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Die Ethik der Ilias 1
Ethik und Geschichten
Wenn wir uns auf das Genuss- und Erkenntnispotenzial
von Geschichten einlassen, indem wir
bereit sind, mit den Figuren mitzuleiden – der
Germanist und Autor Peter von Matt nennt dies
den moralischen Pakt zwischen dem Leser und
dem Text 2 – dann sammeln wir mit den Charakteren
der Erzählung neue Erfahrungen und Erlebnisse.
Hierbei sind wir nicht ausschließlich auf
deren Perspektive beschränkt, sondern erleben
die Geschichte von einem anderen Standpunkt,
da wir manchmal aus der Erzählung mehr Informationen
als die Helden bekommen oder schon
den Ausgang der Erzählung kennen, in jedem Fall
aber stets unsere eigene Geschichte mitbringen
und somit Botschaften, Hinweise und Erlebnisse
aus dem Kontext der Handlung anders einordnen
(können) als die Helden selbst. Die Beschränktheit
der Perspektive der Helden kann ihre Ursache
sowohl in ihrem Informationsdefizit als auch
in einer Fokussierung und Verengung ihrer Gedanken
haben.
1 Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Vortrag „Homer:
Mythos und Ethik in der epischen Dichtung“, der im
Rahmen des Literaturwissenschaftlichen Propädeutikums
2019 zum Thema „Mythos und Literatur“an der Freien
Universität gehalten wurde. Weitere Informationen zu
den jährlich stattfindenden Philosophischen und Literaturwissenschaftlichen
Propädeutika der Klassischen
Gräzistik unter http://www.fuberlin.de/graezistik.
2 Vgl. Peter von Matt, Verkommene Söhne, mißratene
Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München
2001, S. 36ff.
3 Vgl. Wayne Booth, The Company We Keep: An Ethics of
Fiction, Berkely / Los Angeles 1988.
4 Hom. Il. 12, 322–328. In den Übersetzungen der Ilias
folge ich Wolfgang Schadewaldt.
– Von Christian Vogel –
Indem wir dieser Beschränkung nicht unterliegen,
können wir die Entscheidungen des Helden hinterfragen.
Wenn wir zugleich Ähnlichkeiten zwischen
uns und dem Helden entdecken, besteht
die Möglichkeit, dass wir mit ihm mitleiden, wenn
wir erleben, wie sich beispielsweise die Helden
aus selbst mitverursachten Entscheidungen in ihr
Unglück begeben. Damit prägen uns die Erlebnisse
des Helden, weil wir dessen Geschichte mit
unseren eigenen Geschichten zusammenführen.
Wayne Booth 3 hat die Prägekraft von Geschichten
mit dem schönen Vergleich illustriert, wonach
aus Büchern Freunde werden, auf die wir uns einlassen,
die uns begleiten, dadurch unser Leben
beeinflussen und unsere moralische Urteilskraft
schärfen, weil wir uns zu dem Erlebten verhalten
und Stellung beziehen.
Heldenethik?
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Aber was erleben wir eigentlich mit, wenn wir
uns nun auf Homers Ilias einlassen? Inwiefern
gingen die Geschichten den Hörern der Antike,
inwiefern gehen sie uns etwas an? Welche Relevanz
besitzen sie für uns? Was hat unser Leben
mit dem Leben dieser Helden zu tun, die sich u. a.
nach dem Krieg sehnen; die sich danach sehnen,
durch Ruhm unsterblich zu werden? Einer der
am Kampf beteiligten Krieger, Sarpedon, bringt
das Heldendenken vielleicht am besten auf den
Punkt: „Wenn wir, aus diesem Krieg entronnen,
Für immer ohne Alter sein würden und unsterblich,
Dann würde ich selbst nicht unter den Ersten
kämpfen Und auch dich nicht zur Schlacht, der
männerehrenden, rufen.“ 4 Es sei demnach gerade
die eigene Sterblichkeit, die zum Krieg reizt. Wären
wir unsterblich, so Sarpedon, bräuchten wir
nicht kämpfen. Da wir aber sterblich sind, müssen
wir uns die Unsterblichkeit verdienen, indem wir
ruhmvoll im Kampf sterben. Was im Kontext eines
heroischen Denkens sinnvoll erscheinen vermag,
klingt für uns eher befremdlich. Und dabei
haben wir noch nicht einmal von dem Frauenbild
gesprochen, das in diesem Epos vermittelt wird.
Sind das die ethischen Implikationen, die uns der
Text mitzugeben vermag?
Ethische Implikationen
für uns?
Die Wertvorstellungen einzelner Gruppen vergangener
Zeiten sollen nicht im Zentrum der hier
diskutierten Frage nach der Ethik der Ilias stehen.
Vielmehr wollen wir uns von einem Ethikverständnis
leiten lassen, das einen bestimmten Bereich
der menschlichen Bildung und Erziehung meint,
nämlich denjenigen, der uns Wege zum Glück und
damit unmittelbar verbunden Wege zur ἀρετή
(Arete), also im Wortsinn zu unserer „Bestheit“,
d. h. zur Verwirklichung unseres besten Könnens
aufzeigt. Ethik meint ursprünglich die Ausbildung
eines Charakters (ἦθος / ēthos) über die Gewohnheit
(ἔθος / ethos). 5 Wenn uns Gewohnheiten
prägen und Gewohnheiten dafür mitverantwortlich
sind, woran wir Lust und Unlust empfinden
und wonach wir folglich streben, dann gehört zur
Ethik auch die Vermittlung der Einsicht, wie unser
gewohntes Handeln dafür verantwortlich ist, dass
wir diese Wege, die zu unserem Glück führen,
nicht gehen, wie wir uns also selbst Steine in den
Weg legen. Dichtung, die in diesem Verständnis
ethisch prägt, vermittelt allgemeine, handlungsrelevante
Einsichten und nicht nur Beschreibungen
von Lebensregeln einer bestimmten Gruppe. Doch
anders als die Philosophie vermittelt Dichtung diese
allgemeinen Einsichten am Einzelnen, indem sie
beispielsweise handelnde Menschen darstellt und
zeigt, wie diese auf Grundlage ihrer Charaktere
Entscheidungen treffen, die zu ihrem Glück oder
Unglück beitragen.
5 Vgl. Aristot. EN 1103a14–19.
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In dieser Hinsicht ist die Ilias ein exzellentes ethisches
Lehrstück. Denn sie liefert nicht einfach nur
Botschaften, sondern reißt uns regelrecht in die
Entscheidungsprozesse ihrer Charaktere hinein
und liefert damit Antworten auf die Frage: Warum
handeln Menschen so, dass sie ihren eigenen
Vorteil verfehlen und damit auch die Gemeinschaft
schädigen? Und es ist nicht unplausibel anzunehmen,
dass die Beantwortung dieser Frage
auch eines der zentralen Anliegen des Ilias-Dichters
gewesen sein könnte, denn allzu deutlich
werden hier Ursachen, Abläufe und Wirkungen
des Zorns aufgezeigt und kommentiert.
Apotheose Homers, der von den Allegorien der durch ihn
stark beeinflussten Künste der Geschichtsschreibung, Dichtung,
Tragödie und Komödie sowie von Ilias und Odyssee
flankiert wird. Das Relief, das von Archelaos von Priene am
Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. hergestellt wurde, befindet
sich zurzeit im British Museum in London.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ilias#/media/File:Apotheosis_
Homer_BM_2191.jpg
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