Leseprobe_Franke
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Verborgene Welten
oder
Die Reise zum verlorenen Ich
Stefan Franke
Verborgene Welten
oder
Die Reise zum verlorenen Ich
Roman
Mit freundlicher Unterstützung
der MA 7 – Kulturabteilung der Stadt Wien
Stefan Franke: Verborgene Welten oder Die Reise zum verlorenen Ich
Roman
Lektorat: Teresa Profanter
Umschlaggestaltung und Satz: Daniela Seiler
Hergestellt in der EU
Alle Rechte vorbehalten
© HOLLITZER Verlag, Wien 2020
www.hollitzer.at
ISBN 978-3-99012-804-6
Für Ruth, Victoria-Jensina und Julian
in großer Dankbarkeit
Skiöld hieß ein Sohn Odins, von dem die Skiöldunge stammen. Er
hatte Sitz und Herrschaft in Gotland. Skiöld hatte einen Sohn,
Fridleif genannt, der nach ihm die Lande beherrschte. Fridleifs Sohn
hieß Frodi, dem nach seinem Vater das Königtum überkam. Das war
in der Zeit, da Kaiser Augustus in der ganzen Welt Frieden stiftete
und Christus geboren ward, und weil Frodi der mächtigste aller Könige
in den Nordlanden war, ward ihm dieser Friede beigelegt, und
nannten ihn die Nordmänner Frodis Frieden. Niemand beschädigte
da den andern, wenn er auch seines Vaters oder Bruders Mörder getroffen
hätte, los oder gebunden. Da war auch kein Dieb oder Räuber,
so daß ein Goldring lange Zeit unberührt auf Jalangersheide lag.
König Frodi sandte Boten nach Swithiod zu dem Könige, der Fiölnir
hieß, und ließ da zwei Mägde kaufen, die Fenja und Menja hießen
und sehr groß und stark waren. In dieser Zeit gab es in Gotland zwei
so große Mühlsteine, daß niemand stark genug war, sie umzudrehen.
Diese Mühlsteine hatten die Eigenschaft, daß sie mahlten, was der
Müller wollte. Die Mühle hieß Grotti, der Mann aber, der dem König
Frodi die Mühle gab, ward Hengikiöptr genannt. König Frodi
ließ die Mägde in die Mühle führen und gebot ihnen, ihm Gold,
Frieden und Frodis Glück zu mahlen. Er verstattete ihnen nicht länger
Ruhe, als so lange der Kuckuck schwieg oder ein Lied gesungen
werden mochte. Da sollen sie das Lied gesungen haben, das Grottengesang
heißt, und ehe sie von dem Gesange ließen, mahlten sie dem
König ein Heer, so daß in der Nacht ein Seekönig kam, Mysingr genannt,
welcher den Frodi tötete und große Beute machte. Damit war
Frodis Friede zu Ende. Mysingr nahm die Mühle mit sich, und so
auch Fenja und Menja, und befahl ihnen, Salz zu mahlen. Und um
Mitternacht fragten sie Mysingr, ob er Salz genug habe: und er gebot
ihnen fortzumahlen. Sie mahlten noch eine kurze Frist, da sank das
Schiff unter. Im Meer aber entstand nun ein Schlund, da wo die See
durch das Mühlsteinloch fällt. Auch ist seitdem die See gesalzen.
(Menja und Fenja, aus: »Die Jüngere Edda«)
Unweiser Mann durchwacht die Nächte
Und sorgt um alle Sachen;
Matt nur ist er, wenn der Morgen kommt,
Der Jammer währt, wie er war.
Aus: »Die Edda« – Kapitel 8
Die Ankunft
W
inter auf Island. Es war kalt. Die Nächte unerträglich
lang. Die Insel schien öde und verlassen. Laugarvatn
auch. Hier geschah nichts. Es war ein unglaublich düsterer
Tag im November, ein trostloser, fast vergessener Wintertag,
an dem ich in dieses Kälteloch kam.
Laugarvatn – das ist eine reichlich ausgefallene Adresse, und
ich war auch nur aus Unsicherheit und Angst in dieses Nest geraten.
Ich wollte mein Leben ordnen, mir Klarheit verschaffen,
meine Vergangenheit aufarbeiten. Und für dieses Vorhaben,
das ich mir in den Kopf gesetzt hatte, brauchte ich absolute
Ruhe, die ich an diesem gottverlassenen Ort zu finden hoffte.
