Pandemie / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 80 (3/2020)
Der ursprünglich geplante Schwerpunkt für die 2020 Sommerausgabe war Mobilität, doch dann kam Covid-19 und es war klar, wir können dieses Ereignis nicht einfach ignorieren. Es zeigte sich bald, dass die Verwendung und Verteilung des Straßenraums ein Thema ist, dass Mobilität und Covid-19 verbindet. Covid-19 zeigt uns die gesellschaftlichen Zustände wie unter einer Lupe, egal ob es nun die Wohn- und Arbeitsverhältnisse sind oder die Verteilung des Straßenraums zwischen Fußgeher*innen, Radfahrer*innen und dem motorisierten Individualverkehr. Covid-19 zeigt aber auch, dass alle Hilfsprogramme vorrangig dazu da sind, die bestehenden Strukturen zu retten und alles getan wird, um zur sogenannten „Normalität“ zurückkehren zu können. Doch genau diese »Normalität« gilt es in Frage zu stellen. Der Schwerpunkt enthält Beiträge zu Alltagsökonomie, Wohnen, Straßenraum, Protest, Digitalisierung, Wanderarbeiter*innen, soziale und räumliche Segregation sowie Stadtgeschichte.
Der ursprünglich geplante Schwerpunkt für die 2020 Sommerausgabe war Mobilität, doch dann kam Covid-19 und es war klar, wir können dieses Ereignis nicht einfach ignorieren. Es zeigte sich bald, dass die Verwendung und Verteilung des Straßenraums ein Thema ist, dass Mobilität und Covid-19 verbindet. Covid-19 zeigt uns die gesellschaftlichen Zustände wie unter einer Lupe, egal ob es nun die Wohn- und Arbeitsverhältnisse sind oder die Verteilung des Straßenraums zwischen Fußgeher*innen, Radfahrer*innen und dem motorisierten Individualverkehr. Covid-19 zeigt aber auch, dass alle Hilfsprogramme vorrangig dazu da sind, die bestehenden Strukturen zu retten und alles getan wird, um zur sogenannten „Normalität“ zurückkehren zu können. Doch genau diese »Normalität« gilt es in Frage zu stellen. Der Schwerpunkt enthält Beiträge zu Alltagsökonomie, Wohnen, Straßenraum, Protest, Digitalisierung, Wanderarbeiter*innen, soziale und räumliche Segregation sowie Stadtgeschichte.
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Jul — Sept 2020
N o 80
Zeitschrift für Stadtforschung
dérive
dérive
PANDEMIE
ISSN 1608-8131
9 euro
dérive
Editorial
Ursprünglich war geplant, den Schwerpunkt dieser Ausgabe
dem Thema Mobilität zu widmen. In zahlreichen Städten ist in
den letzten Jahren das Bewusstsein dafür gestiegen, dass
urbane Lebensqualität erfordert, die jahrzehntelange Bevorzugung
des motorisierten Individualverkehrs zu beenden und den
öffentlichen Verkehr und nicht-motorisierte Mobilitätsformen
wie Zufußgehen oder Radfahren zu stärken. Doch die beharrenden
Kräfte sind stark und einflussreich und stemmen sich
mit all ihrer gesellschaftlichen Macht gegen diese Entwicklungen.
Um jeden Parkplatz wird gekämpft, jeder neue Radweg ist
Anlass für medial geführte Kampagnen.
Während der Redaktionsarbeit für diesen Schwerpunkt
änderte sich mit Covid-19 und den damit verbundenen Maßnahmen
scheinbar plötzlich alles und es war uns klar, dass
Covid-19 bzw. Pandemien im Allgemeinen ein Thema für eine
Stadtforschungszeitschrift sein müssen. Der Eindruck, es hätte
sich alles geändert, erwies sich rasch als oberflächlich. Covid-19
hat einfach vieles, was latent ohnehin schon lange vorhanden
war, für alle offensichtlich gemacht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse
wurden nicht auf den Kopf gestellt, sondern zeigen
sich uns durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie
wie unter einer Lupe. Das betrifft auch das Thema Mobilität.
Noch nie war es so sicht- und spürbar, wie viel Platz auf
den Straßen vorhanden ist, wenn der Verkehr von einem Tag
auf den anderen fast gänzlich verschwindet, wie das mit Verkündung
der Ausgangsbeschränkungen der Fall war. Viel freier
Platz wäre notwendig gewesen, um ausreichend räumlichen
Abstand halten zu können. Eine verantwortungsvolle Politik
hätte zu diesem Zeitpunkt Straßen für Fußgeher*innen geöffnet
und Open Streets, Shared Spaces, Begegnungszonen etc.
daraus gemacht. Doch davon war – von Ausnahmestädten
abgesehen – nichts zu hören oder die Maßnahmen kamen erst
sehr spät. Das Thema Flächengerechtigkeit, der zentrale Aspekt
unseres geplanten Mobilitätsschwerpunkts, war mit Covid-19
also plötzlich noch zentraler als zuvor. Somit ist das Thema
Mobilität nun auch Teil unseres Schwerpunkts zu Pandemien:
Rainer Stummer, aktuell Aktivist der wichtigen und unbedingt
unterstützenswerten Kampagne Platz für Wien, schreibt – ausgehend
von einer Analyse des Volksentscheids Fahrrad in Berlin
– über Raumverteilung und Protest und knüpft damit auch ein
wenig an den letzten dérive-Schwerpunkt zu Protest an. Florian
Lorenz hat für uns einen Text über das Konzept der Open
Streets verfasst, das mit der seit 1976 (!) jeden Sonntag stattfindenden
Ciclovía in Bogotá, Kolumbien, auf eine lange
Geschichte zurückblicken kann.
Frank Eckardt verweist in seinem Beitrag die Vertiefung
der Gräben auf die Zunahme gesellschaftlicher Ausschlüsse,
sozialer und ökonomischer Diskriminierung und der Segregation
zwischen Arm und Reich. Er tritt für eine Stadtplanung
ein, »die sich nicht auf infrastrukturelle und städtebauliche
Zielstellungen reduziert,« um die Voraussetzung für solidarische
Strukturen eines urbanen Zusammenlebens zu schaffen.
Die Notwendigkeit einer sozialen urbanen Infrastruktur, die
allen unabhängig von Herkunft und Klasse zur Verfügung steht
und unabhängig von der neoliberalen Marktordnung geschaffen
und aufrecht erhalten wird, betonen auch die Autor*innen
des Beitrags Die Alltagsökonomie als Fundament zukunftsfähiger
Stadtentwicklung. Der Ansatz der Alltagsökonomie (foundational
economy) findet seit einigen Jahren verstärkte Aufmerksamkeit,
und das, wie sich nun während Covid-19 wieder
zeigt, völlig zurecht. Ein schlagendes Beispiel dafür, was passiert,
wenn genau diese basale soziale Infrastruktur in Städten
nicht vorhanden ist oder nicht allen zur Verfügung steht, bringt
Ayona Datta mit ihrem Bericht über die Verhältnisse in indischen
Städten. Millionen Arbeiter*innen mussten ihre Städte
verlassen und zu Fuß oft über hunderte Kilometer in ihre Herkunfts-Dörfer
zurückkehren, weil ein Überleben mit Verhängung
der Ausgangssperren und somit ohne Einkommen für sie
nicht mehr möglich war.
Einen Überblick über die Situation am Wohnungsmarkt,
eine kritische Analyse der staatlichen Unterstützungsmaßnahmen
und Beispiele für selbstorganisierte solidarische
Hilfsaktionen gibt das Redaktionskollektiv der Zeitschrift
Radical Housing in ihrem Beitrag Covid-19 and housing struggles,
den wir in einer gekürzten Version für diesen Schwerpunkt
übersetzt haben.
Felix Stalder schließlich konstatiert eine Beschleunigung
bestehender Digitalisierungsdynamiken, die sich durch die
massive Stärkung digitaler Infrastrukturen ebenso zeigt wie
durch den Ausbau der Marktmacht von Händler*innen wie
Amazon, die sich anschicken, sich als kritischer Teil der Grundversorgung
zu etablieren oder dem noch tieferen Eindringen von
Sozialen Medien in unseren Alltag. Als überraschende und positive
Entwicklung sieht Stalder die Entwicklung eines neuen
Standards für Kontaktnachverfolgung (DP 3 T), »bei dem weder
kommerzielle noch sicherheitspolitische, sondern zivilgesellschaftliche
Akteur*innen federführend sind.«
Für unsere lose Serie an Beiträgen zur Wiener Stadtgeschichte
stehen ein weiteres Mal die Donau und ihr räumliches
Umfeld im Mittelpunkt. Die kleine Anarchie an der Donau ist
der Titel von Matthias Marschiks Artikel über die Donauwiese.
Das Kunstinsert der vorliegenden Ausgabe stammt von Selma
Selman. Es zeigt »eine Auswahl von Arbeiten, die ihre Rolle als
Frau in einer patriarchalen und von sozialer Ungleichheit
geprägten Gesellschaft ebenso radikal wie direkt thematisieren«.
Mit dieser Ausgabe feiert dérive seinen 20. Geburtstag.
