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ALfA e.V. Magazin – LebensForum | 73 1/2005

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Nr. <strong>73</strong> | 1. Quartal <strong>2005</strong> | ISSN 0945-4586 | Einzelpreis 3,<strong>–</strong> €<br />

B 42890<br />

LEBENSFORUM<br />

Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (<strong>ALfA</strong>)<br />

Interview<br />

Rocco Buttiglione<br />

fordert mehr Werte<br />

Europa<br />

Kardinal rügt<br />

Lebensrechtler<br />

Gesellschaft<br />

PAS: Wenn die<br />

Seele stirbt<br />

Euthanasie<br />

Der Sturm<br />

auf das<br />

letzte Tabu


INHALT<br />

LEBENSFORUM <strong>73</strong><br />

EDITORIAL<br />

Lebensschutz für Geborene 3<br />

Dr. med. Claudia Kaminski<br />

TITEL<br />

Sturm auf das letzte Tabu 4<br />

Prof. Dr. phil. Manfred Spieker<br />

Das Groningen-Protokoll 6<br />

Dr. phil. nat. Andreas Reimann<br />

Note: mangelhaft! 8<br />

Rainer Beckmann<br />

EUROPA<br />

»Es gibt zu wenige Werte« 11<br />

Interview mit Rocco Buttiglione<br />

Dialog oder Widerstand 14<br />

Stephan Baier<br />

»Walk the talk« 17<br />

Interview mit Andreas Kirchmaier<br />

20 - 24<br />

GESELLSCHAFT<br />

Wenn die<br />

Seele stirbt<br />

Die für das Kind tödliche Abtreibung wird vielfach als Befreiung der Frau gefeiert, die<br />

sie statt vom Kind vom »Gebärzwang« entbinde. In Wahrheit fordert Abtreibung meist<br />

zwei Opfer. Viele Frauen erkranken nach Abtreibung am so genannten Post-Abortion-<br />

Syndrom; oft mit furchtbaren Folgen.<br />

Von Veronika Blasel, M.A.<br />

mmer wieder frage ich mich, warum<br />

hat mir das keiner gesagt? Wussten<br />

die anderen, Arzt, Beraterin, meine<br />

Eltern, meine Freundinnen und mein<br />

Mann wirklich nicht, was dann kommt?<br />

Als ich vor zwei Jahren zur Abtreibung<br />

gedrängt wurde, sagten alle, es sei das<br />

Beste für mich und für mein Kind! Nun<br />

ist mein Kind tot, und ich bin so verzweifelt!<br />

Ich kann nicht mehr schlafen und<br />

auch nicht mehr lachen. Niemand versteht<br />

mich! Damals hatte ich keine Kraft, mich<br />

gegen alle zu stellen. Auch heute bin ich<br />

mit meiner Not und meinem Elend allein.<br />

Bitte sagen Sie allen Menschen, wie<br />

furchtbar eine Abtreibung ist. Dauernd<br />

möchte ich weglaufen, rennen, jagen <strong>–</strong> Depressionen und Stimmungsschwankungen beherrschen nach einer Abtreibung das Leben vieler Frauen.<br />

aber die Gedanken sind schneller. Sie<br />

holen mich immer wieder ein. Schreckliche<br />

Schmerzen quälen meinen Körper schwiegen.<br />

mehrere internationale Studien beweisen<br />

lichen Diskussion weitgehend totgelogin<br />

Maria Simon (Abbildung 1), auch<br />

und meine Seele! Warum hat mir das Das beste Beispiel dafür, dass nach die verheerenden Auswirkungen, die Abtreibungen<br />

für die Betroffenen nach sich<br />

denn keiner gesagt?«<br />

dem Motto »Es kann nicht sein, was nicht<br />

Verzweiflung, Schlafstörungen, Unfähigkeit<br />

zur Freude, Einsamkeit, das Sich- regierung in ihrer Antwort vom 18. Mai sten der Studien <strong>–</strong> sowohl die, die über<br />

sein darf« agiert wird, bietet die Bundes-<br />

ziehen. Dabei haben allerdings die mei-<br />

Gejagt-Fühlen, schreckliche Schmerzen 2004 auf die Kleine Anfrage »Umsetzung das PAS aufklären wollen, als auch solche,<br />

<strong>–</strong> die Symptome einer Frau, deren Bericht<br />

die sich bemühen, das PAS als nebensächlich<br />

abzutun <strong>–</strong> mit Problemen zu kämpfen,<br />

man im Buch »Myriam … warum weinst<br />

du« nachlesen kann, deuten klar auf das<br />

die es erschweren, dass eine Studie zu<br />

Post-Abortion-Syndrom (PAS) hin. Mit<br />

diesem Thema allen Kriterien der Wissenschaftlichkeit<br />

standhält. David C. Re-<br />

»Schreckliche Schmerzen quälen<br />

diesem Begriff wird in der Psychologie<br />

und der Psychiatrie die Gesamtheit der meinen Körper und meine Seele.« ardon, Vorsitzender des US-amerikanischen<br />

Elliot Institute in Springfield,<br />

psychischen Symptome bezeichnet, die<br />

bei sämtlichen in das Abtreibungsgeschehen<br />

involvierten Personen, also den Frau-<br />

die Abtreibungsfolgen zu informieren,<br />

das es sich zur Aufgabe gemacht hat, über<br />

en, Kindsvätern, Ärzten, Beratern und der vom Bundesverfassungsgericht geforderten<br />

Beobachtungs- und Nachbesser-<br />

nennt dafür vier Gründe:<br />

dem Pflegepersonal, als Folge von Abtreibung<br />

auftreten können. Und ebenso klar ungspflicht« von CDU-Bundestagsabgeordneten.<br />

Dort hält die Bundesregierung erlebt haben, verweigern sämtliche Aus-<br />

1.) Viele Frauen, die eine Abtreibung<br />

wie die Diagnose ist die Antwort auf die<br />

Frage, die die Frau nicht mehr loslässt: auf die Frage nach den Spätfolgen von künfte. Bis zu 60 Prozent der zu Studienzwecken<br />

angefragten Frauen wollen sich<br />

Sie ist von niemandem über das PAS Abtreibungen für die Frau fest: »Der<br />

aufgeklärt worden, weil es anscheinend Bundesregierung sind entsprechende Studien<br />

in Deutschland äußern. Experten gehen davon aus, dass<br />

nicht über ihr Leben nach Abtreibung<br />

nicht bekannt. Es liegen<br />

jedoch Auswer-<br />

PAS betroffen ist, dass das Sprechen über<br />

ein Großteil dieser Frauen so stark vom<br />

Psychische Folgen nach einer Abtreibung<br />

tungen internationaler die Abtreibung als zu schmerzhaft empfunden<br />

würde.<br />

Psychische Spätfolgen: 80 %<br />

Fachliteratur vor, die<br />

im Langzeitvergleich<br />

Reue und Schuldgefühle: 60 %<br />

keine oder nur geringe 2.) Die Bandbreite der Symptome, an<br />

Unterschiede im psychischen<br />

Befinden leiden, ist so groß, dass es unmöglich ist,<br />

denen Frauen nach einer Abtreibung<br />

Stimmungsschwankungen und Depressionen, erhöhte Reizbarkeit: 35 - 40 %<br />

zwischen Frauen mit jedes einzelne in den Studien zu berücksichtigen.<br />

Unmotiviertes Weinen: 35 %<br />

Schwangerschaftsabbruch<br />

und Frauen mit<br />

Angstzustände: 30 %<br />

Abbildung 1 ausgetragenen Schwangerschaften<br />

aufweisen« sehr zeitabhängig.<br />

3.) Die Intensität vieler Reaktionen ist<br />

politisch nicht korrekt ist, über die Auswirkungen<br />

der staatlich finanzierten und<br />

4.) Die geläufige Methode, die Studien<br />

(Bundestagsdrucksache 15/3155).<br />

»rechtswidrigen, aber straffreien« vorgeburtlichen<br />

Kindstötungen im Rahmen Abortion-Syndrom reicht, diese Behaup-<br />

anderen standardisierten Umfrageinstru-<br />

Ein Blick in die Literatur zum Post- mittels eines Fragebogens oder eines<br />

der als frauenfreundlich propagierten tung zu widerlegen. Nicht nur, dass sehr ments durchzuführen, ist wenig geeignet,<br />

Fristenregelung zu sprechen. Deshalb wohl deutsche Studien zum Thema vorliegen,<br />

etwa von der klinischen Psycho-<br />

offen zu legen.<br />

tief sitzende und oft verdrängte Gefühle<br />

werden sie in den Medien und der öffent-<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 21<br />

Viele Frauen erkranken nach Abtreibung am so genannten Post-Abortion-Syndrom.<br />

I<br />

REHDER MEDIENAGENTUR<br />

RECHT<br />

BGH IV ZR 308/03 19<br />

Stefan Brandmaier<br />

GESELLSCHAFT<br />

Wenn die Seele stirbt 20<br />

Veronika Blasel, M.A.<br />

4 - 10<br />

Wie die Euthanasie<br />

schrittweise in unseren Land<br />

legalisiert und das letzte Tabu<br />

gebrochen werden soll.<br />

Erfolgreich verhindert 26<br />

Bernward Büchner<br />

Lernziel Sex 28<br />

Hubert Hecker<br />

MITTEILUNGEN DES BUNDESVORSTANDS<br />

BDV <strong>2005</strong> in Fulda 25<br />

Cornelia Kaminski<br />

BÜCHERFORUM 30<br />

KURZ VOR SCHLUSS 32<br />

LESERFORUM 34<br />

IMPRESSUM 35<br />

Mit Italiens EU-Minister<br />

Rocco Buttiglione sprach<br />

Tobias-B. Ottmar über die<br />

Chancen für einen besseren<br />

Lebensschutz in Europa<br />

11 - 13<br />

LETZTE SEITE 36<br />

2<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong><br />

EUROPAPARLAMENT


EDITORIAL<br />

14 - 16<br />

Ausgerechnet der Wiener Erzbischof<br />

Kardinal Christoph Schönborn fiel<br />

Lebensrechtlern öffentlich in den<br />

Rücken.<br />

28 - 29<br />

»pro familia« hat eine neue Geschäftsidee entwickelt: Zu »Sexperten«<br />

ausgebildete Teenager sollen jüngere Mitschüler zu frühem Sex<br />

ermuntern. Denn für Abtreibungen gibt es schließlich pro familia.<br />

Von Hubert Hecker<br />

ro familia« plant für das laufende<br />

Jahr an vier mittelhessischen<br />

Schulen ein »Peer-<br />

Education-Projekt«. Dabei sollen 14/15-<br />

jährige Schüler/innen in fünf dreistündigen<br />

Schulungen von »pro familia«-<br />

Mitarbeiter darauf »trainiert« werden,<br />

in den Klassen ihrer Schule im Zweierteam<br />

selbständig Sexualkundeunterricht<br />

abzuhalten. Vorgesehen sind in den 7.,<br />

8. und 9. Klassen jeweils drei mal zwei<br />

Stunden Sexualaufklärung durch die »peer<br />

educators«. Aus den Schulungsunterlagen<br />

geht hervor, dass die »Inhalte der Schulung<br />

der peer-educators« den zu vermittelnden<br />

Klasseninhalten entsprechen. In<br />

den beiden ersten Schulungstreffen steht<br />

auf dem Stundenplan: »Weiblicher,<br />

männlicher Körper, Zyklus, Spermien;<br />

Verhütungsmittel, Vor- und Nachteile,<br />

Pille danach, schwanger werden,<br />

Abbruch«.<br />

Von der Schulleiterin der beteiligten<br />

Kestner-Schule in Wetzlar wird das Konzept<br />

so charakterisiert: »Dieser Baustein<br />

ist als bester Ansatz gedacht, um mit<br />

Jugendlichen ins Gespräch zu kommen<br />

und sie zu sensibilisieren, sich der Thematik<br />

enttabuisiert und damit offen zu<br />

nähern, Fragen zu stellen und kompetente<br />

Antworten sowie Hilfestellungen zu erhalten«<br />

(Schreiben vom 11.11.04). »Pro<br />

familia« als Betreiber des Programms<br />

lobt sich folgendermaßen: »Ziel des Projekts<br />

ist eine bewusste Auseinandersetzungen<br />

von Jugendlichen mit sich selbst.<br />

(...) Begegnungen von Gleichaltrigen zum<br />

Thema, sexuelle Identitätsbildung, Aus-<br />

28<br />

GESELLSCHAFT<br />

P<br />

Lernziel Sex<br />

tausch, selbständige Durchführung der<br />

Veranstaltung, Meinungsbildung, Förderung<br />

von Engagement, Werte und Normen<br />

zu hinterfragen und zu besprechen,<br />

Kommunikation und Persönlichkeitsförderung.«<br />

Der Ansatz der so genannten Gleichaltrigen-Erziehung,<br />

also dass Schüler<br />

ihren Mitschüler/innen bei unterrichtlichen<br />

Inhalten helfen und nachhelfen,<br />

erklären und üben, repetieren und ggf.<br />

sogar kleinere Unterrichtsabschnitte unter<br />

Anleitung und Aufsicht des Lehrers übernehmen<br />

können, ist keine neue pädagogische<br />

Erkenntnis und wird an vielen<br />

Schulen praktiziert. Etwas völlig anderes<br />

ist bei diesem Projekt geplant: Eine schulfremde<br />

Beratungsinstitution, deren Mitarbeiter<br />

keine schulpädagogische Ausund<br />

Fortbildung absolviert haben, »trainieren«<br />

mit verbandseigenen Methoden<br />

und Zielen 14jährige Schüler/innen als<br />

»Multiplikatoren«, die dann in ihrer<br />

Schule »eigenständigen« Sexualkundeunterricht<br />

abhalten sollen. Wenn dieser<br />

Weg pädagogisch sinnvoll wäre, würde<br />

er die gesamte Aus- und Fortbildung von<br />

Lehrern in Frage stellen. Schule und<br />

Schulaufsicht verzichten darüber hinaus<br />

auf Kontrolle von Inhalten und Pädagogik;<br />

»pro familia« macht, was es will, z.<br />

B. Sexualkunde in der 7. und 8. Klasse,<br />

wo es laut Lehrplan gar nicht vorgesehen<br />

ist, und propagiert Ziele, die gegen den<br />

Erziehungsauftrag der Schule gerichtet<br />

sind.<br />

Es ist ausgeschlossen, dass 14jährige<br />

Schüler/innen zu den höchst komplexen<br />

Pro Familia will Schüler zu<br />

»Sexperten« ausbilden.<br />

Geschäftstüchtig sorgt »pro familia« dafür, dass die<br />

Nachfrage nach ihren Dienstleistungen nicht abreist.<br />

Fragen von »Verhütungsmitteln, Pille<br />

danach, Schwangerschaft, Abtreibungen«<br />

und Post-Abortion-Syndrom »kompetente<br />

Antworten und Hilfestellungen«<br />

geben können, wie die Schulleiterin der<br />

Wetzlarer Kestner-Schule behauptet. Die<br />

Themen um Sexualität, Abtreibung, Kinder<br />

und Familie sind nicht nur psychologisch<br />

gesehen hoch sensible Bereiche und<br />

in der pädagogischen Vermittlung anspruchsvoll,<br />

sondern auch in der sozialen<br />

und rechtlichen Dimension mit komplexen<br />

Fragestellungen verbunden, zu denen<br />

14jährige in keiner Weise mit Hintergrundwissen<br />

und Erörterungszugängen<br />

beitragen können.<br />

Die ethischen Gesichtspunkte bzw. die<br />

entsprechende Verantwortung bei diesen<br />

Themenkomplexen ist besonders hervorzuheben.<br />

Gesellschaftspolitisch hat die<br />

Sexualerziehung »die grundlegende Bedeutung<br />

von Ehe und Familie zu vermitteln«<br />

(§ 7 des Hessischen Schulgesetzes,<br />

»Sexualerziehung«). Von diesen grundgesetzlich<br />

verankerten Werten als gesellschaftlichen<br />

Lernzielen, von Sexualpädagogik<br />

als Teil der Persönlichkeitserziehung<br />

und dem Ziel einer sittlichen<br />

Reife mündiger Menschen, wie es das<br />

Bundesverfassungsgericht im einschlägigen<br />

Urteil 1977 aussagt, ist das Sexualprogramm<br />

von »pro familia« meilenweit<br />

entfernt. Es ist im Gegenteil zu erwarten,<br />

dass »pro familia« diese Schulschiene<br />

»Alles ausprobieren,<br />

wenn man Lust dazu hat.«<br />

Zitat aus pro familia-Broschüre<br />

dazu benutzen will, seinen Blitz-Beratungs-<br />

und Verharmlosungsansatz bei<br />

Abtreibungen in den Schülerköpfen zu<br />

»multiplizieren«.<br />

Aus der »pro familia«-Broschüre: »Du<br />

veränderst dich. …mehr darüber wissen«<br />

für 13- bis 16Jährige ergibt sich das Programm<br />

einer hedonistischen Lebensführung,<br />

das »pro familia« über die Schüler-<br />

Multiplikatoren an die Siebt- und Achtklässler<br />

vermitteln will. Auf S. 14 heißt<br />

es: »Das Glied (umgangsprachlich auch<br />

Schwanz, Pimmel …) ist nicht nur zum<br />

Wasserlassen (Pinkeln) da. Sondern vor<br />

allem auch ›zum Sex haben‹ und Lust<br />

erleben <strong>–</strong> das kann Selbstbefriedigung<br />

sein, oder Geschlechtsverkehr (miteinan-<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong><br />

