Leseprobe: Die Tschittiwiggl und der große Mock
Leseprobe zu Käthe Recheis: Die Tschittiwiggl und der große Mock
Leseprobe zu Käthe Recheis: Die Tschittiwiggl und der große Mock
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Der Mond über dem Tal<br />
<strong>der</strong> <strong>Tschittiwiggl</strong><br />
In einer hellen Mondnacht flog die Eule mit lautlosen<br />
Flügelschlägen über das Tal. Ihre Ohren vernahmen leises<br />
Lachen, Huschen <strong>und</strong> Trippeln. Halme schwankten auf<br />
<strong>der</strong> Wiese. Ab <strong>und</strong> zu tauchte ein pelziges Zöpfchen im<br />
Gras auf, um gleich wie<strong>der</strong> zu verschwinden.<br />
„<strong>Die</strong> <strong>Tschittiwiggl</strong>-Kin<strong>der</strong> spielen Verstecken“, dachte<br />
die Eule. „In so einer Nacht schlafen die nie.“<br />
Das Haus <strong>der</strong> <strong>Tschittiwiggl</strong>-Familie stand am Talrand,<br />
unter einem alten Baum, <strong>der</strong> seine Äste darüber ausbreitete.<br />
Der Vater <strong>und</strong> die Mutter saßen auf <strong>der</strong> Veranda. In <strong>der</strong><br />
Laube nebenan saß <strong>der</strong> Großvater in seinem Schaukelstuhl<br />
<strong>und</strong> schaukelte.<br />
„Ich wünsche eine schöne Nacht“, rief die Eule im<br />
Vorbeifliegen.<br />
„Das wünschen wir auch dir“, riefen <strong>der</strong> Vater <strong>und</strong> die<br />
Mutter.<br />
„Was hat sie gesagt?“, fragte <strong>der</strong> Großvater <strong>und</strong> hielt sich<br />
die Pfote hinters Ohr. Er war alt <strong>und</strong> hörte nicht mehr<br />
gut.<br />
„Sie hat uns eine schöne Nacht gewünscht“, rief die<br />
Mutter.<br />
„Einen schönen Tag?“, fragte <strong>der</strong> Großvater verw<strong>und</strong>ert.<br />
„Wenn es doch Nacht ist! Nun ja, Eulen schlafen bei Tag,<br />
also ist die Nacht für sie <strong>der</strong> Tag. Macht nichts! Je<strong>der</strong> nach<br />
seiner Art.“<br />
<strong>Die</strong> Eule hatte das Talende erreicht, flog in den Wald<br />
hinein <strong>und</strong> strich im Dunkel unter den Bäumen dahin.<br />
Hier <strong>und</strong> dort sickerte Mondlicht durchs dichte Geäst.<br />
Auf dem Weg zu ihrem Schlafplatz kam die Eule zu <strong>der</strong><br />
Lichtung, wo <strong>der</strong> Maumautzer wohnte. Seine Hütte war,<br />
bis auf den Rauchfang, mit Moos bedeckt. Wenn man<br />
nicht genau hinschaute, hätte man meinen können, mitten<br />
auf <strong>der</strong> Lichtung läge ein verwitterter, mit Moos bewachsener<br />
Felsbrocken.<br />
Der Maumautzer kauerte vor <strong>der</strong> Hütte, den struppigen<br />
Kopf in die Pfoten gestützt.<br />
<strong>Die</strong> Eule begrüßte ihn mit einem fre<strong>und</strong>lichen Schuschu<br />
<strong>und</strong> ließ sich auf einen Ast nie<strong>der</strong>.<br />
Der Maumautzer blinzelte unter den buschigen Augenbrauen<br />
hervor. Er grummelte etwas Unverständliches,<br />
erhob sich, stapfte in die Hütte hinein <strong>und</strong> schlug die<br />
Moostür hinter sich zu.<br />
<strong>Die</strong> Eule plusterte sich auf. „Auch ich liebe das Alleinsein“,<br />
