippeinfizierte
und auch Grippetote, Jahr für Jahr, als nun
durch das Coronavirus zu beklagen seien. Und Israel?
Naja, da herrsche ja grundsätzlich Paranoia. Und man
neige dort zu überzogenen Reaktionen. Österreicher
nicht mehr einreisen lassen! Aber wehe, das würde umgekehrt
passieren, da würde man sofort wieder die Antisemitismus-Keule
zu spüren bekommen! Das hörte ich
in Variationen beim Friseur, beim Warten vor der Supermarktkasse,
in der U-Bahn. No joke.
Und ich dachte mir indessen: Aber Krisenmanagement
kann Israel. Bei Österreich war ich mir da zuerst
nicht so sicher, inzwischen wählte die Regierung aber
einen strikten Weg mit Shutdown, ohne die Versorgung
Mitten in einer Krise sieht man oft den
Wald vor lauter Bäumen nicht, heißt
es gerne. Was ist der richtige Weg?
mit Notwendigem zu gefährden. Und während rundherum
immer noch besonders Coole meinen, ah, betrifft
ja eh nur Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen,
denke ich mir erstens, schlimm genug – wir haben alle
Eltern, Großeltern, liebe Freunde, die keine 20 oder 30,
sondern schon 60 oder 70 Jahre alt sind. Und zweitens
macht sich das Bedürfnis breit, sich einzuigeln und selbst
das Einkaufen im Supermarkt zu vermeiden, um seine
Familie und sich zu schützen. Ist das Hysterie? Ist das
Vernunft? Das werden wir alle wohl erst im Rückblick
sehen. Nun aber verändert sich täglich die Lage. Vielleicht
sieht morgen alles schon viel besser aus. Oder viel
schlimmer.
Zeichnung: Karin Fasching
wına-magazin.at
45
KULTUR-TIPPS FÜR
ZUHAUSE
SERIEN-TIPP
DYSTOPISCHER
SERIENHIT AUF HBO
Was wäre, wenn die USA im Zweiten
Weltkrieg von einem Hitler-freundlichen
Präsidenten regiert worden wäre? Wenn
dieser Präsident, abgesehen von seinen
antisemitischen Parolen, sich geweigert
hätte, US-Truppen in den Krieg gegen
Hitler zu schicken. Was wäre aus „Philip“
geworden, dem jüdischen Kind in
der kleinen Vorstadt Newark im US-Bundesstaat
New Jersey Anfang der Vierzigerjahre
...?
Mit der sechsteiligen, aufwändigen Philipp-Roth-Verfilmung
The Plot Against
America (dt. Verschwörung gegen Amerika)
widmet sich HBO einem dystopischen
Plot, dessen Aktualität in so manchem
Aspekt nicht von der Hand zu
weisen ist. Beklemmend werden hier
etwa historische Filmaufnahmen mit der
fiktiven, semibiografischen Erzählung
Roths aus dem Jahr 2004 enggeführt.
Das erfolgreiche Produzentenduo David
Simon und Ed Burns, bekannt geworden
mit der Kultserie The Wire, setzen
zudem mit John Turturro als Rabbi Lionel
Bergelsdorf oder Winona Ryder auf
ein hochkarätiges Schauspielensemble.
Und auch wenn es hier nur eine dystopische
Fiktion ist: Der Schrecken lässt
sich nicht ganz so einfach abschütteln:
Was wäre, wenn ...
hbo.com
BUCH-TIPP
WIEN
VOM ENDE
JÜDISCHEN LEBENS
IN EINEM BEZIRK
Bis 1938 herrschte auch
in Wien-Margareten ein
lebendiges und vielfältiges
jüdisches Leben, das
sich von den Gemeindebauten
des Bezirks
Gabriele Anderl:
Jüdisches Leben
in Wien-
Margareten.