ARCHIV<br />

Lebensschutz<br />

für Geborene<br />

Liebe Leserin, lieber Leser,<br />

nach mehr als zehn Jahren erscheint<br />

das <strong>LebensForum</strong> nun erstmals im neuen<br />

Design. Mehr Farbe und ein höherer<br />

Bildanteil sorgen für mehr Abwechslung<br />

bei der Lektüre. Modernere Schriften,<br />

Überblicke und kurze Zusammenfassungen<br />

sowie »Informations«-Inseln gewährleisten<br />

eine hohe Lesbarkeit der Texte,<br />

in die Initialien den Einstieg erleichtern.<br />

Trotz dieser und weiterer optischer Neuerungen<br />

bleibt das bewährte redaktionelle<br />

Konzept erhalten. <strong>LebensForum</strong> ist und<br />

bleibt die populärwissenschaftliche<br />

Fachzeitschrift<br />

für Lebensrechtler.<br />

Wer sich tiefer<br />

mit Themen wie<br />

Abtreibung, Stammzellforschung<br />

und Euthanasie<br />

auseinander<br />

setzen will, findet hier<br />

gut recherchierte Berichte zu aktuellen<br />

Entwicklungen, tief schürfende Analysen<br />

sowie kompetente Stellungnahmen und<br />

Kommentare.<br />

So auch in der aktuellen Ausgabe, die<br />

den Fokus diesmal auf den Lebensschutz<br />

geborener Menschen richtet. Denn wie<br />

Manfred Spieker in seinem Beitrag belegt,<br />

bejaht auch in Deutschland, das unter<br />

dem nationalsozialistischen Terror ausreichend<br />

Erfahrungen mit der Euthanasie<br />

machen konnte, derzeit eine Mehrheit<br />

die »Tötung auf Verlangen.« Dass die<br />

Politik der Bundesregierung geeignet ist,<br />

diese Stimmung zu verstärken, anstatt ihr<br />

entgegen zu wirken, zeigt der Beitrag von<br />

Rainer Beckmann. Für <strong>LebensForum</strong> hat<br />

er den Gesetzentwurf der Bundesregierung<br />

zur Patientenverfügung einer profunden<br />

Analyse unterzogen. Wer dennoch<br />

zweifelt, dass die »Tötung auf Verlangen«<br />

unter dem Kostendruck im Gesundheitswesen<br />

zur »Tötung ohne Verlangen«<br />

mutiert, dem sei der Beitrag von Andreas<br />

Reimann ans Herz gelegt. Das Groningen<br />

Protokoll, mit dem in den Niederlanden<br />

die Früheuthanasie von Kindern legalisiert<br />

werden soll, macht besonders augenfällig,<br />

»Die Tötungsmaschinerie<br />

läuft wie geschmiert.«<br />

wie geschmiert die Tötungsmaschinerie<br />

längst<br />

läuft. Täuschen wir uns<br />

nicht: Der Sturm auf das<br />

letzte Tabu ist weit<br />

fortgeschritten!<br />

Wo der Lebensschutz<br />

geborener Menschen<br />

in den Blick genommen<br />

wird, darf auch<br />

das »Post-Abortion-<br />

Syndrom« (PAS) nicht<br />

unerwähnt bleiben:<br />

Denn auch die Folgen, unter denen Frauen<br />

nach einer Abtreibung leiden, und die<br />

vom Suizid bis zu schweren psychischen<br />

Schäden reichen, werden tabuisiert. Für<br />

<strong>LebensForum</strong> bricht Veronika Blasel dieses<br />

Schweigen.<br />

Wie einfallsreich die Abtreibungslobby<br />

zu Werke geht, wenn es gilt, Kundschaft<br />

für ihre todbringenden<br />

Offerten zu erhalten,<br />

zeigt der Beitrag<br />

»Lernziel Sex«<br />

von Hubert Hecker.<br />

Dass aber Pro Familia,<br />

und vielleicht auch<br />

andere der »Big Player«<br />

im »Geschäft mit<br />

dem Tod« durchaus zu stoppen sind,<br />

macht Bernward Büchner deutlich. Neben<br />

dem Bundesverband Lebensrecht hat sich<br />

auch die Aktion Lebensrecht für Alle<br />

schriftlich an alle Ministerpräsidenten<br />

gewandt und so dazu beigetragen, dass<br />

der Plan, die frühabtreibende »Pille<br />

danach« aus der Rezeptpflicht zu entlassen,<br />

im Bundesrat keine Mehrheit fand.<br />

Mit einem engen Schulterschluss zwischen<br />

Lebensrechtlern und den Kirchen,<br />

wie er in den USA funktioniert, ließen<br />

sich solche Erfolge leicht steigern. Der<br />

Beitrag von Stephan Baier »Dialog oder<br />

Widerstand« weist darauf hin, wie schwer<br />

dies mitunter in Europa noch fällt.<br />

Wir freuen uns zu erfahren, wie Ihnen<br />

das neue <strong>LebensForum</strong> gefällt: Lob und<br />

Kritik für das neue Design oder die Inhalte<br />

sind uns willkommen (E-Mail: Claudia.Kaminski<br />

@alfa-ev.de).<br />

Ihre<br />

Claudia Kaminski<br />

Bundesvorsitzende der <strong>ALfA</strong> und<br />

des Bundesverbandes Lebensrecht<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 3


TITEL<br />

REHDER MEDIENAGENTUR<br />

Sturm auf das letzte Tabu<br />

Mit der Verabschiedung der Euthanasiegesetzgebung in den Niederlanden und Belgien hat in Europa<br />

der Sturm auf das letzte Tabu begonnen. Auch in Deutschland bejaht gegenwärtig eine Mehrheit die<br />

»Tötung auf Verlangen«. Statt des Leids sollen die Leidenden beseitigt werden.<br />

Von Prof. Dr. Manfred Spieker<br />

4<br />

Wie die Abtreibung gehört die<br />

Euthanasie zu den klassischen<br />

Themen des Lebensschutzes.<br />

Jahrzehntelang war sie in<br />

Deutschland tabu, weil sie während der<br />

Herrschaft der Nationalsozialisten in<br />

großem Stil betrieben wurde. Sie war Teil<br />

der nationalsozialistischen Rassenideologie<br />

und zielte auf die Beseitigung von<br />

Behinderten, unheilbar Kranken und<br />

Schwachen, deren Leben als lebensunwert<br />

und die Volksgemeinschaft belastend galt.<br />

Ihre Tötung wurde als Tat der Liebe und<br />

des Mitleids oder <strong>–</strong> wie von Hitler selbst<br />

in seinem T4-Erlaß im Oktober 1939 <strong>–</strong><br />

als Gnadentod deklariert. Dass sie in der<br />

Gesellschaft auf größere Akzeptanz stoßen<br />

würde, nahmen aber selbst die Nationalsozialisten<br />

trotz jahrelanger Indoktrination<br />

nicht an. Sie unterlag höchster Geheimhaltung,<br />

die Kardinal Galen mit<br />

seinen Predigten im Juli und August 1941<br />

in St. Lamberti in Münster mutig und<br />

klug durchbrach. Der nationalsozialistischen<br />

Euthanasie fielen in Europa insgesamt<br />

200.000 bis 300.000 Menschen zum<br />

Opfer. Allein die T4-Aktion im Krieg<br />

kostete 70.000 Menschen, darunter<br />

20.000 KZ-Häftlingen und 5.000 Kindern<br />

das Leben. Die Euthanasie im nationalsozialistischen<br />

Deutschland war freilich<br />

nicht wie ein Gewitter aus heiterem Himmel<br />

über das Land gefallen. Sie war auch<br />

nicht nur eine nationalsozialistische Untat.<br />

Sie war vielmehr seit der Jahrhundertwende<br />

vorbereitet durch eine Ideologie,<br />

in der sich Rassenhygiene, Sozialdarwinismus<br />

und Medizin mischten, durch<br />

vieldiskutierte Bücher wie jenes von Karl<br />

Binding und Alfred Hoche, Die Freigabe<br />

der Vernichtung lebensunwerten Lebens<br />

(1920) und durch den Göbbelschen Propagandafilm<br />

»Ich klage an«, der die Tötung<br />

einer unheilbar erkrankten, schwer<br />

leidenden Pianistin als Tat der Nächstenliebe<br />

ihres Gatten präsentierte.<br />

DIE AUFHEBUNG DES TÖTUNGSVERBOTES<br />

Die ein halbes Jahrhundert währende<br />

Tabuisierung der Euthanasie ging zu Beginn<br />

des 21. Jahrhunderts mit der Verabschiedung<br />

der Euthanasiegesetze in den<br />

Niederlanden (2001) und in Belgien<br />

(2002) zu Ende. Zwar wurden beide Gesetze<br />

von Vertretern aller Parteien im<br />

Bundestag scharf kritisiert, zwar gibt es<br />

Stellungnahmen des Deutschen Ärztetages,<br />

die die Euthanasie unmissverständlich<br />

ablehnen, und auch die Kirchen haben<br />

sich wiederholt in großer Eintracht gegen<br />

die Euthanasie ausgesprochen, aber demoskopische<br />

Untersuchungen zeigen<br />

ernüchternde Ergebnisse: Überwältigende<br />

Mehrheiten sprechen sich für die Euthanasie<br />

aus. In einer Umfrage der Konrad<br />

Adenauer-Stiftung im Dezember 2002<br />

lehnten 76 Prozent der Befragten die<br />

Aussage ab »Aktive Sterbehilfe darf auch<br />

bei Todkranken nicht angewendet werden«.<br />

Nur 18 Prozent stimmten der Aussage<br />

zu und vier Prozent wussten nicht,<br />

was sie antworten sollten. Selbst wenn<br />

man die Frage unglücklich formuliert<br />

findet, weil sie beim Befragten den Eindruck<br />

hinterlassen kann, er müsse Todkranke<br />

bei Ablehnung der aktiven Sterbehilfe<br />

allein lassen und weil sie die<br />

Alternativen der Palliativmedizin und der<br />

Hospizbetreuung nicht in den Blick rückt,<br />

so bleibt auch auf Grund anderer Untersuchungen<br />

das harte Faktum, dass rund<br />

zwei Drittel der Deutschen die Euthanasie<br />

bejahen. In einer Umfrage des Allensbacher<br />

Instituts für Demoskopie im März<br />

2001 sprachen sich 70 Prozent für und<br />

nur 12 Prozent gegen die Euthanasie aus<br />

bei 18 Prozent Unentschiedenen. Die<br />

Befürworter einer ärztlichen Todesspritze<br />

für Schwerkranke auf Verlangen stiegen<br />

von 53 Prozent 19<strong>73</strong> auf 67 Prozent 2001,<br />

die Gegner halbierten sich im gleichen<br />

Zeitraum von 33 Prozent auf 16 Prozent.<br />

In Ostdeutschland bejahen sogar 80 Prozent<br />

die Euthanasie. Selbst von den Katholiken<br />

sprechen sich nach der Befragung<br />

der Konrad Adenauer-Stiftung <strong>73</strong> Prozent,<br />

von den Protestanten gar 78 Prozent<br />

für die Euthanasie aus.<br />

DER TOD <strong>–</strong> »MADE IN SWITZERLAND«<br />

Das Parlament in Deutschland scheint<br />

einstweilen nicht gewillt zu sein, das<br />

Thema Euthanasie aufzugreifen. Aber es<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>


REHDER MEDIENAGENTUR<br />

steht auf der Agenda des Ethikrates des<br />

Bundeskanzlers, der Enquete-Kommission<br />

Ethik und Recht in der modernen<br />

Medizin des 15. Deutschen Bundestages<br />

und der Bioethik-Kommission von Rheinland-Pfalz.<br />

Im Europarat hat sich der<br />

Ausschuss für Soziales, Gesundheit und<br />

Familienangelegenheiten mit der Begründung,<br />

niemand habe ein Recht, Todkranken<br />

und Sterbenden die Verpflichtung<br />

zum Weiterleben aufzuerlegen, für die<br />

Freigabe der Sterbehilfe ausgesprochen.<br />

Die Parlamentarische Versammlung hat<br />

es aber bisher abgelehnt, die Empfehlung<br />

des Ausschusses auf ihre Tagesordnung<br />

zu setzen. Euthanasie-Gesellschaften mit<br />

würdevollen Etiketten wie »Gesellschaft<br />

für humanes Sterben« oder »Dignitas«,<br />

propagieren die Euthanasie und bieten<br />

ihre Beihilfe zum assistierten Selbstmord<br />

an. So stieg die Zahl der Sterbehilfen des<br />

Schweizerischen Vereins Dignitas von<br />

288 1998 auf 2.263 im Jahr 2002.<br />

Die »Schweizerische Akademie für<br />

medizinische Wissenschaften« scheute<br />

sich im Juni 2003 nicht, ihre standesrechtliche<br />

Empfehlung »Suizid unter Beihilfe<br />

eines Dritten« mit der demographischen<br />

Entwicklung und den steigenden Gesundheitskosten<br />

zu begründen. Beides führe<br />

dazu, dass ältere Menschen in Krankenhäusern<br />

und Pflegeinstitutionen nicht<br />

mehr optimal versorgt werden können.<br />

Dies lasse den Wunsch entstehen, getötet<br />

zu werden, und in solchen Fällen bedürfe<br />

es klarer Regeln für Ärzte, Pflegepersonal<br />

und Verwaltungen der entsprechenden<br />

»Aus dem Recht zum Selbstmord<br />

wird unvermeidlich eine Pflicht.«<br />

Robert Spaemann<br />

Einrichtungen. In der Logik dieser Empfehlung<br />

liegen diplomierte Sterbehelfer,<br />

die einen »death made in Switzerland«<br />

anbieten. Auch unter Philosophen, Theologen<br />

und Juristen gibt es zunehmend<br />

Plädoyers für das Recht auf assistierten<br />

Selbstmord und für aktive Sterbehilfe,<br />

die allerdings nicht mit der demographischen<br />

Entwicklung und den Pflegekosten,<br />

sondern mit dem Recht auf Selbstbestimmung<br />

begründet werden. Ein Anspruch<br />

auf aktive Sterbehilfe »überspanne« zwar<br />

den Würdeanspruch, aber ein Recht, »in<br />

selbstverantwortlicher Entschließung dem<br />

eigenen Leben ein Ende zu setzen«, wird<br />

von Matthias Herdegen in seiner Neukommentierung<br />

des Artikels 1, Absatz 1<br />

Grundgesetz aus der Menschenwürdegarantie<br />

abgeleitet. Wer ein solches Recht<br />

auf Selbstmord bejaht, wird aber die Forderung<br />

nach einem ärztlich assistierten<br />

Selbstmord nicht ablehnen können, und<br />

in der Logik des ärztlich assistierten<br />

Selbstmordes liegt <strong>–</strong> vor allem bei dessen<br />

Misslingen, wie die Erfahrungen in den<br />

Niederlanden belegen <strong>–</strong> die Euthanasie.<br />

»Die Plausibilität des<br />

Tötungsverbotes schwindet.«<br />

Bischof Franz Kamphaus<br />

Das Verlangen nach einer Legalisierung<br />

der aktiven Sterbehilfe wird nicht<br />

umhin kommen, die Untersuchungen<br />

über die Euthanasiepraxis in den Niederlanden<br />

zur Kenntnis zu nehmen. Sie zeigen<br />

zum einen in der Sterbestatistik der<br />

90er Jahre einen steigenden Anteil ärztlich<br />

herbeigeführter Todesfälle durch Euthanasie,<br />

assistierten Selbstmord, Entscheidungen<br />

gegen eine Weiterbehandlung<br />

Schwerkranker oder für eine Intensivierung<br />

der Schmerzbehandlung mit beabsichtigter<br />

Todesfolge. Sie zeigen zum<br />

anderen, dass die gesetzlichen Vorschriften<br />

für die Euthanasie nicht zu kontrollieren<br />

sind und in vielen Fällen gravierend<br />

missachtet werden. In rund 25 Prozent<br />

der Euthanasiefälle (900 von rund 3.700)<br />

erfolgte 2001 die Tötung des Patienten<br />

ohne dessen Verlangen. In weit mehr als<br />

der Hälfte der Fälle unterblieb die vorgeschriebene<br />

Konsultierung eines zweiten<br />

unabhängigen Arztes. In vielen Fällen<br />

unterblieb die vorgeschriebene Meldung<br />

des Euthanasiefalles an die zuständige<br />

regionale Kontrollkommission, das heißt<br />

die Todesbescheinigung wurde gefälscht.<br />

Auch eine Frist zwischen dem Verlangen<br />

nach Euthanasie und der Durchführung<br />

der Euthanasie, die Rückschlüsse auf die<br />

Ernsthaftigkeit und die Dauerhaftigkeit<br />

des Verlangens zulässt und die im belgischen<br />

Euthanasiegesetz zum Beispiel einen<br />

Monat beträgt, wird nicht beachtet.<br />

In 13 Prozent der Euthanasiefälle lag<br />

zwischen Verlangen und Durchführung<br />

nur ein Tag, in rund 50 Prozent der Fälle<br />

nur eine Woche.<br />

EUTHANASIE <strong>–</strong> UNBLUTIGE ENTSORGUNG<br />

DER LEIDENEN<br />

Die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe<br />

muss unvermeidlich dazu führen,<br />

dass aus dem Recht zum assistierten<br />

Selbstmord eine Pflicht wird. Der Pflegebedürftige,<br />

Alte oder Kranke hat nämlich<br />

alle Mühen, Kosten und Entbehrungen<br />

zu verantworten, die seine Angehörigen,<br />

Pfleger, Ärzte und Steuern zahlenden<br />

Mitbürger für ihn aufbringen<br />

müssen und von denen er sie schnell<br />

befreien könnte, wenn er das Verlangen<br />

nach aktiver Sterbehilfe äußert. »Er lässt<br />

andere dafür zahlen, dass er zu egoistisch<br />

und zu feige ist, den Platz zu räumen. <strong>–</strong><br />

Wer möchte unter solchen Umständen<br />

weiterleben? Aus dem Recht zum Selbstmord<br />

wird so unvermeidlich eine Pflicht«<br />

(Robert Spaemann).<br />

Die Erfahrungen in den Niederlanden<br />

bestätigen die Vermutung, dass die Euthanasie<br />

nicht Hilfe für Schwerkranke,<br />

sondern Mittel einer unblutigen Entsorgung<br />

der Leidenden ist, dass sie nicht<br />

Zuwendung zum Sterbenden, sondern<br />

Verweigerung des medizinischen und<br />

pflegerischen Beistandes ist. Sie verweisen<br />

»auf die schwindende Plausibilität des<br />

Tötungsverbotes«. (Bischof Franz Kamphaus).<br />

Eine Trendwende ist einstweilen nicht<br />

in Sicht. Im Gegenteil, in der beginnenden<br />

Euthanasiedebatte in Deutschland<br />

zeichnet sich eher eine Verschlechterung<br />

des Lebensschutzes ab. Um auch für Sterbende,<br />

für Schwerkranke und Pflegebedürftige<br />

einen besseren Lebensschutz zu<br />

ermöglichen, sind eine Verstärkung der<br />

Palliativmedizin in Forschung und Lehre<br />

sowie eine Ausweitung der Hospizbewegung<br />

zur stationären oder ambulanten<br />

Begleitung Sterbender unverzichtbar.<br />

IM PORTRAIT<br />

Prof. Dr. Manfred Spieker<br />

Der Autor wurde 1943 in München geboren.<br />

Studium der Politikwissenschaft,<br />

der Philosophie und der Geschichte an<br />

den Universitäten Freiburg, Berlin und<br />

München. 1968<br />

Diplom in Politologie<br />

an der Freien<br />

Universität Berlin.19<strong>73</strong><br />

Promotion<br />

zum Dr. phil. an der<br />

Universität München.<br />

1982 Habilitation im Fach Politische<br />

Wissenschaft an der Universität<br />

zu Köln. Seit 1983 Professor für Christliche<br />

Sozialwissenschaften am Institut<br />

für Katholische Theologie der Universität<br />

Osnabrück. Verschiedene Gastprofessuren<br />

im Ausland. Von 1995 - 2001 Beobachter<br />

des Heiligen Stuhls im Europarat.<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 5


TITEL<br />

Das Groningen-Protokoll<br />

Niederländische Ärzte wollen die Euthanasie auf Nichteinwilligungsfähige, darunter auch Kinder,<br />

ausdehnen. Bereits jetzt töten Ärzte in den Niederlanden laut Schätzungen jedes Jahr rund 20 Kinder.<br />