sagte sie zu sich selber. „Man kann es aber auch<br />
übertreiben. Ein bisschen Geselligkeit würde dir nicht<br />
schaden, Fre<strong>und</strong> Maumautzer.“<br />
Sie breitete die Schwingen aus <strong>und</strong> flog weiter, zu ihrem<br />
Schlafplatz tief drinnen im Wald.<br />
6<br />
7
<strong>Die</strong> <strong>Tschittiwiggl</strong>-Kin<strong>der</strong> hatten sich müde gespielt <strong>und</strong><br />
fanden, dass es an <strong>der</strong> Zeit war, sich auf <strong>der</strong> Veranda auszuruhen.<br />
Joggerle <strong>und</strong> Mopperle, die Zwillinge, hüpften voraus.<br />
Tschok, <strong>der</strong> ältere Bru<strong>der</strong>, setzte die kleine Ti auf seine<br />
Schulter <strong>und</strong> folgte ihnen nach.<br />
„Da seid ihr ja“, sagte <strong>der</strong> Vater, rückte zur Seite <strong>und</strong><br />
machte Platz.<br />
<strong>Die</strong> kleine Ti kletterte auf den Schoß <strong>der</strong> Mutter.<br />
Joggerle <strong>und</strong> Mopperle kuschelten sich an Tschok.<br />
Je<strong>der</strong> <strong>der</strong> drei hatte ein samtiges Pelzchen, Wuschelhaare<br />
am Kopf <strong>und</strong> kleine Nasen <strong>und</strong> Ohren.<br />
Der Pelz <strong>der</strong> kleinen Ti war noch flaumig wie bei einem<br />
Vogelkind. Näschen <strong>und</strong> Ohren waren winzig. Sie sah<br />
allerliebst aus <strong>und</strong> wurde von <strong>der</strong> ganzen <strong>Tschittiwiggl</strong>-<br />
Familie verwöhnt.<br />
Der Bach, <strong>der</strong> durch die Wiese floss, murmelte <strong>und</strong><br />
gluckste. <strong>Die</strong> <strong>Tschittiwiggl</strong>-Familie saß still da. Das Mondlicht<br />
hatte ihr Tal verzaubert <strong>und</strong> allen war feierlich zu<br />
Mute.<br />
Drinnen im Haus huschten Mäuse umher.<br />
Wie jeden Abend hatte die Mutter für sie Futter ausgestreut,<br />
da eine Krume <strong>und</strong> dort ein paar Körner. <strong>Die</strong><br />
Mäuse fraßen sich satt <strong>und</strong> schleppten, was übrig blieb, in<br />
ihre unterirdischen Höhlen im Wurzelgeflecht des alten<br />
Baumes.<br />
Ein paar Tagereisen vom Tal entfernt, am Fuß eines<br />
hohen Berges, lagerte in einer Mulde ein Geschöpf, das<br />
irgendwie aussah wie ein <strong>Tschittiwiggl</strong>, aber wie<strong>der</strong>um<br />
auch nicht. Alles schien ins Gegenteil verkehrt zu sein, war<br />
zu groß <strong>und</strong> zu plump geraten.<br />
Der Pelz war rau <strong>und</strong> drahtig, das Haar borstig, die Nase<br />
klobig. <strong>Die</strong> Ohren waren viel zu lang <strong>und</strong> standen steil<br />
aufrecht.<br />
Das Mondlicht ließ das langohrige Geschöpf nicht<br />
einschlafen. Es wälzte sich hin <strong>und</strong> her, aber nichts half, es<br />
wurde nur noch wacher.<br />
„Mondlicht!“, murrte das Geschöpf. „Wozu soll das<br />
nütze sein? <strong>Die</strong> Nacht ist zum Schlafen da! Und wie kann<br />
man schlafen, wenn es nicht dunkel ist!“<br />
Der <strong>große</strong> <strong>Mock</strong>, so hieß das langohrige Geschöpf,<br />
