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Der <strong>Corona</strong>-Crash<br />
Wie überleben Bars und<br />
Brenner <strong>die</strong> Krise? Was lernen<br />
sie daraus?<br />
3/2020<br />
—— — 18. Jahrgang<br />
Einzelverkaufspreis: [D] 9,50 € — [A, LUX] 10,50 € — [CH CH] 11 CHF<br />
Gin & Tonic<br />
Der grosse Drink unserer<br />
Zeit <strong>–</strong> im Blick von damals<br />
und heute<br />
Mut zum Zucker<br />
Progressive<br />
Likörhersteller.<br />
Von Hier.
Bars & Menschen<br />
ZEHN 10<br />
Zehn Drinks, in denen Likör <strong>die</strong> Hauptrolle spielt<br />
....................................................................................<br />
NEUE BARS 16<br />
Ein Baustellenbesuch im<br />
Frankfurter »Yaldy«<br />
....................................................................................<br />
AUF EIN GLAS MIT… 18<br />
… Paul Sieferle. Ein FaceTime-Call bei gutem Wein<br />
....................................................................................<br />
TITEL 24<br />
Die <strong>große</strong> Herausforderung: Wie retten sich <strong>die</strong><br />
Bars vor dem Virus?<br />
....................................................................................<br />
NACHTRAUSCHEN 32<br />
Drei Schlaglichter auf nächtliches<br />
Saufen in der Krise<br />
....................................................................................<br />
TRINKWELT 68<br />
In der heimischen Likörszene brodelt es. Wir zeigen<br />
<strong>die</strong> interessantesten Tendenzen<br />
....................................................................................<br />
MARKENPORTRÄT 72<br />
Zu Gast bei Alexander Baring und Cyril Camus auf<br />
Lambay Island<br />
....................................................................................<br />
TIEFENRAUSCH 86<br />
Der letzte Seufzer des Luis Buñuel<br />
....................................................................................<br />
MEINUNG 92<br />
Menschen klauen das Inventar in Bars. Ist halt so.<br />
Doch warum?<br />
....................................................................................<br />
Flüssiges<br />
MIXTUR 4<br />
Neues für <strong>die</strong> Bar. In Flaschen. Und mehr.<br />
....................................................................................<br />
MADE IN GSA MIXTUR 12<br />
Aromatisches aus der Heimat<br />
....................................................................................<br />
FOOD & DRINK 22<br />
Die beste Zeit für Tacos? Immer!<br />
....................................................................................<br />
SPIRITUOSE ......................34<br />
Likör: Das bedeutet im Jahr 2020<br />
etwas Anderes<br />
....................................................................................<br />
FOUR OF A KIND 39<br />
Vier Flaschen, vier Charaktere:<br />
Triple Sec im Redaktionsvergleich<br />
...................................................................................<br />
ALCHEMIST 40<br />
Die Bar wappnen für <strong>die</strong> Zeit nach der<br />
Krise <strong>–</strong> aber wie?<br />
....................................................................................<br />
24<br />
TITEL<br />
Es ist mittlerweile keine<br />
Neuigkeit mehr: Im gesamten<br />
wirtschaftlichen<br />
Shutdown-Kosmos stehen<br />
Cocktailbars sozusagen<br />
ganz unten in der Wiedereröffnungs-Hackordnung.<br />
Die<br />
Branche steckt in der tiefsten<br />
Krise seit mindestens hundert<br />
Jahren. Und mit Lieferservice<br />
und Gutscheinverkauf kann<br />
niemand sein Unternehmen<br />
retten. Wie ist der (Zwischen-)<br />
Stand? Der <strong>große</strong> Überblick in<br />
Deutschland, Österreich und<br />
der Schweiz.<br />
10<br />
ZEHN<br />
Bartender reden meist über Gin,<br />
Rum, Whiskey oder Tequila als<br />
»Basis« eines Cocktails. Mengenmäßig<br />
stimmt das fast immer.<br />
Doch es gibt eine ganze Reihe von<br />
Drinks, <strong>die</strong> durch einen speziellen<br />
Likör ihre ganz besondere Charakteristik<br />
bekommen. Marco Beier<br />
stellt uns zehn besondere Drinks<br />
mit zehn verschiedenen Likören<br />
vor.<br />
68<br />
TRINKWELT<br />
Von der Pharmazie zum Punch,<br />
vom Mörser zum Muddler, von der<br />
Apotheke zur Poesie: Der deutschsprachige<br />
Raum erlebt in jüngerer<br />
Vergangenheit eine echte Renaissance<br />
und Qualitätsoffensive junger<br />
oder jung gebliebener Likörspezialisten.<br />
Wir haben nachgespürt und mit<br />
fünf herausragenden, innovativen<br />
Vertretern der Kategorie über ihre<br />
Arbeit gesprochen.