Mandelbaum
Verlag 2019,
480 S., 24 €
über kleine Gewerbetreibende
und wohlhabende
Kaufleute bis
zu Kinobesitzern und
Künstlern erstreckte. Gabriele
Anderl, Historikerin,
Autorin und Radiojournalistin,
die zuletzt mit Büchern wie Schleppen,
Schleusen, Helfen und Und ich reise noch
immer (mit Margarete Affenzeller) im
Mandelbaum Verlag auf ihre gewichtige
Forschungsarbeit aufmerksam machen
konnte, befasst sich in ihrem neuen
Buch Jüdisches Leben in Wien-Margareten
mit dem religiösen jüdischen Leben
in Margareten ebenso wie mit speziellen
Berufsgruppen, darunter Rechtsanwälte,
Apotheker oder Möbelhändler,
und einer Reihe exemplarischer Familienbiografien,
etwa jener der Brüder Rosenbaum
oder der Familie Ehlers, die
sechs Jahre in einer Kellerwohnung versteckt
NS-Verfolgung und Krieg überlebten.
Anderl erzählt schnörkellos und faktenreich
und endet den dichten, fast
500-seitigen Band mit Namenslisten jüdischer
Studierender des Bezirks und
biografischen „Splittern“ sowie einem
Kapitel, das die Frage nach einem neuen
jüdischen Leben in Margareten stellt und
heute hier lebende Jüdinnen und Juden
vorstellt. Jüdisches Leben in Wien-Margareten
ist ein fakten- und datenstarker, gewichtiger
Band, der auch die – großteils
österreichischen – Täter mit in das Blickfeld
rückt.
BUCH-TIPP
KULTURGESCHICHTE
KOSMOPOLIT*IN
SEIN IST EIN
MENSCHENRECHT
Auf die Frage, warum sie
ihren neuen Band dem
Ideal der Kosmopolitin,
des Kosmopoliten gewidmet
hat, antwortete die
Martha
Nussbaum:
Kosmopolitismus.
Revision
eines Ideals.
wbg Theiss
2020
352 S., 30 €
1947 geborene renommierte
US-Philosophin
Martha Nussbaum in
einem Interview, dass sie
dafür von einem republikanischen
Senator scharf
angegriffen worden sei,
Kosmopolitin zu sein − eine, nicht nur in
den USA, derzeit vielfach hart kritisierte
Welthaltung, nach der alle Menschen
auf dieser Welt gleich − und gleichberechtigt
sind. Doch wer Grenzen schließt,
vor „Ausländer*innen“ warnt oder „XY
first“ ruft, lehnt internationale Menschenrechte
ab. Deshalb braucht es Kosmopolitismus.
Revision eines Ideals. In ihrem
philosophisch-historischen Essay
zieht Nussbaum, die 2008 mit 61 Jahren
zum Judentum konvertierte, faktenreich
den Bogen von der antiken Philosophie
bis in die Gegenwart, fragt nach
dem ethischen Dilemma von Pluralismus
und Globalisierung und macht deutlich,
dass viele Wesen auch viele Arten von
Würde bedeuten. Wer dieses Buch liest,
kann nicht mehr so rasch verleugnen,
dass Kosmopolitismus eine für jede Ethik
grundlegende Idee sein müsste.
46 wına | April 2020
© HBO, Verlage, Peter Meisel, Aktionstheater, Web
Von Angela Heide
Theater, gestreamt: Bei
uns noch nicht richtig angekommen,
aber aktuell eine
gute Alternative.
MUSIK-TIPP
BEETHOVEN AUS DEM
WOHNZIMMER
Nicht erst 2014 machte der deutschrussische
Pianist Igor Levit auf sich
aufmerksam, als er seinen Echo
Klassik Award mit der Erklärung,
„antisemitischen Parolen eine solche
Plattform und Auszeichnungen
zu geben, ist unerträglich“,
zurückwies. Auch sonst ist der
Ausnahmekünstler mutig genug,
sich immer wieder zu Wort zu melden,
wenn es um Antisemitismus
und Ausgrenzung geht. Nun hat
Levit auch das Leben mit Corona
auf seinem Twitter-Account kommentiert:
„No fear“, heißt hier, nicht
nur auf das Virus bezogen, sein Lebensmotto.