Aus Angst vor Strafe heimlich. Das soll jetzt anders werden.<br />

Von Dr. Andreas Reimann<br />

Wer bislang nur wenig oder<br />

jedenfalls nichts Dramatisches<br />

mit der Stadt im<br />

Norden der Niederlande verbinden<br />

konnte, für den tut sich eine »(un-)schöne<br />

neue Welt« auf. Auch wenn man nicht<br />

so weit gehen will wie eine amerikanische<br />

Zeitung, die das Groningen Protokoll in<br />

eine Reihe mit Himmlers Wannsee-<br />

Konferenz stellt, so lässt das, was die<br />

Reichsuniversität Groningen im Dezember<br />

2004 verlauten ließ, doch den Atem<br />

stocken. Unter Führung von Dr. A. Verhagen<br />

von der Kinderklinik der Universität<br />

haben Kinderärzte aus den ganzen<br />

Niederlanden gefordert, ein Protokoll,<br />

also eine kochbuchartige Anleitung, zur<br />

»Beendigung des Lebens von unerträglich<br />

und unheilbar leidenden Neugeborenen«<br />

aufzustellen.<br />

Es sei Zeit, so Verhagen, »mit offenen<br />

Karten zu spielen, wenn es um das unerträgliche<br />

Leiden von Neugeborenen ohne<br />

Hoffnung auf Zukunft« gehe. Auf der<br />

ganzen Welt beendeten Ärzte Leben »diskret<br />

aus Barmherzigkeit ohne jede Regelung«.<br />

Wenn der Arzt zu der Entscheidung<br />

gelangt sei, dass ein Mensch keine<br />

»Lebensqualität« mehr zu erwarten habe,<br />

handelten Ärzte immer öfter so.<br />

Verhagen und seine Groninger Kollegen<br />

haben hier schon ganze Vorarbeit<br />

geleistet. In Zusammenarbeit mit der<br />

»Es ist an der Zeit, mit offenen<br />

Karten zu spielen.«<br />

Eduard Verhagen, Uniklinik Groningen<br />

niederländischen Staatsanwaltsvereinigung<br />

entwickelten sie selbst ein solches<br />

Protokoll. Nachdem dies ruchbar geworden<br />

war, gingen sie in die Offensive und<br />

forderten ein nationales Komitee, das ein<br />

solches »Protokoll« auch auf nationaler<br />

Ebene entwerfen solle.<br />

6<br />

Das Groningen Protokoll, nachdem<br />

jedes Kind bis zum Alter von zwölf Jahren<br />

<strong>–</strong> danach schließt die niederländische<br />

Euthanasiegesetzgebung lückenlos an <strong>–</strong><br />

getötet werden darf, umfasst fünf Kriterien.<br />

Erstens: Das Leiden des Kindes<br />

muss so schwer sein, dass das neugeborene<br />

(oder ältere) Kind »keine Aussicht auf<br />

Zukunft« besitzt und zweitens keine Möglichkeit<br />

einer Heilung oder Linderung<br />

»Die Eltern flehen den Arzt an, einem<br />

solchen Leiden ein Ende zu machen.«<br />

Eduard Verhagen<br />

durch Gabe von Arzneimitteln oder chirurgische<br />

Eingriffe besteht. Drittens müssen<br />

die Eltern ihr Einverständnis gegeben<br />

haben; viertens muss eine »zweite Meinung«<br />

durch einen »unabhängigen Arzt«,<br />

der nicht an der »Behandlung des Kindes«<br />

beteiligt war, eingeholt werden und<br />

schließlich muss fünftens die »bewusste<br />

Lebensbeendigung peinlich genau ausgeführt<br />

werden mit einer besonderen Betonung<br />

der Nachsorge«.<br />

Bei so viel Sorgfalt ist Unruhe natürlich<br />

störend. Diese habe <strong>–</strong> so Doktor Verhagen<br />

<strong>–</strong> ganz besonders der Vatikan mit seiner<br />

Stellungnahme ausgelöst.<br />

Dabei erwarteten die Kinder<br />

doch ein Leben mit<br />

schrecklichem Schmerz.<br />

So zum Beispiel Kinder<br />

»mit Wasserkopf und<br />

ohne Hirn«. Abgesehen<br />

von der Tatsache, dass<br />

diese den »unerträglichen«<br />

Schmerz dann gar nicht spüren<br />

würden, vermisst man die gleiche Besorgnis<br />

bei ungeborenen Kindern, die ihre<br />

Abtreibung ganz ohne Betäubung erleben<br />

müssen. Verhagen ist mit einem weiteren<br />

Beispiel zur Hand. So seien zahlreiche<br />

Operationen nötig, um einem Kind mit<br />

Spina Bifida wenigstens ein wenig zu<br />

helfen: »Die Eltern sehen das in Tränen<br />

und flehen den Arzt an, einem solchen<br />

Leiden ein Ende zu machen.« Da widerspricht<br />

der Doktor seinem eigenen Protokoll.<br />

War dort nicht die Rede davon,<br />

dass Operationen unmöglich sein müssen?<br />

Altbekannten Mustern aus der Abtreibungsdebatte<br />

folgend ist natürlich nur<br />

von »Ausnahmefällen« die Rede. Wie<br />

schnell man sich an Ausnahmen<br />

gewöhnt und<br />

dann aus ihnen die Regel<br />

wird, beweisen die Niederlande<br />

nicht nur auf<br />

dem Gebiet der Abtreibung,<br />

sondern auch auf<br />

dem der Euthanasie<br />

»unheilbar Kranker«. Bereits<br />

im Jahr 2001 starben 3.500 durch<br />

die Hand des Arztes, 900 von ihnen, ohne<br />

dazu ausdrücklich ihre <strong>–</strong> wie auch immer<br />

eingeholte <strong>–</strong> Einwilligung gegeben zu<br />

haben (vgl. <strong>LebensForum</strong> Nr. 69). Ebenfalls<br />

seit den 70er Jahren bewährt ist der<br />

Verweis auf die angeblich schon weit<br />

verbreitete Haltung. Schließlich bevorzugten<br />

ca. 74 Prozent der französischen<br />

und 72 Prozent der niederländischen<br />

Ärzte eine »bewusste Lebensbeendigung«<br />

in diesen »Ausnahmefällen«.<br />

Hochinteressant ist die Reaktion auf<br />

diese freigiebigen Äußerungen und wiederum<br />

die Rezeption dieser Reaktion.<br />

Nicht überraschend hat die katholische<br />

Kirche klar Stellung gegen die Haltung<br />

der Groninger Protokollanten genommen.<br />

Luzide legt die Stellungnahme von<br />

Bischof Sgreccia von der Päpstlichen<br />

Akademie für das Leben dar, wo sich<br />

genau die holländischen Mediziner auf<br />

der »schiefen Ebene« befinden. Zunächst<br />

ist bei Euthanasie nur von dem unheilbar<br />

kranken, angeblich aber doch voll entscheidungsfähigen<br />

Erwachsenen die Rede.<br />

Dann macht man das Zugeständnis, auch<br />

die »mutmaßliche« Einwilligung sei ausreichend.<br />

Als nächsten Schritt wird die<br />

»Barmherzigkeit« auf 12jährige ausge-<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>


Stößt auch in den USA auf Anhänger: Das Groningen Protokoll.<br />

dehnt <strong>–</strong> natürlich nur mit dem Einverständnis<br />

der Eltern <strong>–</strong> und schließlich auf<br />

Säuglinge und Kleinkinder <strong>–</strong> selbstverständlich<br />

ohne deren Einwilligung. Unangenehmerweise<br />

fragt der vatikanische<br />

Autor auch nach der ethischen Basis einer<br />

solchen Politik. Die Autonomie des Menschen<br />

kann es schlecht sein <strong>–</strong> schließlich<br />

wird von Dritten über Menschen ohne<br />

Autonomie entschieden. Die angebliche<br />

Untragbarkeit der Schmerzen definierten<br />

der Arzt und die Eltern. Oder ist ihre<br />

Entscheidung <strong>–</strong> unter welchem Einfluss<br />

auch immer <strong>–</strong> vielleicht eher ein Produkt<br />

ihrer eigenen und menschlich allzu nachvollziehbaren<br />

Hilflosigkeit?<br />

Das »Überleben des Stärkeren«,<br />

Grundprinzip Darwinschen Denkens,<br />

lässt grüssen. Die Analyse der päpstlichen<br />

Akademie verweist darauf, dass Darwin<br />

persönlich davon abgeraten hatte, Krankenhäuser<br />

für Behinderte und chronisch<br />

Kranke zu bauen und Sozialgesetze für<br />

Arme zu erlassen. Solche Maßnahmen<br />

verhinderten schließlich nur die »soziale<br />

Auslese des Schwachen«. Der (Neo-)<br />

Utilitarismus als ideologische Grundlage<br />

eines solchen Denkens in unserer Zeit<br />

lässt es zu, die Minimierung von »Leid«<br />

und die Maximierung von »Befriedigung«<br />

als Entscheidungsgrundlagen zu definieren.<br />

Betrachtet man den Gesundheitssektor<br />

als von vorneherein limitiert, bedeutet<br />

dies: Allokation von Ressourcen dorthin,<br />

wo »Glück« maximiert wird. Sprich: Unbrauchbare<br />

werden aussortiert. Das Ergebnis<br />

wird eine Gesellschaft der »Gesunden«<br />

und »Starken« sein. Solidarität<br />

hat ausgedient. Dem gegenüber stellt die<br />

katholische Kirche das Konzept der echten<br />

Barmherzigkeit, die mit dem Hilfsbedürftigen<br />

ausharrt, ihm das gibt, was ihm<br />

wirklich fehlt. Im Falle der schwergeschädigten<br />

Neugeborenen gehört hierzu die<br />

menschliche Begleitung der Eltern ebenso<br />

wie die erforderlichen pflegerischen und<br />

palliativ-medizinischen Maßnahmen inklusive<br />

einer geeigneten Schmerztherapie,<br />

soweit kurative Optionen nicht offen<br />

stehen.<br />

»Tod durch das Komitee« überschrieb<br />

das konservative US-amerikanische <strong>Magazin</strong><br />

»The Weekly Standard« seinen<br />

Artikel über das Groningen Protokoll.<br />

Wenn »unabhängige Komitees« über das<br />

Leben von unschuldigen <strong>–</strong> wie auch immer<br />

behinderten <strong>–</strong> Menschen entschieden,<br />

dann habe das »Land des Doktor<br />

Mengele« Gestalt angenommen. Wer<br />

soll sich, so fragt das <strong>Magazin</strong>, dann noch<br />

aufregen, wenn eine Supermarktkette in<br />

den USA <strong>–</strong> wie unlängst geschehen <strong>–</strong> der<br />

Heilsarmee die Sammlung vor ihren Läden<br />

in der Weihnachtszeit untersage?<br />

»Machen Sie aus dem Leben ihres Jungen ein Fest.<br />

Die Länge bestimmt nicht dessen Schönheit.«<br />

Nicht zufällig konzentriert sich die Kritik<br />

aus den USA eher auf die Gefahr einer<br />

unfairen und willkürlichen Behandlung<br />

durch abstrakte »Komitees« und weniger<br />

<strong>–</strong> im Unterschied zum Vatikan <strong>–</strong> auf die<br />

Verletzung der Würde der menschlichen<br />

Person.<br />

Vor 20 Jahren, als nur eines von 100<br />

Kindern mit Mukoviszidose das 18. Lebensjahr<br />

erreichte und die übrigen an den<br />

Folgen des zähflüssigen Schleims in den<br />

lebenswichtigen Organen, insbesondere<br />

der Lunge und der Bauchspeicheldrüse,<br />

in der Tat häufig qualvoll verstarben,<br />

hätten sich zweifelsohne unter dem Groningen<br />

Protokoll Mediziner gefunden, die<br />

einer solchen »unerträglichen« Situation<br />

frühzeitig ein Ende bereitet hätten. Ein<br />

Vater eines damals geborenen Mukoviszidose-Kindes<br />

erzählte mir kürzlich, dass<br />

ein Kinderarzt, der diese Bezeichnung<br />

mit Stolz trug, damals zu ihm sagte:<br />

»Machen Sie aus dem Leben ihres Jungen<br />

ein Fest, es wird ein kurzes Fest sein, aber<br />

die Länge bestimmt nicht dessen Schönheit.«<br />

Beide, Arzt und Vater, handelten<br />

selbstverständlich für das Leben des Kindes,<br />

selbst ohne große Hoffnung. Beide<br />

konnten nicht wissen, dass <strong>–</strong> auch ohne<br />

großen Durchbruch in der Forschung <strong>–</strong><br />

die medizinische Behandlung so erfolgreich<br />

geworden ist, dass heute die Hälfte<br />

aller Menschen mit Mukoviszidose das<br />

Erwachsenenalter erreicht haben. Der<br />

Junge ist heute der Stolz der Familie, hat<br />

sein Vordiplom in Physik mit Auszeichnung<br />

absolviert und spielt in der Fussballmannschaft<br />

des Dorfes. Auch heute aber<br />

sterben noch Kinder an Mukoviszidose,<br />

viele Erwachsene erleben das 30. Lebensjahr<br />

nicht. Sollte man sie also jetzt dem<br />

»Komitee« vorstellen?<br />

Die Kritik an dem Groningen Protokoll<br />

ist selbstverständlich ihrerseits wieder<br />

auf harsche Kritik gestoßen. Es sei Zeit,<br />

so ist auf der US-amerikanischen Website<br />

rc6 (http://rc6.org/node/533) in einer<br />

Stellungnahme zu lesen, »amerikanischen<br />

Journalismus und religiösen Fanatismus<br />

weit hinter uns zu lassen«. Man rede<br />

schließlich »nicht von Kindern, die uns<br />

irgendetwas lehren könnten außer die<br />

neuen Tiefen menschlichen Schmerzes<br />

und Leides. Wer, der bei klarem Verstand<br />

ist, würde sein Kind unerträglich leiden<br />

lassen nur um eine solche<br />

irrationale Würde zu befriedigen?«<br />

Klarer kann<br />

man es nicht mehr sagen.<br />

Das letzte Wort soll<br />

aber die Universität Groningen<br />

haben, die verspricht,<br />

dass ihr Hospital<br />

»eindeutig den Standard seiner Dienstleistungen<br />

bestimmt, kritische Probleme<br />

identifiziert und die entsprechenden Maßnahmen<br />

ergreift.« Dabei sei die »Meinung<br />

der Patienten von allergrößter Bedeutung«.<br />

Diejenigen, die eine Behandlung<br />

im Universitätsklinikum erlebt hatten,<br />

hätten sicher viele Ideen für Verbesserungen.<br />

Sie seien deshalb eine »lebendige<br />

Quelle der Information«. Genau deshalb<br />

sei auch ein »Patienten-Interview« entwickelt<br />

worden, mit dessen Hilfe die Erfahrungen<br />

der Patienten mit der Groninger<br />

Behandlung erfasst würden. Es wäre<br />

interessant zu erfahren, was schwerkranke<br />

Kinder in diesem Interview zu sagen hätten.<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 7


GESELLSCHAFT<br />

Note: mangelhaft!<br />

Patientenverfügungen stehen hoch im Kurs. Sie sollen die Autonomie von Patienten am Lebensende<br />

sichern. Doch eine genaue Analyse zeigt: Der Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums zur Regelung<br />