46<br />
COCKTAIL<br />
Nur sehr selten hatte eine Zeit so sehr<br />
»den einen« Drink wie jetzt gerade:<br />
Der Gin & Tonic regiert <strong>die</strong> Barkarten<br />
genauso wie <strong>die</strong> Feuilletons, er ist vom<br />
eleganten Evergreen zum neuen Boom<br />
geworden. Den ersten Sommer des neuen<br />
Jahrzehnts nehmen wir zum Anlass für<br />
einen Blick aus zwei Perspektiven: Wir<br />
räumen auf mit dem Entstehungsmythos<br />
als Malaria-Medizin, blicken aber<br />
genauso auf den aktuellen Hype.<br />
18<br />
AUF EIN GLAS MIT ...<br />
...Paul Sieferle. Aber leider nicht in<br />
einer seiner Bars, sondern digital. Es ist<br />
das erste Mal in der Geschichte unseres<br />
Magazins, dass wir jemanden für ein<br />
Interview zu einem gemeinsamen Video-Drink<br />
»treffen«. Doch was soll man<br />
machen? Bei bestem Riesling spricht der<br />
gelernte Musiker offen über <strong>die</strong> Barszene<br />
von Mannheim, über Neid, Politiker<br />
in <strong>Corona</strong>-Zeiten und natürlich über <strong>–</strong><br />
Wein.<br />
64<br />
BACK TO BASICS<br />
Der Old Fashioned bleibt<br />
der Dreh- und Angelpunkt<br />
allen mixologischen Denkens,<br />
er war der vielleicht<br />
zentralste Bezugspunkt der<br />
wiedererwachenden Barkultur. Wie<br />
merkwürdig, dass David A. Embury<br />
den Drink in seinem epochalen Buch von<br />
1948 zwar zu den »Key Cocktails« zählt, ihn<br />
aber vergleichsweise stiefmütterlich und leicht dilettantisch<br />
abhandelt. Unsere <strong>die</strong>sjährige Reihe wagt im<br />
dritten Teil eine steile These.<br />
COCKTAIL 46<br />
Hail to the King: Der <strong>große</strong> Exkurs zum Gin & Tonic<br />
<strong>–</strong> aus zwei Perspektiven<br />
....................................................................................<br />
BUSINESS 56<br />
Wie begegnet <strong>die</strong> Spirituosenindustrie<br />
dem Shutdown?<br />
....................................................................................<br />
BACK TO BASICS 64<br />
Trägt David A. Embury eine Mitschuld am<br />
»Old Fashioned-Debakel«?<br />
....................................................................................<br />
HOW TO COCKTAIL 76<br />
So geht der Aviation Cocktail<br />
....................................................................................<br />
KAFFEE ........................... 78<br />
Alle reden von der Maschine.<br />
Wir sprechen von der Mühle!<br />
....................................................................................<br />
KAFFEENOTIZEN 81<br />
Innovatives aus dem Kaffeekosmos<br />
....................................................................................<br />
WHISK(E)Y NEWS 84<br />
Neuheiten rund um Roggen, Mais und Torf<br />
....................................................................................<br />
BIERNOTIZEN 88<br />
Acht neue Hopfi gkeiten<br />
....................................................................................<br />
Rubriken & Kolumnen<br />
OHNE GEMÜSE, BITTE! 14<br />
<strong>Corona</strong> zeigt uns: <strong>die</strong> Bar braucht eine Lobby!<br />
....................................................................................<br />
DIE FLASCHE IN ZAHLEN #1 31<br />
Bacardí Añejo Cuatro<br />
....................................................................................<br />
DIE FLASCHE IN ZAHLEN #2 63<br />
Mount Gay XO<br />
....................................................................................<br />
KLIMEKS KAUFBEFEHL 74<br />
Klimek kauft Kabinett. Sie auch?<br />
....................................................................................<br />
INTERIOR ........................ 82<br />
Zu Gast in der wohligen Eleganz des<br />
Berliner »Bonvivant«<br />
....................................................................................<br />
MUSIK 90<br />
Malakoff Kowalski erklärt, wie er zur Mütze kam<br />
....................................................................................<br />
MADE IN GSA COMPETITION 2020 94<br />
Das Update zum Finale in Köln<br />
....................................................................................<br />
IMPRESSUM & KOMMENDE THEMEN 96<br />
....................................................................................