Ich hatte für zwei Monate ein kleines, bescheidenes Haus
gemietet. Durch die Eingangstür betrat ich eine enge Diele
mit dunklem Holzboden. Der Wohnraum selbst wirkte erdrückend
durch die eng aneinander gereihten Möbel. Die
Einrichtung bestand aus einem Bett, einem Nachtkästchen,
einem Schreibtisch und einem schäbigen Ohrensessel. Eine
alte Pendeluhr, die über einer wurmstichigen Kommode
hing, tickte leise vor sich hin. Der Putz bröckelte ab. Die
Wände waren rissig. Das Badezimmer eng, feucht und nicht
vollständig fertiggestellt. Die Duschwand hing lose aus der
Verankerung, ein Heizkörper fehlte völlig – alles in allem
nicht sehr einladend.
Ich befand mich also in einer einfachen, abgewohnten Bleibe,
die sich nordisch gelassen wie ein Stück gestriger Provinz
präsentierte. Damit hatte ich gerechnet.
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So hatte ich mir Island vorgestellt.
Dass sich die Toilette im Freien befand, war mir dann aber
doch etwas zu rustikal, vor allem, dass ich im Morgengrauen
zum Urinieren ins Freie musste, war eine Zumutung für einen
Großstadtmenschen wie mich.
Diese Unterkunft war dennoch ideal, weil sie mich von allem,
was mich bis dahin genervt, irritiert oder gestört hatte,
ablenkte. Ich ging zum Fenster und schob den staubigen Vorhang
zur Seite. Vor dem Haus gab es einen kleinen Garten, in
dem man während der Sommermonate einen guten Teil des
Tages zubringen konnte, im Winter zog man sich in die warme
Stube zurück. Einige am Boden kriechende, verwachsene
Birken standen neben der holprigen Zufahrtsstraße, wachten
in der Dunkelheit. Alles schien so inhaltslos und leer. Ich
starrte in einen klaren Himmel, der schöner nicht hätte sein
können, dennoch stieg eine unbeschreibliche Traurigkeit in
mir hoch.
Langsam zog ich den Vorhang wieder zu und setzte mich
in den Ohrensessel. Gestern noch zu Hause, am nächsten
Morgen dann auf Island, in einem fremden Land, allein mit
meinem Unglück. Ich ging ins Bad und wusch mir die Hände.
Als ich in den Spiegel schaute, blickte ich in ein müdes,
abgekämpftes Gesicht. Ich versuchte, während ich mir den
warmen Wasserstrahl über die Hände laufen ließ, ein freundliches
Lächeln, doch meine Gesichtsmuskulatur gehorchte
nicht und meine Augenlider zuckten nervös.
Wie lange braucht es, bis man sich öffnet?
*
Oft fuhr ich nach Reykjavik. Die Stadt, die nördlichste
Hauptstadt der Welt, zog mich beinahe magisch an. Verregnete
Abende, gut besuchte Klavierkonzerte, eine dunkle
Stadt und ich mittendrin, fast schon am Polarkreis. Ich saß in
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stickigen Cafés und trank Cognac. Manchmal schlenderte ich
auch nur durch die Straßen, bewunderte die schmalbrüstigen
Häuser aus der Zeit der Jahrhundertwende, deren Fassaden
mir in allen Farben entgegenleuchteten. Ich begegnete nur
wenigen Menschen.
Dann der Hafen. Rauch stieg aus den Schornsteinen wartender
Frachtschiffe. Doch zog es mich immer wieder zurück
nach Laugarvatn, der endlosen Nacht entgegen. Die Fahrten
mit dem verrosteten Volvo waren meist ruhig. Der alte Wagen
glitt sanft und sicher durch die eisige Landschaft. Es gab
keinen Zeitdruck.
