Leseprobe: Keine Zeit für Katastrophen
Leseprobe zu Nannah Rogge: Keine Zeit für Katastrophen
Leseprobe zu Nannah Rogge: Keine Zeit für Katastrophen
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1. Ein tunichtguter Windhund<br />
Also, dass man sich im Leben manchmal schnell<br />
entscheiden muss, das stimmt. Deshalb hatte ich mich<br />
ja auch im Wilden Anker in gerade einmal fünf Minuten<br />
zu diesem wahnsinnigen Vorhaben entschlossen.<br />
Aber dass man dann immer dazu stehen muss, ist eine<br />
schwierige Sache.<br />
Es gab nämlich Stunden und Minuten, da hätte<br />
ich lieber etwas anderes getan, als mich derartig anzustrengen.<br />
Meine Freundin Tessie sicher auch. Und der<br />
Ungar ebenfalls und die schöne Angelika, der überstudierte<br />
Waldemar, die Wahrsagerin, Kater Jumbo und<br />
vor allem Onkel Mark. Nur bei Oma Lilly bin ich mir<br />
nicht sicher. Die hat eine Ader, einfach alles zu genießen.<br />
Selbst <strong>Katastrophen</strong>.<br />
Vielleicht gibt Oma Lilly sich aber auch nur so.<br />
Man kann doch nicht in einem Krankenwagen so<br />
unnatürlich aufgedreht sein. Besonders, wenn man ein<br />
Unfall ist. Aber meine Oma Lilly lag da, festgezurrt<br />
von vier Gurten, wedelte mit den Händen und rief:<br />
„Dein Onkel Mark ist ein Windhund, ein Versager,<br />
ein Tunichtgut. ein Abenteurer, ein Lügner und ein<br />
Mensch ohne Verantwortung!“<br />
„Na, na“, machte der Pfleger, der wie ein riesiger<br />
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Schäferhund über sie wachte und Korbinian hieß. Er<br />
schüttelte den Kopf und machte sich mit einer Spritze<br />
und einer gelblichen Flüssigkeit darin an ihrer linken<br />
Hand zu schaffen.<br />
Jetzt redete meine Oma sich in Zorn. Und das alles,<br />
weil ich zurzeit außer Großmutter Lilly niemanden<br />
anderen auf der Welt hatte als diesen Onkel Mark. Elf<br />
Jahre jünger war er als mein Vater. Als Jüngster entsetzlich<br />
verzogen und voll hirnrissiger Ideen im Kopf. So<br />
jedenfalls behauptete meine Großmutter. Ganz konnte<br />
das allerdings nicht stimmen, weil er Journalist war<br />
und seine hirnrissigen Ideen immer mal wieder gedruckt<br />
wurden. „Körbchen!“, sprach meine Großmutter<br />
jetzt weiter, und Korbinian zuckte wegen des blöden<br />
Namens zusammen. „Körbchen, ich sage Ihnen,<br />
ich bin sprachlos! Erst der Unfall, dann dieses muffige<br />
Dings von Krankenwagen, mein armer Paul neben mir<br />
und vor mir eine Woche in der Blomthal-Klinik und<br />
mein Enkel so lange bei diesem Verrückten!“<br />
Körbchen grinste. Aber ein bisschen hinterhältig,<br />
dachte ich. „Eine Woche?! Liebe Frau Hansen, das<br />
werden bei Ihrem Alter und mit der Reha mal gut und<br />
gern sechs Wochen! Verdacht auf einen Oberschenkelhalsbruch.“<br />
„Heilige Maria, nur über meine Leiche!“, schrie<br />
meine Oma.<br />
„Das wäre auch keine Katastrophe“, sagte Korbinian,<br />
seit kurzem Körbchen, gemein und regte meine<br />
Großmutter weiter auf.<br />
Oma Lilly hielt nun überhaupt nicht mehr den<br />
Mund. Korbinian pumpte an der Beruhigungsspritze,<br />
als wäre er ein Feuerwehrmann und seine Spritze der<br />