von Patientenverfügungen weist schwere Mängel auf.<br />

Von Rainer Beckmann<br />

Autonomie und Selbstbestimmung<br />

sind »in«. Das gilt nicht nur für<br />

den alltäglichen Lebensvollzug<br />

des »mündigen Bürgers«. Auch am Lebensende<br />

soll die Autonomie von Patienten<br />

gesichert und ihr Recht auf Selbstbestimmung<br />

gestärkt werden. Das verspricht<br />

jedenfalls der Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums<br />

zur Regelung von Patientenverfügungen.<br />

Als der Entwurf im<br />

November 2004 vorgestellt wurde, gab<br />

es <strong>–</strong> neben kritischen Reaktionen von<br />

Behinderten- und Lebensrechtsverbänden<br />

<strong>–</strong> auch viel Zustimmung. Eine nähere<br />

Analyse zeigt jedoch, dass dem Gesetzentwurf<br />

nicht nur eine grundsätzliche<br />

Überbewertung der Selbstbestimmung<br />

zugrunde liegt, sondern dass auch schwerwiegende<br />

Mängel festzustellen sind, die<br />

zum Missbrauch geradezu einladen.<br />

Von seinem Grundansatz her transportiert<br />

das Gesetzgebungsvorhaben gegenüber<br />

dem Bürger die Botschaft, Patientenverfügungen<br />

seien das »richtige« Modell<br />

der »Vorsorge« zur Erhaltung der<br />

Autonomie auch in schwierigen Lebensphasen.<br />

Richtig daran ist, dass Patientenverfügungen<br />

im Voraus getroffene Entscheidungen<br />

formal verbindlich festhalten<br />

können. Sie sind aber keineswegs geeignet<br />

»Planungssicherheit am Lebensende« zu<br />

garantieren und können gesellschaftliche<br />

Fehlentwicklungen verstärken.<br />

UNKLARE KÜNFTIGE<br />

ENTSCHEIDUNGSSITUATIONEN<br />

8<br />

DANIEL RENNEN<br />

Zunächst fehlt es jeder Vorausverfügung<br />

an der Unmittelbarkeit der Entscheidungssituation.<br />

Zum Zeitpunkt der<br />

Erstellung der Verfügung stehen nicht<br />

alle Informationen zur Disposition, die<br />

für eine optimale Entscheidung erforderlich<br />

wären. Dies gilt vor allem für frühzeitig<br />

abgefasste Patientenverfügungen.<br />

Aufgrund des zeitlichen Abstands zur<br />

späteren Anwendungssituation besteht<br />

von vornherein eine erhebliche Unsicherheit,<br />

in welchen Situationen welche Maßnahmen<br />

akzeptiert oder abgelehnt werden<br />

sollen.<br />

Wird eine Patientenverfügung erst im<br />

Alter oder nach dem Beginn einer Erkrankung<br />

erstellt, können die dann bestehenden<br />

Begleitumstände die Freiheit der<br />

Willensentscheidung beeinträchtigen.<br />

Eine unzureichende Behandlung von<br />

Krankheitssymptomen (insb. in der<br />

Schmerztherapie), mangelhafte Pflege<br />

und soziale Isolierung können den<br />

Wunsch nach einem »schnellen Ende«<br />

verstärken oder erst hervorrufen. Es sollte<br />

die primäre Aufgabe des Gesetzgebers<br />

sein, diese Bedingungen durch gesundheitspolitische<br />

Maßnahmen so zu beeinflussen,<br />

dass möglichst wenig äußerer<br />

Druck auf den Patienten entsteht. Mit<br />

einer gesetzlichen Regelung von Patientenverfügungen<br />

wird jedoch mehr oder<br />

minder deutlich darauf hingewiesen, dass<br />

man den individuellen Krankheitsverlauf<br />

durch Behandlungsverzicht »abkürzen«<br />

könne. Die Propagierung von Patientenverfügungen<br />

wird deshalb indirekt den<br />

Ausbau der Palliativmedizin und der<br />

hospizlichen Versorgung hemmen.<br />

NEGATIVE SELBSTBEWERTUNGEN<br />

Das Instrument der Patientenverfügung<br />

verstärkt auch die Gefahr, dass sich<br />

alte und kranke Menschen selbst als unnütz<br />

und überflüssig einschätzen. Behandlungsverzichtserklärungen<br />

definieren häufig<br />

implizit bestimmte Krankheitszustände<br />

als nicht mehr lebenswert (z. B. Demenz,<br />

Alzheimer, Bettlägerigkeit, Angewiesen-


sein auf künstliche Ernährung). Hierin<br />

spiegeln sich auch soziale Einstellungen<br />

und Einflüsse wider. In unserer Gesellschaft<br />

wird nicht nur jungen Menschen<br />

eine »Fit for Fun«-Gesinnung vermittelt.<br />

Auch gegenüber der älteren Generation<br />

werden »Werte« wie Konsum, Fitness<br />

und Agilität als wesentliche Lebensinhalte<br />

bzw. Lebensziele angepriesen. Dies trägt<br />

massiv dazu bei, dass sich kranke und<br />

pflegebedürftige Menschen an den Rand<br />

der Gesellschaft gedrängt fühlen.<br />

Dieser ohnehin bestehende Trend wird<br />

durch die zahlreichen Patientenverfügungs-Formulare,<br />

die für schwerwiegende<br />

Krankheitszustände einen Behandlungsverzicht<br />

als Wahlmöglichkeit vorsehen,<br />

verstärkt. Krankheiten, die einen hohen<br />

Aufwand an Pflege, Betreuung und medizinischer<br />

Versorgung erfordern, erscheinen<br />

als »vermeidbar«. Je akzeptierter,<br />

»normaler« und geregelter Behandlungsverzichtserklärungen<br />

sind, umso deutlicher<br />

wird eine gesellschaftliche Erwartungshaltung<br />

entstehen, sich dem Trend<br />

STICHWORT<br />

Die Patientenverfügung<br />

Als Patientenverfügung wird eine meist<br />

schriftliche Willensbekundung einer<br />

Person zu medizinischen Maßnahmen<br />

für den Fall der künftigen Entscheidungsunfähigkeit<br />

bezeichnet. In der Praxis<br />

werden Patientenverfügungen insbesondere<br />

dazu genutzt, die Verweigerung<br />

der Einwilligung in bestimmte ärztliche<br />

Maßnahmen zum Ausdruck zu bringen<br />

(z. B. künstliche Ernährung, künstliche<br />

Beatmung oder Wiederbelebung nach<br />

Herzstillstand).<br />

des »sozialverträglichen Frühablebens«<br />

anzuschließen. Selbstbestimmung mündet<br />

dann merkwürdigerweise in »Selbstentsorgung«.<br />

KEIN ABSOLUTER WUNSCH NACH<br />

SELBSTBESTIMMUNG<br />

Schließlich sollte die so oft geäußerte<br />

Forderung nach mehr Selbstbestimmung<br />

hinterfragt und in der richtigen Dimension<br />

gesehen werden. Patienten trauen<br />

sich selbst nicht von vornherein eine<br />

größere Kompetenz zu, über ihre medizinische<br />

Behandlung zu entscheiden, als<br />

sie dem Arzt schon von Berufs wegen<br />

zukommt. Unterschiedliche Vorbildung<br />

und Beschäftigung mit dem Thema führt<br />

auch zu unterschiedlicher Entscheidungskompetenz.<br />

Der bloße Verweis auf die<br />

»Autonomie« des Patienten hilft wenig.<br />

Selbstbestimmung im eigentlichen Sinne<br />

bedarf der Information: je informierter<br />

der Patient, desto besser kann er im echten<br />

Sinn selbstbestimmt handeln.<br />

Viele Patienten sind sich daher bewusst,<br />

dass ihre »Selbstbestimmung«<br />

nicht im luftleeren Raum stattfindet,<br />

sondern nur im Rahmen einer sachgerechten<br />

Information von ärztlicher Seite<br />

sinnvoll ausgeübt werden kann. Nach<br />

einschlägigen Untersuchungen befürwortet<br />

die Mehrheit der Patienten nicht ein<br />

alleiniges Bestimmungsrecht über die<br />

medizinische Behandlung, sondern eine<br />

gemeinsame Entscheidungsfindung mit<br />

dem Arzt.<br />

GEFÄHRLICHE MUTMAßUNGEN<br />

Obwohl also eine Aufwertung von<br />

Patientenverfügungen grundsätzlich fragwürdig<br />

erscheint, meint Justizministerin<br />

Zypries, aktiv werden zu müssen. Der<br />

von ihr vorgelegte Gesetzentwurf beschränkt<br />

sich nicht darauf, den Umgang<br />

mit Patientenverfügungen zu regeln, sondern<br />

bestimmt auch den Maßstab, der<br />

gelten soll, wenn keine Patientenverfügung<br />

vorliegt. Entscheidend soll der<br />

»mutmaßliche Wille« des Patienten sein.<br />

Nach der bisherigen Rechtsprechung soll<br />

anhand von früheren Äußerungen des<br />

Patienten, seiner religiösen Überzeugung,<br />

seinen sonstigen persönlichen Wertvorstellungen<br />

und seiner altersbedingten Lebenserwartung<br />

»ermittelt« werden, wie<br />

sich der Patient entscheiden würde, wenn<br />

er es noch könnte.<br />

Der wachsende Kostendruck im Gesundheitswesen<br />

schürt die Angst vor menschenunwürdigen Zuständen<br />

im Pflegebereich.<br />

Aus diesen unspezifischen Kriterien<br />

lässt sich aber praktisch nie mit Sicherheit<br />

ableiten, wie sich der Patient in einer<br />

konkreten Situation tatsächlich entscheiden<br />

würde. Eine »Willensermittlung«<br />

bei Personen, die nicht mehr entscheidungsfähig<br />

sind, ist unmöglich. Jede Willensentscheidung<br />

setzt eine Willensbildung<br />

voraus. Wenn eine solche Willensbildung<br />

krankheitsbedingt nicht mehr<br />

erfolgen kann, kommt auch kein Wille<br />

zustande, der ermittelt werden könnte.<br />

Das Konzept des »mutmaßlichen Willens«<br />

führt im Ergebnis dazu, dass bereits<br />

dann lebenserhaltende Maßnahmen nicht<br />

ergriffen oder abgebrochen werden können,<br />

wenn eine nicht näher spezifizierte<br />

Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass<br />

der betroffene Patient diese abgelehnt<br />

hätte. Mit unsicheren Wahrscheinlichkeits-Mutmaßungen<br />

kann aber ein Behandlungsabbruch<br />

nicht gerechtfertigt<br />

werden. Die Mutmaßung kann zutreffen,<br />

kann aber auch falsch sein. Ein Wahrscheinlichkeitsurteil,<br />

das deutlich unterhalb<br />

der Schwelle praktischer Gewissheit<br />

bleibt, kann bei Entscheidungen über<br />

Leben und Tod nicht akzeptiert werden.<br />

Über die Rechtsfigur des »mutmaßlichen<br />

Willens« drohen beiläufige, situationsbedingte,<br />

eher pauschale und ohne<br />

Bindungswillen abgegebene Meinungsäußerungen<br />

im Nachhinein zu Mosaiksteinen<br />

einer »Gesamtschau« zu werden,<br />

aus der sich dann eine Legitimation zum<br />

Behandlungsabbruch ergeben soll. Dies<br />

darf vom Gesetzgeber nicht akzeptiert<br />

werden. Die Behandlung nicht entscheidungsfähiger<br />

Patienten ist stattdessen<br />

ausschließlich an ihrem individuellen<br />

Wohl auszurichten. In der ganz ähnlichen<br />

Situation der Betreuung ist ebenfalls das<br />

»Wohl« des Betreuten der entscheidende<br />

Maßstab (§ 1901 Abs. 2 BGB).<br />

UMSETZUNG VON<br />

PATIENTENVERFÜGUNGEN<br />

Angesichts der mit Patientenverfügungen<br />

verbundenen Unwägbarkeiten und<br />

der prinzipiellen Bedenken gegen das<br />

Konzept des »mutmaßlichen Willens«<br />

kommt der Umsetzung von Patientenverfügungen<br />

und dem Verfahren zur Ermittlung<br />

des »mutmaßlichen Willens« besondere<br />

Bedeutung zu. Gerade in diesem<br />

Bereich vermag der Gesetzentwurf des<br />

Justizministeriums in keiner Weise zu<br />

überzeugen.<br />

Liegt eine Patientenverfügung vor,<br />

soll der Betreuer oder Bevollmächtigte<br />

den in ihr zum Ausdruck kommenden<br />

Willen des Patienten unmittelbar durchsetzen.<br />

Liegt dagegen keine Patienten-<br />

9


GESELLSCHAFT<br />

verfügung vor, soll ein ausdrücklich und<br />

schriftlich zum Verzicht auf lebensverlängernde<br />

Behandlungen bevollmächtigter<br />

Vertreter alleine bzw. ein gerichtlich bestellter<br />

Betreuer im Einvernehmen mit<br />

dem Arzt nach dem »mutmaßlichen Willen«<br />

des Patienten entscheiden können.<br />

Nur wenn zwischen Betreuer und Arzt<br />

ein Dissens über den »mutmaßlichen<br />

Willen« des Patienten besteht, ist die<br />

Genehmigung des Vormundschaftsgerichts<br />

erforderlich.<br />

SCHWACHE KONTROLLMECHANISMEN<br />

Betrachtet man die Konzeption des<br />

Gesetzentwurfs im Detail, ergeben sich<br />

nicht nur Schwachstellen, sondern massive<br />

Defizite, die mit der Verpflichtung des<br />

Staates zum Schutz des Lebens aus Art.<br />

2 Abs. 2 S. 1 GG nicht mehr vereinbar<br />

sind. Missbrauchsgefahren scheint das<br />

Justizministerium nicht zu sehen oder<br />

nicht sehen zu wollen. Kontrollmechanismen<br />

sind entweder unterentwickelt<br />

oder fehlen ganz.<br />

So wird z. B. nicht näher begründet,<br />

warum der Bevollmächtigte im Gegensatz<br />

zum Betreuer keiner gerichtlichen Kontrolle<br />

unterliegen soll. Der Gesetzentwurf<br />

geht unausgesprochen davon aus, dass<br />

ein rechtsgeschäftlich mit Vollmacht ausgestatteter<br />

Vertreter auch in einem besonderen<br />

Vertrauens- bzw. Näheverhältnis<br />

zu dem Patienten steht und deshalb in<br />

besonders guter Weise dessen Willen<br />

interpretieren und umsetzen kann. Das<br />

mag in gewissem Umfang zutreffen, ist<br />

aber keine allgemein empirisch belegte<br />

Tatsache.<br />

Soweit ein Betreuer nur im Einvernehmen<br />

mit dem Arzt dem Abbruch lebensverlängernder<br />

Maßnahmen zustimmen<br />

darf, ist durch die Einbeziehung einer<br />

weiteren Person wenigstens eine gewisse<br />

soziale Kontrolle der Entscheidung sichergestellt.<br />

Dies kann aber kaum als<br />

ausreichend angesehen werden. Es ist zu<br />

beachten, dass es sich hier um Fälle handelt,<br />

in denen aus verschiedenen Indizien<br />

der »mutmaßliche Wille« des Patienten<br />

ermittelt werden soll. In Hinblick auf die<br />

für maßgeblich gehaltenen frühere Äußerungen<br />

und Überzeugungen des Patienten<br />

kann der behandelnde Arzt nur sehr selten<br />

etwas beitragen. Er wird im Wesentlichen<br />

auf das vertrauen müssen, was ihm der<br />

Betreuer vorträgt. Es ist deshalb zu erwarten,<br />

dass sich Betreuer und Arzt eher<br />

auf schwacher Tatsachenbasis über einen<br />

»mutmaßlichen Willen« des Patienten<br />

einigen werden. Eine gerichtliche Kontrolle<br />

findet dann nicht statt.<br />

10<br />

Brigitte Zypries, Bundesministerin für Justiz<br />

MISSBRAUCHSGEFAHR<br />

Soweit es sich bei den rechtlichen<br />

Vertretern um Angehörige des Patienten<br />

handelt, darf auch nicht übersehen werden,<br />

dass Interessenkonflikte auftreten<br />

können. Nahe Angehörige gehören meistens<br />

zum Kreis der potentiellen Erben<br />

und sind persönlich von dem Krankheitsfall<br />

betroffen - sei es, dass sie sich in der<br />

Betreuung und Pflege des Patienten selbst<br />

engagieren, sei es, dass sie »nur« in allgemeiner<br />

Form »mitleiden«. In beiden<br />

Fällen besteht die Gefahr, dass bei der<br />

Frage, was der »mutmaßliche Wille« des<br />

Patienten sein könnte, frühere Äußerungen<br />

und Einstellungen nicht immer nur<br />

objektiv betrachtet werden. Nicht die<br />

Sorge um den Betroffenen, sondern die<br />

Sorge um den Nachlass oder der Wunsch<br />

nach eigener Entlastung könnte hier die<br />

»Abkürzung« der Behandlung nahe legen.<br />

Hinzu kommt, dass die hier geforderten<br />

Entscheidungen irreversibel sind.<br />

Wird eine lebenserhaltende Maßnahme<br />

beendet, stirbt der Patient innerhalb von<br />

Minuten, Stunden oder Tagen. Gerade<br />

bei derartigen Entscheidungen sind hohe<br />

Anforderungen an die Sorgfalt bei der<br />

Entscheidungsfindung zu stellen. Es wäre<br />

grob fahrlässig, wenn der Gesetzgeber<br />

die genannten Aspekte vernachlässigen<br />

und die ohnehin zweifelhafte Rechtsfigur<br />

des »mutmaßlichen Willens« in der Praxis<br />

weitgehend der Alleinentscheidung entweder<br />

von Bevollmächtigten oder von<br />

Betreuern überlässt, denen der Arzt nicht<br />

widerspricht.<br />

Völlig unverständlich ist schließlich,<br />

dass der Bevollmächtigte nicht nur ohne<br />

gerichtliche Kontrolle agieren können<br />

soll, sondern nach dem Gesetzeswortlaut<br />

bei seinen Entscheidungen nicht einmal<br />

den »mutmaßlichen Willen« des Patienten<br />

berücksichtigen muss. Das heißt, dass<br />

der Bevollmächtigte sich willkürlich für<br />

oder gegen eine Weiterbehandlung entscheiden<br />

könnte. Selbst wenn alle Indizien<br />

für einen Willen zur Fortsetzung lebensverlängernder<br />

Maßnahmen sprechen, ja<br />

auch dann, wenn sogar eine Heilung<br />

möglich wäre, könnte der Bevollmächtigte<br />

die Behandlungsmaßnahmen abbrechen<br />

lassen!<br />

DPA<br />

FAZIT: SCHWERWIEGENDE MÄNGEL<br />

Zusammenfassend muss festgestellt<br />

werden, dass der Gesetzentwurf zur Regelung<br />

von Patientenverfügungen mit<br />

schwerwiegenden Mängeln behaftet ist:<br />

• Der Entwurf ist geprägt von einer weitgehenden<br />

Verabsolutierung der Selbstbestimmung.<br />

In der Theorie ist dem<br />

kaum zu widersprechen. Die Unwägbarkeiten<br />

der Praxis bei der Erstellung,<br />

Interpretation und Umsetzung von Patientenverfügungen<br />

mahnen aber eher<br />

zur Vorsicht. Patientenverfügungen<br />

stellen keine Garantie für ein menschenwürdiges<br />

Sterben dar. Es ist Aufgabe<br />

des Gesetzgebers, das Gesundheitswesen<br />

so zu organisieren, dass alle Patienten<br />

darauf vertrauen können, bei schweren<br />

Krankheitszuständen und in der<br />

Sterbephase würdig behandelt zu werden<br />

- egal, ob sie eine Patientenverfügung<br />

verfasst haben oder nicht.<br />

• Die Erhebung des »mutmaßlichen Willens«<br />

zum gesetzlich anerkannten Maßstab,<br />

der über Fortsetzung oder Abbruch<br />

lebenserhaltender Maßnahmen entscheidet,<br />

begegnet grundlegenden<br />

rechtlichen Bedenken.<br />

• Schließlich unterschreitet der Entwurf<br />

das gebotene Niveau des Lebensschutzes<br />

beim praktischen Umgang mit Patientenverfügungen<br />

und der Ermittlung<br />

des »mutmaßlichen Willens«. Gerade<br />

die Kombination von Mutmaßungen<br />

als Entscheidungsgrundlage und die<br />

Anerkennung einer Entscheidungskompetenz<br />

Einzelner (Bevollmächtigter oder<br />

Betreuer im Einvernehmen mit dem<br />

Arzt) ist ungeeignet, den Schutz des<br />

Lebens in Krankheit und Alter ausreichend<br />

zu gewährleisten.<br />

IM PORTRAIT<br />

Rainer Beckmann<br />

Der Medizinrechtsexperte Rainer Beckmann<br />

ist Sachverständiger der Enquete-<br />

Kommission »Ethik und Recht der modernen<br />

Medizin«<br />

des Deutschen<br />

Bundestages.<br />

Beckmann ist<br />

Richter am Amtsgericht<br />

und Stellvertretender<br />

Vorsitzender<br />

der Juristen-Vereinigung<br />

Lebensrecht (JVL) sowie Schriftleiter<br />

der »Zeitschrift für Lebensrecht« (ZfL).<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>


EUROPA<br />

EUROPAPARLAMENT<br />

Rocco Buttiglione<br />

Der Katholik gilt als enger Freund<br />

Papst Johannes Paul II. und als<br />

letzter Enkel der Gründungsväter<br />

der EU. 1948 in Gallipoli geboren,<br />

studierte er Jura, Geschichte und<br />

Philosophie. Außer Italienisch<br />

spricht er sechs weitere Sprachen:<br />

Deutsch, Englisch, Französisch,<br />

Polnisch, Portugiesisch und<br />

Spanisch. Als Professor lehrt er<br />

Philosophie, Politik und Ethik in<br />

Rom, Lublin und Liechtenstein.<br />

»Es gibt zu wenige Werte«<br />

Italiens EU-Minister Rocco Buttiglione ist konsequent. Im letzten Herbst verzichtete der 56jährige<br />

auf eine erneute Kandidatur als EU-Kommissar. Zuvor hatte ihm das EU-Parlament die Zustimmung<br />

für das Amt des Justizkommissars verweigert, da er keine Sonderrechte für Homosexuelle durchsetzen<br />

wollte. Für <strong>LebensForum</strong> sprach Tobias-B. Ottmar mit ihm über die Chancen für einen besseren<br />

Lebensschutz in Europa und darüber, wie sich der Kampf dafür erfolgreicher führen lässt.<br />