Durch diese gemächlichen Fahrten erhielt ich einen tieferen
Eindruck: Mein Blick strich über die in schillernden Farben
leuchtenden Rhyolithberge, über vorbeiziehende Lavafelder,
die Dächer von aufgegebenen Höfen, kletterte die
dunklen Basaltsäulen empor, wanderte langsam hinab und
verweilte für kurze Augenblicke im Geäst einer Zwergbirke,
in deren Baumkrone ich eine seltene Schnee-Eule zu erkennen
glaubte. Ich verlebte stille Tage, versank in meine Welt,
glitt in die innere Emigration. Endlich zu mir finden, endlich
meine Gedanken zu Ende denken, so wollte ich einige Wochen
auf Island verbringen. Ich hatte mich von vermeintlichen
Freunden, unglücklichen Beziehungen, schizophrenen
Vorgesetzten befreit.
Endgültig, wie ich hoffte.
Und damit stand meinem Vorhaben, endlich inneren Frieden
zu finden, nichts mehr im Wege. Oder sollte ich mich
getäuscht haben? Ich wollte Ruhe haben, allein sein. Frauen
reden oft und gern von Liebe und Glück, stundenlang, und
wollen einem so ein Zusammenleben schmackhaft machen.
Vertraut man ihren Worten, versinkt man im Anonymen,
und das eigene Ich verliert sich in einem Strudel des Vergessens.
Gefangen im Gefängnis der Liebe, entfernt von allem
Vertrauten. Davon wollte ich vorläufig nichts wissen, weil
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allein der Gedanke an eine Beziehung mich bereits in meinem
Selbstfindungsprozess störte. In dieser Einöde werde ich
von solchen Dingen wohl verschont bleiben, dachte ich.
Das Glück liegt in einem selbst, man muss es nur erkennen,
sagte ich mir. Es gibt dieses absolute Glücksgefühl –
auch wenn ich damals nicht davon überzeugt war, versuchte
ich es mir andauernd zu suggerieren. Auch der kategorische
Imperativ ging mir nicht aus dem Kopf. Anfängliches Verständnis
wurde von völligem Unverständnis abgelöst. Kann
man diesen Befehl tatsächlich leben? Wer konnte den Beweis
antreten? Dass ich es nicht sein sollte, wusste ich zu diesem
Zeitpunkt noch nicht. Ein neues Leben kam auf mich zu, so
wie ich es mir gewünscht hatte. Doch ich war nicht gut vorbereitet.
Ich wollte ein Leben leben, das meinem Innersten
entsprach. Wo auch immer. Das war mein Ziel. Alle Zweifel
werden sich legen, alle Irrtümer werden sich in nichts als
Wohlgefallen auflösen. Irgendwie aus dem Diffusen herausfinden.
Mich von allen Fesseln befreien.
Ich fühlte mich auf Island schnell heimisch. Somit war das
Erlernen des Isländischen auch zweitrangig für mich. Meine
Sprachkenntnisse beschränkten sich auf einfache Konversation.
Außerdem sprechen auf Island bereits Volksschüler ein
gepflegtes Englisch. Die amerikanischen Fernsehserien, die
ununterbrochen im isländischen Fernsehen gesendet werden,
und die langen Winterabende, in denen die Kinder viel Zeit
vor TV-Geräten verbringen, sind der Grund für die guten
Englischkenntnisse, so hatte ich es jedenfalls in einem Island-Reiseführer
gelesen. Auf Synchronisation wird weitgehend
verzichtet, nicht jedoch auf Untertitel.
Es war mein erster Winter in einer so einsamen und wetterunbeständigen
Gegend. Eine stimulierende, eisige Kälte
machte sich breit. Und an allem fraß der salzige Wind, nagte
der Rost. Auch an den von einem russischen Frachter zurückgelassenen
Geländefahrzeugen, die wie wild durcheinander-
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gewürfelte Dominosteine in einem abgelegenen Hafen dem
Winter trotzten. Niemand kümmerte sich darum. Island hob
sich vom Rest Europas ab, und mir war, als wüsste man in
den entrückten Nobelclubs und dekadenten Luxushotels der
europäischen Metropolen so gut wie nichts von den unwirtlichen
Gegenden, vom ständigen Kampf gegen die Natur und
von dem aufopfernden Leben der Isländer. Dieses archaische
Land war faszinierend, wirkte berauschend, stärker noch als
eine Droge, nahm es mich doch ganz für sich ein.
Meine Nachbarn lebten gute fünf Kilometer von mir entfernt.
Nachbarschaftliche Kontakte durfte ich also nicht erwarten.