Wasserschlauch. In diesem Augenblick brüllte die Sirene<br />
auf dem Dach wieder los, und Oma Lilly plumpste<br />
fast von der Trage. „Tausend Herzinfarkte bekommt<br />
man in dem Höllenkasten!“, rief sie. „Das heult ja wie<br />
ein Puma, der sich in den Schwanz gebissen hat.“ In<br />
Vergleichen war meine Oma noch nie gut gewesen.<br />
Sicher weil alles so schnell aus ihr heraussprudelte.<br />
Körbchen zog die Stirn in Falten. „Ich kenn mich<br />
langsam nicht mehr aus“, murmelte er. „Andere bekommen<br />
auf die Spritze hin den Mund nicht mehr<br />
auf, und meine Dame hier …“<br />
„Ihre Dame hier sorgt sich eben um ihren Enkel“,<br />
erklärte meine Oma. „Er soll schließlich zu einem<br />
Tunichtgut, einem Abenteurer und einem …“<br />
Hier stoppte sie wie gebremst und überlegte hin und<br />
her. Ich sah es ihr an. „Versager!“, half ich. Sie nickte,<br />
dann drehte sie den Kopf zur Seite und lächelte ganz<br />
sanft. Wie unterm Weihnachtsbaum. Körbchen musste<br />
mir sofort versprechen, dass die gar nicht zu meiner<br />
Oma passende Ruhe nichts mit ihrem frühen Tod zu<br />
tun hatte, sondern nur ein Erfolg seiner (ekelhaften)<br />
Spritze war.<br />
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Oma Lilly war 75 Jahre alt. Sie sagte aber 65 dazu<br />
und hatte mir geschworen, dass sie mit 80 erst 70 würde.<br />
Das wäre nun mal so in unserer Familie. Ich hatte<br />
damals nicht auf meine Mutter verwiesen, weil sie<br />
doch nur 38 Jahre geworden war. Meine Mutter Kristy<br />
musste immer schon besonders zart gewesen sein. Meine<br />
Oma sprach von ihr wie von etwas, das ganz leicht<br />
hat kaputt gehen können. Kristy war ja auch an einer<br />
tückischen Influenza, einer richtigen Grippe, gestorben.<br />
Ich hatte keine Spur davon bekommen, obwohl<br />
ich gerade erst ein Vierteljahr alt gewesen war.<br />
Mein Vater war damals Notarzt in einem Rettungshubschrauber<br />
und konnte nichts anfangen mit einem<br />
drei Monate alten Baby, das nicht mal ein einziges<br />
Haar auf dem Kopf hatte. Das musste meine Oma<br />
immer noch dazu erzählen, anders ging es nicht.<br />
Sie hat mich dann großgezogen. Mein Vater war<br />
nämlich, wie wenn so ein Unglück noch ein anderes<br />
gebraucht hätte, nach bloß zwei Monaten mit dem<br />
Hubschrauber abgestürzt. Er wollte zu Kristy, erzählte<br />
meine Großmutter, weil mein Vater angeblich kein<br />
bisschen um sein Leben gekämpft hatte, als er auf der<br />
Intensivstation lag. Das fand ich überhaupt nicht gut.<br />
„Jedes Ding hat seine zwei Seiten“, erklärte Oma Lilly.<br />
„Einerseits kann ich ihn verstehen. Andererseits, wenn<br />
ich dich so betrachte, Paulchen, überhaupt nicht.“<br />
Da<strong>für</strong> habe ich meine Großmama fast schon unheimlich<br />
gern. Sie sieht immer irgendwie windig aus.<br />
Als ob schon das allerkleinste Stürmchen sie umblasen<br />
könnte. Vielleicht gerade wie ihre Tochter Kristy. Aber<br />
Oma Lilly ist anders, stark. Sie kocht wie eine Fünf-<br />
Sterne-Köchin, springt immer noch die Treppen in unserem<br />
Häuschen herauf wie ein Hirsch, und sie freut<br />
