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Die Verführung zum Lesen

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Kurzgeschichten

Das Fenster zur Straße

von Carola Stach

Der Blick zur Uhr machte Nathalie nervös. Spätestens in fünf

Minuten musste sie los, falls sie ihren Bus erwischen wollte.

Wenn das so weiterging, würde sie eines Tages zu spät im Büro

ankommen. Noch 4 Minuten.

Schnell zog sie den linken Schuh an, ohne den Blick von

der Straße zu nehmen, und suchte blindlings den rechten. Ihr

großer Zeh ertastete ihn nach einigen bizarren Verrenkungen

unter dem Korbstuhl. „Aua!“, fluchte Nathalie leise, als sie sich

dabei am Heizkörper stieß.

Der Minutenzeiger bewegte sich längst im Risikobereich, da

sah sie durch das Fenster, wie sich gegenüber die schwere Holztür

öffnete. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als ER auf den

Gehweg trat.

Jeden Morgen sehnte sie diesen Moment herbei, um einen

Blick auf IHN zu erhaschen, wenn er durch die Eingangstür

kam, sich den Anzug glatt strich, seine Tasche in die andere Hand

nahm und eilig in Richtung der nahen Bahnlinie entschwand.

ER war der Mann ihrer heimlichen Wünsche oder zumindest

ein Trugbild davon.

Angefangen hatte es vor knapp zwei Monaten. An einem

Sonnabend stand ein Transporter auf der anderen Straßenseite.

Umzugshelfer trugen gerade ein kleines, gealtertes Sofa ins

Haus, da entdeckte sie IHN. Ein sonnengebräunter, großer Typ

mit dunklem leicht gewelltem Haar. Nathalie schätzte ihn auf

Ende zwanzig.

Mit sicherem Griff schnappte er sich Kartons und trug sie in

einem waghalsig hohen Stapel in das Treppenhaus. Was für ein

Anblick! Unter seinem eng anliegendem Shirt zeichneten sich

die Muskeln ab. Jede Bewegung dieses athletisch gebauten Körpers

registrierte Nathalie mit fast hungrigem Blick. Das geplante

Saubermachen ihres Appartements verkam zur vollkommenen

Bedeutungslosigkeit.

Wie lange sie an diesem Tag mit dem laufenden Staubsauger

in der Hand am geöffneten Fenster gestanden hatte, wusste sie

nicht, als der schöne Unbekannte seinen Blick in ihre Richtung

lenkte. Ertappt! Wie vom Blitz getroffen, zuckte Nathalie

zusammen. Da erst merkte sie, wie faszinierend diese Szene

und vor allem dieser Mann auf sie gewirkt hatten. Ein Kribbeln

zog durch ihren Körper. Ihre Wangen wurden heiß und schnell

wand sie sich vom Fenster ab und ihrer angefangenen Putzaktion

wieder zu.

Eines Morgens sah sie zufällig beim Einpacken ihrer Arbeitstasche

den Adonis aus dem Haus kommen. Sofort prickelte es

erneut in ihren Adern.

So etwas hatte sie bisher nicht erlebt. Das war ein Fremder!

Wieso starrte sie ihm hinterher? In diesem Moment drehte er

sich zu ihr herum.

Seit dem verging kein Werktag, der nicht mit schmachtendem

Blick zur großen Holztür für Nathalie begann, bevor sie

im Eiltempo den Weg zur Busstation nahm. So hatte sie sich

auch heute in diesem Moment verloren und hastete in Richtung

Haltestelle. Sie erreichte die offene Tür des Busses und ließ

sich völlig erschöpft auf die Sitzbank hinter dem Fahrer fallen.

„Das war aber knapp!“, bemerkte er mit einem Augenzwinkern.

Die Strecke fuhr sie seit zwei Jahren und war immer rechtzeitig

da.

Wieso ließ sie zu, dass jeder Morgen von diesem schönen

Unbekannten dirigiert wurde und sie womöglich deshalb eines

Tages verspätet in der Firma ankam. In ihrem Job als Marketingassistentin

waren Pünktlichkeit, Ordnung und gute Organisation

selbstverständlich. Warum brachte sie dieser Mann dermaßen

aus dem Konzept?

„Aaahh“, stöhnte sie bei diesem Gedanken. Die Frau neben

ihr schaute erschrocken aus ihrer Zeitschrift auf. „Ist alles okay

bei Ihnen? Sie haben ja einen knallroten Kopf!“

„Doch, doch! Alles okay“, erwiderte Nathalie und wollte auf

keinen Fall unangenehm in Erscheinung treten. Wieso ließ sie

zu, dass ein völlig Unbekannter ihren geplanten Tagesablauf

Bildmontage: © Carola Stach

12 · Das Büchermagazin

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