Letzten Herbst hatten wir noch eine große Party in der Nordbahnhalle
vor Augen, als wir an das Jubiläum dachten. Wäre
die Nordbahnhalle letzten November nicht einer Brandstiftung
zum Opfer gefallen, deren Aufklärung, wie es scheint, niemanden
mehr interessiert, hätte uns wohl Corona einen Strich
durch die Rechnung gemacht. Wenn es die Umstände erlauben,
werden wir den 20er zumindest in kleinerem Rahmen beim
diesjährigen urbanize!-Festival (nach-)feiern, das dieses Jahr
Raum als Gemeingut unter dem Motto »Common Spaces,
Hybrid Places« thematisiert und vom 14.–18. Oktober in Wien
stattfindet. Save the date!
Einen schönen Sommer wünscht
Christoph Laimer
01
»Es ist an der Zeit
» in jeder Stadt
» OFFENE STRASSEN
» für alle zu fordern!«
Florian Lorenz in seinem Text Offene Straßen für alle! Temporär autofreie Straßen als
Bewegungs- und Interaktionsräume auf den S. 37–45.
ANGEBOT: ABONNEMENT + BUCH*
8 Ausgaben (2 Jahre) dérive um 56,–/75,– Euro (Österr./Europa)
inkl. ein Exemplar von:
ÖGFA – Österreichische Gesellschaft für Architektur und
Ute Waditschatka (Hg.)
Wilhelm Schütte Architekt
Frankfurt – Moskau – Istanbul – Wien
Zürich: Park Books, 2019
176 Seiten, 38,00 Euro
oder
Katja Schwaller
Technopolis
Urbane Kämpfe in der San Francisco Bay Area
Berlin, Hamburg: Assoziation A, 2019
232 Seiten, 19,80 Euro
Bestellungen an: bestellung@derive.at
*Solange der Vorrat reicht!
dérive
Zeitschrift für Stadtforschung
www.derive.at
Inhalt
01
Editorial
CHRISTOPH LAIMER
Schwerpunkt
04—05
Gegen eine Rückkehr zur Normalität
Zum Schwerpunkt Pandemie
CHRISTOPH LAIMER
06—11
Die Alltagsökonomie als Fundament zukunftsfähiger
STADTENTWICKLUNG
RICHARD BÄRNTHALER, SIGRID
KROISMAYR, ANDREAS NOVY, LEON-
HARD PLANK, ALEXANDRA STRICKNER
12—17
Reframing the Streets: Raumverteilung und PROTEST
RAINER STUMMER
18—20
Überlebensinfrastrukturen unter Covid-19 in INDIEN
AYONA DATTA
21—25
Pandemie als SMART-City-Labor
FELIX STALDER
37—45
Offene Straßen für ALLE!
Temporär autofreie Straßen als Bewegungs- und
Interaktionsräume
FLORIAN LORENZ
46—54
COVID-19 und die Wohnungskämpfe
Die (Wieder-)Auflage von Austeritätspolitik und
Katastrophen-Kapitalismus sowie die Nicht-Rückkehr
zur Normalität
RHJ EDITORIAL COLLECTIVE
Magazin
55—60
Die kleine ANARCHIE an der Donau
Das Inundationsgebiet (1875–1987)
MATTHIAS MARSCHIK
Besprechungen
61—63
Die Entgrenzung der Architektur,
S. 62
Mehr als Belanglosigkeiten,
68
IMPRESSUM
S. 61
Kunstinsert
32—36
Selma Selman
Tito’s bunker, Mercedes,
Washing Machine and Vampyr
–
dérive – Radio für Stadtforschung
Jeden 1. Dienstag im Monat von
17.30 bis 18 Uhr in Wien auf ORANGE 94.0
oder als Webstream http://o94.at/live.
Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235
03
CHRISTOPH LAIMER
GEGEN eine
Rückkehr zur
»Normalität«
Zum Schwerpunkt Pandemie
Es ist erst wenige Monate her, dass Regierungen
weltweit drastische Maßnahmen als Reaktion auf die
steigenden Corona-Ansteckungszahlen durchgesetzt
haben. Seit einigen Wochen werden diese Maßnahmen
zurückgenommen, in manchen Ländern, weil
sich die Situation tatsächlich zum Besseren gewendet
hat, in anderen wohl vorrangig deshalb, weil wirtschaftliche
Interessen bedient werden wollen. In dieser
Zeit sind Unmengen von Artikeln und Beiträgen
zu Covid-19 veröffentlicht worden, trotzdem finden
wir es als Redaktion einer Zeitschrift für Stadtforschung
angebracht, einen eigenen Schwerpunkt zum
Thema Pandemie zu veröffentlichen. Das hat einerseits
damit zu tun, dass Gestalt und Ordnung von
Städten viel mehr von Seuchen und Krankheiten
beeinflusst und geprägt sind, als man gemeinhin
annimmt und andererseits damit, dass es für uns als
kritische Zeitschrift ein wichtiger Zeitpunkt ist, um auf
das Versagen eines Systems hinzuweisen, das noch
selten so offensichtlich war.
Das Leben in Städten war die längste Zeit ihrer Existenz von
einer sehr hohen Sterblichkeit gekennzeichnet. Die Lebenserwartung
von Stadtbewohner*innen lag über Jahrhunderte um einiges
unter derjenigen der Landbevölkerung. Krankheiten und Seuchen
rafften regelmäßig große Teile der Bevölkerung hinweg. Das
war im antiken Rom und Athen nicht anders als in den europäischen
Städten des 14. bis 18. Jahrhunderts, über die der Anthropologe
Mark Nathan Cohen schreibt, dass sie möglicherweise
die »am stärksten von Krankheiten befallenen und am kürzesten
lebenden Bevölkerungen in der Geschichte der Menschheit« (zit.
nach Bollyky 2019) waren. Pest-, Typhus- und Choleraepidemien
wüteten und kosteten jeweils tausenden Menschen das Leben.
Vor allem natürlich jenen, die aufgrund ihrer Armut ihr Dasein
unter miserablen Wohnbedingungen und katastrophalen hygienischen
Zuständen fristen mussten.
Doch obwohl Bourgeoisie und Arbeiterklasse natürlich
nicht in denselben Vierteln wohnten, waren auch Bürger*innen
nicht davor gefeit, an Seuchen zu erkranken und zu sterben.
Gegenmaßnahmen waren also notwendig, nicht zuletzt auch, um
den »Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern« (Marx &
Engels 1972, S. 488), wie im Kommunistischen Manifest zu lesen
ist, das während der Hochzeit der Typhus- und Choleraepidemien
verfasst wurde. Friedrich Engels sah »die menschenfreundlichen
Bourgeois in edlem Wetteifer für die Gesundheit ihrer
Arbeiter« (Engels 1999, S. 233) entbrennen. Dass genau dieser
Aspekt auch in Zeiten von Covid-19 nicht übersehen werden
sollte, darauf weißen Vilenica et al. in ihrem Artikel Covid-19 und
die Wohnungskämpfe (S. 46–54) hin.
In den letzten Cholera-Epidemien in Wien (1866 und
1873) starben fast nur mehr arme Stadtbewohner*innen. 1 Die
Unterprivilegierten waren den Seuchen aber nicht nur am
stärksten ausgesetzt, sie wurden auch immer wieder für ihre
Verbreitung verantwortlich gemacht und im Zuge solcher
Kampagnen als gefährliche Klasse denunziert. Zuletzt beispielsweise
Bewohner*innen des Iduna-Zentrums in Göttingen
oder eines Asylwerber*innenheimes in Wien. In diesem
Zusammenhang ist auch die Dichte-Debatte zu sehen, die den
städtebaulichen Diskurs seither begleitet.
Aus dem Umstand, dass Arbeiter*innen in sehr dichten
Wohnvierteln lebten und leben, wurde und wird immer wieder
der Schluss gezogen, Dichte an sich wäre das Problem, das es
zu beseitigen gilt. Die Fantasien und Gerüchte darüber, wie das
Leben in den dichten Arbeiter*innenquartieren aussieht – Kriminalität,
Promiskuität, Krankheiten – war nicht nur für hetzerische
Kampagnen und Werke der Literaturgeschichte verantwortlich,
sondern in Folge auch für städtebauliche Konzepte, die beispielsweise
für die aufgelockerte Stadt eintraten. Nicht die physisch
ruinösen Arbeitsbedingungen, die fehlende Möglichkeit zur
Regeneration aufgrund extrem langer Arbeitszeiten, Unterernäh-
Stadtgeschichte, Pandemie, Städtebau,
Hygiene, Dichte, gefährliche Klasse,
Normalität, Wirtschaftskrise, Kapitalismus
04
dérive N o 80 — PANDEMIE
rung bzw. ungesunde Ernährung, fehlende Bildung und Gesundheitsversorgung
oder völlig unzureichend ausgestattete, feuchte
Wohnungen seien das Problem, sondern die Dichte. Die Dichte,
die genau das ermöglichte, was das Überleben irgendwie möglich
machte: alltägliche Solidarität und gegenseitige Hilfe im Viertel.
Bis heute passiert es, dass soziale Strukturen sowie die lokale
Möglichkeit für (informelle) Arbeit unter dem Vorwand, bessere
Wohnverhältnisse für Slumbewohner*innen zu schaffen, zerstört
werden, indem die verantwortlichen Politiker*innen die Bewohner*innen
an den Stadtrand absiedeln. Zufälligerweise können
die ehemaligen Grundstücke dann immer wieder teuer verkauft
oder mit ertragreichen Immobilien bebaut werden.