sich wie eine Königin, wenn ich ihr mal ein Kuss gebe,<br />
was allerdings aus Altersgründen immer weniger wird.<br />
Aus meinen Altersgründen, meine ich.<br />
Da<strong>für</strong> kann sie nicht stricken, und auch das, was sie<br />
mit Häkeln hinbekommt, sieht nachher bloß nach gutem<br />
Willen aus. Der ist das Wichtigste, sagt Oma Lilly.<br />
Also, viel guten Willen hab ich. Aber als mir unsere<br />
Nachbarin an dem Tag berichtet hatte, dass meine<br />
Oma hilflos in der Nähe des Omnibushäuschens liege,<br />
war ich wirklich nur ein Wille zum Rennen und sehr<br />
viel Angst.<br />
„Oma Lilly, was machst du nur?“, schnaufte ich, als<br />
ich vor ihr kniete und sie einfach nicht mehr hochkam.<br />
Die zwei Einkaufstüten neben ihr spuckten<br />
immer noch den Inhalt aus: Äpfel, aufgeplatzte Mehlund<br />
Grießtüten, Suppenzeugs und so.<br />
„Ich bin halt gerannt, dummer Paul“, stöhnte Oma<br />
Lilly. „Du weißt, dass ich kein Fan von großen Gewittern<br />
bin. Und das vorhin war eines!“ Das war richtig.<br />
Aber hätte sie sich nicht genauso gut in dem Omnibushäuschen<br />
unterstellen können? „Schlägt der Blitz<br />
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ein“, erklärte meine Oma trotzig, „geh ich nicht rein!“<br />
Wir hörten schon den Notarztwagen näherkommen.<br />
„Ich will das nicht. Hab mich bloß ein bisschen gezerrt!<br />
Nicht der Rede wert.“<br />
Doch, es war viel Reden wert! Mindestens tausend<br />
Wörter waren es, die meine Oma dann mit dem dicken<br />
Korbinian und dem energischen Notarzt hin und<br />
her wechselte. Das Ende vom Lied: Sie packten sie,<br />
schubsten sie auf eine Liege und ruckelten sie in den<br />
Krankenwagen.<br />
Blass sah sie aus. Dabei finde ich sie wunderhübsch.<br />
Sie hat zwar keine weißen Haare und keinen Knoten<br />
wie früher die Großmütter auf den alten Bildern.<br />
Sie geht mit ihrer Kinnlang-Frisur alle 14 Tage zum<br />
Friseur und lässt sich nach 4 Wochen die Haare zu<br />
Hellbraun-Nuss mit goldigen Strähnchen färben. Ich<br />
weiß das so genau, weil wir immer alles besprechen.<br />
Sie meint, gerade zwölfeinviertel-jährige Jungs, die<br />
über kurz oder lang zwölfeinhalb werden, könnten gar<br />
nicht früh genug in die großen und kleinen Sorgen der<br />
Frauen eingeweiht werden. Sie kenne ja auch meine<br />
Männersorgen.<br />
Allerdings habe ich gar nicht so viele. In der Schule<br />
komme ich bestens mit. In Deutsch und vor allem<br />
in Mathematik macht mir keiner was vor. Und gerade<br />
jetzt hatte ich mich auf die langen Sommerferien<br />
gefreut. Oma Lilly und ich wollten wie wild durch<br />
die Gegend radeln! Nun musste ich zu einem Onkel<br />
Mark, der höchstens etwas mit Flugzeugen, aber bestimmt<br />
nichts mit Fahrrädern am Hut hatte.<br />
In dem Moment wurde meine Oma wieder lebendig.<br />
Mit der Beruhigungsspritze hatte es wirklich<br />
nicht viel auf sich gehabt. Ihr Gesicht mit den großen,<br />
maikäferbraunen Augen wurde von neuem zornig, ich<br />
sah ihr an, dass sie schon wieder vom Versager reden<br />
wollte.<br />
Aber da verkrächzte sich das Geheule oben auf dem<br />
Dach. Die Tür wurde aufgerissen, Körbchen warf sich<br />