Außer eines Tages, als ein älterer Mann bei mir aufkreutzte
und um Zigaretten bat, die ich jedoch nicht vorrätig
hatte. Er konnte es nicht glauben und fluchte laut vor sich
hin. Ich war höflich, versuchte ein Gespräch zu führen.
Fragte nach seinem Befinden und so fort. Doch er ignorierte
meine Fragen geflissentlich. Und dennoch: Ich sprach mit
dem Fremden. Erst später, irgendwann in den langen Pausen,
in denen ich schwieg, begann es aus ihm herauszusprudeln.
Er redete und redete, monologisierte endlos: von seinem Hof
im Süden Islands, vom Schnaps, von Frauen, und natürlich
auch – wie konnte es anders sein – vom Lachs. Die Isländer
und ihr Lachs. Nichts ist heiliger. Geduldig hörte ich zu. Weit
im Landesinneren, in ihren verfallenen Höfen, würden sich
alt aussehende, stets dunkel gekleidete Frauen abmühen und
in den wenigen Wirtshäusern des Landes harte Männer alte
Geschichten vom reichen Fischfang vergangener Tage erzählen,
von blutigen Fehden mit Dänen und Norwegern, und
von brennenden Schiffen, weinenden Frauen, verlassenen
Kindern, sterbenden Dörfern, so berichtete mir der Fremde.
Schließlich wandte er sich grußlos und kopfschüttelnd ab und
ließ mich wieder allein. Er hielt mich wohl für arrogant.
Weitere Kontakte gab es hier nicht, wenn man von den
notwendigen Vorratseinkäufen in der Großstadt und den
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Fischern absah, die zeitweise an meinem Haus, das an einem
kleinen Fluss lag, vorbeikamen. Ich hatte es mir gut eingerichtet
und fühlte mich vorerst rundum wohl.
Eines Tages, es dämmerte noch, beobachtete ich eine Gestalt,
die am Fluss vor meinem Haus fischen wollte. Wie aus
dem Nichts war dieses ungewöhnliche Wesen der Dunkelheit
entstiegen. Ein kleiner, fast zwergenhafter Mann, mit einem
schwarzen Mantel bekleidet und einer ziemlich großen Nase,
stand plötzlich regungslos auf der Terrasse.
Nimmt man es genau, so hatte er eigentlich gar keine
Nase, sondern einen außergewöhnlich langen Schnabel, der
so abartig lang war, dass sein Gesicht wie das von einem Alca
impennis aussah und nichts Menschliches mehr an sich hatte.
Völlig ungeniert ließ er sich vor dem Haus nieder, und es
machte den Anschein, als könnte ihn nichts auf der Welt aus
der Ruhe bringen. Ich trat aus dem Haus und beobachtete ihn
eine Weile interessiert. Auch durch meine Anwesenheit ließ
er sich nicht stören. Doch es war mir irgendwie gleichgültig.
Ein Sturm brauste. Der Regen prasselte auf das Dach, und der
Wind schlug ungestüm gegen die Fensterläden. Ich saß an meinem
Schreibtisch und dachte über meine Situation nach. Auf
Island, in Laugarvatn also, einer verschlafenen 200-Seelen-
Gemeinde, konnte ich einigermaßen ungestört leben. Was
wollte ich mehr?
Laugarvatn war öde und ohne Hoffnung wie andere Dörfer
auch, und es erschien mir seltsam, dass ich mich an diesen von
Frost und Kälte gleichermaßen bedrängten Ort zurückgezogen
hatte. Durch das gedämpfte Licht der Petroleumlampe herrschte
eine gemütliche Atmosphäre im Haus. Ich beließ es dabei,
fühlte mich in eine andere Zeit versetzt. Kaum Licht. Nein, es
beunruhigte mich nicht. Es war einfach anders. Seltsam für einen
Großstadtmenschen. Früher Nachmittag, dennoch Dunkelheit.
Im Haus duftete es nach Hartfisch, nach englischem
Tee, nach altem Holz. Ich sog all diese Düfte begierig ein.
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Hier könnte ich es schaffen, dachte ich. Doch zuerst musste
ich mich von Altlasten befreien, alles abschütteln, um für
einen Neubeginn gerüstet zu sein.
Das war nicht immer so gewesen.
Ich blickte auf die Uhr, ging zum Fenster, nur um zu sehen,
ob mein ungebetener Gast schon verschwunden war.