warf einen bitterbösen Blick zum Mond hinauf, dann<br />
vergrub er den borstigen Kopf in den Armen <strong>und</strong> presste<br />
die Augen zu. Schlafen musste er, damit er am Morgen bei<br />
Kräften war für den weiten Weg ins Tal <strong>der</strong> <strong>Tschittiwiggl</strong>.<br />
Dort hatten sich die <strong>Tschittiwiggl</strong> zur Ruhe begeben.<br />
Sie wussten nichts von kommendem Unheil, wussten<br />
nicht, dass in ihrem friedlichen Tal bald nichts mehr so<br />
sein würde, wie es immer gewesen war. Sie schliefen <strong>und</strong><br />
freuten sich in ihren Träumen auf den neuen Tag,<br />
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Ein ganz gewöhnlicher Tag<br />
im <strong>Tschittiwiggl</strong>-Tal<br />
Am nächsten Morgen, schlief die <strong>Tschittiwiggl</strong>-Familie<br />
bis in den hellen Tag hinein.<br />
<strong>Die</strong> Sonne stand am Himmel <strong>und</strong> schien auf die Blumenwiese,<br />
auf <strong>der</strong> sich jede Blüte geöffnet hatte. Sie schien<br />
auf die Gänseblumenwiese – auf <strong>der</strong> nur Gänseblümchen<br />
wuchsen – <strong>und</strong> auf das <strong>Tschittiwiggl</strong>-Haus.<br />
Es war ein w<strong>und</strong>erliches Haus, denn <strong>der</strong> Vater hatte es<br />
ohne Plan gebaut, wie es ihm eben gefiel. Alles war ein<br />
bisschen schief geraten, hatte Ecken <strong>und</strong> Winkel, wo keine<br />
sein sollten, <strong>und</strong> Stufen, wo man keine erwartete.<br />
In einem <strong>der</strong> Zimmer im ersten Stock hatte <strong>der</strong> Vater<br />
die Tür vergessen. Dafür hatte es einen Balkon, von dem<br />
eine Strickleiter herabhing, zum Hinauf- <strong>und</strong> Hinuntersteigen.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Tschittiwiggl</strong>-Familie war stolz auf ihr Haus <strong>und</strong><br />
fand es beson<strong>der</strong>s gemütlich.<br />
Irgendwann am späten Vormittag erwachte einer nach<br />
dem an<strong>der</strong>en.<br />
Sie tranken auf <strong>der</strong> Veranda Tee <strong>und</strong> aßen Kuchen <strong>und</strong><br />
danach tat je<strong>der</strong>, wozu er gerade Lust hatte.<br />
Der Großvater setzte sich in den Schaukelstuhl <strong>und</strong><br />
schaukelte.<br />
Der Vater hämmerte <strong>und</strong> nagelte in seiner Werkstatt.<br />
Es gab immer etwas zu reparieren, ein abgebrochenes<br />
Tischbein zum Beispiel o<strong>der</strong> einen Sessel, <strong>der</strong> wacklig<br />
geworden war.<br />
<strong>Die</strong> Mutter zupfte im Gemüsegarten Radieschen für das<br />
Mittagessen aus.<br />
In den Beeten wuchsen nicht nur Radieschen, Karotten,<br />
Kraut <strong>und</strong> Petersilie <strong>und</strong> was es sonst in einem Gemüsegarten<br />
gibt, überall wucherte Unkraut. <strong>Die</strong> Mutter brachte<br />
es nicht über sich, die Beete zu jäten. Schließlich wusste<br />
das Unkraut nicht, dass es Unkraut war, <strong>und</strong> freute sich<br />
gewiss darüber, in guter Erde wachsen zu dürfen. Außerdem<br />
hatten manche <strong>der</strong> Unkräuter winzige Blüten, was<br />