AUF EIN GLAS MIT … PAUL SIEFERLE<br />
»ES GEHT UM<br />
DEN VIBE«<br />
Paul Sieferle hat Mannheim vor acht<br />
Jahren aus dem Bar-Dornröschenschlaf geholt.<br />
Gemeinsam mit seinem Partner prägt<br />
er bis heute <strong>die</strong> Gastroszene der »Quadratstadt«,<br />
in der es, wie er sagt, an Dynamik<br />
fehlt. Trotzdem vermittelt Sieferle nach rund<br />
sieben Wochen Shutdown eines ganz sicher<br />
nicht: Mutlosigkeit. Ein Gespräch mit einem<br />
Barbetreiber über Bars in einer Zeit, in der<br />
keine Bar offen ist.<br />
Text & Interview Nils Wrage<br />
Hätte man im Januar irgendwo erzählt, dass<br />
man das Interview für eine Rubrik namens<br />
»Auf ein Glas mit ...« per FaceTime führt, hätten<br />
einen <strong>die</strong> Leute für bekloppt gehalten und<br />
das Magazin wohl zu Recht wieder beiseitegelegt.<br />
Auf ein Glas! Dafür trifft man sich ja wohl,<br />
ist doch klar. Doch dann kam der Frühling und<br />
mit ihm ein Virus, das im Prinzip alle unsere<br />
Gewohnheiten verändert hat.<br />
Und so treffen wir Paul Sieferle an einem milden<br />
Mai-Abend eben digital. Ein kleiner Vorteil<br />
dabei: So musste sich der gelernte Musiker nicht<br />
entscheiden, in welche seiner drei Bars er einlädt.<br />
Zwei Wochen vor dem Interview hat Sieferle<br />
Wein geschickt, damit an beiden Enden der<br />
Leitung der gleiche Tropfen ins Glas kommt.<br />
Und der kann sich sehen lassen: Es gibt einen<br />
2015er Riesling »Großes Gewächs« aus der Lage<br />
Jesuitengarten vom Weingut Acham-Magin.<br />
Womit wir auch gleich einen Gesprächseinstieg<br />
haben.<br />
Mixology: Paul, hätten wir uns für <strong>die</strong>ses<br />
Interview vor drei, vier Jahren getroffen, stünde<br />
jetzt wahrscheinlich kein Wein vor mir, sondern<br />
ein Old Fashioned oder so was in der Art.<br />
Paul Sieferle: Gute Frage! Vor vier Jahren auf<br />
jeden Fall. Vor drei <strong>–</strong> ich weiß es nicht genau,<br />
könnte sein, vielleicht hätte ich aber auch damals<br />
schon Wein aufgetischt.<br />
Woher kommt deine neue Liebe zum Wein? Du<br />
zelebrierst sie auch in den sozialen Me<strong>die</strong>n,<br />
während du früher eher den Ruf hattest, vor<br />
allem eine Begeisterung für starke, straighte<br />
Drinks zu pflegen. Liegt das begründet in dem<br />
allgemeinen Trend zum Wein? Oder auch daran,<br />
dass Wein in eurem neuesten Laden eine<br />
größere Rolle spielt?<br />
Nein, mit irgendwelchen Trends oder der<br />
Weinkarte im Odeon hat das eigentlich nichts<br />
zu tun. Und tatsächlich war und ist Wein auch<br />
im Hagestolz immer ein wichtiges Thema.<br />
Ich habe Wein eigentlich nicht kürzlich entdeckt,<br />
ich habe ihn nur neu entdeckt.<br />
Was genau bedeutet das?<br />
Also es stimmt schon: Ich war recht lange Zeit<br />
eher der Sipping-Typ, klare, stärkere Drinks<br />
und so. Und ich liebe einfach Scotch. Aber<br />
Wein war schon immer da, das hat ja auch<br />
familiäre Gründe: Es gibt sogar ein Weingut<br />
Sieferle mit Straußwirtschaft, das von einer<br />
Cousine meiner Mutter betrieben wird. Mit<br />
Wein bin ich aufgewachsen, seit meine Familie<br />
in den Schwarzwald gezogen ist, als ich drei<br />
Jahre alt war. Mein erstes richtig fieses Besäuf-<br />
18
Foto: Sebastian Weindel<br />
19
TITEL<br />
24<br />
VERTREIBUNG AUS<br />
DEM BARADIES<br />
Bild: akg images / Schnorr von Carolsfeld, Julius 1794 <strong>–</strong> 1874. »Der Sündenfall«. (Die Vertreibung aus dem Para<strong>die</strong>s, 1. Mose 3, 23<strong>–</strong>24), Collage: Editienne