Zwei der wichtigsten baulichen Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung
waren der Bau stadtweiter Kanalisationsnetze
und die Versorgung aller Haushalte mit sauberem Trinkwasser.
In Wien konnte die Cholera endgültig erst mit dem Bau der äußerst
eindrucksvollen 95 km langen, 1873 eröffneten 1. Wiener
Hochquellenleitung, die die lokalen Hausbrunnen ersetzte, und
der Wienflussregulierung im Zuge des Baus der Stadtbahn,
verdrängt werden. 2
Neben reinem Wasser galten und gelten natürlich auch
saubere Luft und Licht als wichtige Voraussetzungen für ein
gesundes Leben in der Stadt, wobei die Annahme der Bedeutung
sauberer Luft bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch eine Folge der
ebenso gebräuchlichen wie falschen Annahme, giftige Ausdünstungen
des Bodens (Miasma) seien für die Ausbreitung von
Seuchen verantwortlich, zurückzuführen ist.
So ist es nicht verwunderlich, dass auch die Errichtung
von Parks, Spielplätzen und sogar Schrebergärten als sozialhygienische
Maßnahme im Sinne der Gesundheitsversorgung gesetzt
wurde. 3 Das bekannteste Beispiel dafür ist wohl New Yorks Central
Park, die »Lunge der Stadt« wie sie der Landschaftsarchitekt
Frederick Olmsted, der gemeinsam mit dem Architekten Calvert
Vaux den Wettbewerb für die Gestaltung des Central Parks gewonnen
hat, bezeichnete.
Covid-19 und die Wirtschaftskrise
Wie zu den Zeiten der großen Epidemien des 19. Jahrhunderts
geht es auch heute bei all den Hilfsmaßnahmen nicht
darum, langfristig neue Strukturen aufzubauen, die gegenüber
Krisen resilienter sind und nicht jedes Mal aufs Neue zig Millionen
vor existenzielle Probleme stellen, sondern darum, den
stockenden Motor des Kapitalismus wieder in Gang zu bringen:
Koste es, was es wolle. Unser Wirtschaftssystem wäre aufgrund
seiner hohen Produktivität ohne Probleme in der Lage, Güter in
einem Ausmaß zu produzieren, die eine ausreichende Versorgung
der Menschheit mit allem Lebensnotwendigen garantiert.
Das Paradox an unserer aktuellen Situation ist nun, dass es
zu einer Wirtschaftskrise gigantischen Ausmaßes kommt, weil
eine Pandemie es notwendig macht(e), für ein paar Wochen den
Arbeitsalltag neu zu organisieren und einige Bereiche vorübergehend
einzustellen. Das Problem ist nun aber nicht, dass es zu
wenige Lebensmittel, Kleidung oder Wohnungen gibt, sondern,
dass viele Menschen aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit
über weniger oder kein Einkommen mehr verfügen, um diese
bezahlen zu können. Gleichzeitig fragen sich Investor*innen, ob
es schon der richtige Zeitpunkt ist, um wieder Aktien zu kaufen
oder sie besser warten sollten, bis die Krise noch größer wird,
weil der zu erwartende zukünftige Profit dann noch höher sein
wird. 4 Normalerweise verkündet die Ideologie-PR in Situationen,
in denen Menschen vor existenziellen Problemen stehen, sie seien
zu wenig tüchtig, zu wenig gebildet, zu wenig hartnäckig, zu unflexibel,
zu wenig leistungsbereit etc. und brauchen sich deswegen
nicht wundern, wenn sie nicht ausreichend Geld zur Verfügung
haben. Doch diesmal ist es einfach völlig offensichtlich, dass
keiner dieser Gründe angeführt werden kann, weil niemand, der/
die durch die Pandemie arbeitslos geworden ist oder nun weniger
Einkommen hat als zuvor, selbst dafür verantwortlich gemacht
werden kann.
Und siehe da, jetzt wo das System in Gefahr ist, weil die
Kaufkraft bzw. die Möglichkeit Geld auszugeben nicht mehr im
notwendigen Ausmaß vorhanden sind, können plötzlich hunderte
Milliarden Euro und Dollar aufgebracht werden, die teils
freihändig verteilt werden, um den Laden wieder in Schwung zu
bringen. Wie schon bei der Finanzkrise 2008 zeichnet sich auch
bei Covid-19 ab, dass keinerlei Überlegungen angestellt werden,
wie die Grundversorgung der Menschheit in Zukunft auch in
Zeiten von Krisen aufrecht erhalten werden könnte, ohne jedes
Mal große Teile der Bevölkerung unnötig dem Ruin auszuliefern.
Was, um es noch einmal zu betonen, angesichts der Tatsache,
dass es die Güter gibt oder sie jederzeit hergestellt werden könnten,
die dafür notwendig sind, besonders grotesk ist.
Die Milliarden, die jetzt verteilt werden, dienen ausschließlich
dazu, die Mauern des Systems zu stützen und die
Löcher zu stopfen, damit möglichst schnell die Rückkehr zu dem,
was aktuell unter den Begriff Normalität läuft, gelingt. Doch
genau diese Normalität gilt es in Frage zu stellen. Die Pandemie
zeigt, wie wichtig eine soziale Infrastruktur und eine eigenständige
Alltagsökonomie für ein gutes Leben für alle sind (siehe dazu
die Beiträge von Bärnthaler et al., S. 06–11 sowie von Ayona
Datta auf S. 18–20) und dass es der Gebrauchswert der Güter
ist, auf den wir schlussendlich zählen können müssen und nicht
der Tauschwert (Berardi 2020).
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.
Fußnoten
1
https://w w w.geschichtewiki.wien.gv.at/Cholera
2
https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Cholerakanäle
3
https://www.stadtmuseum.de/objekte-und-geschichten/seuchen-in-berlin
4
https://www.finanzen.net/aktien/corona-aktien
Literatur
Berardi, Franco »Bifo« (2020): Jenseits des Zusammenbruchs.
Drei Betrachtungen zu einer Zeit danach. In: transversal
texts, übersetzt von Adrian Hanselmann. Verfügbar unter:
https://transversal.at/transversal/0420/berardi/de
Bollyky, Thomas J. (2019): The Future of Global Health Is
Urban Health. Verfügbar unter https://w w w.cfr.org/article/
future-global-health-urban-health [Stand 24.006.2020]
Engels, Friedrich (1973) [1872/73]: Zur Wohnungsfrage. In:
Marx, Karl & Engels, Friedrich: Werke. Band 18. Dietz Verlag:
Berlin. S. 209–287.
Fisher, Thomas (2010): Frederick Law Olmsted’s Campaign
for Public Health. In: Places, 11/2010. Verfügbar unter:
https://placesjournal.org/article/frederick-law-olmstedand-the-campaign-for-public-health/
[Stand 24.06.2020]
Marx, Karl & Engels, Friedrich (1972) [1848]: Manifest der
Kommunistischen Partei. In: dies.: Werke. Band 4. Dietz
Verlag: Berlin. S. 459–493.
Christoph Laimer — GEGEN eine Rückkehr zur Normalität
05
RICHARD BÄRNTHALER, SIGRID KROISMAYR, ANDREAS NOVY, LEONHARD PLANK, ALEXANDRA STRICKNER
Die Alltagsökonomie
als Fundament
zukunftsfähiger
STADTENTWICKLUNG
Covid-19 demaskiert die neoliberale Behauptung, es
gäbe nur eine Ökonomie, nur einen großen, globalen
Markt, als das, was sie wirklich ist: Eine Illusion.
Die Pandemie hat die Hyperglobalisierung einer
grenzenlosen wirtschaftlichen Verflechtung ins
Wanken gebracht. Wäre dieser teilweise Rückbau
von globalen Lieferketten und Finanzbeziehungen
dauerhaft, eröffnen sich für die Stadtentwicklung
neue Handlungsspielräume, die durch geschicktes
politisches Agieren genutzt werden können. Es kann
aber auch erneut so enden wie nach der großen
Finanzkrise 2008, als es mächtigen Kapitalinteressen
rasch gelang, zum vermeintlichen Normalzustand
einer grenzenlosen Weltwirtschaft zurückzukehren.
Um dies 2020 zu verhindern, braucht es zweierlei:
einerseits ein gutes Verständnis des Markliberalismus,
der das ideologische Unterfutter für städtische
Strategien der Liberalisierung, Privatisierung und
Finanzialisierung liefert. Andererseits benötigen wir
die Vision einer anderen Wirtschaftsordnung sowie
Strategien, um die aktuelle neoliberale Marktordnung
abzulösen. Dies kann durch die Stärkung der
Alltagsökonomie gelingen. Die ihr zugrundeliegenden
Infra struk turen bilden das Fundament einer
zukunftsfähigen Stadtentwicklung, die die grundlegenden
Bedürfnisse ihrer Bewohner*innen befriedigt
(FEC 2018). Dies gelingt, wenn stadtpolitische Entscheidungen
getroffen werden, die sich von der
Logik des Marktliberalismus verabschieden und sich
auf die kollektive Bereitstellung dieser städtischen
Infrastrukturen konzentrieren.