hübsch anzusehen war.<br />
Joggerle <strong>und</strong> Mopperle trieben sich am Bach herum.<br />
Ihre Pfotenfüße waren so leicht, dass kein Halm geknickt<br />
wurde.<br />
<strong>Die</strong> kleine Ti flocht Ketten <strong>und</strong> Kränze aus Gänseblumenblüten.<br />
Tschok leistete ihr dabei Gesellschaft.<br />
Am Nachmittag beschloss <strong>der</strong> Vater Himbeermarmelade<br />
einzukochen. Das letzte Glas hatten Joggerle <strong>und</strong> Mopperle<br />
gemeinsam mit <strong>der</strong> kleinen Ti am Vortag leer geschleckt.<br />
<strong>Die</strong> Himbeerhecke zog sich am Waldrand entlang <strong>und</strong><br />
war über <strong>und</strong> über bedeckt mit rot leuchtenden Früchten.<br />
Joggerle <strong>und</strong> Mopperle <strong>und</strong> Tschok sammelten die reifsten<br />
ein. <strong>Die</strong> kleine Ti half mit.<br />
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Inzwischen hatte die Mutter das Feuer im Herd angezündet.<br />
Der Vater holte den <strong>große</strong>n Kochtopf <strong>und</strong> das Honigglas.<br />
Nichts schmeckte so gut wie die Himbeermarmelade des<br />
<strong>Tschittiwiggl</strong>-Vaters. Das fand sogar <strong>der</strong> Maumautzer.<br />
Er aß sie für sein Leben gern.<br />
Tschok durfte die Himbeeren in den Topf schütten.<br />
Der Vater löffelte Honig hinein – nicht zu viel, aber auch<br />
nicht zu wenig. Nur das richtige Verhältnis ergab den<br />
erlesenen Marmeladengeschmack.<br />
Das Feuer im Herd knisterte. <strong>Die</strong> Mutter stellte den<br />
Topf auf die Kochplatte.<br />
Der Vater ergriff den <strong>große</strong>n Kochlöffel, schwenkte ihn<br />
feierlich <strong>und</strong> begann zu rühren.<br />
Alle schauten gespannt zu. Selbst <strong>der</strong> Großvater, <strong>der</strong><br />
nur selten den Schaukelstuhl verließ, war in die Küche<br />
gekommen.<br />
Tschok hatte die kleine Ti auf die Schulter genommen,<br />
damit sie in den Topf gucken konnte.<br />
Der Himbeerbrei begann zu kochen, blubberte <strong>und</strong><br />
warf Blasen.<br />
Der Vater rührte <strong>und</strong> rührte. Und rührte <strong>und</strong> rührte.<br />
Feine Marmelade gibt es nur dann, wenn unermüdlich<br />
gerührt wird.<br />
<strong>Die</strong> kleine Ti rutschte aufgeregt auf Tschoks Schulter<br />
herum.<br />
Joggerle <strong>und</strong> Mopperle hatten sich erwartungsvoll an<br />
den Pfoten gefasst.<br />
Endlich war es so weit! Der Vater hob mit einem<br />
zufriedenen Seufzer den Kochlöffel.<br />
<strong>Die</strong> Mutter nahm den Topf vom Herd <strong>und</strong> füllte die<br />
Marmelade in die bereitgestellten Gläser. Sie ließ aber<br />
genug im Topf, damit je<strong>der</strong> einen Löffel zum Kosten<br />
erhielt.<br />
Der Großvater bekam, weil er so alt war, zwei Löffel<br />
voll.<br />
„Ist sie gut geraten?“, fragte <strong>der</strong> Vater stolz.<br />
„Erraten?“, fragte <strong>der</strong> Großvater. „Was soll ich erraten?“<br />
„Nichts“, beruhigte ihn die Mutter. „Der Vater wollte<br />
nur wissen, ob dir die Marmelade schmeckt.“<br />