Es war niemand mehr vor dem Haus. Ich war zufrieden und
fing an zu schreiben. Mit dieser Tätigkeit wollte ich ganze
Tage zubringen. Für das Schreiben konnte man sich keinen
vortrefflicheren Ort aussuchen. Und schon schweiften meine
Gedanken ab, ließen mich nicht mehr los, fesselten mich
so lange mit Nichtigkeiten, bis ich erschöpft aufgab, in mich
zusammensank und das Schreiben nicht einmal mehr in Erwägung
zog. Hier, auf Island, verloren sich die Gesetze, die
Macht und die Gewohnheit im Nichts. Alles, was mein Leben
bis dahin ein wenig erfüllt hatte, leidenschaftliche Gespräche,
zufällige Begegnungen, unbändiges Verlangen, vielversprechende,
aber letztlich doch hoffnungslose Liebesbeziehungen,
das alles zählte nicht; jedenfalls nicht auf dieser Insel.
Inmitten dieser Trostlosigkeit zählte nur der eiserne Wille,
ein Wille, der mir aber nicht gegeben war. Ich ging zur Tür
und öffnete sie vorsichtig. Nichts als Stille. Was hatte ich erwartet?
Die Straßen waren ebenso leer wie das Haus, wie das
Land, wie auch ich.
Am darauffolgenden Tag regnete es noch immer. Oft stand
ich am Fenster. Über dem Haus versammelten sich Gespinste
von vollgesogenen Wolken, tiefschwarz und bedrohlich, unheilvoll
sich auftürmend, nur darauf bedacht, sich schnell von
ihrer schweren Last zu lösen. Wenn dann der Regen für wenige
Minuten nachließ oder einer kurzen, tropfenden Stille
wich, unterbrach auch ich meine Arbeit, mein Nachdenken,
und in diesen Momenten stand ich vor dem Fenster, starrte
in die unendliche Dunkelheit, in der Hoffnung, etwas zu
erkennen, etwas wahrzunehmen oder zu erahnen, vielleicht
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das Zeichen einer Wetterbesserung – doch in Wirklichkeit
brauchte ich den Regen. Der Monotonie des Regens, die alles
lähmte und gefangen hielt, galt meine ganze Aufmerksamkeit.
Auf diese Weise wollte ich mich in das Schreiben hineinzwingen.
Aber ich kam mit meinen Aufzeichnungen nicht
wirklich voran. Diesmal sollte es nicht an meiner Inkonsequenz
scheitern, wie schon so oft in meinem Leben. Obwohl
ich mir bereits einige Male vorgenommen hatte zu schreiben,
hatte ich es nicht zuwege gebracht, auch nur eine angefangene
Arbeit abzuschließen. Immer wieder brach ich das Schreiben
ab und kümmerte mich um trivialere Angelegenheiten,
ohne an die Konsequenzen zu denken. Auch ständige Selbstmotivation
half nicht. Zweckloses Unterfangen. Lachhaft
wirkten die mir selbst erteilten Imperative wie »Schreib!«
oder »Reiß dich doch endlich am Riemen!«
Meine Inkonsequenz war immer Voraussetzung für ein sozusagen
»glückliches Leben« gewesen. Ich hätte meine Einstellung
von Grund auf ändern, ein neues Leben beginnen,
meine alte Meinung revidieren, begangene Fehler eingestehen
müssen, wenn ich den geradlinigen, also zielbewussten
Weg eingeschlagen hätte. Und das, da war ich mir vollkommen
sicher, konnte ich nicht, niemals, es war praktisch unmöglich,
zu mühsam, zu anstrengend, einfach ein zu steiniger
Weg für mich. Das redete ich mir zumindest ein, das
passte in mein Weltbild. Fragen und keine oder nur ganz simple
Antworten. Hauptsache, ich war zufrieden. Ich hörte auf
meine innere Stimme. Und die sagte in den meisten Fällen:
»Lass es sein! Bemühe dich nicht weiter!« Ich gehorchte. Da
war er dann ganz plötzlich, der absolute Gehorsam.