Der Marktliberalismus:
Die neoliberale Verengung von Wirtschaften
Jahrzehntelang dominierten auch in der Stadtforschung
neoliberale Strategien von sich im internationalen Wettbewerb
behauptenden Städten. Es war dies Konsequenz eines Paradigmenwechsels,
der seit den 1980er-Jahren durch den Siegeszug
des Neoliberalismus eingeläutet wurde und in zumindest drei
Bereichen Denk- und Handlungsweisen änderte: (1) Innenwurde
zu Außenorientierung, (2) eine gemischte Wirtschaft zur
Marktwirtschaft und (3) gesamtgesellschaftliche Zielsetzungen
durch individualisierte Wünsche ersetzt. Kontextabhängigkeit
und eigenständige städtische Entwicklungswege wurden der
Hyperglobalisierung und ihrem Leitbild des einen globalen
Marktes geopfert.
(1) Die Schaffung und Liberalisierung von Märkten –
von Immobilien und Tourismus bis hin zu Märkten für Grundversorgung
– war eine logische Folge einer außenorientierten
Stadtpolitik, die, im internationalen Städtewettbewerb stehend,
möglichst attraktive Bedingungen für internationales Kapital
schaffen sollte. Internationale Investor*innen, Tourist*innen,
die creative class (Florida 2019) und hochqualifizierte Wissensarbeiter*innen
wurden zur Zielgruppe dieser Politik; Effizienz,
Optimierung und Renditeerwartungen zu ihren Leitwerten.
Die Funktionsfähigkeit von Städten wurde primär anhand ihrer
Anziehungskraft für ausländische Investor*innen gemessen und
nicht an der Fähigkeit, alltägliche Bedürfnisse der Stadtbewohner*innen
in hoher Qualität, leistbar und umweltfreundlich
zu befriedigen.
(2) Somit wich das pluralistische Verständnis einer
gemischten Wirtschaft, die die Grundlage der österreichischen
Sozialpartnerschaft sowie des europäischen Wohlfahrtskapitalismus
der Nachkriegszeit bildete, zunehmend einem fundamentalistischen
Markt-Monismus. Wirtschaften als ein komplexes,
sich gegenseitig ermöglichendes und beschränkendes
Zusammenspiel aus einer Vielfalt an Institutionen wurde vereinfachend
reduziert auf globales Marktwirtschaften. Der
Markt war nicht mehr eine Institution neben anderen, sondern
Alltagsökonomie, Marktliberalismus, Infrastruktur,
Dienstleistung, Wohlfahrtsstaat, Lebensqualität,
urban citizenship, Dekommodifizierung, Gemeinnützigkeit
06
dérive N o 80 — PANDEMIE
RAINER STUMMER
Reframing the
Streets: Raumverteilung
und PROTEST
Temporäre Bodenmarkierungen als Versinnbildlichung
diskursiv gezogener Grenzen – hier zeichnet sich die
Verschiebung von Machtverhältnissen ab; Pop-up-Radweg Wien
Praterstraße Juni 2020. Foto — Silvester Kreil, dérive
Der in Berlin angewandte Protestdiskurs um Flächengerechtigkeit
und Raumverteilung erlangt im Lichte der aktuell zur
Bekämpfung des Covid-19-Virus verhängten Maßnahmen
und ihrer Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten erneut
Bedeutung. Im Gegensatz zur neoliberalen Maxime »There
is no alternative« spiegeln Prozesse urbaner Raumverteilung
gesellschaftliche Verhältnisse und Machtverteilung wider
und weisen damit die gleiche Wandlungsfähigkeit wie diese
auf. Wird die Diskrepanz zwischen den seitens der Politik
gewünschten Ergebnissen von Planungs- und Steuerungsprozessen
und den Bedürfnissen von Bürger*innen zu groß,
können sich an diesem – in Plänen verzeichneten oder in
Beton gegossenen – Missverhältnis Proteste entzünden.
Dieser Artikel widmet sich der Schnittstelle von
Raum- und politischer Theorie, betrachtet die Konflikthaftigkeit
urbaner Raumverteilungsprozesse und einen Diskurs
– den des BVF –, der diesen Konflikt abbildet. Anschließend
wird der während des Covid-19-Lockdowns akut zutage
tretende Flächenkonflikt anhand ausgewählter theoretischer
Kategorien diskutiert und auf Wien übertragen.
Raumtheorie, Populismustheorie, Berlin, Volksentscheid, Corona,
Diskurs, Protest, Critical Mass
Als 2015 der sogenannte Volksentscheid Fahrrad
in Berlin (BVF) initiiert wird, zeigt sich bereits nach
wenigen Monaten, dass der Protestdiskurs der
Initiative mit seinen vielfältigen, performativen
Aktionen im öffentlichen Raum erfolgreich in den
stattfindenden Wahlkampf zur Berliner Senatswahl
eingreifen kann. In weiterer Folge wird das bundesweit
erste Mobilitätsgesetz beschlossen und die
Vorgangsweise des BVF findet breite Nachahmung:
zahlreiche deutsche Städte folgen dem
Beispiel Berlins – mit MoVe It Graz und Platz für
Wien gibt es mittlerweile zwei ähnliche Initiativen
in Österreich.
Der Berliner Volksentscheid Fahrrad –
Ausgangspunkt der Analyse
Bei dem Instrument des Volksentscheids, welches
von den Berliner Aktivist*innen genutzt wurde, handelt es
sich um ein dreistufiges direkt-demokratisches Verfahren,
dessen Anstoß bottom-up – also von Bürger*innen initiiert –
erfolgt. Die erste Stufe besteht aus dem Antrag auf ein
Volksbegehren, zu dessen Durchführung 20.000 gültige
Unterstützungserklärungen binnen sechs Monaten gesammelt
werden müssen. Sollte der Volksentscheid den Erlass
eines Gesetzes beabsichtigen, so wie es beim BVF tatsächlich
der Fall war, dann ist gleichzeitig der gewünschte
Gesetzesentwurf verpflichtend zur Begutachtung beizulegen.
Nachdem die erste Stufe erfolgreich absolviert wurde,
beginnt die Eintragungsphase des Volksbegehrens, bei der
in einem Zeitraum von vier Monaten 175.000 gültige Unter-
12
dérive N o 80 — PANDEMIE
AYONA DATTA
Überlebensinfrastrukturen
unter
Covid-19 in INDIEN
Infrastruktur, Indien, Wanderarbeiter*innen,
Ausgangssperre, Hungersnot
Foto — Gwydion M. Williams
Als ich ein Kind war, erzählte mir meine Großmutter Geschichten über Kalkutta während der
bengalischen Hungersnot im Jahr 1943. Die Hungersnot war eine künstlich herbeigeführte Katastrophe
unter den wachsamen Augen der britischen Kolonialregierung, die den indischen Bauern
und Bäuerinnen den Zugang zu Nahrungsmittelvorräten verwehrte, was zu Hunger und Tod
führte – ein Völkermord an etwa drei Millionen armen Inder*innen. Kolonialhistoriker*innen
und Wissenschaftler*innen haben darauf hingewiesen, dass Winston Churchill, der »Held« des
Krieges, bekanntlich erklärte, dass Inder*innen »sich wie Kaninchen vermehrten« und deshalb
den Tod verdienten.
Meine Großmutter und ihre Familie lebten zu dieser Zeit in Kalkutta, und sie wurden
Zeug*innen eines Exodus von Migrant*innen aus den umliegenden Dörfern und Gemeinden,
die in die Stadt strömten und verzweifelt hofften, überleben zu können. Im Laufe ihres Lebens
erzählte meine Großmutter immer wieder von den Schreien der Hungernden auf den Straßen
vor dem Haus ihrer Familie. Ein Vorfall, der sie als junge Frau besonders traf, war, als sich
18
dérive N o 80 — PANDEMIE
FELIX STALDER
Pandemie als
SMART-City-Labor
Smart City, Technopolitik, Digitalisierung, Überwachung, Handel,
Social Media, Bewegungsfreiheit, Open Source, Kontaktnachverfolgung
»I really think anyone who makes predictions now is a fool.«
»It’s a little bit like trying to predict the future of foreign policy
in October 2001.« Evgeny Morozov im Interview mit Holly Herndon
Während der Hochsaison bevölkern Ischgl Tourist*innen aus aller Welt und
machen das Bergdorf zur temporären Stadt. (c) Profil
Die Covid-19-Pandemie ist gleichermaßen ein urbanes wie ein technologisches Phänomen. 95%
aller Erkrankungen wurden bisher in Städten registriert. Vom Ausgangspunkt Wuhan, über die
Metropolregion der Lombardei, Paris, Madrid, New York, Rio de Janeiro bis Moskau breitet sich
das Virus vor allem innerhalb großer Städte aus. Das ist wenig verwunderlich, denn nicht nur
begünstigt die größere Dichte die lokale Verbreitung des Virus von Mensch zu Mensch, sondern
das Virus kommt auch zuerst in den großen Städten an. Sie sind die zentralen Knoten der
Hypermobilität von Menschen und Gütern, welche die neoliberale Phase der Globalisierung
prägt. Aus diesem Blickwinkel sind Tourist*innen-Hotspots wie Ischgl temporäre Städte in den
Bergen. Ob die Hypermobilität, die momentan weitgehend zum Erliegen gebracht wurde, wieder
in voll in Gang kommt, ist noch nicht absehbar, dass der globale Trend zur Urbanisierung gebrochen
wird, ist aber nicht anzunehmen. So viel Vorhersage kann man getrost machen.