B C . A C<br />
Coupetten und Burgunder-Gläser, Tumbler sowieso, Pils-Stangen<br />
und Wasser-Karaffen <strong>–</strong> ein gläsernes Sammelsurium steht auf<br />
unseren Rückbüffets. Nur keine Kristallkugel! Doch wenn sich das<br />
globale Bar-Zeitalter in »BC« und »AC« teilt, entscheiden wir bei<br />
<strong>MIXOLOGY</strong> uns dennoch für einen Blick nach vorn. Das kann jetzt<br />
ein bisschen wehtun.<br />
Keine teuren Autos, keine ausgeschütteten<br />
Dividenden <strong>–</strong> <strong>die</strong>ses<br />
Polster kann sich jetzt lohnen.<br />
Dirk Hany<br />
Foto: Steven Kohl<br />
Text Roland Graf<br />
Durststrecken, Notkredite und verwirrende Politiker-Aussagen einten<br />
<strong>die</strong> Bars in den letzten Wochen quer durch den deutschen Sprachraum.<br />
Das lässt auch jene wieder von null beginnen, <strong>die</strong> mit einem blauen<br />
Auge durch <strong>die</strong> Krise kamen. »Gut war es, dass wir nach unserem anfänglichen<br />
Erfolg keine Dividenden ausgeschüttet, keine teuren Autos<br />
gekauft und unseren Lebensstil nicht verändert haben«, subsummiert<br />
das Dirk Hany für <strong>die</strong> Bar am Wasser in Zürich: »Das finanzielle<br />
Polster hat sich gelohnt.« Für <strong>die</strong> Wiedereröffnung hat er gleich zwei<br />
neue Barkarten vorbereitet. Naheliegendes Thema für Juni: »Back to the<br />
roots <strong>–</strong> ausschließlich alte Klassiker, wie man sie aus den 1920ern, 30ern<br />
oder 60ern kennt.« Dazu hat der Schweizer BaW TV als YouTube-Kanal<br />
kreiert, auf dem lustige Tutorials dafür sorgen, »dass unsere Gäste uns<br />
nicht vergessen«.<br />
Diese Plattform wird es auch weiterhin geben. Schließlich unterstützt<br />
sie Freunde des Hauses, denen <strong>die</strong> Aufträge durch <strong>Corona</strong> wegbrachen,<br />
wie den Videofilmer Steven, dem über 40 Aufträge storniert wurden.<br />
Für <strong>die</strong> plötzlich nicht mehr gefragte Ware des Gemüselieferanten hat<br />
man <strong>die</strong> Bar-Plattform ebenfalls geöffnet. Dort verkauft Dirk Hany auch<br />
alle Pre-Batches ab. Einen bottled cocktail hat man mit dem Schweizer<br />
Händler Diwisa zwar auch entwickelt <strong>–</strong> doch der Erlös wird gespendet.<br />
Das »Socializing at home« wollte er nicht unterstützen, stattdessen sollen<br />
<strong>die</strong> Gäste <strong>die</strong> Bar am Wasser im Idealfall besser, stärker und grandioser<br />
in der Après-<strong>Corona</strong>-Zeit erleben können.<br />
25
34<br />
SPIRITUOSE
Text Michaela Bavandi<br />
Liköre waren über Jahrzehnte <strong>die</strong> klebrigen Nebendarsteller im<br />
Rückbüffet, <strong>die</strong> niemand so wirklich ernst genommen hat. Das blieb<br />
auch während des Beginns der Bar-Renaissance noch so.<br />
Heute emanzipiert, premiumisiert sich Likör Richtung Main Stage.<br />
Hersteller setzen auf innovative Zutaten, kreieren neue Produkte<br />
und reagieren mit weniger Alkoholgehalt und Zucker auch auf <strong>die</strong><br />
aktuellen Nutrition-Trends.<br />
Manche ihrer Rezepte sind Jahrhunderte alt, von Generation<br />
zu Generation überliefert und streng behütet. Ihre oft klösterliche<br />
oder pharmazeutische Tradition reicht weit bis ins<br />
Mittelalter zurück, als gerade Kräutertinkturen ursprünglich<br />
als Arzneimittel eingesetzt worden sind. Erst in ihrer Weiterentwicklung<br />
sind Liköre aus Früchten, Kräutern, Kaffee, Tee,<br />
Eiern, Gewürzen oder Kakao zu Genussmitteln und zu notwendig<br />