<strong>LebensForum</strong>: Aktive Sterbehilfe, Stammzellforschung<br />

und das Klonen werden vielerorts lautstark<br />

gefordert. Auch in Europa stehen ethische<br />

Grenzen zur Disposition. Lohnt es überhaupt noch,<br />

sich für den Lebensschutz einzusetzen und wenn<br />

ja, welche Chance räumen Sie dem ein?<br />

Buttiglione: Natürlich lohnt sich ein<br />

solcher Einsatz. Der Mensch kann heute<br />

in nie gekanntem Umfang über sich selbst<br />

bestimmen. Das ist gut, birgt jedoch insofern<br />

Risiken, als nicht alles, was machbar<br />

ist, auch ethisch zulässig ist. Viele Tugenden<br />

und Werte, die uns früher selbstverständlich<br />

schienen, sind heute bedroht<br />

und können nur überleben, wenn wir sie<br />

ganz bewusst praktizieren und leben. Wir<br />

leben in einer Zeit, in der wir für die<br />

Wahrheit Zeugnis ablegen müssen. Ich<br />

bin überzeugt, dass es sich daher mehr<br />

als in jedem anderen Zeitalter lohnt, für<br />

den Lebensschutz einzutreten.<br />

»Nicht alles, was machbar ist,<br />

ist auch ethisch zulässig.«<br />

Die FDP-Vorsitzende im Europaparlament, Silvana<br />

Koch-Mehrin, begründete Ihre Ablehnung<br />

unter anderem damit, ihre Äußerungen bei der<br />

Anhörung vor dem Parlament entsprächen nicht<br />

europäischen Wertegrundlagen. Was sind die europäischen<br />

Werte?<br />

Europa ist in dieser Frage tief gespalten.<br />

Früher herrschte immer Einigkeit<br />

darüber, was wir unter europäischen Werten<br />

verstehen. Nun müssen wir uns auseinander<br />

setzen. Das<br />

sollten wir akzeptieren!<br />

Dieses Europa ist nicht<br />

»unser« Europa. Aber<br />

es ist auch nicht das<br />

Europa unserer Gegner.<br />

Die Zukunft Europas<br />

hängt davon ab,<br />

wie wir unsere Position<br />

künftig in der Gesellschaft vertreten.<br />

Alle Werte werden derzeit in Frage<br />

gestellt. Es wäre aber falsch zu behaupten,<br />

sie seien schon gestorben. Die Wahl besteht<br />

nicht zwischen einem Europa nach<br />

unseren Wertevorstellungen oder einem,<br />

in dem keine Werte existieren. Die Wahl<br />

besteht vielmehr zwischen einem Europa,<br />

das Zukunft hat und überlebt, und einem,<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 11


EUROPA<br />

Buttigliones politische Heimat ist die UDC,<br />

Koalitionspartner von Berlusconis Forza Italia. Privat<br />

lebt er mit seiner Frau und vier Töchtern im römischen<br />

Stadtteil Parioli.<br />

das sich dem Ende zuneigt. Wir brauchen<br />

Kinder! Doch die Kultur unserer Gegner<br />

kann die Menschen nicht ermutigen, sich<br />

gegenseitig Vertrauen zu schenken, sich<br />

zu verlieben, zu heiraten, Kinder zu bekommen<br />

und zu erziehen. Daher finde<br />

ich es an sich auch nicht problematisch,<br />

dass Menschen moslemischen Glaubens<br />

in unsere durch die Kinderlosigkeit leeren<br />

Länder einwandern. Unser Problem ist<br />

nicht der Islam, sondern der Nihilismus!<br />

Wir sollten uns einmal fragen wie<br />

Europa wettbewerbsfähig bleiben kann,<br />

wenn unsere Jugend in der Schule für<br />

eine sozialistische Gesellschaft erzogen<br />

wird, die nie kommen wird? Oder wie<br />

wir wettbewerbsfähig bleiben können,<br />

wenn ihnen nicht mehr Tugenden wie<br />

Fleiß, Pflichtbewusstsein oder die Fähigkeit,<br />

sich aufzuopfern, beigebracht werden?<br />

Besteht die Lösung allein darin, im Bildungssystem<br />

anzusetzen?<br />

Wir müssen die Tugenden in den Mittelpunkt<br />

unserer Beziehungen stellen.<br />

Für ein wettbewerbsfähiges Europa ist es<br />

nötig, dass die menschliche Person eine<br />

vollendete Gestalt annimmt. Das ist aber<br />

nur möglich, wenn in der Erziehung echte<br />

Werte im Mittelpunkt stehen.<br />

Was verstehen Sie unter »echten Werten«?<br />

Als erstes die Würde der Person. Das<br />

ist der größte Wert, den wir auf der Welt<br />

12<br />

»Wir müssen die Tugenden in<br />

den Mittelpunkt stellen.«<br />

haben. Wir müssen lernen, Menschen als<br />

Personen zu respektieren und ihre Würde<br />

anzuerkennen.<br />

Gerade die Liberalen, die immer von Toleranz<br />

sprechen, haben Sie wegen ihrer Äußerungen zu<br />

Ehe, Familie, Abtreibung und Homosexualität heftig<br />

kritisiert. Sind Liberale in Wirklichkeit pseudotolerant?<br />

Der Begriff »liberal« ist zweideutig<br />

geworden. Ein Liberaler ist eigentlich<br />

ein Mensch, der zwischen Ethik und Politik<br />

unterscheidet und<br />

sich für die Meinungsfreiheit<br />

anderer aufopfert,<br />

auch wenn er<br />

selber nicht immer der<br />

Meinung der anderen<br />

ist. Einige Liberale,<br />

von denen mir wiederum<br />

manche ihre<br />

Solidarität bekundet haben, besitzen diese<br />

Einstellung noch. Es gibt aber auch eine<br />

Gruppe anderer, so genannter Liberaler.<br />

Sie sind im Grunde Vertreter einer neuen<br />

atheistischen Religion.<br />

Für sie gilt der Grundsatz:<br />

Es gibt nur eine<br />

Wahrheit, nämlich die,<br />

dass es keine Wahrheit<br />

gibt! All jene, die noch<br />

an feste Werte glauben,<br />

stellen aus ihrer Sicht<br />

eine Gefahr für die<br />

Demokratie dar. Ich bin dagegen der<br />

Meinung, dass für die Demokratie eine<br />

Gesellschaft viel gefährlicher ist, die sich<br />

keinen Werten verbunden fühlt. Das<br />

größte Problem der westlichen Demokratien<br />

besteht gerade darin, dass es zu wenige<br />

Werte gibt!<br />

Können sich Lebensrechtler noch politisch artikulieren,<br />

ohne von solchen »Liberalen« mundtot<br />

gemacht zu werden?<br />

ARCHIV<br />

Wir müssen verstehen, dass Werte<br />

auch im politischen Bereich geschützt<br />

werden müssen. Wir sollten uns nicht<br />

schämen, ganz klar und offen für unsere<br />

Positionen einzutreten. Am Tag der Anhörung<br />

vor dem europäischen Parlament<br />

war ich für einen Moment der Ansicht,<br />

ich sei womöglich der letzte Christ in<br />

Europa. Aber ich habe sofort gemerkt,<br />

dass dies natürlich falsch war. Nach der<br />

Kritik an mir und meinen Äußerungen<br />

habe ich so viele Solidaritätsbekundungen<br />

bekommen, dass ich nun denke, dass wir<br />

eigentlich die große Mehrheit darstellen.<br />

Allerdings sind wir eine schlafende Mehrheit!<br />

Unsere Gegner sind zwar viel weniger,<br />

aber besser organisiert und vernetzt.<br />

Wir müssen in Europa dasselbe tun und<br />

eine gemeinsame Bewegung für den<br />

Schutz der Grundwerte aufbauen!<br />

Hat die Pro-Life-Bewegung in den letzten Jahren<br />

nicht auch selbst Wichtiges versäumt? Oder:<br />

Was müsste sich ändern, um erfolgreicher zu sein?<br />

»Das größte Problem besteht<br />

gerade darin, dass es zu wenige<br />

Werte gibt«<br />

Die Pro-Life-Bewegung hat zwar in<br />

den letzten Jahren viel geleistet, allerdings<br />

ist dies noch nicht tief genug in das Bewusstsein<br />

unserer Völker eingedrungen.<br />

Wir müssten hier noch viel mehr unternehmen.<br />

Ein Beispiel: Die EU-Kommission<br />

handelt immer im Dialog mit<br />

den Bürgern, die von NGOs (Nichtregierungsorganisationen)<br />

vertreten werden.<br />

Es gibt zwar eine große Anzahl christlicher<br />

Organisationen, die mitunter Millionen<br />

von Mitgliedern besitzen, aber auf europäischer<br />

Ebene gar nicht repräsentiert<br />

werden. Sie sind auch gar nicht bemüht,<br />

sich einzumischen. Gleichzeitig stelle ich<br />

fest, dass Organisationen mit viel weniger<br />

Mitgliedern auf europäischer Ebene stark<br />

vertreten sind. Diese prägen das Bild der<br />

EU-Gesetzgebung, weil sie der EU-Kommission<br />

als Gesprächspartner zur Verfügung<br />

stehen. Wir können uns über diesen<br />

Zustand nicht beklagen, da die Hauptverantwortung<br />

bei uns liegt.<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>


Die neuen EU-Länder Polen und Malta sind in<br />

der Abtreibungsfrage sehr konsequent. Fürchten<br />

Sie, dass diese Länder früher oder später ihre Gesetzgebung<br />

liberalisieren werden? Oder werden<br />

diese Länder einen positiven Einfluss auf Länder<br />

ausüben, die bislang über sehr liberale Abtreibungsgesetze<br />

verfügen?<br />

Fragen zur Familie, Ehe und dem<br />

Schutz des Lebens sollten nicht auf europäischer<br />

Ebene entschieden werden. Diese<br />

Themen müssen, wie es auch in der<br />

EU-Verfassung steht, im Kompetenzbereich<br />

der Mitgliedsstaaten verbleiben. Ich<br />

denke, dass der Kampf für das Lebensrecht<br />

auf der nationalen Ebene geführt<br />

werden sollte, obwohl derart konsequente<br />

Haltungen natürlich auch Auswirkungen<br />

auf andere Länder haben können. Andererseits<br />

müssen wir uns auch auf internationaler<br />

Ebene gemeinsam dafür einsetzen,<br />

dass diesen Ländern von Brüssel,<br />

entgegen der Verfassung, kein bestimmtes<br />

Familienbild aufgezwungen wird.<br />

»Menschliches Leben zu<br />

zerstören, ist grundsätzlich<br />

abzulehnen.«<br />

Besteht Gefahr, dass sich die EU künftig vermehrt<br />

in ethische Fragen einmischt?<br />

Ja, die Gefahr besteht, weil es eine<br />

mächtige Lobby gibt, die das zum Ziel<br />

hat. Ich glaube zwar nicht, dass sie eine<br />

Mehrheit im Parlament bekommen wird.<br />

Trotzdem ist es möglich, dass sie ihr Ziel<br />

erreicht, wenn wir keine Kampfbereitschaft<br />

zeigen.<br />

Unlängst wurde bekannt,<br />

dass die EU die Vergabe<br />

von Entwicklungsgeldern<br />

an eine Liberalisierung<br />

des Abtreibungsrechts in<br />

den betreffenden Ländern<br />

geknüpft hat. Wie ist so etwas<br />

möglich?<br />

Ich habe den Eindruck, dass sich in<br />

diesem Fall einige Stellen der Brüsseler<br />

Bürokratie dafür eingesetzt haben, die<br />

nicht in der öffentlichen Diskussion stehen.<br />

Wir sollten diese Diskussion in allen<br />

Ländern führen. Die Bürger sollten gerade<br />

in Fragen der Familienpolitik mehr<br />

Mitbestimmungsrechte bekommen. Ich<br />

habe nie genau verstanden, wer über<br />

dieses Verfahren entschieden hat.<br />

Ende letzten Jahres scheiterte auf UN-Ebene<br />

ein Antrag, der ein vollständiges Verbot des Klonens<br />

vorsah. Können wir zumindest auf eine EUweite<br />

Regelung hoffen?<br />

Wir können darauf hoffen, da wir bereits<br />

vor einigen Jahren im Europaparlament<br />

das reproduktive Klonen verboten<br />

haben. Was das Klonen zu Forschungszwecken<br />

betrifft, so denke ich, dass die<br />

Entwicklung, welche die Forschung<br />

nimmt, unseren Bemühungen helfen wird.<br />

Die besten Erfolge werden schließlich<br />

bei der Forschung mit adulten Stammzellen<br />

verzeichnet.<br />

Sie lehnen es ab, verwaiste Embryonen zur<br />

Forschung freizugeben?<br />

EUROPAPARLAMENT<br />

Menschliches Leben zu zerstören, ist<br />

grundsätzlich abzulehnen. Ich hätte nichts<br />

dagegen, wenn an Embryonen geforscht<br />

würde, die bereits tot sind, falls dies dem<br />

Fortschritt dient. Aber das menschliche<br />

Leben <strong>–</strong> also auch lebende Embryonen<br />

<strong>–</strong> soll unangetastet bleiben! Ich persönlich<br />

kann zwar nicht mit absoluter Sicherheit<br />

sagen, dass der Embryo bereits ein<br />

Mensch ist, andererseits kann aber auch<br />

niemand mit absoluter Sicherheit sagen,<br />

dass der Embryo kein Mensch ist. Um<br />

einen Embryo zu schützen oder zu retten,<br />

genügt der Zweifel. Um einen Embryo<br />

töten zu dürfen, müssten wir schon absolut<br />

sicher sein, dass es sich um keinen Mensch<br />

handelt.<br />

Vielen Dank für das Gespräch.<br />

13


EUROPA<br />

Dialog oder Widerstand<br />

In Österreich drängt die SPÖ vehement auf die »Absicherung und Ausweitung« eines vermeintlichen<br />

»Rechts auf Abtreibung«. Energischen Widerstand leisten nur noch Lebensrechtler. Ausgerechnet<br />