Das größte Marmeladenglas war für den Maumautzer<br />
bestimmt. Wie immer durften es ihm die Kin<strong>der</strong> bringen.<br />
Das Tal lag im goldenen Nachmittagslicht. Joggerle <strong>und</strong><br />
Mopperle schleppten gemeinsam den Korb, in den die<br />
Mutter das Marmeladeglas verpackt hatte. <strong>Die</strong> kleine Ti<br />
trippelte neben Tschok einher.<br />
Weiße Sommerwolken schwebten am Himmel. In<br />
jedem Busch sangen Vögel.<br />
Als die Kin<strong>der</strong> in den Wald kamen, nahm Tschok die<br />
kleine Ti auf die Schulter. Für sie wäre es zu mühsam<br />
gewesen, über Baumwurzeln o<strong>der</strong> im Farn versteckte<br />
12 13
Steine zu klettern.<br />
Manchmal war <strong>der</strong> Boden mit Moos bedeckt, dann<br />
wie<strong>der</strong> mit einer Decke aus dürren Nadeln. Sonnenkringel<br />
lagen im Gezweig.<br />
Der Pfad schlängelte sich zwischen den Bäumen dahin,<br />
bis es hell durch die Stämme blinkte. <strong>Die</strong> Kin<strong>der</strong> traten<br />
auf die Lichtung hinaus, wo <strong>der</strong> Maumautzer, in Gedanken<br />
versunken, vor seiner Hütte saß.<br />
„Herr Maumautzer!“, rief Tschok.<br />
Der Maumautzer fuhr hoch, erblickte die Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong><br />
flüchtete in die Hütte. <strong>Die</strong> Tür fiel hinter ihm zu.<br />
Joggerle machte einen Handstand <strong>und</strong> Mopperle schlug<br />
einen Purzelbaum.<br />
„So ist es immer! So ist es immer!“, quietschten sie.<br />
<strong>Die</strong> kleine Ti sprang von Tschoks Rücken <strong>und</strong> hopste<br />
vergnügt, Tschok nahm das Glas aus dem Korb.<br />
„Himbeermarmelade!“, rief er, „Frisch vom Vater eingekocht,“<br />
<strong>Die</strong> Tür öffnete sich einen Spalt. Ein Stückchen<br />
struppiger Pelz war zu erblicken,<br />
„Himbeermarmelade!“, piepste die kleine Ti.<br />
„Ein Glas für Sie, Herr Maumautzer!“, erklärte Tschok.<br />
„Mit schönen Grüßen von <strong>der</strong> Mutter.“<br />
Im Türspalt, <strong>der</strong> ein wenig größer geworden war, konnte<br />
man, wenn man genau hinschaute, den Maumautzer<br />
wahrnehmen.<br />
„Himbeermarmelade“, brummte er. „Du darfst näher<br />
kommen. Bis zur Tür. Aber keinen Schritt weiter.“<br />
„Ja, Herr Maumautzer“, sagte Tschok <strong>und</strong> ging zur Tür<br />
hin.<br />
Mopperle <strong>und</strong> Joggerle <strong>und</strong> die kleine Ti wussten, was<br />
geschehen würde. Trotzdem warteten sie gespannt.<br />
Kaum hatte Tschok das Marmeladeglas vor die Tür<br />
gestellt, als es von zwei haarigen Pfoten gepackt wurde.<br />
Im nächsten Augenblick war <strong>der</strong> Maumautzer samt Glas<br />
in <strong>der</strong> Hütte verschw<strong>und</strong>en.<br />
<strong>Die</strong>smal schlug Joggerle einen Purzelbaum <strong>und</strong> Mopperle<br />
machte einen Handstand.<br />
„Das tut er immer! Das tut er immer!“, quietschten sie.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Tschittiwiggl</strong>-Kin<strong>der</strong> traten den Heimweg an.<br />
Als sie den Waldrand erreichten, hörten sie den Maumautzer<br />