ins Freie, ein Kollege bremste haarscharf vor ihm, sie<br />
zerrten die Gurte noch fester und ratterten mit Oma<br />
Lilly durch unheimliche, scheußlich riechende Gänge.<br />
Endlich hielten sie an, als über uns ein rotes Schild<br />
verkündete, dass hier das Röntgen war.<br />
„Danke, Körbchen!“, sagte meine Großmutter sehr<br />
laut und sehr herzlich zu Korbinian.<br />
Der wurde noch röter als rot, beeilte sich, von uns<br />
wegzukommen und murmelte, er habe jetzt keine <strong>Zeit</strong><br />
<strong>für</strong> <strong>Katastrophen</strong>. Sein Kollege grinste. Eine Tür mit<br />
der Nummer 3 verschluckte meine Großmutter samt<br />
ihren wedelnden Händen.<br />
Als sie wieder herausgeschoben wurde, war sie sehr<br />
weiß im Gesicht, nur ihre Backen leuchteten. „Es ist<br />
wirklich ein verdammter Oberschenkelhalsbruch!“,<br />
schrie sie. „Paulchen, ich werde nie mehr bei Gewitter<br />
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losrennen und dann auch noch so blöd sein und bei<br />
einem pumamäßigen Blitz hinfallen!“<br />
„Aha“, brummte eine Stimme über mir. Sie gehörte<br />
einem langen Mann in einem kurzen weißen Kittel. Er<br />
stellte sich als Oberarzt Doktor Gerber vor. Er hatte<br />
den Kopf voll schwarzer Haare, nur rechts über der<br />
Stirn eine mausgraue Strähne. Ich dachte, die müsste<br />
bestimmt breiter werden, läge Oma Lilly drei Wochen<br />
oder noch länger auf seiner Station …<br />
„Also, Paul“, erklärte Doktor Gerber. „Was deine<br />
Oma hat, hast du schon gehört. Laut genug war sie<br />
ja. Sie muss operiert werden und dann wahrscheinlich<br />
mindestens zwei Wochen auf meiner Station bleiben.<br />
Danach ab in die Reha.“<br />
Mir wurde augenblicklich schlecht. Wie wenn ich<br />
viel zu viel Lakritze gegessen hätte oder Gummibärchen.<br />
„Operiert?“, japste ich. Meine Stimme hörte sich<br />
selbst <strong>für</strong> mich windig an. „Ja, kriegen Sie das denn<br />
überhaupt hin?“<br />
„Was <strong>für</strong> eine Frage!“ Meine Oma patschte mit<br />
ihrer Hand auf die Pranke des Oberarztes. „Er hat es<br />
mir versprochen. Und was man verspricht, muss man<br />
halten. Sonst kommt man in die Hölle oder sonst<br />
wohin.“<br />
„Das ist eine echt miese Auswahl“, meinte Doktor<br />
Gerber. „Aber ich bastle Sie trotzdem wieder zusammen,<br />
Frau Hansen. Bloß, was machen wir mit dem<br />
Jungen? Sie sagen, sein Onkel ist ein Abenteurer, ein<br />
Versager und ein Lügner …“<br />
„Aber ich muss doch zu ihm!“, rief ich. Ich wusste<br />
irgendwie aus dem Bauch heraus, ich wollte zu ihm.<br />
Länger betrachtet klang es einfach aufregend und<br />
spannend, einen windhündigen, lügnerischen, tunichtguten,<br />
abenteuerlichen, weltenbummlerischen Versager<br />
kennen zu lernen. „Ja, ich muss.“<br />
Meine Oma schaute mich aus zusammengekniffenen<br />
Augen an. Ahnte sie etwas?<br />
„Hey, ich werde total anständig sein!“, versprach ich<br />
und hatte mich schon ein bisschen an meinen Onkel<br />
angepasst, <strong>für</strong>chte ich. Ich schwindelte – und nicht<br />
einmal schlecht.<br />
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2. Maikäfer riesengroß<br />