Felix Stalder — Pandemie als SMART City Labor
21
FRANK ECKARDT
Vertiefung der
GRÄBEN
Corona in der fragmentierten Stadt
Social Distancing, Lockdown, Segregation, Armut,
Fragmentierung, Nachbarschaft, Exklusion, Wohnungslosigkeit,
Solidarität, Kontrolle
Essensspenden für Obdachlose am Zaun
eines Parks während der Corona-Ausgangsbeschränkungen.
Fotos — Silvester Kreil, dérive.
Die Corona-Krise hat den Alltag in der Stadt einschneidend verändert. Das
Leben der vulnerablen Gruppen wie Senior*innen, Kinder, Kranke, Arme und
Geflüchtete wird dadurch erheblich beschwert und gefährdet. Der Lockdown
verschärft dabei die bestehenden sozialen Ausschlüsse. Das »social distancing«
fällt mit den vorhandenen sozialen Distanzen gefährlich zusammen.
26
dérive N o 80 — PANDEMIE
Kunstinsert
Selma Selman
Tito’s bunker, Mercedes,
Washing Machine and Vampyr
Für die in Bosnien geborene Selma Selman ist ihre Roma-Herkunft ein wesentlicher Ausgangspunkt
ihrer künstlerischen Arbeit. In ihren Performances thematisiert sie vielfach geschlechtsspezifische
und rassistische Diskriminierungen, Verfolgungen, Traumata und Spannungen.
Dabei benutzt sie oft ihren Körper als Lautsprecher, um Verzweiflung, Wut, Angst, Widerstand
und dem Kampf ums Überleben Ausdruck zu verleihen. Sie kann als eine der jüngsten Vertreter*innen
einer langen Tradition kritischer und politisch engagierter Performance aus dem
ex-jugoslawischen Raum gesehen werden. Die Art und Weise, wie Selma Selman ihren Körper,
ihren weiblichen Zustand sowie ihren südosteuropäischen Hintergrund als Romni für politische
Inhalte einsetzt, zeigt eine Neuinterpretation des Performance-Diskurses und knüpft an Praktiken
von Künstler*innen wie Katalin Ladik oder Tanja Ostojić an.
Im dérive-Insert zeigt Selma Selman eine Auswahl von Arbeiten, die ihre Rolle als Frau
in einer patriarchalen und von sozialer Ungleichheit geprägten Gesellschaft ebenso radikal
wie direkt thematisieren. In Mercedes Matrix zerstört Selma Selman mit ihrer Familie auf der
Kampnagel-Piazza in Hamburg ein Statussymbol – den Mercedes Benz. Durch den Akt des
Zerstörens dieses Fahrzeugs setzt sie die Mechanismen der Performance ein, um die körperliche
Arbeit ihrer Familie in der Kunst zu positionieren. Dabei öffnet ihr biographischer Hintergrund
noch eine weitere wesentliche Ebene: Selma Selmans Familie ist darauf angewiesen, Metallabfälle
in Ressourcen zu verwandeln, um das Wohlergehen der Familie zu unterstützen.
In Self-portrait I & II zerstörte die Künstlerin eine Waschmaschine und einhundert
Staubsauger mit einer Axt. Die Künstlerin sagt dazu: »Diese früheren Arbeiten visualisieren die
Zerstörung von Haushaltsgeräten, die mehr als ein Jahrhundert lang mit der Versklavung von
Hausfrauen in Verbindung gebracht wurden, aber auch einen Moment der Katharsis, in dem ich
die inneren Spannungen, die mich sowohl zerstören als auch konstruieren, abbauen konnte.«
Auch hier transformiert Selma Selman wieder ihre biographischen Wurzeln einer patriarchalen
(Roma-)Gesellschaft in einen performativen Befreiungsakt.
Was ist ein sicherer Ort? Bunker werden als sichere Orte wahrgenommen, weil sie
Menschen Schutz vor der physischen Bedrohung durch Luftangriffe bieten. In Mercedes 310/
Iron Curtain thematisierte die Künstlerin für die Biennial of Contemporary Art D-0 ARK Underground
in Sarajewo (2015) den Mercedes 310 als sichersten Ort, weil ihre Familie dieses Auto
zum Sammeln und Verkaufen von Eisen benutzte. Der Eiserne Vorhang war einst ein Symbol
des ideologischen Konflikts zwischen zwei konkurrierenden Systemen. Als solches fungierte er
nicht nur als physische, sondern auch als psychologische Barriere. »Ich habe den psychosozialen
›Eisernen Vorhang‹, der die Praktiken von marginalisierten Menschen stigmatisiert, abgebaut,
um eine symbolische Öffnung zu erreichen und einen Boden zu schaffen, auf dem die Menschen
zusammenkommen können« (Selma Selman).
Selma Selman lebt derzeit zwischen Bihać und New York, wo sie an der University of
Syracuse tätig ist. Sie war unter anderem im Roma-Pavillon der Biennale in Venedig 2019 vertreten
und erhielt bereits zahlreiche Preise, u. a. den Young European Artist Award von trieste
contemporanea. In ihrer Heimatstadt Bihać gründete sie die Organisation Mars To School /
Go The Heck To School, die insbesondere den Schulbesuch von Romnija-Mädchen unterstützt.
Weitere Informationen: www.selmanselma.com
Barbara Holub und Paul Rajakovics
32
dérive N o 80 — PANDEMIE
FLORIAN LORENZ
Offene Straßen
für ALLE!
Temporär autofreie Straßen als
Bewegungs- und Interaktionsräume
Straße, Freiraum, Mobilität, Urbanität,
Ciclovía, Open Streets, öffentlicher Raum
Ciclovía in Minhocão (São Paulo) Foto — Nathan Bishop
Wenn über die Mobilitätswende und die Transformation
von Städten in der Klimakrise diskutiert
wird, stehen oft die Begriffe Straße 1 und Straßenraum
im Fokus. Auch in der aktuellen Covid-19-
Pandemie werden die Nutzung und die Aufteilung
von Straßenräumen heftig diskutiert. Straßen
bieten in der Pandemie – vor allem in dichten Innenstädten
ausreichend Raum für hygienisch notwendiges
physical distancing, Freizeitnutzungen,
Spaziergänge und sportliche Betätigung. In diesem
Zusammenhang erhielt das Konzept offener
Straßen – Straßenräume temporär als Bewegungsund
Interaktionsraum und nicht als Verkehrsraum
zu nutzen – eine neue Bedeutung und vermehrte
Aufmerksamkeit.
Straßen als öffentliche Räume
Straßen sind über Jahrhunderte gewachsene und durch
Asphaltierung dauerhaft etablierte, vernetzte Räume, die Städte
strukturieren und räumlich dominieren. Sie sind Transportwege,
Bewegungsräume, Aufenthaltsbereiche sowie Begegnungsräume,
wodurch sie sowohl funktionale als auch symbolische
Bedeutungen bekommen. Straßen sind die vorrangig
wichtigen öffentlichen Räume der Stadt des 21. Jahrhunderts.
Sie repräsentieren gesellschaftliche Prioritäten. Hier ist ablesbar,
wie energieintensiv und unter welchen Prämissen das
Verkehrssystem organisiert ist und welche Umweltwirkungen
welchen Bevölkerungsgruppen durch die Organisation von
Mobilitäts-Bedürfnissen zugemutet werden.
Als der »quintessentielle öffentliche Sozialraum« (Mehta
2013) machen Straßen den Hauptteil des öffentlichen Raumes
und einen Großteil der Fläche in Städten aus. In Nordamerika
nehmen sie zwischen 25 und 35 Prozent der bebauten Stadtfläche
ein (Jacobs 1993). Für europäische Städte – deren Kernstrukturen
oft vor der Erfindung des Autos angelegt wurden
– stellt sich dieses Flächenverhältnis vergleichbar dar: In Wien
nehmen Gemeindestraßen knappe 20 Prozent des gesamten für
Bauland und Verkehr genutzten Stadtgebietes ein bzw. knappe
10 Prozent der gesamten Stadtfläche. 2 Der Anteil der Straße an
der Stadtfläche ist auch von der Lage im Stadtgebiet abhängig.
In einem Außenbezirk wie dem 22. Bezirk beträgt dieser Anteil
nur 6 Prozent und steigt auf bis zu ca. 36 Prozent im viel dichter
bebauten 1. Bezirk (Stadt Wien, 2019. Eigene Berechnungen).
1
In diesem Artikel
bezeichnet der Begriff
Straße eine Straße im
städtischen Raum, keine
Landstraßen oder
Autobahnen. Diesen
Straßentypen fehlt die
Funktion als (potenziell)
multifunktional nutzbarer
öffentlicher Raum.
2
Diese Vergleiche beziehen
sich auf reine Straßenfläche
und exkludieren sonstige
für den
Kraftfahrzeugverkehr
versiegelten Flächen –
Parkplätze und
Erschließungsstraßen –
außerhalb der als
Gemeindestraßen gewidmeten
Flächen.
Florian Lorenz — Offene Straßen für ALLE!
37
RADICAL HOUSING JOURNAL COLLECTIVE
COVID-19 und
die Wohnungskämpfe
Die (Wieder-)Auflage von
Austeritätspolitik und Katastrophen-
Kapitalismus sowie die
Nicht-Rückkehr zur Normalität
Mietstreitprotest in LA.;
Foto — Timo Saarelma
Scheinbar über Nacht stand der Gebrauchswert
von Wohnraum als lebenserhaltender, sicherer Ort
im Mittelpunkt des politischen Diskurses der politischen
Entscheidungsfindung und von neuen Regierungspraktiken.