aus <strong>der</strong> Hütte rufen: „Danke für die Marmelade!<br />
Sagt es eurer Mutter!“<br />
Und das war es, was er ihnen jedes Mal nachrief, wenn<br />
sie ihm ein Glas frisch eingekochter Himbeermarmelade<br />
gebracht hatten.<br />
Ein paar Tagereisen entfernt, noch weit unterhalb des<br />
Gipfels, plagte sich <strong>der</strong> Große <strong>Mock</strong> den Berg hinauf. Der<br />
Aufstieg war mühsam. Immer wie<strong>der</strong> rutschte loses Geröll<br />
unter den Pfoten weg, ein Ende <strong>der</strong> Plackerei war nicht<br />
abzusehen. Der Große <strong>Mock</strong> dachte aber nicht ans Auf-<br />
14<br />
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geben, denn er war ein Großohr-<strong>Tschittiwiggl</strong> <strong>und</strong> ein<br />
Großohr gibt nie auf, wenn es sich einmal etwas vorgenommen<br />
hat.<br />
<strong>Die</strong> Großohren waren ein ernsthaftes Volk. Für sie<br />
bestand das Leben aus Ordnung <strong>und</strong> Tüchtigsein. Je<strong>der</strong><br />
Tag war vom Morgen bis zum Abend genau eingeteilt, für<br />
unnütze Dinge wie Spielen o<strong>der</strong> Nichtstun blieb keine<br />
Zeit.<br />
Gleich allen an<strong>der</strong>en Großohren war <strong>der</strong> Große <strong>Mock</strong><br />
überzeugt, dass diese Lebensweise die einzig richtige sei.<br />
Es hatte ihn daher sehr beunruhigt, als er das Gerücht<br />
vernahm, in einem Tal irgendwo hinter dem hohen Berg<br />
gäbe es Verwandte – entfernte Verwandte, aber immerhin<br />
verwandt -, die ziellos <strong>und</strong> planlos in den Tag hineinlebten.<br />
Schon allein sich vorzustellen, dass so etwas möglich<br />
wäre, versetzte den Großen <strong>Mock</strong> in helle Aufregung.<br />
Er hatte daher beschlossen, das Tal zu suchen <strong>und</strong> zu<br />
erk<strong>und</strong>en, ob das Gerücht stimmte. Und falls es stimmte,<br />
diese aus <strong>der</strong> Art geschlagenen <strong>Tschittiwiggl</strong> zu erziehen,<br />
bis sie so ordentlich <strong>und</strong> tüchtig waren, wie es sich für<br />
einen <strong>Tschittiwiggl</strong> gehörte.<br />
Wenn ihm auch die Pfoten schmerzten <strong>und</strong> ihn kaum<br />
noch trugen, <strong>der</strong> Große <strong>Mock</strong> kämpfte sich weiter die<br />
Halde hinauf.<br />
„Steine! Steine! Nichts als Steine!“, grollte er.<br />
„Das gehört verboten.“<br />
Auf dem Gipfel des Berges leuchteten Schneeflecken in<br />
<strong>der</strong> Sonne. Der Himmel war strahlend blau. Aber das sah<br />
<strong>der</strong> Große <strong>Mock</strong> nicht, denn er hob nie den Blick nach<br />
oben.<br />
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Der Tag, an dem das Großohr<br />
ins <strong>Tschittiwiggl</strong>-Tal kam<br />
Eines Tages – es war schon spät am Nachmittag – saß<br />
die <strong>Tschittiwiggl</strong>-Familie auf <strong>der</strong> Veranda <strong>und</strong> genoss das<br />
Nichtstun. Der Großvater döste im Schaukelstuhl.<br />
Nachts hatte es geregnet, aber die Sonne hatte das Tal<br />