Man kann sich nicht im Traum vorstellen, wie schnell<br />
Oma Lilly im Krankenhaus bekannt wurde. Der ganze<br />
Röntgenkeller war voller Leute, die uns eine gute Fahrt<br />
wünschten. Pfleger Carlos, der uns nach oben brachte,<br />
konnte nur staunen. Im Aufzug war es noch schlimmer.<br />
Meine Oma berichtete jedem, der aus- oder<br />
einstieg, ausführlich von ihrem Unglück.<br />
Endlich waren wir in einem Zimmer, in dem ein<br />
freier Platz vor dem Fenster anscheinend auf uns<br />
gewartet hatte. „Paul, schau mal, wer da neben mir<br />
liegt“, bat mich Oma Lilly. Aber in dem Bett nebenan<br />
war nur Bettzeug unter eine graue Decke geschoben.<br />
Die Beule stand tatsächlich menschenähnlich hoch.<br />
„Heilige Maria, sieht das gruselig aus“, seufzte meine Oma.<br />
„Da kommt bald schon jemand“, tröstete Carlos.<br />
Sein Name passte gut zu seinem spanischen Schnurrbart.<br />
Als er gehen wollte, dankte ihm meine Oma<br />
wieder in ihrer herzlichen Art. Sie gab ihm auch noch<br />
viele Grüße an Körbchen mit. Carlos grinste unter<br />
seinem Schnurrbart und wusste sofort, wen sie meinte.<br />
Armer Korbinian!<br />
Dann kam das Schwerste. Oma Lilly wollte Mark,<br />
den Versager, anrufen. Aber der japanische Assistenzarzt,<br />
der gerade hereinschneite, erklärte ihr mit einem<br />
unheimlichen Grinsen im Gesicht, dass sie jetzt „der<br />
Ruhe ge-brau-che und dass das Te-le-fo-nie-rern die<br />
freun-der-li-che Schwester der Station au-ßer-or-dentlich<br />
gerner <strong>für</strong> sie verledigen würde“. Oma Lilly verriet<br />
ihm stirnrunzelnd die Telefonnummer. Dabei war es<br />
ihre eigene, wie ich gleich merkte. Mit der würde die<br />
Schwester keinen Onkel Mark „erreichern“ können.<br />
Oma Lilly forderte gleich darauf mein Handy an<br />
und zischte etwas darauf. Leise, damit der höfliche<br />
Assistenzarzt sie nicht hörte. „Hallo, Markus! Komm<br />
sofort in die Blomthal-Klinik. Ich liege hier <strong>für</strong> ein<br />
paar Tage fest. Deshalb musst du auf Paul aufpassen.<br />
Er ist der Sohn deines einzigen Bruders. Zwölfeinviertel<br />
Jahre alt. Müsstest du selbst wissen! Vergiss das<br />
Ausland und sei pünktlich. Lilly Hansen.“<br />
Ungefähr eine halbe Stunde darauf geschah das<br />
Plötzliche, das Überraschende.<br />
Jemand klopfte an. Schon öffnete sich die Tür, und<br />
herein marschierte mein Onkel. Er knarrte nicht, wie<br />
es bei älteren Leuten manchmal ist, er hüpfte aber<br />
auch nicht, er trat einfach ein. Das beeindruckte mich<br />
schon.<br />
„Hallo, Lisbeth!“, rief er. „Schön, dass du mich<br />
angerufen hast.“<br />
Meine Oma schoss auf wie eine quietschende Rakete.<br />
„Wer mich – aua! – Lisbeth nennt, kann – aua!<br />
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– nur so dumm wie ein Puma sein. Weißt du nicht<br />
mehr, wie ich heiße?“<br />
„Doch“, antwortete Onkel Mark. „Elisabetha Hansen,<br />
75 Jahre alt.“<br />
„Fünfundsechzig“, knurrte meine Oma. „In unserer<br />
Familie sind wir immer zehn Jahre hinterher!“<br />
Ich kicherte, und mein Onkel schaute mich näher<br />