liebsamen Gespielen klassischer Cocktails avanciert.<br />
Früher <strong>die</strong>nte <strong>die</strong> Heimproduktion der süßen Spirituose mit<br />
den Grundkomponenten Alkohol, Zucker und Wasser dem<br />
Konservieren saisonaler Früchte, heute ist auch das wieder<br />
en vogue.<br />
Liköre weisen einen Zuckergehalt von mindestens 100 Gramm<br />
pro Liter auf, um in der EU als solche zu gelten. »Crème«-Liköre<br />
zeichnen sich durch 250 Gramm je Liter aus, und bei<br />
Crème de Cassis aus schwarzer Johannisbeere sind es gar 400<br />
Gramm Zucker. Ein Alkoholgehalt von 15 % Vol. ist verpflichtend,<br />
selten geht es über 40 %. Die legendäre Chartreuse Verte<br />
der französischen Kartäusermönche beispielsweise schlägt jedoch<br />
mit 55 % Vol. kräftig aus der Art.<br />
Liköre zählen zu den beliebtesten und wichtigsten Kategorien<br />
im deutschen wie internationalen Spirituosenmarkt. Laut BSI<br />
etwa hatte Likör am deutschen Spirituosenmarkt im Jahr 2018<br />
einen Anteil von sage und schreibe 28 Prozent! Und das Ende<br />
scheint noch nicht erreicht, wie auch <strong>die</strong> aktuelle Kreativität<br />
der Kategorie zeigt. »Die Kategorie hat sich laut Marktforschungsdaten<br />
im vergangenen Jahr mit einem Absatzplus von<br />
1 % positiv entwickelt«, weiß Dr. Tina Ingwersen-Matthiesen,<br />
Geschäftsführerin bei Borco in Hamburg. Laut ihr vorliegenden<br />
Marktforschungsdaten soll sich <strong>die</strong>ser Trend mit<br />
einem Absatzplus von 4 % auch <strong>die</strong>ses Jahr fortsetzen <strong>–</strong> einzig<br />
das <strong>Corona</strong>virus weiß wohl zur Stunde, ob <strong>die</strong>se Prognose<br />
noch haltbar ist. »Es ist keine überraschende Entwicklung,<br />
denn in der Likörwelt tut sich derzeit recht viel. Liköre bieten<br />
eine <strong>große</strong> Vielfalt, <strong>die</strong> von Konsumenten und Bartendern<br />
geschätzt wird«, so Ingwersen-Matthiesen. Darüber freuten<br />
sich auch Liköre wie Disaronno mit besonderer Markenidentität.<br />
Ein gesteigertes Interesse im On-Trade-Bereich sieht <strong>die</strong><br />
Hanseatin mit einem umfassenden Likör-Portfolio an außergewöhnlichen<br />
Qualitäten wie den Kräuterlikören Chartreuse<br />
»1605« oder Chartreuse »Liqueur du 9° Centenaire« <strong>–</strong> beide<br />
aus der Taufe gehoben, um ein bestimmtes Jubiläum in der<br />
Geschichte der Herstellung von Chartreuse zu feiern.<br />
Der unverzichtbare Darsteller<br />
Liköre sind unverzichtbar für <strong>die</strong> Bar. Seltene Pflanzen-,<br />
Alpenliköre, neue Fruchtlikörsorten, ein Comeback von<br />
»Pfeffi« und Kaffeelikör für den populären Espresso Marti-<br />
Collage: Editeinne<br />
35
COCKTAIL<br />
Von<br />
wegen<br />
MEDIZIN<br />
DER WEG VOM GIN PUNCH<br />
ZUM GIN & TONIC<br />
Text Armin Zimmermann<br />
46
GIN & TONIC IST ÜBERALL. EIN<br />
KOMMENTAR M ZUM GROSSEN S DRINK<br />
UNSERER E R TAGE<br />
Bilder/Collagen/Illustartionen: Editienne<br />
NICHT<br />
Text Martin Stein<br />
vom<br />
Tisch<br />
47
Eine der beliebtesten Anekdoten<br />
der Bar: Britische Kolonialtruppen<br />
erfanden den Gin<br />
& Tonic. In der sumpfigen<br />
Hitze In<strong>die</strong>ns tranken sie in<br />
Soda gelöstes Chinin, um der<br />
Malaria vorzubeugen. Dieser<br />
bitteren Medikation setzten<br />
sie Zucker, Zitrone und<br />
Gin zu <strong>–</strong> wohl der Bekömmlichkeit<br />
und Heiterkeit halber.<br />
Doch <strong>die</strong>se Geschichte<br />
ist zwar schön, aber falsch.<br />
Beleuchten wir <strong>die</strong> wahren<br />