längst getrocknet. Nur hier <strong>und</strong> dort blitzten Wassertropfen<br />
im Gebüsch.<br />
Am Waldrand gurrten Tauben.<br />
Plötzlich verstummten sie, flogen auf <strong>und</strong> flüchteten.<br />
Schwere Schritte waren zu vernehmen.<br />
Jemand kam aus dem Wald herausgetrampelt.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Tschittiwiggl</strong> wollten ihren Augen nicht trauen.<br />
Was sie erblickten, sah irgendwie aus wie sie selber, aber<br />
auch wie<strong>der</strong> ganz an<strong>der</strong>s.<br />
Wie groß es war!<br />
Und was für Ohren hatte es!<br />
Sie waren viel zu lang <strong>und</strong> standen steil in die Höhe.<br />
Der Vater <strong>und</strong> die Mutter sahen einan<strong>der</strong> an.<br />
„Wer ist denn das?“, fragte die Mutter. „Wer kann das<br />
sein? Weißt du es?“<br />
„Nein“, antwortete <strong>der</strong> Vater. „So jemand wie <strong>der</strong> ist mir<br />
noch nie untergekommen. Schaut ziemlich bedrohlich<br />
aus!“<br />
„Nicht doch!“, sagte die Mutter. „Eher etwas seltsam.<br />
Jetzt habt keine Angst, Kin<strong>der</strong>. Wenn wir fre<strong>und</strong>lich zu<br />
ihm sind, wird er auch fre<strong>und</strong>lich zu uns sein. Soll ich ihm<br />
Tee <strong>und</strong> Kuchen anbieten?“<br />
„Damit warte noch“, sagte <strong>der</strong> Vater. „Vielleicht kommt<br />
er gar nicht zu uns. Vielleicht geht er bloß durchs Tal,<br />
irgendwo an<strong>der</strong>s hin.“<br />
Der Große <strong>Mock</strong> – denn er war es – stand am Waldrand,<br />
beschattete die Augen mit <strong>der</strong> Pfote <strong>und</strong> schaute um<br />
sich. Er war am Ziel angekommen <strong>und</strong> seine schlimmsten<br />
Befürchtungen hatten sich erfüllt.<br />
Alles wucherte <strong>und</strong> wuchs hier, wie es ihm gefiel, ohne<br />
Plan, ohne Ordnung. Nichts wie Geranke <strong>und</strong> Gewirr!<br />
Ein Gemüsegarten voller Unkraut! Und dieses windschiefe<br />
Haus, bei dem alles am falschen Platz war!<br />
Ein ungeheurer Tatendrang überfiel den Großen <strong>Mock</strong>.<br />
Er marschierte ins Tal hinein. <strong>Die</strong> kleinen, gew<strong>und</strong>enen<br />
Wege <strong>der</strong> <strong>Tschittiwiggl</strong>s beachtete er nicht. Er stapfte<br />
zielbewusst auf das Haus zu. Seine <strong>große</strong>n Pfoten knickten<br />
Grashalme <strong>und</strong> Blütenstängel <strong>und</strong> hinterließen eine breite<br />
Spur.<br />
„Was will denn <strong>der</strong> hier?“, grummelte <strong>der</strong> Großvater.<br />
„Wer hat ihm erlaubt, über die Wiese zu trampeln?<br />
Jagt ihn fort!„<br />
„Sch!“, sagte <strong>der</strong> Vater. „Wir wollen ihn lieber nicht<br />
reizen.“<br />
18 19
„Was hast du gesagt?“, fragte <strong>der</strong> Großvater. „Reizend?<br />
Reizend soll <strong>der</strong> sein? Ha!“<br />
Der Große <strong>Mock</strong> stapfte zum Haus hin <strong>und</strong> blieb vor<br />
<strong>der</strong> Veranda stehen. Er schaute auf die <strong>Tschittiwiggl</strong> hinab,<br />
die sich plötzlich klein <strong>und</strong> hilflos vorkamen.<br />