an. Ich aber auch ihn: Natürlich hatte ich gehofft, dass<br />
er meinem Vater ähnlich sehen würde. Aber ich konnte<br />
nichts davon erkennen. Bei ihm gab es nur grauschwarzes<br />
Haar (mein Vater war rothaarig gewesen!),<br />
eine schlanke Figur, die kein Ende nahm, ein nougatbraunes<br />
Gesicht, breite Schultern wie ein Boxer aus<br />
der Bronx und weiße Zähne, die einen wie Blitzlicht<br />
blendeten. „Hallo, Schicksalsgenosse!“ Mein Onkel<br />
packte meine Hand und presste sie zusammen. Genauso<br />
hart wie ein Boxer.<br />
Meine Oma beobachtete uns lauernd.<br />
„Hallo, Onkel Mark!“, sagte ich mühsam. Er hatte<br />
nicht mal die Augen meines Vaters. Die mussten grau<br />
gewesen sein. Er hatte – Wahnsinn! – er hatte so tintenblaue<br />
Augen wie ich.<br />
„Wir müssen also miteinander auskommen“, dachte<br />
mein Onkel so vor sich hin. „Das kriegen wir schon<br />
hin, oder?“<br />
„Wohne ich bei dir oder du bei uns?“, fragte ich.<br />
Das Praktische habe ich von meiner Oma.<br />
„Na, bitte!“, rief er. „Da spricht doch die Lisbeth,<br />
wie sie leibt und lebt! Ich habe mir gedacht, heute<br />
schläfst du noch mal zu Hause, Paolo, und ab morgen<br />
bei mir.“<br />
„Was? Er soll nur nachts zu dir, der Paolo?“ Klar,<br />
meine Oma wollte, dass er mich auch tagsüber beaufsichtigte.<br />
Onkel Mark räusperte sich. „Weißt du, Elisabetha“,<br />
antwortete er langsam, „das alles kommt doch ein<br />
wenig unerwartet, oder?“<br />
„Das heißt, du hast noch eine flotte Biene zu Hause?“,<br />
fragte meine Oma scharf.<br />
Es wurde meinem Onkel ungemütlich. Er hatte<br />
einen Finger zwischen Hals und Kragen gesteckt und<br />
zerrte dort hin und her. „<strong>Keine</strong>, hm, flotte, hm, Biene<br />
mehr“, antwortete er endlich. „Nur, na ja, du weißt,<br />
im Gegensatz zu meinem untadeligen Bruder bin ich<br />
ein bisschen, sagen wir mal …“<br />
„Schlampig“, fiel ihm meine Oma ins Wort, und<br />
ihre Augen funkelten. „Das heißt, du brauchst einen<br />
ganzen Abend und eine ganze Nacht, bis du deinen<br />
Kram wieder in Ordnung hast?“<br />
„So ähnlich“, sagte mein Onkel, schon wieder fröhlich.<br />
„Und wenn ich jetzt gleich gehe, wird’s hinterher<br />
genauso pingelig aussehen wie bei dir!“<br />
So riesige Maikäferaugen wie bei Oma Lilly hatte<br />
ich noch nie gesehen! „Pi…pi…pingelig?“, krächzte<br />
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sie. Ich dagegen war von meinen Onkel beeindruckt.<br />
Einen Menschen, der vor meiner Oma die Unordnung<br />
lobte, hatte ich noch nie erlebt.<br />
„Also“, sagte sie spitz. „Mein Paul ist kein Ungeziefer<br />
gewöhnt. Vielleicht solltest du erst mal den Kammerjäger<br />
kommen lassen?!“<br />
„Und was machen dann meine flotten Bienen?“<br />
Mein Onkel grinste.<br />
„Heilige Maria!“, stieß meine Oma hervor. „ Ich<br />
weiß nicht, was aus Paulchen werden wird. Du bist<br />
so wenig ein Vorbild wie die Cholera! Wäre ich doch<br />
nur ein Gewitterfan, dann wäre ich im Regen nicht so<br />
pumamäßig gerannt und …“<br />
Jetzt fiel ihr mein Onkel ins Wort. „Toller Vergleich,<br />
der mit der Cholera“, sagte er. „Übrigens, bist du wirklich<br />