*
Erst nach langen Überlegungen hatte ich mich entschlossen,
nach Island zu fahren. War es eine Flucht? Vor wem? Erst in
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der Einsamkeit verstand ich die Zusammenhänge: Ich musste
in diese abgeschiedene Holzhütte kommen, um mein Innerstes
nach außen zu kehren und um mein wahres Ich kennenzulernen,
es anzusehen und zu begreifen. Ich wollte den Dingen
auf den Grund gehen, und ich wollte endlich der Wahrheit ins
Auge blicken. Endlich allein sein, mit mir ins Reine kommen,
schreiben und den Mann auf dem vergilbten Foto, das ich in
einem Buch meiner Ziehmutter gefunden hatte, ausfindig
machen. Das Bild zeigte einen Mann mit Vollbart und Nickelbrille.
Er hatte ein Buch in der Hand und blickte ungehalten
in die Kamera. Auf der Rückseite war zu lesen: Einar Sveinsson
bei einer Lesung in Reykjavik, November 1940. Am unteren Ende
war mit krakeliger Schrift eine Telefonnummer angeführt. Es
überfiel mich immer ein Gefühl der Beklemmung, wenn ich
dieses Foto ansah. Ich blickte es an und fühlte mich in meine
Kindheit zurückversetzt. Ich erinnerte mich verschwommen
an Gegenstände aus meinem Elternhaus. Gegenstände, die
nach all diesen Jahren ihren Glanz für mich verloren hatten.
Doch damals war alles heilig, alles, was mit diesen Gegenständen
nur im Geringsten zu tun hatte. Heute ist das anders.
Wenn man jedoch lange genug wartet, kehren auch die wenigen
Glücksgefühle aus der Kindheit, die naturgemäß auch ich
hatte, mit einer gewissen Regelmäßigkeit wieder.
*
»Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen«,
so hatte es Ludwig Wittgenstein in seinen Aufzeichnungen
festgehalten. Ich wandelte diesen Satz etwas ab. Wandelte
ihn so ab, dass ich ihn wie ein Entschuldigungsschreiben
vor mir hertrug, jederzeit bereit, den Satz aufzusagen und
für mich einzusetzen. Ich fühlte mich dadurch völlig abgesichert.
Ein Gefühl der Unangreifbarkeit übermannte mich.
Ich ließ es einfach geschehen.
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Für den Abend nahm ich mir einen ausgedehnten Spaziergang
vor. Auslüften, geistiges Auslüften, so wollte ich mich
von den Anstrengungen des Tages erholen. Eigentlich eine
Erholung von der Erholung, wenn man so will. Kraft schöpfen
für weitere Höhenflüge, die zu nichts anderem führten
als zu innerer Zufriedenheit. Dennoch spürte ich eine Verzweiflung
in mir aufkeimen. Wirklich Produktives oder
Herzeigbares, wie es so schön heißt, hatte ich nämlich nicht
vorzuweisen. Ich zog eine dicke Winterjacke an, trat hinaus
in die Kälte und freute mich auf einen befreienden Spaziergang.
Ein zweifelhaftes Vergnügen an einem eiskalten, verregneten
Winterabend. Ich war überrascht, als ich vor dem
Haus stand und auf den Garten und die Terrasse blickte. Es
sah aus, als hätte ein riesiger Maulwurf alles umgegraben.
Das aufgewühlte Erdreich, die unzähligen Steinbrocken,
das alles lag wie ausgespuckt vor mir. Außerdem ragte ein
gewaltiger Monolith keilförmig, umgeben von dampfender
Lava, aus der Erde. Es passierte nicht oft, dass ich sprachlos
war, aber in diesem Fall gelang es mir nicht, auch nur ein
Wort hervorzubringen.
Ich blickte mich um. Doch nichts. Es war keine Menschenseele
zu sehen. Nur das dunkle Land breitete sich vor mir aus.
Die Tatsache, dass ich den Garten wieder in seinen ursprünglichen
Zustand bringen musste, ich es vielleicht auch
mit einem überirdischen Wesen zu tun haben könnte, beunruhigte
mich vorerst nicht. Ich sagte mir, es wird nur ein
Kinderstreich oder eine unerklärliche Bodeneruption gewesen
sein, und konnte mir damit diesen Vorfall erklären. Ich
dachte nicht weiter darüber nach, konzentrierte mich ganz
auf meinen Spaziergang, forcierte mein Tempo und wanderte
durch die eiskalte Landschaft. Nur der hell leuchtende
Mond war mein Begleiter.
*
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