Der Vater raffte sich auf. Er musste seiner Familie mit<br />
gutem Beispiel vorangehen <strong>und</strong> zeigen, dass er sich nicht<br />
einschüchtern ließ.<br />
„Mein Herr“, sagte er höflich, aber bestimmt, „dürfen<br />
wir Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Zur Stärkung, bevor Sie<br />
weiterwan<strong>der</strong>n.“<br />
„Weiterwan<strong>der</strong>n?“, grollte <strong>der</strong> Große <strong>Mock</strong>. „Wozu?<br />
Ich bin dort angekommen, wo ich ankommen wollte.“<br />
Dem Vater war zumute wie einem, <strong>der</strong> friedlich im<br />
Sonnenschein liegt <strong>und</strong> auf den unvermutet ein Eimer<br />
eiskaltes Wasser geschüttet wird. Seiner Familie erging es<br />
nicht an<strong>der</strong>s.<br />
„Ohne Zweifel sind es <strong>Tschittiwiggl</strong>“, dachte <strong>der</strong> Große<br />
<strong>Mock</strong>. „Wenn sie auch etwas son<strong>der</strong>bar sind. Man könnte<br />
sie eher für ein Wuselvolk halten. Am besten ist es, ich<br />
fange sofort mit ihrer Erziehung an.“<br />
„Ich bin ein Großohr-<strong>Tschittiwiggl</strong>“, verkündete er.<br />
„Wir Großohren sind mit euch verwandt. Freilich nur<br />
entfernt. Aber immerhin. Ein <strong>Tschittiwiggl</strong> hat ordentlich,<br />
tüchtig <strong>und</strong> nützlich zu sein. Ihr scheint das nicht zu<br />
wissen. Aber keine Sorge, ich bringe es euch bei.“<br />
<strong>Die</strong> <strong>Tschittiwiggl</strong> standen stumm da <strong>und</strong> begriffen gar<br />
nichts. Joggerle <strong>und</strong> Mopperle begannen Purzelbäume zu<br />
schlagen. Warum, das wussten sie nicht. Sie konnten nicht<br />
an<strong>der</strong>s, sie mussten es tun.<br />
„Halt!“, schrie <strong>der</strong> Große <strong>Mock</strong>. Er war ausgesprochen<br />
unangenehm berührt. Noch nie hatte er gesehen, dass ein<br />
Großohr sich so unwürdig benahm. „Was soll das? Lasst<br />
diesen Unfug sein.“<br />
„Es ist kein Unfug“, wagte <strong>der</strong> Vater einzuwenden. „Sie<br />
schlagen Purzelbäume.“<br />
„Weil es lustig ist“, piepste die kleine Ti <strong>und</strong> klammerte<br />
sich an Tschok.<br />
„Ein <strong>Tschittiwiggl</strong> ist nicht auf <strong>der</strong> Welt, um lustig zu<br />
sein“, sagte <strong>der</strong> Große <strong>Mock</strong> streng.<br />
Joggerle <strong>und</strong> Mopperle suchten bei <strong>der</strong> Mutter Schutz.<br />
Sie legte die Arme um sie.<br />
Der Großvater begann wie wild zu schaukeln.<br />
„Großvater“, wisperte ihm <strong>der</strong> Vater ins Ohr, „beruhige<br />
dich! Er ist ein Verwandter von uns. Freilich nur entfernt<br />
verwandt <strong>und</strong> etwas w<strong>und</strong>erlich.“<br />
„Was hast du gesagt?“ Der Großvater hielt sich die Pfote<br />
hinters Ohr. „Entfernt verwandt? Ha! Dann soll er sich<br />
entfernen <strong>und</strong> zwar gleich!“<br />
„Schsch! Nicht so laut!“, wisperte <strong>der</strong> Vater.<br />
Der Große <strong>Mock</strong> maß den Großvater – samt Schaukelstuhl<br />
– von oben bis unten. Was er da sah, schien ihm<br />
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