Die Forderung nach dem Recht auf
angemessenen und sicheren Wohnraum hat sich
plötzlich von den »radikalen« Rändern zum
Gegenstand beispielloser öffentlicher politischer
Interventionen weltweit verschoben. Da die Sicherheit
ganzer Bevölkerungsgruppen auf dem Spiel
steht, taucht das Thema Wohnen als öffentliche
Gesundheitsfrage schlagartig auf der Tagesordnung
auf. Wir wollen mit diesem Artikel den zentralen
Nexus zwischen Wohnen, Austeritätspolitik
und Covid-19 entwirren, indem wir die aktuellen
Reaktionen auf den längerfristigen Entwicklungsverlauf
von Vertreibung und Verfügbarkeit, Grenzpolitik,
Ethno-Nationalismus, Finanzialisierung,
Imperialismus, Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus
in Zusammenhang bringen.
Austeritätspolitik, Covid-19, Mietstreik, Kapitalismus,
Wohnungslosigkeit, gegenseitige Hilfe, Prekarisierung
46
dérive N o 80 — PANDEMIE
MATTHIAS MARSCHIK
Die kleine
ANARCHIE an
der Donau
Donau, Donauregulierung, Hochwasserschutz,
Transdanubien, Vergnügungsort,
Freizeit, Naherholungsgebiet, Informalität
Das Inundationsgebiet (1875–1987)
Eine sommerliche Sonntagsszene vom Überschwemmungsgebiet aus den 1930er
Jahren. Man hatte Essen und Trinken eingepackt, saß am Ufer, schaute dem
fließenden Wasser und den vorbeifahrenden Schiffen zu und kühlte sich, wenn es
zu heiß wurde, kurz in den Fluten ab. Foto — Bezirksmuseum Floridsdorf
Überschwemmungs- oder Inundationsgebiet oder im Wienerischen einfach Donauwiese:
Drei Begriffe für ein etwa zehn Quadratkilometer großes Brachland in zentraler
Lage, das primär dem Hochwasserschutz diente, im kollektiven Gedächtnis der Wiener
Bevölkerung aber aus einem ganz anderen Grund präsent blieb, nämlich als individuell
nutzbares Naherholungsgebiet. Im Gegensatz zur nachfolgenden gartenplanerisch
durchkonzipierten Donauinsel wies die Donauwiese einen nahezu anarchischen Nutzungscharakter
auf.
Matthias Marschik — Die kleine ANARCHIE an der Donau
55
Besprechungen
Die Entgrenzung der
Architektur
Andre Krammer
Balkrishna Doshi, Wohnsiedlung
Aranya, Indore, 1989;
Foto — Iwan Baan 2018
Die aktuelle Ausstellung im Architekturzentrum
Wien mit dem Titel Balkrishna Doshi –
Architektur für den Menschen ist auf den
ersten Blick eine traditionelle Personale
und erscheint so von den zuletzt thematisch
orientierten Zugängen im Architekturmuseum
abzuweichen. Der Umstand, dass
es sich um eine internationale Wanderausstellung
handelt, ist spürbar: Die verschachtelte
Schau erscheint im Ausstellungsraum
des Az W etwas eingezwängt
und insbesondere das zentrale Modell
im Zentrum der Ausstellung wirkt in seiner
Übergröße leicht deplatziert.
Der indische Architekt Balkrishna Doshi,
Jahrgang 1927, hat in der Nachkriegszeit
in den Büros von Le Corbusier und Louis
Kahn gearbeitet. Sein eigenes, mittlerweile
viele Jahrzehnte umspannendes Werk ist
stark von der Formensprache und Ideenwelt
seiner Lehrmeister beeinflusst und
geht doch über diese hinaus. Es ist gleichermaßen
von der westlichen Moderne
geprägt wie von lokalen und regionalen
Bautraditionen der indischen Kultur-Landschaft,
in der sie eingebettet sind. Eine originäre
Offenheit der räumlichen und funk-
tionalen Konfigurationen zeichnet das
architektonische Werk Doshis aus, für das
er 2018 mit dem Pritzkerpreis ausgezeichnet
wurde.
Es überschreitet die Grenzen des traditionellen
Funktionalismus. Die von Doshis
Büro entworfenen Stadtquartiere, Wohnund
Bildungsbauten zeichnet eine hohe
Nutzungsoffenheit aus, die aus der traditionellen
indischen Alltagskultur abgeleitet
ist. Die Architektur versteht sich hier nicht
mehr als übergeordnetes Ordnungsprinzip,
sondern als Rahmenwerk, das vielfältige
Nutzungsszenarios ermöglichen
soll. Dabei ordnet sie sich einem gesellschaftlichen
Gesamtzusammenhang unter.
Lebenswirklichkeiten werden nicht als
Hindernis verstanden.
Doshis Arbeitsfelder beschränken sich
nicht auf die eines traditionellen Architekten.
Seine Bildungsbauten basieren auf
einem von ihm mitentwickelten interdisziplinären
Ausbildungskonzept. Die allumfassende
Konzeption ist aber gleichzeitig
immer als wandelbare, offene Struktur
konzipiert. Das Leben der Menschen auf
der gesellschaftlichen und kulturellen
Ebene soll durch das räumliche Dispositiv
nicht kontrolliert werden – es soll sich frei
entfalten können. Architektur schreibt
nichts Endgültiges fest, sondern soll auch
das Unvorhersehbare ermöglichen.
Manchen Entwürfen gingen vom Architekten
erfundene Erzählungen und Mythen
voraus, ein Narrativ wird angeboten, das
aber durch den Gebrauch überschrieben
werden darf und soll.
Nachhaltiges Bauen so verstanden, zielt
auch auf Wandelbarkeit ab. Räumliche,
architektonische, ökonomische, ökologische
und soziale Aspekte begegnen sich auf
Augenhöhe. Der anvisierte Gemeinsinn
der zukünftigen Bewohner*innen ist eine
Utopie, die erst durch die Praxis des
Bewohnens realisiert werden kann.
Am Bau einer Wohnsiedlung für einkommensschwache
Gruppen, die auch in
der Schau zu sehen ist, waren die zukünftigen
Bewohner*innen beteiligt. Die Architekt*innen
haben eine »main-structure«
entworfen, die von den Bewohner*innen
im Laufe der Zeit ihren Bedürfnissen
gemäß erweitert und verändert werden
darf – sie werden selbst zu Architekt*innen
der »sub-structure«. Diese Form der Raumproduktion
nimmt ein Spannungsverhältnis
von Kontrolle und Kontrollverlust bewusst
in Kauf.
Auf technischer Ebene bedeutete das in
diesem Fall eine Kombination aus Fertigbauweise
und lokalen Handwerkstechniken,
Tradition und Moderne. Doshis Landschaften
lösen die Grenze zwischen Innen und
Außen, zwischen Projekt und benachbarter
Siedlungsstruktur auf. Strategisch gesetzte
Zwischenräume und Schwellen, räumliche
Leerstellen erlauben Durchlässigkeit
und eine Praxis der Aneignung durch die
Bewohner*innen und Nutzer*innen.
In der Ausstellung verweisen bewegte
Bilder und Szenen, welche die digitalen
wie analogen Pläne ergänzen, auf die
Bedeutung des realen Gebrauchs. Doshis
Gemälde, die der Tradition indischer Miniaturmalerei
abgeleitet sind und seine
Projekte auf eine abstrakte wie imaginäre
Ebene heben, scheinen simultane Szenarien
zu präsentieren und verweisen so auf
einen zentralen Aspekt Doshis Architektur:
Zeit spielt in ihrer Konzeption eine genauso
wichtige Rolle wie Raum.
—
Ausstellung
Balkrishna Doshi – Architektur für den Menschen
Architekturzentrum Wien
29.05.2020 –29.06.2020
Kuratorin Khushnu Panthaki Hoof; Kuratorin Vitra Design
Museum: Jolanthe Kugler
—
Katalog
Vitra Design Museum, Wüstenrot Stiftung, Jolanthe
Kugler, Khushnu Panthaki Hoof (Hg.)
Balkrishna Doshi – Architektur für den Menschen
Vitra Design Museum, Weil am Rhein 2019
383 Seiten, 59,90 Euro
61
Mehr als
Belanglosigkeiten
Peter Payer
Er ist ein Augenöffner, stets wachsam und
unermüdlich neugierig in allen urbanistischen
Dingen. Vittorio Magnano Lampugnani,
renommierter Architekturtheoretiker und
-historiker, emeritierter Professor an der
ETH Zürich, hat ein neues Buch geschrieben.
Diesmal über jene zahlreichen
Objekte, die den öffentlichen Raum prägen
und uns vielfach so selbstverständlich
geworden sind, dass wir sie nur selten
wahrnehmen. Und auch nur selten daran
denken, dass sie eine teils weit zurückreichende
Geschichte haben.
Diese wurde im historisch-urbanistischen
Diskurs bislang sträflich vernachlässigt.
Zwar gab es bereits ab den 1980er-Jahren
in einzelnen Städten Versuche, die Genese
ihrer jeweiligen Kleinarchitekturen auf zuarbeiten,
etwa in Berlin, Paris oder Zürich;
und auch für Wien liegen mittlerweile
einige Einzelstudien dazu vor, unter
anderem – in aller Bescheidenheit sei dies
angemerkt – vom Autor dieser Zeilen. Eine
zusammenfassende Gesamtschau fehlte
jedoch bislang. Diese Lücke wurde nun erstmals
profund und kennerhaft geschlossen.