ihnen fiel jetzt der Erzbischof von Wien öffentlich in den Rücken.<br />

Von Stephan Baier<br />

Als im österreichischen Bundesland<br />

Salzburg die Sozialdemokraten<br />

im Februar 2004 nach<br />

mehr als einem halben Jahrhundert<br />

christdemokratischer Dominanz stärkste<br />

Partei wurden, da verschoben sich die<br />

politischen Prioritäten. Die neue Landeshauptfrau<br />

(Ministerpräsidentin) Gabi<br />

Burgstaller (SPÖ) beeilte sich zu erklären,<br />

dass sie Abtreibungen an den öffentlichen<br />

Krankenhäusern Salzburgs ermöglichen<br />

wolle. Es sei »menschenunwürdig«, dass<br />

Frauen bis nach Wien fahren müssten<br />

oder in den Untergrund getrieben würden,<br />

meinte die neue Landeschefin. Und<br />

es sei »unmoralisch«, eine Abtreibung<br />

privat in Ordnung zu finden, öffentlich<br />

aber nicht, sagte Burgstaller, nachdem<br />

eine private Abtreibungspraxis wegen<br />

hygienischer Beanstandungen geschlossen<br />

wurde.<br />

Der kleinere Koalitionspartner auf<br />

Landesebene, die eben entmachtete<br />

christdemokratische ÖVP, stemmte sich<br />

vehement gegen das Ansinnen: »Wenn<br />

nicht einmal die Mutter-Kind-Station in<br />

den Landeskliniken aufrechterhalten werden<br />

kann, dann kann es nicht Aufgabe<br />

der öffentlichen Hand sein, Schwangerschaftsabbrüche<br />

kostenlos oder günstig<br />

zu finanzieren«, so Salzburgs ÖVP-<br />

Vorsitzender Wilfried Haslauer noch im<br />

August. Haslauer bekam zwar Rückendeckung<br />

vom Salzburger Erzbischof Alois<br />

Kothgasser, der meinte, »solchem Unrecht<br />

zu wehren, muss das gemeinsame<br />

Anliegen sein«, doch die eigene Bundespartei<br />

fiel Haslauer in den Rücken. Frauen-<br />

und Gesundheitsministerin Maria<br />

Rauch-Kallat, vormals Generalsekretärin<br />

der ÖVP, teilte ihrem Parteifreund via<br />

Medien mit: »Ich bekenne mich eindeutig<br />

zur Fristenlösung. Sie soll nicht unterhöhlt<br />

und nicht neu diskutiert werden.«<br />

Eine Eskalation im Salzburger Abtreibungsstreit<br />

schien im Sommer unvermeidbar:<br />

Haslauer drohte, die ÖVP könne<br />

14<br />

Jutta Lang, Vorsitzende der »Jugend für das Leben«<br />

das Thema der Abtreibungen in Landeskrankenhäusern<br />

»zur Koalitionsfrage<br />

machen«. Burgstaller konterte: »Wir sind<br />

nicht zu dieser Koalition verpflichtet und<br />

wir sind nicht darauf angewiesen.« Erzbischof<br />

Kothgasser lud zu einem »Runden<br />

Tisch«, sparte aber auch nicht an klaren<br />

Worten: »Die Tötung menschlichen Lebens,<br />

vor allem<br />

des ungeborenen,<br />

am meisten<br />

schutzbedürftigen<br />

Lebens, ist<br />

schwerstes Unrecht.<br />

Wer im<br />

Staat für Recht<br />

zu sorgen hat,<br />

kann doch nicht<br />

zum Verfechter<br />

oder gar Förderer<br />

des Unrechts<br />

werden.<br />

Die Verantwortung<br />

ist groß <strong>–</strong> vor Gott und vor dem<br />

Leben.«<br />

Ende September meinte der Erzbischof,<br />

an seinem »Forum Neues Leben«<br />

genannten Runden Tisch einen Durch-<br />

JUGEND FÜR DAS LEBEN<br />

JUGEND FÜR DAS LEBEN<br />

bruch erreicht zu haben: »Wir müssen<br />

alle Möglichkeiten nutzen, um den in<br />

Not geratenen schwangeren Müttern die<br />

notwendige Hilfe anzubieten.« Keine<br />

Einigkeit gab es jedoch in der eigentlich<br />

heißen Frage. Binnen weniger Wochen<br />

unterschrieben 15.000 Salzburger Bürger<br />

gegen Burgstallers Pläne, doch diese weigerte<br />

sich, die Unterschriften auch nur<br />

entgegen zu nehmen. Anfang Dezember<br />

erteilte Landeshauptfrau Burgstaller die<br />

Weisung, ab 1. April <strong>2005</strong> an den Landesspitälern<br />

Abtreibungen durchzuführen.<br />

Stein des Anstoßes: Der Weihnachts-Cartoon der »Jugend für das Leben«<br />

Die »Jugend für das Leben«, eine<br />

Lebensschutzbewegung christlicher junger<br />

Idealisten, setzte nun auf die Mobilisierung<br />

der öffentlichen Meinung. Jutta<br />

Lang wandte sich mit einem offenen Brief<br />

an 70.000 Salzburger Haushalte: »Die<br />

SPÖ ist der Meinung, eine Abtreibung<br />

müsse billig und schnell vor sich gehen.<br />

Als Vorsitzende der ›Jugend für das Leben‹,<br />

einer Organisation, welche für das<br />

Recht auf Leben aller Menschen eintritt,<br />

betroffenen Frauen hilft und Jugendliche<br />

über Alternativen informiert, kann ich<br />

nicht tatenlos zusehen.« Dem Brief lagen<br />

eine sachliche Information über die Entwicklung<br />

des ungeborenen Kindes, Adressen<br />

von Hilfsstellen sowie ein Cartoon<br />

bei.<br />

Wenige Tage vor Weihnachten folgten<br />

300 Salzburgerinnen und Salzburger dem<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>


Kardinal Christoph Schönborn, Erzbischof von Wien<br />

Aufruf der »Jugend für das Leben« zu<br />

einer Lichterkette vor dem Salzburger<br />

St. Johann-Spital. Weihbischof Andreas<br />

Laun erklärte in einer kurzen Rede, die<br />

Landeshauptfrau würde im ganzen Land<br />

an Ansehen gewinnen, wenn sie von ihrem<br />

Anliegen Abstand nehmen würde. Die<br />

Menschenrechte müssten auch für die<br />

Ungeborenen gelten: »Wir möchten allen<br />

Frauen, die die Versuchung abzutreiben<br />

spüren, Mut zu ihrem Kind machen. Wir<br />

möchten allen sagen: Gott ist ein Gott<br />

des Lebens. Wir möchten alle erinnern:<br />

Dieses Spital wurde von einem Bischof<br />

gegründet, um dem Leben zu dienen.<br />

Wir müssen alles tun, damit es nicht eine<br />

Stätte wird, an der getötet wird.« Jutta<br />

Lang sagte bei der wenig provokativen<br />

Lichterkette, an der auch einige Kinder<br />

teilnahmen: »Abtreibung ist keine Dienstleistung.<br />

Abtreibung ist der sichere Tod<br />

eines unschuldigen Kindes. Sie ist das<br />

Ende der Zukunft unserer Gesellschaft.«<br />

Außer rund 50 Gegendemonstranten,<br />

die unter Gejohle und Trillerpfeifenlärm<br />

skandierten, Abtreibung sei ein Frauenrecht<br />

<strong>–</strong> auch der Spruch »Hätte Maria<br />

abgetrieben, wärt ihr uns erspart<br />

geblieben« war wieder zu hören <strong>–</strong>, fühlte<br />

sich auch Landeshauptfrau Burgstaller<br />

provoziert. Sie hatte den Verein gebeten,<br />

die Demonstration abzusagen, weil zeitgleich<br />

im Krankenhaus eine Weihnachtsfeier<br />

stattfinde. Die »Jugend für das<br />

Leben« lehnte dies ab: »Echter Weihnachtsfriede<br />

kann erst dann einkehren,<br />

wenn auch für unsere wehrlosesten und<br />

kleinsten Mitbürger die weiße Fahne<br />

gehisst wird.«<br />

Überraschend äußerte aber auch der<br />

Vorsitzende der Österreichischen Bischofskonferenz<br />

und Erzbischof von<br />

ARCHIV<br />

Wien, Kardinal Christoph Schönborn,<br />

öffentliche Kritik am Vorgehen der<br />

»Jugend für das Leben«. Im ORF-<br />

Mittagsjournal meinte der Kardinal am<br />

23. Dezember, er halte den »Aktionismus«,<br />

den manche Gruppen im Konflikt<br />

um Abtreibungen an Salzburger Landeskrankenhäusern<br />

an den Tag legten, »für<br />

ganz und gar nicht zielführend«. Polemik<br />

sei »nicht hilfreich«, sagte Kardinal<br />

Schönborn, der zu einer »Koalition der<br />

Besonnenen« in der Abtreibungsfrage<br />

aufrief. Schönborn, der die »Jugend für<br />

das Leben« bisher stets unterstützt hatte,<br />

begründete seine Kritik so: Erzbischof<br />

Kothgasser habe mit der Einladung zu<br />

einem Runden Tisch »den genau richtigen<br />

Weg« gezeigt«. Dies solle Vorbild<br />

für konstruktive Gespräche in anderen<br />

Bundesländern und auf Bundesebene sein,<br />

»denn hier geht es um die Zukunft unseres<br />

Landes«.<br />

Am Fest des Erzmärtyrers Stephanus,<br />

das im Vorjahr mit dem Fest der Heiligen<br />

Familie zusammenfiel, ging Kardinal<br />

Schönborn in seiner Predigt im Stephansdom<br />

zu Wien noch einmal auf die Aktion<br />

der »Jugend für das Leben« ein: »Ich bin<br />

allen dankbar, den vielen, die sich dafür<br />

einsetzen, dass Lebensschutz vom Anfang<br />

des Lebens bis zum letzten Atemzug kein<br />

leeres Wort ist. Wenn ich auch vor kurzem<br />

etwas kritisch über junge Leute gesprochen<br />

habe, die manchmal übers Ziel schießen<br />

in ihrem Eifer für den Lebensschutz,<br />

so anerkenne ich doch das viele Gute, das<br />

gerade auch junge Menschen in unserem<br />

Land tun, damit das Leben geschützt sei.<br />

Aber, all das erfordert die Liebe, die<br />

Wahrheit in Liebe tun.«<br />

ÖVP KNICKT IM STREIT UM ABTREIBUNG<br />

IN LANDESKRANKENHÄUSERN EIN<br />

Ein Kolumnist der linksliberalen Tageszeitung<br />

»Der Standard«, Hans Rauscher,<br />

spendete Kardinal Schönborn Applaus:<br />

Es sei »wichtig, dass Kardinal<br />

»Seine Aussagen spüren wir wie Steine,<br />

die uns vor die Füße geworfen wurden.«<br />

Jutta Lang, JfdL-Vorsitzende<br />

Schönborn jetzt die agitatorischen Umtriebe<br />

der Fundamentalisten im Zusammenhang<br />

mit der Debatte um Abtreibungen<br />

in den Salzburger Landeskrankenhäusern<br />

abgelehnt hat«. Die Vorsitzende<br />

der »Jugend für das Leben«, Jutta<br />

Lang, zeigte sich dagegen betroffen:<br />

Ȇber die Medien forderte uns der Kardinal<br />

auf, wir sollten die ›Wahrheit in<br />

Liebe‹ verkünden. In den Augen vieler<br />

kommt das dem Urteil gleich: ›Ihr habt<br />

die Liebe nicht.‹ (...) Ich zweifle nicht an<br />

der guten Absicht des Kardinals, aber<br />

seine Aussagen spüren wir wie Steine, die<br />

uns vor die Füße geworfen wurden.«<br />

»All das erfordert die Liebe,<br />

die Wahrheit in Liebe tun.«<br />

Kardinal Christoph Schönborn<br />

Die »konstruktiven Gespräche« mit<br />

den »Besonnenen«, die Parallele zum<br />

Salzburger »Runden Tisch« von Erzbischof<br />

Kothgasser auf Bundesebene sieht<br />

der Vorsitzende der Österreichischen<br />

Bischofskonferenz offenbar durch<br />

»Aktionismus« und »Polemik« gefährdet.<br />

Das Ziel eines Gesprächskreises auf Österreich-Ebene<br />

ist nicht die Abschaffung<br />

der vor genau 30 Jahren in Kraft getretenen<br />

Fristenregelung. Die kirchenamtliche<br />

Nachrichtenagentur »Kathpress« stellte<br />

am 23.12.2004 klar: »Es gehe nicht darum,<br />

Strafen für verzweifelte Frauen zu<br />

fordern, sagte Schönborn. Die seit der<br />

Ära Kreisky versprochenen flankierenden<br />

Maßnahmen zur Vermeidung von Abtreibungen<br />

seien leider nie verwirklicht worden.«<br />

Im Gegensatz zu Deutschland gibt es<br />

in Österreich weder eine offizielle Abtreibungsstatistik<br />

noch Motivforschung oder<br />

verpflichtende Beratung. Der ÖVP-<br />

Politikerin Sissi Potzinger gelang es immerhin,<br />

solches nun in einem offiziellen<br />

Arbeitskreis des österreichischen Sozialministeriums<br />

(tatsächlich an einem<br />

»Runden Tisch«, mit Vertretern aller<br />

Parteien) zur Forderung zu machen.<br />

Wörtlich heißt es in dem<br />

nicht rechtsverbindlichen<br />

Thesenpapier: »Mehr<br />

behutsame, sorgfältige<br />

und sensible Information<br />

in Beratungs- und Betreuungseinrichtungen<br />

wird ebenso gefordert, wie<br />

eine vertiefende Forschung<br />

(Motiv-Forschung, Statistik, Akzeptanz<br />

in der Praxis) als Begleitmaßnahmen<br />

zur Fristenregelung. Weitere<br />

Forderungen: Der medizinisch beratende<br />

Arzt sollte nicht der abtreibende Arzt<br />

sein, Verpflichtung des Arztes zum Hin-<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 15


EUROPA<br />

weis auf eine kostenlose psychosoziale<br />

Beratung, drei Tage ›Nachdenkpause‹<br />

nach der Beratung. Es soll kein Druck<br />

auf die Frau aufgeübt werden, sondern<br />

Rat und Hilfe und eine Entlastung für<br />

die Frau sowie eine Chance für das ungeborene<br />

Leben geschaffen werden.«<br />

BISCHÖFE FAVORISIEREN FLANKIERENDE<br />

MAßNAHMEN ZUR FRISTENREGELUNG<br />

Der Forderung nach solchen »flankierenden<br />

Maßnahmen« haben sich mittlerweile<br />

viele kirchliche Kreise angeschlossen,<br />

etwa der Pastoralrat der Erzdiözese<br />

Wien und der Diözesanrat von<br />

Graz. Ob <strong>–</strong> nachdem keine politische<br />

300 Bürger demonstrieren in Salzburg gegen Abtreibung<br />

Partei an der Fristenregelung als solcher<br />

rütteln will <strong>–</strong> zumindest diese Maßnahmen<br />

politisch durchsetzbar sind, ist fraglich.<br />

»Hätte Maria abgetrieben,<br />

wärt ihr uns erspart geblieben!«<br />

Salzburger Abtreibungsaktivisten<br />

16<br />

Tatsache ist, dass sich in den nun schon<br />

fünf Jahren einer nicht-sozialistischen<br />

Regierung (aus ÖVP und FPÖ) in der<br />

Abtreibungsfrage nichts bewegt hat.<br />

Obwohl Bundeskanzler Wolfgang<br />

Schüssel Österreich »zum kinderfreundlichsten<br />

Land Europas« zu machen versprochen<br />

und auch tatsächlich familienpolitische<br />

Verbesserungen durchgesetzt<br />

hat, obwohl die Kanzlerpartei ÖVP vor<br />

drei Jahrzehnten gegen die Einführung<br />

der Fristenregelung war, konnten nicht<br />

einmal kleine Fortschritte erzielt werden.<br />

So wurde etwa die zusätzliche Diskriminierung<br />

behinderter Ungeborener, die<br />

bis zur Geburt im Mutterleib straffrei<br />

getötet werden können, von ÖVP-<br />

Politikern zwar mehrfach skandalisiert,<br />

aber nicht aufgehoben.<br />

Ob auch die derzeit oppositionelle<br />

SPÖ zu Kardinal Schönborns »Koalition<br />

der Besonnenen« etwas beitragen kann,<br />

ist noch zweifelhafter. Immerhin sprach<br />

sich der jüngste SPÖ-Parteitag im November<br />

2004 für die »Absicherung und<br />

Ausweitung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch«<br />

aus. Die SPÖ forderte<br />

Bannmeilen um Abtreibungskliniken, um<br />

abtreibungswillige Frauen vor dem<br />

»Psychoterror« der Lebensschützer zu<br />

schützen. Wörtlich meinte die<br />

Frauensprecherin der Sozialistischen<br />

Jugend (SJÖ), Stefanie<br />

Vasold: »All jenen, die<br />

fordern, das Recht auf<br />

Schwangerschaftsabbruch<br />

abzuschaffen oder einzuschränken,<br />

sei gesagt, dass das<br />

mit der SPÖ nicht zu machen<br />

ist.«<br />

Im Dezember brachten<br />

mehrere SPÖ-Abgeordnete<br />

einen Antrag im Parlament<br />

ein, in dem sie »die Errichtung<br />

von Schutzzonen um<br />

Abtreibungskliniken« fordern.<br />

Geschützt werden sollen also<br />

nicht mehr die ungeborenen<br />

Kinder vor dem Abtreibungstod,<br />

sondern die Abtreibungsindustrie<br />

vor den Lebensschützern.<br />

In dem SPÖ-Antrag, der demnächst<br />

im Innenausschuss des Nationalrats behandelt<br />

werden wird, heißt es wörtlich:<br />

»Die mehr als fragwürdigen Methoden<br />

der selbsternannten ›Lebensschützer‹<br />

sind: Einschüchterung, bewusste Falschinformation,<br />

Belagerung, Gerichtsverfahren<br />

gegen VerteidigerInnen des Schwangerschaftsabbruchs<br />

bis hin zu Morddrohungen<br />

gegen ÄrztInnen, die Abtreibungen<br />

vornehmen.«<br />

JUGEND FÜR DAS LEBEN<br />

STATT SCHUTZ FÜR UNGEBORENE KINDER<br />

SCHUTZ FÜR ABTREIBUNGSKLINIKEN<br />

Und so beschreiben die SPÖ-Parlamentarierinnen<br />

den »ständigen Terror«<br />

der Lebensschützer in Wien: »Vor der<br />

Klinik am Wiener Fleischmarkt ist tagtäglich<br />

ein Aktivist von Human Life International<br />

(HLI) postiert, betend mit<br />

einem Rosenkranz. Andere Mitarbeiter<br />

von HLI sind in einigen Metern Entfernung<br />

der Klinik aufgestellt und belästigen<br />

alle Frauen, die an der Klinik vorbeigehen,<br />

egal ob sie auf dem Weg in die Klinik<br />

sind oder nicht. Es werden Plastikföten<br />

verteilt und Folder mit abstoßenden,<br />

blutigen Bildern. Die Abtreibungsgegner<br />

versuchen die Frauen zu überreden, in<br />

ihr ›Lebenszentrum‹ mitzukommen, das<br />

gleich um die Ecke der Klinik liegt.«<br />

Die österreichischen Sozialdemokraten<br />

haben nicht den Schutz der ungeborenen<br />

Kinder im Blick, sondern den Schutz der<br />

Abtreibungsindustrie. Damit sie ungestört<br />

arbeiten (also töten und verdienen) kann,<br />

»Ich bekenne mich eindeutig<br />

zur Fristenregelung.«<br />

Gesundheitsministerin Maria Rauch-Kallat<br />

bedarf es anscheinend eines strafrechtlich<br />

»geschützten Rahmens«, einer Zone mit<br />

eingeschränkter Demonstrations- und<br />

Meinungsfreiheit. Wörtlich heißt es in<br />

dem SPÖ-Antrag: »Wenn eine Frau die<br />

Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch<br />

getroffen hat, gebührt ihr Schutz,<br />

damit sie diese rechtmäßige Entscheidung<br />

auch ohne psychische und physische Gefährdung<br />

durch selbsternannte ›Lebensschützer‹<br />

umsetzen kann.« Vom Schutz<br />

der ungeborenen Kinder vor der garantiert<br />

tödlichen Gefährdung durch die<br />

Abtreibungsindustrie und ihre politische<br />

Lobby ist hier keine Rede.<br />

IM PORTRAIT<br />

Stephan Baier<br />

Der Autor, 1965 in Roding (Bayern) geboren,<br />

ist Österreich- und Europa-<br />

Korrespondent der überregionalen katholischen<br />

Tageszeitung »Die Tagespost«.<br />

Nach dem<br />

Studium der Theologie<br />

in Regensburg,<br />

München und<br />

Rom arbeitete er<br />

zunächst als Pressesprecher<br />

für die<br />

Diözese Augsburg, dann fünf Jahre lang<br />

als Pressesprecher und Parlamentarischer<br />

Assistent für Otto von Habsburg<br />

im Europäischen Parlament. Baier, Autor<br />

mehrerer Sachbücher, ist verheiratet<br />

und Vater von fünf Kindern. Ende letzten<br />

Jahres erschien im Aachener MM-<br />

Verlag sein jüngstes Werk: »Kinderlos<br />

<strong>–</strong> Europa in der demographischen Falle«<br />

(Vgl. Rezension im Bücherforum).<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>


EUROPA<br />

»Walk the talk«<br />

Als Vorsitzender des »Diözesankomitees der Katholischen Organisationen in der Steiermark« (DKO)<br />

setzt sich der österreichische Unternehmensberater Andreas Kirchmair unermüdlich für den Schutz<br />

menschlichen Lebens ein. Stephan Baier sprach mit ihm für <strong>LebensForum</strong> über die Versäumnisse von<br />