Mit der Aufnahme von
Hauskonzerten erfreut er seine
Fangemeinde kontinuierlich seit
mehreren Wochen – unter anderem
mit dem Jahresjubilar Beethoven,
dessen Klaviersonaten 1–32 er
zuletzt 2019 bei Sony eingespielt
hat. Und das ist weit mehr als ein
täglicher musikalischer Lichtblick!
twitter.com/igorpianist
THEATER-TIPP
WENN SIE NICHT MEHR
OFFEN HABEN
Wer hätte gedacht, dass wir in der „Theaterstadt“
Wien einmal für mehrere Monate in kein
Theater mehr gehen könnten? Eigentlich ein
unglaublicher, schier dystopischer Gedanke,
der, hätte man* ihn noch kurz vor dem letzten
Jahreswechsel geäußert, mit einiger ironischer
Häme beantwortet worden wäre. Nun ist
es aber so, und das, wenn wir dieses Heft herausbringen,
seit mehreren Wochen – und noch
einige Zeit länger … Die Tatsache wirft auch
ein Licht auf die Frage, warum Streaming im
deutschsprachigen Theater, ob an den „großen
Tankern“ oder den kleinen „freien“ Bühnen,
die oft schon um den täglichen Publikumszuspruch
ringen, in den letzten Jahren
noch kaum angekommen ist, während etwa
englischsprachige Bühnen das Medium schon
lange für ihre Werbe- und Community-Zwecke
nutzen. Nun aber wurde aus der Not eine Tugend
− und wer es derzeit nicht ohne Bühne
aushält, kann sich durch diverse Angebote
das Theater ins Wohnzimmer holen. Auch
wenn der renommierte Regisseur Ulrich Rasche
Recht hat, wenn er deutlich macht, dass
die beiden Medien gänzlich unterschiedlich zu
bewerten sind und das „Live-Erlebnis“ Theater,
sobald es wieder möglich ist, erneut seinen
Weg in den Alltag finden wird, so ist es doch ein
wenig Abwechslung zu all den Serien-Massenangeboten,
mit denen man* sich ja auch sonst
den Alltag auf Sofa oder Bett medial versüßt.
Angebote findet man* u. a. auf den Websites
von nachtkritik.de (D) oder spectyou.com
(CH), aber auch österreichische Gruppen wie
das Aktionstheater-Ensemble bieten tägliche
Streamingangebote, durch die es lohnt, sich
einmal „durchzuzappen“: aktionstheater.at.
LITERATUR-TIPP
WENN SIE FÜR UNS
ZUHAUSE LESEN
Auch die österreichische Literaturlandschaft
ist durch die globale Ankunft
von Corona mit existenziellen
Sorgen und bisher ungeahnten Herausforderungen
konfrontiert, denen
sich eine Anzahl von Künstler*innen,
aber auch Literaturhäusern und Interessenvertretungen
mit spannenden
neuen Angeboten stellen. Renommierte
Autor*innen lesen etwa zuhause
für ihr Publikum und stellen die
Videos gratis ins Netz, so Doron Rabinovici
seine Videos Hausgelesenes. Das
Literaturhaus Graz (literaturhaus-graz.
at) bietet jeden Freitag eine neue Ausgabe
seiner „Corona-Tagebücher“, mit
Beiträgen von Bettina Balàka, Monika
Helfer, Robert Pfaller, Julya Rabinowich,
Kathrin Röggla, Thomas Stangl
und vielen anderen mehr. Und auch
die Österreichische Gesellschaft für Literatur
(ogl.at) bietet seit März eine
neue Reihe: „Lesungen für zuhause“.
Abseits von Panikmache, Sorgen oder
sogar Dankbarkeit für etwas Entschleunigung
und Erholungsmöglichkeiten
für die gefährdete Natur bieten diese
neuen Reihen auch wirklich Innovatives
und laden ein, zeitgenössische Literatur
aus Österreich in den eigenen
vier Wänden aus ganz neuen Perspektiven
kennen zu lernen.
Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?
Schreiben Sie uns einfach unter: wina.kulturkalender@gmail.com
Foto: Pixabay
wına-magazin.at
47
DAS LETZTE MAL
Das letzte Mal, ...
dass mich die berühmte Angst vor dem
weißen Blatt ergriffen hat, war …
… gerade eben. Unbeantwortete E-Mails haben
den gleichen Effekt auf mich. Die Angst motiviert
mich oft, etwas fertigzumachen.
Manchmal allerdings lähmt sie mich, und dann
höre ich mitten im Satz –
Das letzte Mal einen handschriftlichen
Brief geschrieben habe ich …
… Anfang März, als ich in unserem Stiegenhaus
einen Zettel für meine Nachbarn aufhängte. Wer
Hilfe beim Einkaufen brauche, könne sich an
mich wenden. Bis jetzt hat sich noch niemand
gemeldet, zum Glück. Ich hasse einkaufen.
Das letzte Mal eine schöne Postkarte
bekommen habe ich …
… im Februar von meiner Cousine, die in Israel
war. Sie zeigt ein gezeichnetes Kamel, das besserwisserisch
durch eine Brille schaut und dabei
breit grinst. Vielleicht hat es sie an mich erinnert?
Ich will es nicht wissen.
Das letzte Mal, dass mich ein Thema,
über das ich geschrieben habe, nicht
mehr losgelassen hat, war …
… eines meiner letzten Interviews für „Generation
unverhofft”. Ich habe für die Kolumne
mehrere Menschen porträtiert, die erst als
junge Erwachsene den Glauben für sich entdeckten
und nun deutlich traditioneller als
ihre Eltern leben. Mich haben ihre Entscheidungsprozesse
besonders interessiert.
Das letzte Mal stolz auf einen Text von
mir war ich …
… heute Nachmittag, als ich Freunden eine
WhatsApp-Nachricht schrieb. Da bin ich viel
lustiger als in meinen Artikeln und Interview-
Antworten.
Versteckte Jahre.
Der Mann, der meinen
Großvater rettete.
Zsolnay Verlag,
189 S., 20,60 €
HORROR
VACUI
Für alles gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes.
Autorin Anna Goldenberg berichtet in diesem Monat von
einem besserwisserischen Kamel, motivierender Angst
und ihrem Einkaufshass.
Anna Goldenberg, geboren 1989 in Wien, studierte Psychologie
an der Universität von Cambridge sowie Journalismus an der Columbia
University und war anschließend Redakteurin der Wochenzeitung
Jewish Daily Forward in New York. Zurück in Wien begann
sie für den Falter über Politik und Medien zu schreiben und den
Podcast der Wochenzeitung zu betreuen. 2018 erschien ihr vielgelobtes
Buchbebüt Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvater
rettete (Zsolnay Verlag). Für WINA berichtete sie regelmäßig
über die Generation unverhofft – in dieser Ausgabe leider zum
letzten Mal.
© corn.at/Deuticke
48 wına | April 2020
Nachrichten
Meinung
Magazin
Wir geben Ihnen unser
Wort. Täglich aufs Neue.
Lesen und erleben Sie
Journalismus in höchster
Qualität, digital neu
gedacht und händisch
kuratiert für maximales
Lesevergnügen.
„Die Presse“
DIGITAL
jetzt um nur
18 €
pro Monat
Bezahlte Anzeige
Polina, Studentin
Bleib daheim.
Es könnte Leben retten.
Polina hat sich schon immer gegen Ausgrenzung und für Zusammenhalt eingesetzt. Deshalb unterstützt sie
besonders jetzt auch ihre älteren Nachbarinnen und Nachbarn dabei, ihren Alltag zu meistern und erledigt
Besorgungen für sie. Bekannten, die zur Risikogruppe gehören, hat sie die Hotline der Stadt Wien
01/4000-4001 empfohlen, die ältere Personen bei der Organisation ihres Alltags unterstützt. #BleibDaheim
wien.gv.at/coronavirus