so richtig gerannt? Mit fünfundsiebzig Jahren?!“ Er<br />
lachte.<br />
Meine arme Oma! Ich sah sie leiden, aber ich wusste<br />
nicht, wie ich ihr helfen sollte. Wenigstens hatte sie<br />
mal die Angst vor der Operation vergessen. Ich setzte<br />
mein unschuldigstes Schulgesicht auf, und so ging alles<br />
irgendwie gut.<br />
Onkel Mark blieb ohnehin nicht mehr lange. Es<br />
wäre aber auch zu viel <strong>für</strong> Oma Lilly gewesen. Sie<br />
konnte sich kaum beruhigen, als sich die langweilig<br />
weiße Tür wieder hinter ihm geschlossen hatte.<br />
„Meinen eigenen Enkel ins Unglück gestürzt“, jammerte<br />
sie. „Ach, Paulchen, glaubst du überhaupt, dass<br />
du bei diesem Menschen überleben wirst? Dein armer<br />
Vater! Er wurde so korrekt erzogen, und dieser Jüngste,<br />
dieser Flotte-Bienen-Lümmel, wurde gelassen, wie er<br />
ist. Eine Katastrophe!“ Sie sah mich betrübt an.<br />
Ich musste ihr in die Hand versprechen, mich zu<br />
Hause gleich ins Bett zu legen und fest zu schlafen,<br />
davor alle Schränke zu verschließen, die Haustüre zu<br />
überprüfen, besonders aber alle Fenster, und meine<br />
Oma bei dem geringsten Geräusch anzurufen. Notfalls<br />
käme sie mit Bruch und im Nachthemd. Vielleicht<br />
sogar mit Körbchen!<br />
„Ganz bestimmt!“ Ich küsste meine Oma auf beide<br />
Wangen, und sie war wieder glücklich, das wusste<br />
ich. Morgen früh würde ich nach ihr sehen, und dann<br />
konnte das Abenteuer mit Onkel Mark beginnen. Es<br />
würde ganz schön schwierig werden! Aber vor allem<br />
spannend …<br />
Ich fuhr mit dem Krottenthaler Stadtbus zwei Stationen.<br />
Da stand unser Häuschen in einem hübschen<br />
großen Garten. In der Begonienstraße. Es war aber<br />
heute kalt und ungemütlich. Deshalb ging ich wirklich<br />
früh ins Bett.<br />
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3. Familie<br />
Um 10 Uhr morgens läutete es Sturm. Ich hatte gerade<br />
gefrühstückt. Geduscht hatte ich nicht, das war <strong>für</strong><br />
mich der einzige Vorteil von Oma Lillys Oberschenkelhal…<br />
und so weiter. Ich steckte mir noch schnell<br />
ein halbes Marmeladebrötchen in den Mund und<br />
öffnete. Draußen stand mein Onkel und grinste mir<br />
entgegen. „Na, schmeckt’s, Paolo?“ Er fühlte sich anscheinend<br />
noch immer wie in Südamerika. „Darf ich<br />
eintreten?“<br />
Ich nickte stumm. Über das Marmeladenbrötchen<br />
konnte ich keinen Ton herausbringen. Nur langsam<br />
bekam ich wieder Luft. Mein Onkel sah sich neugierig<br />
um. Die ordentliche Küche, das große Wohnzimmer<br />
mit den, ja, mit den krachend roten Möbeln. Oma<br />
Lilly hatte nun mal eine Vorliebe <strong>für</strong> diese Art Rot.<br />
„Guter Geschmack, die Lisbeth. Kein bisschen unmodern!“<br />
Onkel Marks Zähne blitzten fröhlich. Wieso<br />
auch? Meine Oma ist sowieso die modernste Oma, die<br />
ich kenne.<br />
Onkel Mark musste merken, dass ich ärgerlich war.<br />
Ich hatte den Mund wieder frei und sagte trotzdem<br />
nichts. „Nicht böse sein, Paolo.“ Er streckte die langen<br />
Beine in einem der roten Sessel von sich. „Aber ich war<br />
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