Politik und Kirche in der Abtreibungsfrage.<br />

<strong>LebensForum</strong>: Die SPÖ will in Salzburg Abtreibungen<br />

an Landeskrankenhäusern, die ÖVP wollte<br />

dies als kleinerer Koalitionspartner verhindern.<br />

Warum blieb die ÖVP nicht konsequent?<br />

Andreas Kirchmair: Ich bin Unternehmensberater,<br />

kein Politiker und daher<br />

nur ein interessierter Beobachter des<br />

politischen Geschehens in Salzburg. Mir<br />

ist aufgefallen, dass sich die ÖVP-Bundespartei<br />

nach deren ersten mutigen Auftreten<br />

sofort von Haslauer distanzierte.<br />

Sie wollte die Fristenregelung auf keinen<br />

Fall in Frage stellen und sie tut sich auch<br />

schwer, da in mehreren ÖVP-dominierten<br />

Bundesländern seit vielen Jahren Abtreibungen<br />

ungeborener Kinder in Landeskrankenhäusern<br />

klaglos erfolgen. Ganz<br />

wenige ÖVP-Politiker reden noch über<br />

den Lebensschutz. Die ÖVP hat selbst<br />

als großer Koalitionspartner in der Bundesregierung<br />

enttäuschenderweise seit<br />

fünf Jahren politisch nichts verändert und<br />

ist in der Argumentation der 70er Jahre<br />

stecken geblieben. So blieb Haslauer ohne<br />

Rückhalt und kapitulierte.<br />

Salzburgs Erzbischof Alois Kothgasser lud alle<br />

Beteiligten zu einem »Runden Tisch«. Was hat er<br />

damit erreicht?<br />

Am Beginn sicher eine gewisse mediale<br />

Aufmerksamkeit; weitere Ergebnisse sind<br />

mir bisher nicht bekannt. Salzburgs SPÖ-<br />

Landeshauptfrau Gabi Burgstaller hat<br />

das nicht beeindruckt. Sie hat parallel in<br />

aller Stille ihren eigenen »Runden Tisch«<br />

installiert, um am Salzburger Landeskrankenhaus<br />

eine Abtreibungsstation mit Wiener<br />

Ärzten aufzubauen.<br />

Die »Jugend für das Leben« hat mit Aufsehen<br />

erregenden Aktionen gegen die SPÖ-Pläne protestiert.<br />

Waren diese Aktionen sinnvoll, und waren<br />

sie erfolgreich?<br />

Diese Aktionen waren alle großartig,<br />

wie vieles, was »Jugend für das Leben«<br />

für Kirche und Gesellschaft leistet. Man<br />

darf nicht vergessen, dass es der Salzburger<br />

Landeshauptmann<br />

Lechner war, der vor 30<br />

Jahren (zwar erfolglos)<br />

Einspruch beim Verfassungsgerichtshof<br />

gegen das<br />

Gesetz der Fristenregelung<br />

eingelegt hat. Die Mehrheit<br />

der Salzburger Bevölkerung<br />

war immer und ist gegen<br />

Abtreibungen an Landeskrankenhäusern<br />

und die<br />

Aktionen von »Jugend für<br />

das Leben« und anderen<br />

Lebensschutzgruppen haben<br />

daher gute Resonanz<br />

gefunden.<br />

Der Vorsitzende der Österreichischen<br />

Bischofskonferenz,<br />

Kardinal Christoph Schönborn,<br />

kritisierte die »Jugend für das<br />

Leben«. Aktionismus und Polemik<br />

seien nicht hilfreich, meinte er.<br />

Teilen Sie diese Kritik?<br />

Bei aller Wertschätzung<br />

für den Herrn Kardinal:<br />

Diese Kritik teile ich überhaupt<br />

nicht. Es ist schwer<br />

zu verstehen, dass weite<br />

Teile der österreichischen Kirche schweigen,<br />

wenn »christliche« Politikerinnen<br />

die Entscheidungsfreiheit der Mütter bei<br />

Abtreibungen unterstützen; schweigen,<br />

wenn der Bundesparteitag der SPÖ das<br />

»Recht auf Abtreibung« Ungeborener<br />

bis zur Geburt einstimmig beschließt;<br />

schweigen zum internationalen Abtreibungsärztekongress<br />

in Wien. Dafür kritisieren<br />

sie immer wieder öffentlich katholische<br />

Lebensschützer. Auf mich wirkt<br />

das wie ein Ventil für eigenes schlechtes<br />

Gewissen.<br />

Wie sehr hat die öffentliche Kritik des Kardinals<br />

den Anliegen des Lebensschutzes geschadet?<br />

STEPHAN BAIER<br />

Andreas Kirchmaier tritt für den Schutz menschlichen Lebens ein<br />

Sie hat dem Anliegen nur oberflächlich<br />

geschadet, glaube ich, zeigt sie doch nur,<br />

dass die Kirche in der Frage des Lebensschutzes<br />

heute uneins ist, der Streit gehört<br />

daher zunächst innerhalb der Kirche geführt.<br />

In einem Punkt hat der Herr Kardinal<br />

nämlich völlig recht: Die Worte des<br />

Heiligen Vaters in Wien, »die Wahrheit<br />

in Liebe zu verkünden«, sollte Maßstab<br />

für alle Katholiken sein. Ob die österreichische<br />

Kirche das in der Frage der Abtreibung<br />

selbst immer getan hat, das sollte<br />

sie jetzt einmal ehrlich und gewissenhaft<br />

erforschen. Aus dieser Gewissenserforschung<br />

erhoffe ich mir neue und größere<br />

Impulse für den Lebensschutz.<br />

Kardinal Schönborn will in der Abtreibungsfrage<br />

eine »Koalition der Besonnenen«. Wer könnte<br />

damit gemeint sein?<br />

Ich spekuliere ungern. Allein in den<br />

letzten 30 Jahren sind in Österreich ein<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 17


EUROPA<br />

bis zwei Millionen ungeborene Kinder<br />

legal getötet worden. Für Kardinal Schönborn<br />

wird sich die Frage stellen, ob nicht<br />

die, die sich besonnen nennen, eine Mitverantwortung<br />

für die heutige Misere<br />

tragen, und wer wirklich etwas zu einer<br />

nachhaltigen Lösung beitragen kann.<br />

Viele Bischöfe und kirchliche Kreise wollen in<br />

Österreich nun »flankierende Maßnahmen« durchsetzen,<br />

wie sie in Deutschland bestehen. Was erwarten<br />

Sie sich davon?<br />

Österreich hat eines der »liberalsten«<br />

Abtreibungsgesetze in ganz Westeuropa,<br />

daher ist bei uns die Überlebensrate Ungeborener<br />

so niedrig und der Handlungsbedarf<br />

besonders groß. Alle Schritte, die<br />

der Abtreibung von Kindern entgegenwirken,<br />

sind Fortschritte. Die flankierenden<br />

Maßnahmen können ein erster Schritt<br />

sein, aber es muss sich auch das öffentliche<br />

Bewusstsein ändern, denn das schlechte<br />

Gewissen der ganzen Gesellschaft lastet<br />

wie ein bleierner Mantel auf diesem Thema.<br />

Wenn ein Kind nicht nach Hause<br />

kommt, rückt das ganze Dorf aus, um es<br />

zu suchen, wenn über eine Million Kinder<br />

nicht geboren werden, entsteht im ganzen<br />

Land eine Mauer des Schweigens.<br />

Wieviel Spielraum sehen Sie für eine Änderung<br />

der Gesetzeslage in Österreich?<br />

Rund 2.400 Jahre wurde das Leben<br />

der Ungeborenen geschützt, mangelhaft<br />

aber doch. Jetzt hat unsere<br />

Gesellschaft 30 Jahre mit<br />

der Straffreiheit für Kindestötung<br />

experimentiert<br />

und ist jämmerlich gescheitert,<br />

weil der Schutz<br />

der Ungeborenen in den<br />

Hintergrund getreten ist<br />

und unsere Systeme nun<br />

die Kindestötung forcieren.<br />

Wir treiben heute unsere<br />

Zukunft ab, und sind damit<br />

dem Untergang geweiht.<br />

Die Fristenregelung ist<br />

unmenschlich, unlogisch,<br />

und legitimiert menschliche<br />

Willkür. Insofern wird<br />

sie eines Tages sicher aufgehoben,<br />

daran müssen wir<br />

glauben, dafür sollten wir<br />

beten, dafür sollten sich alle<br />

Menschen guten Willens<br />

einsetzen. Die meisten unserer Politiker<br />

sehen es zwar noch nicht, aber es wird<br />

passieren. Hoffentlich bald, sehr bald.<br />

Was könnte die Kirche tun, damit ihr Einsatz<br />

für die ungeborenen Kinder noch glaubwürdiger<br />

und wirkungsvoller wird?<br />

Die Amerikaner sagen: »walk the talk«<br />

<strong>–</strong> tue, was Du sagst. Zunächst sollten wir<br />

Katholiken reumütig eingestehen, dass<br />

wir bisher nicht angemessen auf diese<br />

historische Tragödie reagiert haben, die<br />

lebensgefährlich ist für unser Land, und<br />

lebensgefährlich für das<br />

Seelenheil aller an Abtreibungen<br />

Beteiligten. Im<br />

Mittelpunkt unserer Pfarren<br />

stehen heute Kirchenrenovierungen,<br />

nicht der<br />

Lebensschutz der ungeborenen<br />

Kinder. Wir waren<br />

STEPHAN BAIER<br />

STEPHAN BAIER<br />

materialistisch, zu wenig mutig, haben<br />

zu wenig an das Evangelium geglaubt<br />

und Gott zu wenig zugetraut.<br />

Die Kirche muss endlich zeigen, dass<br />

es ihr ernst ist, sich mit allen verfügbaren<br />

Mitteln und Kräften für eine »Kultur des<br />

Lebens« einzusetzen. Sie sollte daher<br />

zunächst in ihrem eigenen Bereich, in<br />

der Messe, in Pfarren und Organisationen<br />

den Lebensschutz der ungeborenen Kinder<br />

zu einem Hauptanliegen machen. Sie<br />

sollte tun, was sie immer getan hat in<br />

Zeiten großer Bedrängnis: öffentlich und<br />

beständig für diese Kinder und ihre Eltern<br />

beten. Sie sollte mithelfen, ungeborene<br />

Kinder zu schützen, die in Lebensgefahr<br />

sind, Müttern und Vätern helfen, die<br />

wirklich in Not sind, einen Beitrag leisten<br />

zur Trauerarbeit. So viele Menschen warten<br />

auf klare Worte und Taten. Die Kirche<br />

kann unsere Gesellschaft retten.<br />

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<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>


RECHT<br />

BGH VI ZR 308/03<br />

Mit seinem »Bannmeilen-Urteil« hat der BGH die Tür zu<br />

meinungsfreien Räumen in Deutschland aufgestoßen: Den Arealen<br />

rund um Einrichtungen, in denen ungeborene Kinder getötet werden.<br />

Der Bundesgerichtshof (BGH)<br />

hat einem Lebensrechtler jegliche<br />

Meinungsäußerung in der<br />

Nähe einer Abtreibungspraxis untersagt.<br />

Diese Rechtsprechung führt zu einer Art<br />

»Bannmeile« um jede Abtreibungseinrichtung.<br />

Innerhalb dieses meinungsfreien<br />

Raums soll jeder Versuch verboten sein,<br />

Passanten auf das Thema Abtreibung<br />

anzusprechen oder gar einer Schwangeren<br />

Hilfe anzubieten. Das höchste deutsche<br />

Zivilgericht begründet sein Urteil vom<br />

7.12.2004 (Az.: VI ZR 308/03) vor allem<br />

mit zwei Argumentationslinien. Zum<br />

einen führe der namentliche Hinweis auf<br />

den Abtreibungsarzt zu einer unverhältnismäßigen<br />

Prangerwirkung, weil die legale<br />

berufliche Tätigkeit des Abtreibungsarztes<br />

durch die Demonstration des Abtreibungsgegners<br />

behindert und herabgewürdigt<br />

werde. Dies verletze den Abtreibungsarzt<br />

in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht.<br />

Zum anderen erfordere das geltende<br />

»Beratungsschutzkonzept« des Gesetzgebers,<br />

jegliches Dazwischentreten eines<br />

außenstehenden Dritten zu verhindern,<br />

um Belastungen des Arzt-/Patientinnen-<br />

Verhältnisses zu vermeiden. Nur dann<br />

sei es dem Arzt möglich, der Schwangeren<br />

ärztlichen Rat zu erteilen und seine<br />

Ȋrztliche Fachkompetenz in den Dienst<br />

einer von Verantwortung getragenen Elternschaft«<br />

zu stellen. Zu diesem Dienst<br />

an der verantwortlichen Elternschaft zählt<br />

der BGH auch die legale Tötung ungeborener<br />

Kinder <strong>–</strong> eigentlich das Gegenteil<br />

von Elternschaft. Aber unter der Logik<br />

des »Beratungsschutzkonzepts«, das Beratung<br />

mit der Möglichkeit zur legalen<br />

Abtreibung verknüpft, ist alles anders.<br />

Nach diesem Konzept kann sich der Arzt<br />

sogar auf sein Grundrecht der Berufsfreiheit<br />

berufen, wenn er andere Grundrechtsträger<br />

»konzeptbedingt« tötet.<br />

Im konkreten Fall hatte der Lebensrechtler<br />

Klaus Günter Annen im April<br />

2002 mit einem Sandwich-Plakat mit der<br />

Aufschrift »Abtreibung tötet ungeborene<br />

Kinder« und »Du sollst nicht töten. Gilt<br />

auch für Ärzte« vor einer Abtreibungspraxis<br />

demonstriert und Frauen auf dem<br />

Von Stefan Brandmaier<br />

Weg in die Praxis angesprochen. Auf<br />

Flugblättern kritisierte Annen den fehlenden<br />

strafrechtlichen Schutz für ungeborene<br />

Kinder in Deutschland.<br />

Bereits am 1.4.2003 hatte derselbe<br />

Senat des BGH (Az.: VI ZR 366/02) die<br />

Revision von Klaus Günter Annen gegen<br />

ein Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart<br />

zurückgewiesen. Das OLG Stuttgart<br />

hatte Annen verboten, Passanten mittels<br />

Flugblättern vor derselben gynäkologischen<br />

Praxis darauf hinzuweisen, dass der<br />

betreffende Arzt »rechtswidrige Abtreibungen«<br />

durchführe. Obwohl der Abtreibungsgegner<br />

damit die Rechtsprechung<br />

des Bundesverfassungsgerichts aufgegriffen<br />

hatte, verbot der BGH diese Formulierung<br />

im Flugblatt, weil der Arzt im<br />

Rahmen der Gesetze handle und sich<br />

deshalb nicht an den Pranger stellen lassen<br />

müsse.<br />

Die vorstehenden Entscheidungen des<br />

BGH sind umso unverständlicher, als die<br />

Meinungsäußerungsfreiheit nach ständiger<br />

Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />

und des BGH als schlechthin<br />

konstitutiv für eine freiheitliche<br />

Demokratie bezeichnet und deshalb sehr<br />

weit ausgelegt wird. Aus der Vermutung<br />

für die Zulässigkeit der freien Rede folgt,<br />

dass auch polemische und überspitzte<br />

Kritik in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung<br />

durch das Grundrecht auf<br />

Meinungsfreiheit gerechtfertigt ist, weil<br />

andernfalls die Gefahr einer Lähmung<br />

oder Verengung des Meinungsbildungsprozesses<br />

droht.<br />

Ganz im Sinne dieser Rechtsprechung<br />

zur Meinungsfreiheit hatte das OLG<br />

Karlsruhe am 23.4.2003 (Az.: 6 U 189/02)<br />

die Qualifizierung ärztlicher Abtreibungen<br />

als »rechtswidrig« in einem Flugblatt<br />

als zulässige Meinungsäußerung eingestuft.<br />

Selbst extrem erscheinende Äußerungen<br />

wie die Einstufung von in<br />

Deutschland vorgenommenen Abtreibungen<br />

als »Mord an unseren Kindern« und<br />

als »neuer Holocaust« werde vom Grundrecht<br />

der Meinungsfreiheit getragen, auch<br />

wenn sie in Bezug auf die Person und die<br />

ärztliche Tätigkeit eines namentlichen<br />

genannten Frauenarztes erfolgen. Hierin<br />

konnte sich das OLG Karlsruhe auf ein<br />

früheres Urteil des BGH vom 30.05.2000<br />

(Az.: VI ZR 276/99) stützen. Seinerzeit<br />

urteilte der BGH, die Bezeichnung »Babycaust«<br />

in Bezug auf eine staatliche<br />

Klinik, in der ein bekannter Frauenarzt<br />

viele Abtreibungen durchführt, müsse<br />

grundsätzlich selbst dann toleriert werden,<br />

wenn die geäußerte Meinung extrem erscheine.<br />

Auch bei einer bundesweiten satirischsarkastischen<br />

Plakataktion von Greenpeace<br />

gegen FCKW-produzierende Unternehmen<br />

mit namentlicher Bezeichnung<br />

und Abbildung eines Porträts der Vorstandsvorsitzenden<br />

der Hoechst AG haben<br />

der BGH im Jahr 1993 und das<br />

BVerfG im Jahr 1999 keine unzulässige<br />

Prangerwirkung gesehen. Dabei hatte<br />

Greenpeace im Stil der Reihe »Die Bundesregierung<br />

informiert« plakatiert: »Alle<br />

reden vom Klima« und unmittelbar darunter<br />

in schwarzer Schrift geschrieben:<br />

»Wir ruinieren es«. Es folgten große Porträtaufnahmen<br />

der namentlich benannten<br />

Vorstandsvorsitzenden der Hoechst AG<br />

und der Kali-Chemie AG mit dem weiteren<br />

Text: »Absolute Spitze bei Ozonzerstörung<br />

und Treibhauseffekt: Verantwortlich<br />

für die deutsche Produktion des<br />

Ozon- und Klimakillers FCKW.«<br />

Letztlich wird das Bundesverfassungsgericht<br />

entscheiden müssen. Spannend<br />

wird die Frage, ob die linksliberale Mehrheit<br />

im zuständigen Ersten Senat gemäß<br />

dem »Soldaten sind Mörder«-Urteil die<br />

Entscheidungen des BGH gegen Annen<br />

aufheben wird. Danach müsste auch ein<br />

Satz wie »Abtreibungsärzte sind Mörder«<br />

zulässig sein. Angesichts der abtreibungsfreundlichen<br />

Haltung des Ersten Senats<br />

bleibt jedoch fraglich, ob die Karlsruher<br />

Richter Meinungsäußerungen von Pazifisten<br />

und Lebensrechtlern gleichbehandeln<br />

werden.<br />

IM PORTRAIT<br />

Stefan Brandmaier<br />

Der Autor ist selbständiger Rechtsanwalt<br />

und als Mitglied des <strong>ALfA</strong>-<br />

Bundesvorstands mit den juristischen<br />

Belangen der <strong>ALfA</strong><br />

betraut. Der dreifache<br />

Vater zählt zu<br />

den Gründern der<br />

»Jugend für das<br />

Leben« (JfdL). Davor<br />

galt das besondere<br />

Engagement des heute 34jährigen<br />

viele Jahre lang dem Auf- und Ausbau<br />

des <strong>LebensForum</strong>s, dessen Redaktion<br />

er zeitweise verantwortlich leitete.<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 19


GESELLSCHAFT<br />

REHDER MEDIENAGENTUR<br />

Wenn die<br />

Seele stirbt<br />

Die für das Kind tödliche Abtreibung wird vielfach als Befreiung der Frau gefeiert, die<br />

sie statt vom Kind vom »Gebärzwang« entbinde. In Wahrheit fordert Abtreibung meist<br />

zwei Opfer. Viele Frauen erkranken nach einer Abtreibung am so genannten Post-<br />

Abortion-Syndrom; oft mit furchtbaren Folgen.<br />

Von Veronika Blasel, M.A.