Der Titel von Lampugnanis Buch ist
natürlich kokett, eigentlich ein Oxymoron,
aber er spannt recht gut den Bogen, in
den die Straßenmöbel wahrnehmungsund
stadthistorisch einzubetten sind. Sie
sollen auffallen, aber nicht zu viel, und
einen funktionalen Beitrag zur Nutzung
der Stadt leisten. Belanglos sind sie keinesfalls,
wie wir gleich am Anfang des Buchs
erfahren: »Die Mikroarchitekturen, Stadteinrichtungsgegenstände
und Grundelemente
sind nicht nur Dinge, die den
Stadtraum ergänzen oder verstellen,
verschönern oder verunstalten und seinen
Charakter entscheidend mitbestimmen.
Sie sind weitgehend autonome Gegenstände,
die, sieht man genauer hin, eigene
Geschichten haben und diese auch erzählen.«
Und sie geben auch, wie Lampugnani
betont, genauen Einblick in das Wesen
jener Stadt, in der sie stehen.
Seine Ausführungen beziehen sich ausschließlich
auf die europäische Stadt, der
Zeitraum spannt sich von der Antike bis
heute. Mit Schwerpunkt allerdings auf das
19. Jahrhundert, als mit dem Aufstieg des
Bürgertums und einem gewaltigen Urbanisierungsschub
sich auch die Rolle des
öffentlichen Raums neu definierte. Walter
Benjamins bekanntes Diktum von der
»Wohnung des Kollektivs« drückte dies
treffend aus. Wie im privaten Bereich,
galt es nun, die Straßen und Plätze neu
einzurichten und jenen Erfordernissen
anzupassen, die für die Menschen der
modernen Metropolen relevant waren.
Essen, trinken, informieren, ausruhen bis
hin zum Notdurft verrichten, all diese
Funktionen verlagerten sich zunehmend
in die öffentliche Sphäre. Welche Objekte
man dazu benötigte und bis heute benötigt,
wie diese ausgestaltet sind und wie
wir von ihnen gleichsam Handlungsanleitungen
erfahren, ist Teil des europäischen
Zivilisationsprozesses, der auch – aber
natürlich nicht nur – ein Disziplinierungsprozess
ist. Der Stadtraum wurde zur
Bühne, inszeniert und ausgestattet mit
Requisiten, und diese fungieren, so der
Autor, als »Erkennungs zeichen für die
politische, ideologische, religiöse, soziale,
hygienische, technische, ökonomische und
kulturelle urbane Entwicklung.«
Drei Kategorien werden in der Folge
unterschieden: Mikroarchitekturen,
Objekte und Elemente. Zu ersteren
gehören etwa Kioske, Trinkhallen, Bedürfnisanstalten,
Telefonzellen, Haltestellen
oder Metroeingänge. Als Objekte werden
sodann Denkmäler, Brunnen, Bänke, Lichtmasten,
Uhren, Poller, Abfallkörbe, Litfaßsäulen,
Ampeln sowie Straßen- und Hausnummernschilder
behandelt. Und bei den
Elementen geht es schließlich um Themen
wie Schaufenster, Einfriedung, Bürgersteig,
Bodenbelag inklusive Schachtdeckel. Eine
überaus breite Palette also, die allein schon
offenbart, wie sehr sich das urbane Leben
im Lauf der Jahrhunderte differenzierte –
und auch verkomplizierte. Zwar vermisst
man manche Dinge, Briefkästen etwa, Personenwaagen,
Warenausgabeautomaten
bis hin zu Bankomaten oder auch die Fülle
der Verkehrszeichen, Lampugnani bekennt
sich aber zu einer bewusst subjektiven
Auswahl, bei der es nicht nur um typisch
und bedeutsam ging, sondern auch
Neugier und Narrationspotential eine
Rolle spielten. Sehr instruktiv ist, dass er
sein Thema weit fasst und auch die
Begrenzungsflächen des Raums mit einbezieht,
mit denen die Objekte in intensiver
Beziehung stehen. Den Boden und die
Wände also, die Dermatologie der Stadt,
die ja ihre eigentliche Materialität ausmacht
und von entscheidender sinnlicher
Wirkung auf die Stadtmenschen ist.
Die konkret geschilderten Beispiele entstammen
den damals wie heute führenden
Metropolen, London, Paris, Berlin, Wien,
Moskau oder Rom. Recht deutlich wird, wie
sehr sie alle vor ähnlichen urbanistischen
Anforderungen standen. Etwa auf dem
Gebiet der Kommunikation, wo mit der
1855 erfundenen Litfaßsäule erstmals ein
adäquates Massenmedium zur Verfügung
stand, das sich von Berlin aus in ganz
Europa verbreitete. Oder die bislang weitgehend
unerforschte Geschichte der
Metroeingänge, die mit Hector Guimards
Entwürfen für Paris emblematisch und
identitätsstiftend wurden, aber auch in
anderen Städten bemerkenswerte Varianten
zeitigten. Klar wird im Städtevergleich
auch, wie hoch schon im 19. Jahrhundert
die Städtekonkurrenz war, der Wettbewerb
der Metropolen untereinander und
ihre gegenseitigen, auch stilistischen Beeinflussungen.
Der Know-how-Transfer auf
diesem Gebiet war gewaltig, nicht zuletzt,
weil diese kleinen Dinge zu jenen gehören,
die den Besucher*innen als erstes ins Auge
springen. Das Bild der Stadt also entscheidend
(mit)prägen.
Auch die Frage der Orientierung ist
damit eng verbunden und wird am Beispiel
der Stadtorganisation durch Straßenbe-
62
dérive N o 80 — PANDEMIE
BACKISSUES
Bestellungen via Bestellformular auf www.derive.at
oder an bestellung(at)derive.at.
Alle Inhaltsverzeichnisse und zahlreiche Texte sind auf der dérive-Website nachzulesen.
dérive Nr. 1 (01/2000)
Schwerpunkte: Gürtelsanierung: Sicherheitsdiskurs,
Konzept – und Umsetzungskritik, Transparenzbegriff;
Institutionalisierter Rassismus am Beispiel der
»Operation Spring«
dérive Nr. 2 (02/2000)
Schwerpunkte: Wohnsituation von MigrantInnen und
Kritik des Integrationsbegriffes; Reclaim the Streets/
Politik und Straße
dérive Nr. 3 (01/2001)
Schwerpunkt: Spektaktelgesellschaft
dérive Nr. 4 (02/2001)
Schwerpunkte: Gentrification, Stadtökologie
dérive Nr. 5 (03/2001)
Sampler: Salzburger Speckgürtel, Museumsquartier,
räumen und gendern, Kulturwissenschaften und
Stadtforschung, Virtual Landscapes, Petrzalka,
Juden/Jüdinnen in Bratislava
dérive Nr. 6 (04/2001)
Schwerpunkt: Argument Kultur
dérive Nr. 7 (01/2002)
Sampler: Ökonomie der Aufmerksamkeit,
Plattenbauten, Feministische Stadtplanung,
Manchester, Augarten/Hakoah
dérive Nr. 8 (02/2002)
Sampler: Trznica Arizona, Dresden, Ottakring,
Tokio, Antwerpen, Graffiti
dérive Nr. 9 (03/2002)
Schwerpunkt in Kooperation mit dem
Tanzquartier Wien: Wien umgehen
dérive Nr. 10 (04/2002)
Schwerpunkt: Produkt Wohnen
dérive Nr. 11 (01/2003)
Schwerpunkt: Adressierung
dérive Nr. 12 (02/2003)
Schwerpunkt: Angst
dérive Nr. 13 (03/2003)
Sampler: Nikepark, Mumbai,
Radfahren, Belfast
dérive Nr. 14 (04/2003)
Schwerpunkt: Temporäre Nutzungen
dérive Nr. 15 (01/2004)
Schwerpunkt: Frauenöffentlichkeiten
dérive Nr. 16 (02/2004)
Sampler: Frankfurt am Arsch, Ghetto Realness,
Hier entsteht, (Un)Sicherheit, Reverse Imagineering,
Ein Ort des Gegen
dérive Nr. 17 (03/2004)
Schwerpunkt: Stadterneuerung
dérive Nr. 18 (01/2005)
Sampler: Elektronische Stadt, Erdgeschoßzonen,
Kathmandu, Architektur in Bratislava
dérive Nr. 19 (02/2005)
Schwerpunkt: Wiederaufbau des Wiederaufbaus
dérive Nr. 20 (03/2005)
Schwerpunkt: Candidates and Hosts
dérive Nr. 21/22 (01-02/2006)
Schwerpunkt: Urbane Räume – öffentliche Kunst
dérive Nr. 23 (03/2006)
Schwerpunkt: Visuelle Identität
dérive Nr. 24 (04/2006)
Schwerpunkt: Sicherheit: Ideologie und Ware
dérive Nr. 25 (05/2006)
Schwerpunkt: Stadt mobil
dérive Nr. 26 (01/2007)