Ursprünge.<br />
Um den Gin & Tonic richtig verstehen zu können,<br />
müssen wir weit in <strong>die</strong> Geschichte zurückgehen. Natürliches<br />
Sodawasser galt bereits vor über 2000 Jahren<br />
als Heilmittel. Ab dem 16. Jahrhundert wurde es in<br />
Deutschland abgefüllt und exportiert. Es war so wichtig,<br />
dass sogar Kriege um Quellen geführt wurden. Im<br />
18. Jahrhundert entstand <strong>die</strong> Bäderkultur: Wer es sich<br />
leisten konnte, ging auf Kur. Sodawasser war so bedeutend,<br />
dass man es künstlich herstellen und verschiedene<br />
Heilwässer imitieren wollte. Die wissenschaftlichen<br />
und technischen Grundlagen wurden gelegt, und 1781<br />
gründete Thomas Henry <strong>die</strong> erste Fabrik zur Herstellung<br />
eines künstlichen Sodas.<br />
Im Jahr 2020 spielt Gin eine<br />
Doppelrolle: An der Bar ermüdet<br />
er so manchen, während<br />
sein ganzheitlicher Siegeszug<br />
beim Verbraucher eigentlich<br />
erst seit Kurzem läuft. Ist Gin<br />
also tot oder boomt er tatsächlich<br />
erst jetzt, nachdem <strong>die</strong><br />
letzten zehn Jahre sogenannten<br />
Booms eigentlich nur Aufwärmphase<br />
waren? Die Antwort:<br />
Eine zufriedenstellende<br />
Antwort gibt es nicht. Gin<br />
findet sich selbst, das hat er<br />
immer getan. Die momentane<br />
Frage lautet eher, wohin der<br />
Konsument ihn ziehen wird.<br />
Am 1. Januar 2018 hat der Gesetzgeber einem der<br />
drängendsten Probleme unserer Gesellschaft endlich<br />
Abhilfe geschaffen: der privaten Herstellung von<br />
Alkohol mithilfe von Kleindestillen, bis dato erlaubt<br />
bis zu einem halben Liter Fassungsvermögen. Heutzutage<br />
ist ja gar nicht mehr vorstellbar, wie seinerzeit<br />
der Markt in Deutschland mit teilweise mehreren<br />
Dutzend Litern Privatschnaps jährlich förmlich überschwemmt<br />
wurde.<br />
48 Cocktail — Gin Tonic
Brandy & Water, Gin Punch<br />
und der Collins<br />
Brandy & Water wurde schon im 17. Jahrhundert getrunken,<br />
und mindestens seit 1826 trank man auch<br />
Brandy & Soda. Vielleicht hiervon inspiriert, bereitete<br />
Stephen Price 1835 im Londoner Garrick Club einen<br />
Gin Punch mit Sodawasser zu. Dort trafen sich<br />
Schauspieler, Schriftsteller, Kunstschaffende, kultivierte<br />
Männer und Adlige, und <strong>die</strong> Mitgliederliste<br />
liest sich wie das Who’s who der damaligen Gesellschaft.<br />
Wer etwas auf sich hielt, trank <strong>die</strong>ses neuartige<br />
Getränk und auch dessen Weiterentwicklung aus dem<br />
Limmer’s Hotel, den Collins, benannt nach dem dortigen<br />
Oberkellner und mutmaßlichen Erfinder desselben:<br />
eine Mischung aus Gin, Zucker, Zitronensaft und<br />
Sodawasser. Auch im Limmer’s Hotel traf sich alles,<br />
was Rang und Namen hatte, Freunde der Pferdewetten<br />
und der zukünftige König George IV.<br />
Man hört oft, Gin sei ein Getränk der Unterschicht gewesen,<br />
<strong>die</strong> Oberschicht hingegen hätte teuren importierten<br />
Brandy und Genever bevorzugt. Es sei deshalb<br />
nicht verständlich, wieso man begonnen habe, Gin<br />
Punch zuzubereiten. Doch eine Erklärung ist einfach:<br />
Es gab eine Mittelschicht, <strong>die</strong> am Glamour teilhaben<br />
wollte. Man konnte sich vielleicht keinen Brandy leisten,<br />
aber einen Punch wollte man schon, und anstelle<br />
teurer frischer Zitronen konnte man Zitronensäure<br />
verwenden, so wie es in einer Anzeige des Jahres 1814<br />
vorgeschlagen wird. Es war wie heute auch: Trinkt beispielsweise<br />
Madonna ein bestimmtes Wasser, wollen es<br />
viele andere auch haben.<br />
Der Gin Punch als Medizin<br />
Auch darf man nicht vergessen, dass Gin Punch bereits<br />
im 18. Jahrhundert als Medizin verschrieben wurde,<br />
beispielsweise gegen <strong>die</strong> erwähnte Malaria. Dabei<br />
kommt es nicht selten zur »Wassersucht«, also zu Flüssigkeitseinlagerungen.<br />
Mit einem leichten Gin Punch<br />
und dem darin enthaltenen Wacholder wurden <strong>die</strong><br />
Nieren dazu angeregt, <strong>die</strong>ses Wasser auszuscheiden.<br />
Manchmal wurde zusätzlich auch Chinarinde eingenommen.<br />
Man kann also postulieren, dass nicht nur britische<br />
Soldaten und Weltreisende an Chinarinde und Gin<br />
Punch gewöhnt waren, denn Malaria gab es auch in<br />
Europa. Man kannte Brandy & Soda, und so ist es nur<br />
schlüssig, dass zunächst aus dem Gin Punch durch<br />
Verwendung von Sodawasser der Collins entstand und<br />
Aus und vorbei. Die Halbliter-Prohibition hat dem<br />
Bösen in <strong>die</strong>sem Land den flüssigen Nährboden entzogen.<br />
Bei der Regelung wurden aber auch keine halben<br />
Sachen gemacht: Nicht nur das Selbstbrennen<br />
am Küchentisch wurde verboten, sondern auch <strong>die</strong><br />
Weiterbehandlung bereits fertiger und damit versteuerter<br />
Destillate. Damit auch ja keiner heimlich sein<br />
Rasierwasser zu Hause braut. Oder <strong>–</strong> nicht auszudenken<br />
<strong>–</strong> einen Neutralalkohol mit irgendwas aus seinem<br />
Gewürzregal aromatisiert. Mit Wacholder zum Beispiel.<br />
Und damit jeder dahergelaufene Schiffschaukelbremser<br />
mal so en passant zum Ginproduzenten wird.<br />
Das geht ja gar nicht. Sodom und Gomorrha, Erblindung<br />
droht und Steuerausfälle in<br />
einer Höhe, <strong>die</strong> es erlaubt hätte,<br />
höheren Bundeswehr-Dienstgraden<br />
Paradeunterwäsche anzuschaffen.<br />
Ich besitze so eine Kleindestille,<br />
denn der Besitz ist nach wie vor erlaubt.<br />
Ist ja auch schön anzusehen,<br />
so was. Pittoreskes kleines Ding. Ein<br />
weniger gesetzestreuer Bürger als ich<br />
hätte nun eventuell einmal darüber<br />
nachdenken können, sich über das<br />
Verbot hinwegzusetzen und sie in Betrieb<br />
zu nehmen. Ich nicht. Natürlich<br />
nicht! Vielleicht jemand aus Berlin<br />
oder einer ähnlichen Gegend, wo unser<br />
schöner Länderfinanzausgleich<br />
instantan in dunklen Drogenkanälen<br />
verschwindet. So ein verkommenes<br />
Subjekt könnte tatsächlich auf<br />
<strong>die</strong> Idee kommen, <strong>die</strong> kleine Anlage<br />
auch tatsächlich zu benutzen. Mit,<br />
sagen wir mal, etwas Doppelkorn als<br />
Gin aus der Heimdestille:<br />
Verboten,<br />
macht aber trotzdem<br />
Spaß<br />
Basis zum Beispiel, ganz hypothetisch. Dann könnte<br />
er einen ebenso hypothetischen Wacholder ein wenig<br />
mörsern und mit dem Korn in einem Marmeladenglas<br />
ein paar Tage lang durchziehen lassen. Und bevor<br />
dann <strong>die</strong>ser Verbrecher wieder in seinen Alltag aus<br />
Auftragsmord, Mädchenhandel und Emissionsbetrug<br />
eintaucht, schüttet er <strong>die</strong> Brühe in den possierlichen<br />
kleinen Brennkessel und freut sich, wenn der Moonshine<br />
aus dem Kupfer tropft.<br />
Klassischer London Dry Gin eigentlich, Hausmacher-Art,<br />
sehr hochprozentig natürlich (denke ich<br />
mir), weil man ja ein Destillat nochmals destilliert,<br />
aber durchaus angenehm im Geschmack. Kann man<br />