Sampler: Stadtaußenpolitik, Sofia, Frank Lloyd Wright,
Banlieus, Kreative Milieus, Reflexionen der
phantastischen Stadt, Spatial Practices as a Blueprint
for Human Rights Violations
dérive Nr. 27 (02/2007)
Schwerpunkt: Stadt hören
dérive Nr. 28 (03/2007)
Sampler: Total Living Industry Tokyo, Neoliberale
Technokratie und Stadtpolitik, Planung in der
Stadtlandschaft, Entzivilisierung und Dämonisierung,
Stadt-Beschreibung, Die Unversöhnten
dérive Nr. 29 (04/2007)
Schwerpunkt: Transformation der Produktion
dérive Nr. 30 (01/2008)
Schwerpunkt: Cinematic Cities – Stadt im Film
dérive Nr. 31 (02/2008)
Schwerpunkt: Gouvernementalität
dérive Nr. 32 (03/2008)
Schwerpunkt: Die Stadt als Stadion
dérive Nr. 33 (04/2008)
Sampler: Quito, Identität und Kultur des Neuen
Kapitalismus, Pavillonprojekte, Hochschullehre,
Altern, Pliensauvorstadt, Istanbul, privater Städtebau,
Keller, James Ballard
dérive Nr. 34 (01/2009)
Schwerpunkt: Arbeit Leben
dérive Nr. 35 (02/2009)
Schwerpunkt: Stadt und Comic
dérive Nr. 36 (03/2009)
Schwerpunkt: Aufwertung
dérive Nr. 37 (04/2009)
Schwerpunkt: Urbanität durch Migration
dérive Nr. 38 (01/2010)
Schwerpunkt: Rekonstruktion
und Dekonstruktion
dérive Nr. 39 (02/2010)
Schwerpunkt: Kunst und urbane Entwicklung
dérive Nr. 40/41 (03+04/2010)
Schwerpunkt: Understanding Stadtforschung
dérive Nr. 42 (01/2011) Sampler
dérive Nr. 43 (02/2011) Sampler
dérive Nr. 44 (03/2011)
Schwerpunkt: Urban Nightscapes
dérive Nr. 45 (04/2011)
Schwerpunkt: Urbane Vergnügungen
dérive Nr. 46 (01/2012)
Das Modell Wiener Wohnbau
dérive Nr. 47 (02/2012)
Ex-Zentrische Normalität:
Zwischenstädtische Lebensräume
dérive Nr. 48 (03/2012)
Stadt Klima Wandel
dérive Nr. 49 (04/2012)
Stadt selber machen
dérive Nr. 50 (01/2013)
Schwerpunkt Straße
dérive Nr. 51 (02/2013)
Schwerpunkt: Verstädterung der Arten
dérive Nr. 52 (03/2013) Sampler
dérive Nr. 53 (04/2013)
Citopia Now
dérive Nr. 54 (01/2014)
Public Spaces. Resilience & Rhythm
dérive Nr. 55 (02/2014)
Scarcity: Austerity Urbanism
dérive Nr. 56 (03/2014)
Smart Cities
dérive Nr. 57 (04/2014)
Safe City
dérive Nr. 58 (01/2015)
Urbanes Labor Ruhr
dérive Nr. 59 (02/2015) Sampler
dérive Nr. 60 (03/2015)
Schwerpunkt: Henri Levebvre und das Recht aus Stadt
dérive Nr. 61 (04/2015)
Perspektiven eines kooperativen Urbanismus
dérive Nr. 62 (01/2016) Sampler
dérive Nr. 63 (02/2016)
Korridore der Mobilität
dérive Nr. 64 (03/2016)
Ausgrenzung, Stigmatisierung, Exotisierung
dérive Nr. 65 (04/2016)
Housing the many Stadt der Vielen
dérive Nr. 66 (01/2017)
Judentum und Urbanität
dérive Nr. 67 (02/2017)
Nahrungsraum Stadt
dérive Nr. 68 (03/2017) Sampler
dérive Nr. 69 (04/2017) Demokratie
dérive Nr. 70 (01/2018) Detroit
dérive Nr. 71 (02/2018) Bidonvilles & Bretteldörfer
dérive Nr. 72 (03/2018) Warsaw
dérive Nr. 73 (04/2018) Nachbarschaft
dérive Nr. 74 (01/2019) Sampler
dérive Nr. 75 (02/2019) Sampler
dérive Nr. 76 (03/2019) Stadt – Land
dérive Nr. 77 (04/2019) Wohnungsfrage
dérive Nr. 78 (01/2020) Willkommen im Hotel
dérive Nr. 79 (02/2020) Protest
» Common Spaces,
Hybrid Places «
14.—18.10.20
save
the
date
Wien
www.urbanize.at
65
Das aktuelle Programm:
www.filmcasino.at
ENDLICH
WIEDER
KINO
STADT
STREIFEN
Architektur- & Stadtfilm-
Matinee von Cinema dérive
mit Filmgesprächen
13.09. Bikes vs. Cars
18.10. urbanize!
»Gemeingut Raum«
15.11. Planeta Petrila
13.12. Space Metropoliz
Sonntags 13 Uhr im Filmcasino
Margaretenstraße 78
1050 Wien
www.filmcasino.at
Park Fiction, © Margit Czenki
Impressum
dérive – Zeitschrift für Stadtforschung
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
dérive – Verein für Stadtforschung
Mayergasse 5/12, 1020 Wien
Vorstand: Christoph Laimer, Elke Rauth
ISSN 1608-8131
Offenlegung nach § 25 Mediengesetz
Zweck des Vereines ist die Ermöglichung und Durchführung
von Forschungen und wissenschaftlichen Tätigkeiten zu den
Themen Stadt und Urbanität und allen damit zusammenhängenden
Fragen. Besondere Berücksichtigung finden dabei
inter- und transdisziplinäre Ansätze.
Grundlegende Richtung
dérive – Zeitschrift für Stadtforschung versteht sich als
interdisziplinäre Plattform zum Thema Stadtforschung.
Redaktion
Mayergasse 5/12, 1020 Wien
Tel.: +43 (01) 946 35 21
E-Mail: mail(at)derive.at
derive.at
urbanize.at
facebook.com/derivemagazin
twitter.com/derivemagazin
instagram.com/derive_urbanize
vimeo.com/derivestadtforschung
dérive – Radio für Stadtforschung
Jeden 1. Dienstag im Monat von 17.30 bis 18 Uhr
in Wien live auf ORANGE 94.0
oder als Webstream http://o94.at/live.
Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235
Chefredaktion: Christoph Laimer
Schwerpunktredaktion: Christoph Laimer
Redaktion/Mitarbeit: Thomas Ballhausen, Andreas Fogarasi,
Elisabeth Haid, Barbara Holub, Michael Klein, Andre Krammer,
Silvester Kreil, Karin Lederer, Erik Meinharter, Sabina
Prudic-Hartl, Paul Rajakovics, Elke Rauth, Manfred Russo
Autor*innen, Interviewpartner*innen und Künstler*innen dieser Ausgabe:
Melissa Fernández Arrigoitia, Richard Bärnthaler, Ayona Datta, Frank
Eckardt, Mara Ferreri, Barbara Holub, Andre Krammer, Sigrid
Kroismayr, Christoph Laimer, Melissa García-Lamarca, Michele
Lancione, Florian Lorenz, Matthias Marschik, Erin McElroy, Andreas
Novy, Peter Payer, Leonhard Plank, Paul Rajakovics, Selma Selman,
Felix Stalder, Rainer Stummer, Ana Vilenica
Anzeigenleitung & Medienkooperationen:
Helga Kusolitsch, anzeigen(at)derive.at
Website: Artistic Bokeh, Simon Repp
Grafische Konzeption & Gestaltung:
Atelier Liska Wesle — Wien / Berlin
Lithografie: Branko Bily
Coverfoto: New York, 34th Street während des Lockdown; Paulo Silva
Hersteller: Resch Druck, 1150 Wien
Kontoverbindung
Empfänger: dérive — Verein für Stadtforschung
Bank: Hypo Oberösterreich
IBAN AT53 54000 0000 0418749, BIC OBLAAT2L
Abonnement
Standard: 28 Euro (inkl. Versandspesen Inland)
Ermäßigt: 24 Euro (inkl. Versandspesen Inland)
Förder- und Institutionenabo: 50 Euro
Ausland jeweils plus 8 Euro Versandspesen
Abonnements laufen ein Jahr (vier Hefte). Bestellungen an:
bestellung(at)derive.at oder per Bestellformular auf www.derive.at
Wir danken für die Unterstützung:
Bundeskanzleramt – Kunstsektion,
MA 7 – Wissenschafts- und Forschungsförderung
Mitgliedschaften, Netzwerke:
Eurozine – Verein zur Vernetzung von Kulturmedien,
IG Kultur, INURA – International Network for Urban
Research and Action, Recht auf Stadt – Wien.
Die Veröffentlichung von Artikeln aus dérive ist nur mit
Genehmigung des Herausgebers gestattet.
68
dérive N o 80 — PANDEMIE
»Covid-19 demaskiert
die neoliberale Be hauptung,
es gäbe nur eine
Ökonomie, nur einen
großen, globalen Markt,
als das, was sie wirklich
ist: Eine Illusion.«
Richard Bärnthaler, Sigrid Kroismayr, Andreas Novy,
Leonhard Plank und Alexandra Strickner, S. 06
Covid-19, Lockdown, Flächengerechtigkeit, Alltagsökonomie,
Infrastruktur, Austeritätspolitik, Raumtheorie, Solidarität,
Segregation, Wohnen, Ciclovía, Donauwiese