schon mal machen, das Ergebnis muss sich nicht verstecken.<br />
Und beim Verkosten seines illegitimen Kindes<br />
mag sich der Renegat zweierlei denken: zum einen, wie<br />
leicht das ging. Und zweitens, ob man mit seinem Ei-<br />
49
BACK TO BASICS<br />
Old<br />
Fashioned<br />
64<br />
Illustrationen: Editienne
Die 6<br />
»Basic Cocktails«<br />
nach David<br />
Embury<br />
1/6 ◊ Dry Martini<br />
2/6 ◊ Manhattan<br />
3/6 ◊ Old Fashioned<br />
4/6 ◊ Daiquiri<br />
5/6 ◊ Side Car<br />
6/6 ◊ Jack Rose<br />
Konzept,<br />
nicht Rezept<br />
Der Old Fashioned ist der Cocktail<br />
aller Cocktails und auch landläufig<br />
<strong>die</strong> erste Mischung, <strong>die</strong> man dem<br />
Wort »Cocktail« zugeordnet hat.<br />
Das war nicht immer so. Er war<br />
jahrzehntelang eine Grauslichkeit<br />
ersten Ranges. Seit rund 20 Jahren<br />
wiederum ist er der Nukleus der<br />
Bar-Renaissance. Und er wandelt<br />
sich weiter. Unser Autor rekapituliert<br />
in <strong>die</strong>sem Teil seiner Serie, warum<br />
ausgerechnet der heilige David Embury<br />
beim Old Fashioned wohl ein<br />
wenig falsch lag.<br />
Text Gabriel Daun<br />
Wäre er eine Person, handelte es sich um eine<br />
bemerkenswerte Persönlichkeit. Eine, <strong>die</strong><br />
schon lange genug dagewesen ist, um zu wissen,<br />
dass man einen Moment ewig währen lassen<br />
kann. Dass <strong>die</strong>s bereits geschehen ist. Und dass<br />
<strong>die</strong> Zeit für den Menschen geschaffen wurde,<br />
nicht umgekehrt. Alt, aber immer noch krafterfüllt,<br />
mit wachen Augen, <strong>die</strong> glühen, wenn er<br />
sich bewegt. Mit einem Gesicht, dessen Falten<br />
von einem Leben nicht arm an Erfahrungen,<br />
Erfolgen und Beschädigungen Zeugnis geben;<br />
wettergegerbt von Sonne, Eis und Stürmen. Einer,<br />
der sich mehrfach gehäutet hat und dabei<br />
doch er selbst geblieben ist. Der Gelassenheit<br />
aus der Gewissheit schöpft, dass es ohne ihn<br />
immer noch nicht geht. Und dass das aller<br />
Voraussicht nach noch lange so bleiben wird.<br />
Einer also, der zum kleinsten Kreis der Unendlichen<br />
gehört, ohne <strong>die</strong> man sich <strong>die</strong> Bar nicht<br />
denken kann. Es gibt einen Grund, warum er<br />
seinen Namen trägt. Der Konjunktiv im ersten<br />
Satz verriet bereits: Es geht nicht um eine Person,<br />
sondern um einen Drink. Und zwar um<br />
einen, der viele Metamorphosen durchlief und<br />
der bereits existierte, lange bevor er seinen<br />
heutigen Namen bekam. Unaufhörlich war er<br />
stetem Wandel unterworfen, ist es heute noch<br />
und wird es vermutlich bis zum Ende sein. Der<br />
Old Fashioned.<br />
Ein Palimpsest<br />
In der strukturalistisch geprägten Literaturtheorie<br />
ist der Begriff der Intertextualität einer<br />
der zentralen Termini <strong>die</strong>ser Disziplin. Sie fußt<br />
auf der Idee, dass kein Text ohne Bezug zur<br />
Gesamtheit aller existierenden Texte möglich<br />
ist. Der französische Literaturwissenschaftler<br />
Gérard Genette ist in <strong>die</strong>sem Zusammenhang<br />
dabei einer der Masten, an denen man<br />
als Student der Neueren Literaturwissenschaft<br />
irgendwann einmal vorbei muss. In seinem<br />
Hauptwerk Palimpseste. Die Literatur auf<br />
zweiter Stufe unterscheidet er darauf bezugnehmend<br />
zwischen einem Hypotext (einem<br />
Text, der bereits zuvor existierte) und dem Hypertext<br />
(einem aktuell vorliegenden Text). Die<br />
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