REHDER MEDIENAGENTUR<br />

REHDER MEDIENAGENTUR<br />

Immer wieder frage ich mich, warum<br />

hat mir das keiner gesagt? Wussten<br />

die anderen, Arzt, Beraterin, meine<br />

Eltern, meine Freundinnen und mein<br />

Mann wirklich nicht, was dann kommt?<br />

Als ich vor zwei Jahren zur Abtreibung<br />

gedrängt wurde, sagten alle, es sei das<br />

Beste für mich und für mein Kind! Nun<br />

ist mein Kind tot, und ich bin so verzweifelt!<br />

Ich kann nicht mehr schlafen und<br />

auch nicht mehr lachen. Niemand versteht<br />

mich! Damals hatte ich keine Kraft, mich<br />

gegen alle zu stellen. Auch heute bin ich<br />

mit meiner Not und meinem Elend allein.<br />

Bitte sagen Sie allen Menschen, wie<br />

furchtbar eine Abtreibung ist. Dauernd<br />

möchte ich weglaufen, rennen, jagen <strong>–</strong><br />

aber die Gedanken sind schneller. Sie<br />

holen mich immer wieder ein. Schreckliche<br />

Schmerzen quälen meinen Körper<br />

und meine Seele! Warum hat mir das<br />

denn keiner gesagt?«<br />

Verzweiflung, Schlafstörungen, Unfähigkeit<br />

zur Freude, Einsamkeit, das Sich-<br />

Gejagt-Fühlen, schreckliche Schmerzen<br />

<strong>–</strong> die Symptome einer Frau, deren Bericht<br />

man im Buch »Myriam … warum weinst<br />

du« nachlesen kann, deuten klar auf das<br />

Post-Abortion-Syndrom (PAS) hin. Mit<br />

diesem Begriff wird in der Psychologie<br />

und der Psychiatrie die Gesamtheit der<br />

psychischen Symptome bezeichnet, die<br />

bei sämtlichen in das Abtreibungsgeschehen<br />

involvierten Personen, also den Frauen,<br />

Kindsvätern, Ärzten, Beratern und<br />

dem Pflegepersonal, als Folge von Abtreibung<br />

auftreten können. Und ebenso klar<br />

wie die Diagnose ist die Antwort auf die<br />

Frage, die die Frau nicht mehr loslässt:<br />

Sie ist von niemandem über das PAS<br />

aufgeklärt worden, weil es anscheinend<br />

Psychische Folgen nach einer Abtreibung<br />

Psychische Spätfolgen: 80 %<br />

Reue und Schuldgefühle: 60 %<br />

Stimmungsschwankungen und Depressionen, erhöhte Reizbarkeit: 35 - 40 %<br />

Unmotiviertes Weinen: 35 %<br />

Angstzustände: 30 %<br />

DANIEL RENNEN<br />

Depressionen und Stimmungsschwankungen beherrschen nach einer Abtreibung das Leben vieler Frauen.<br />

politisch nicht korrekt ist, über die Auswirkungen<br />

der staatlich finanzierten und<br />

»rechtswidrigen, aber straffreien« vorgeburtlichen<br />

Kindstötungen im Rahmen<br />

der als frauenfreundlich propagierten<br />

Fristenregelung zu sprechen. Deshalb<br />

werden sie in den Medien und der öffentlichen<br />

Diskussion weitgehend totgeschwiegen.<br />

Das beste Beispiel dafür, dass nach<br />

dem Motto »Es kann nicht sein, was nicht<br />

sein darf« agiert wird, bietet die Bundesregierung<br />

in ihrer Antwort vom 18. Mai<br />

2004 auf die Kleine Anfrage »Umsetzung<br />

»Schreckliche Schmerzen quälen<br />

meinen Körper und meine Seele.«<br />

der vom Bundesverfassungsgericht geforderten<br />

Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht«<br />

von CDU-Bundestagsabgeordneten.<br />

Dort hält die Bundesregierung<br />

auf die Frage nach den Spätfolgen von<br />

Abtreibungen für die Frau fest: »Der<br />

Bundesregierung sind entsprechende Studien<br />

in Deutschland<br />

nicht bekannt. Es liegen<br />

jedoch Auswertungen<br />

internationaler<br />

Fachliteratur vor, die<br />

im Langzeitvergleich<br />

keine oder nur geringe<br />

Unterschiede im psychischen<br />

Befinden<br />

zwischen Frauen mit<br />

Schwangerschaftsabbruch<br />

und Frauen mit<br />

Abbildung 1 ausgetragenen Schwangerschaften<br />

aufweisen«<br />

(Bundestagsdrucksache 15/3155).<br />

Ein Blick in die Literatur zum Post-<br />

Abortion-Syndrom reicht, um diese Behauptung<br />

zu widerlegen. Nicht nur, dass<br />

sehr wohl deutsche Studien zum Thema<br />

vorliegen, etwa von der klinischen Psychologin<br />

Maria Simon (Abbildung 1),<br />

auch mehrere internationale Studien beweisen<br />

die verheerenden Auswirkungen,<br />

die Abtreibungen für die Betroffenen<br />

nach sich ziehen. Dabei haben allerdings<br />

die meisten der Studien <strong>–</strong> sowohl die, die<br />

über das PAS aufklären wollen, als auch<br />

solche, die sich bemühen, das PAS als<br />

nebensächlich abzutun <strong>–</strong> mit Problemen<br />

zu kämpfen, die es erschweren, dass eine<br />

Studie zu diesem Thema allen Kriterien<br />

der Wissenschaftlichkeit standhält. David<br />

C. Reardon, Vorsitzender des USamerikanischen<br />

Elliot Institute in Springfield,<br />

das es sich zur Aufgabe gemacht<br />

hat, über die Abtreibungsfolgen zu informieren,<br />

nennt dafür vier Gründe:<br />

1.) Viele Frauen, die eine Abtreibung<br />

erlebt haben, verweigern sämtliche Auskünfte.<br />

Bis zu 60 Prozent der zu Studienzwecken<br />

angefragten Frauen wollen sich<br />

nicht über ihr Leben nach einer Abtreibung<br />

äußern. Experten gehen davon aus,<br />

dass ein Großteil dieser Frauen so stark<br />

vom PAS betroffen ist, dass das Sprechen<br />

über die Abtreibung als zu schmerzhaft<br />

empfunden würde.<br />

2.) Die Bandbreite der Symptome, an<br />

denen Frauen nach einer Abtreibung<br />

leiden, ist so groß, dass es unmöglich ist,<br />

jedes einzelne in den Studien zu berücksichtigen.<br />

3.) Die Intensität vieler Reaktionen ist<br />

sehr zeitabhängig.<br />

4.) Die geläufige Methode, die Studien<br />

mittels eines Fragebogens oder eines<br />

anderen standardisierten Umfrageinstruments<br />

durchzuführen, ist wenig geeignet,<br />

tief sitzende und oft verdrängte Gefühle<br />

offen zu legen.<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 21


GESELLSCHAFT<br />

Bei Frauen ist die Suizidrate nach Abtreibung dreimal<br />

so hoch wie normal.<br />

der Arzt die Abtreibung als Ursache der<br />

Leiden erkennt. Diese Frauen erachten<br />

Fragen nach einer Abtreibung gewöhnlich<br />

für nicht relevant.<br />

FRAUEN ERLEIDEN ZWEIFACHEN VERLUST<br />

ZITATE<br />

Zitate von Frauen nach<br />

einer Abtreibung<br />

»Für mich hat nun alles keinen Sinn<br />

mehr und keinen Zweck.« (S. B.)<br />

»Bei jeder Menstruation wurde ich an<br />

das Kind erinnert, und das ganze Theater<br />

wiederholte sich: Migräne, Angst,<br />

Schmerzen, endloses Weinen! Ich krieg’<br />

es einfach nicht in den Griff!« (H. R.)<br />

»Seitdem hasse ich jeden Mann!« (H. D.)<br />

»Nach meiner Abtreibung hatte ich vier<br />

Selbstmordversuche.« (A. W.)<br />

»Schweißausbrüche, wechselndes Erröten<br />

und Erblassen und das Zittern der Hände<br />

wurden so stark, dass ich meinen Beruf<br />

als Einkäuferin aufgeben musste.« (C. R.)<br />

»Ich komme mir wie ein Roboter vor und<br />

tue mechanisch meine Arbeit. Mich freuen<br />

oder lachen <strong>–</strong> aber auch weinen kann<br />

ich nicht mehr! Alles egal!« (A. G. S.)<br />

»Seit dem Abbruch ist es, als wäre ich<br />

in Ketten gelegt! Ich habe schreckliche<br />

Angstzustände. Alles wird eng, krampft<br />

sich zusammen, als müsste ich ersticken.<br />

<strong>–</strong> Die Ärzte finden nichts!« (O. B.)<br />

»Fast wäre ich verblutet! Meine Seele<br />

blutet noch heute!« (B. W.)<br />

»›Das ist ja noch nicht‹, hatten Arzt und<br />

Beraterin gesagt! Dass es doch ›etwas‹<br />

gewesen war, merkte ich zu spät, als<br />

sich mein totes Kind wie ein Schatten<br />

auf meine Seele legte. Das Trauma ›Abtreibung‹<br />

zerstörte mein Leben.« (B. G.)<br />

(Quelle: »Myriam … warum weinst du?<br />

Die Leiden der Frauen nach der Abtreibung,<br />

Post-Abortion-Syndrome PAS,<br />

Erlebnisberichte von betroffenen<br />

Frauen«. Hg.: Stiftung »JA ZUM LEBEN<br />

<strong>–</strong> Mütter in Not«, Uznach 1996)<br />

REHDER MEDIENAGENTUR<br />

So wundert es nicht, dass die Ergebnisse<br />

vieler Studien stark divergieren. Für<br />

Untersuchungen, nach denen nur ein<br />

sehr geringer Prozentsatz der Frauen am<br />

PAS leidet, wurden beispielsweise Frauen<br />

Die häufigsten Symptome, unter denen<br />

Frauen nach einer Abtreibung leiden<br />

96,2 % Starke Schuldgefühle<br />

88,0 % Depression<br />

82,3 % Verlust des Selbstwertgefühls<br />

75,5 % Verlust des Selbstvertrauens<br />

63,1 % Flashbacks<br />

55,8 % Selbstmordgedanken<br />

50,8 % hysterische Weinkrämpfe<br />

46,6 % Alpträume<br />

40,6 % Konsum von Drogen<br />

38,6 % Essstörungen<br />

36,5 % Alkoholmissbrauch<br />

Abbildung 2<br />

kurz nach der Abtreibung befragt. Bei<br />

ihnen herrscht häufig noch das Gefühl<br />

der Erleichterung vor, denn die Symptome<br />

des PAS treten oft erst nach mehreren<br />

Jahren auf. Typisch für die Verhaltensweise<br />

von Frauen nach der Abtreibung<br />

ist auch die Verdrängung des Geschehenen.<br />

Diese kann so stark sein, dass die<br />

Frauen später zwar unter zahlreichen<br />

körperlichen und psychischen Symptomen<br />

leiden und jahrelang in ärztlicher<br />

Behandlung sind, aber weder sie noch<br />

DANIEL RENNEN<br />

Wie viele Frauen tatsächlich am PAS<br />

erkranken, ist auch nach Angaben von<br />

Pro-Life-Experten noch ungeklärt. Unbestritten<br />

ist jedoch, dass die Frau nach<br />

der Abtreibung mit einem zweifachen<br />

Verlust konfrontiert wird: Mit dem Verlust<br />

der Person, die sie ohne die Abtreibung<br />

hätte werden können, und mit dem Verlust<br />

ihres ungeborenen Kindes. Dies kann<br />

einen tiefen Schmerz verursachen, den<br />

zu überwinden Trauerarbeit erfordert.<br />

Wenn die Frau, aber auch der Vater des<br />

abgetriebenen Kindes, dies<br />

nicht tun und den Schmerz<br />

verleugnen, zeigen sich<br />

früher oder später Symptome<br />

des PAS. So leiden<br />

laut der Würzburger Psychologin<br />

Maria Simon 80<br />

Prozent der Frauen nach<br />

einer Abtreibung unter<br />

psychischen Spätfolgen, wie<br />

etwa an Reue- und Schuldgefühlen,<br />

Selbstvorwürfen,<br />

Stimmungsschwankungen<br />

und Depressionen, unmotiviertem<br />

Weinen, Angstzuständen<br />

und schreckhaften Träumen.<br />

Die Ergebnisse aus Deutschland werden<br />

von einer amerikanischen Studie bestätigt<br />

(Abbildung 2). Demnach haben 92,6 Prozent<br />

der befragten Frauen starke Schuldgefühle,<br />

über 88 Prozent leiden unter<br />

einer Depression, 38,6 Prozent an Essstörungen<br />

und 40,6 Prozent haben mit dem<br />

Konsum von Drogen begonnen. Nur 5,1<br />

Prozent der 260 Befragten fühlten einen<br />

inneren Frieden.<br />

ABTREIBUNGSERLEBNIS ÜBERWÄLTIGT<br />

NORMALEN ABWEHRMECHANISMUS<br />

1981 brachte der Psychologe Vincent<br />

Rue erstmals die Folgeerscheinungen von<br />

Abtreibungen mit dem Posttraumatischen-Stress-Syndrom<br />

(PTSD) in Verbindung.<br />

Dieses PTSD wurde bei Veteranen<br />

des Vietnam-Krieges beobachtet,<br />

die plötzlich Jahre nach der Kriegserfahrung<br />

ein pathologisches Verhalten zeigten.<br />

Verursacht wird das PTDS laut Trauma-<br />

Forscher Arthur Blank durch »einen Kon-<br />

22<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>


takt zwischen dem Individuum und den<br />

dunkelsten und gewalttätigsten Kräften<br />

der menschlichen Natur.« Krieg, Mord<br />

und Vergewaltigung etwa konfrontieren<br />

die Menschen mit dem Tod oder unkontrollierbarer<br />

Gewalt. Solche Ereignisse<br />

überwältigen die normalen psychischen<br />

Abwehrmechanismen eines Menschen,<br />

die traumatisierte Person versucht das<br />

Erlebte zu verdrängen, doch das Unterbewusstsein<br />

fordert eine Verarbeitung.<br />

Oft ist der Verdrängungsmechanismus<br />

so stark, dass erst bis zu zehn Jahre nach<br />

dem eigentlichen Vorfall die Folgen sichtbar<br />

werden.<br />

Betrachtet man unter diesen Vorzeichen<br />

das Abtreibungsgeschehen, so liegt<br />

es nahe, das PAS als Form des PTSD zu<br />

definieren: Auch eine Abtreibung führt<br />

zu einer direkten Konfrontation mit dem<br />

»Der Regierung sind entsprechende<br />

Studien nicht bekannt.«<br />

Bundestagsdrucksache 15/3155<br />

Tod; daneben beschreiben Frauen <strong>–</strong> gerade<br />

wenn sie zur Abtreibung gedrängt<br />

werden <strong>–</strong> die Durchführung der Abtreibung,<br />

bei der sie festgebunden und hilflos<br />

auf dem Behandlungsstuhl liegen, als eine<br />

der Vergewaltigung ähnliche Situation.<br />

Selbstmorde / 100.000 Frauen<br />

REHDER MEDIENAGENTUR<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

Selbstmordgefahr bei Frauen<br />

nach durchgeführten Abtreibungen<br />

nach Fehlgeburten<br />

Allgemein<br />

nach Geburten<br />

Bei den Vietnam-Veteranen wurden ebenso<br />

wie bei Frauen, die unter ihrer Abtreibung<br />

leiden, drei große Symptomkomplexe<br />

beobachtet:<br />

1.) Übererregbarkeit: Die traumatisierte<br />

Person verhält sich ständig so, als ob eine<br />

große Gefahr drohe. Angstattacken, aggressives<br />

Verhalten, Konzentrationsschwierigkeiten<br />

und Schlafstörungen sind<br />

nur einige der daraus resultierenden typischen<br />

Symptome.<br />

2.) Überwältigung: Darunter versteht<br />

man das ungewollte und unerwartete<br />

Wiedererleben des traumatisierenden<br />

Ereignisses, das sowohl in einem kurzen<br />

Aufblitzen der Erinnerungen, den so genannten<br />

Flashbacks, als auch etwa in<br />

Träumen durchbricht.<br />

3.) Einengung: Die Person entwickelt<br />

Verhaltensmuster, um Situationen zu<br />

vermeiden, die mit dem Abtreibungsgeschehen<br />

assoziiert werden können. Dazu<br />

gehört etwa, dass Frauen nach einer Abtreibung<br />

nicht mehr im Stande sind, sich<br />

an das Geschehene zu erinnern, dass sie<br />

Beziehungen zu den Menschen abbrechen,<br />

die in die Abtreibung involviert<br />

waren, sie Kinder oder schwangere Frauen<br />

meiden, ihre Liebesfähigkeit verlieren,<br />

es zu Drogen- und Alkoholmissbrauch<br />

kommt und selbstzerstörerische Tendenzen<br />

auftreten bis hin zum Selbstmord.<br />

Abbildung 3<br />

0<br />

15 - 19 20 - 24 25 - 29 30 - 34 35 - 39 40 - 49<br />

Quelle: Mika Gissler, Elina Hemminki; Jouko Lonnqvist: »Suicides after pregnancy in Finland, 1987-94:<br />

register linkage study«. British Medical Journal 1996; 313:1431-1434 (7. Dezember).<br />

Neben diesen Hauptsymptomen kann<br />

es <strong>–</strong> in unterschiedlicher Intensität <strong>–</strong> zu<br />

einer großen Bandbreite an psychischen,<br />

psychosomatischen und körperlichen Folgeerscheinungen<br />

kommen, die oft dringend<br />

behandlungsbedürftig sind. Eine<br />

im Jahr 2003 im »Canadian Medical Association<br />

Journal« (CMAJ) veröffentlichte<br />

Studie zeigt, dass das Risiko, in eine psychiatrische<br />

Klinik eingeliefert werden zu<br />

müssen, für Frauen, die innerhalb der<br />

UNBEWÄLTIGTE TRAUMATA LASSEN SICH<br />

NICHT DAUERHAFT VERDRÄNGEN<br />

vergangenen drei Monaten eine Abtreibung<br />

haben vornehmen lassen, um das<br />

2,6-fache höher ist als das der Frauen,<br />

die im gleichen Zeitraum ein Kind geboren<br />

haben. Diese Ergebnisse bestätigen<br />

eine kanadische Studie, die einen Zeitraum<br />

von fünf Jahren in den Blick nimmt<br />

und nach der sich 25 Prozent der Frauen,<br />

die abgetrieben haben, in psychiatrische<br />

Behandlung begeben mussten; in der<br />

Kontrollgruppe waren es dagegen nur<br />

drei Prozent. Bei solchen Zahlen verwundert<br />

es nicht, dass Fachleute im deutschsprachigen<br />

Raum von durchschnittlich<br />

50.000 Euro Folgekosten je Abtreibung<br />

ausgehen.<br />

Da hier nicht auf jedes einzelne Symptom<br />

des PAS eingegangen werden kann,<br />

sollen nachfolgend beispielhaft vier typische<br />

Symptome bzw. die daraus resultierenden<br />

Verhaltensänderungen von unter<br />

Abtreibung leidenden Frauen kurz beleuchtet<br />

werden: das »Roboter Feeling«,<br />

Alpträume, Selbstverachtung und Suizidversuche.<br />

Direkt nach einer Abtreibung setzt bei<br />

Frauen oft ein totaler Ausfall der Gefühle<br />

ein, das so genannte »Roboter Feeling«.<br />

Sie sind überwältigt von dem, was sie<br />

getan haben, können aber nicht mit den<br />

daraus resultierenden Gefühlen wie<br />

Schrecken und Verzweiflung umgehen<br />

und fühlen deshalb überhaupt nichts<br />

mehr. »Ich stand auf und ging ins Badezimmer,<br />

um mich zu duschen. Ob ich<br />

wohl Schmerz empfinden werde, wenn<br />

ich das Wasser ganz heiß stelle, fragte ich<br />

mich. (…) Wein doch! Wein doch! Wein<br />

doch! befahl ich mir. Aber nichts geschah«,<br />

berichtet Susan Stanford in ihrem<br />

Buch »Werde ich morgen weinen?« über<br />

den Morgen nach der Abtreibung.<br />

Ein weiterer Umgang mit den übermächtigen<br />

Gefühlen ist die Verdrängung,<br />

Rationalisierung und Unterdrückung des<br />

Erlebten. Doch ein unbewältigtes Trauma<br />

lässt sich nicht einfach verdrängen, und<br />

so sucht sich das Unterbewusstsein eigene<br />

Wege der Aufarbeitung. In Alpträumen<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 23


GESELLSCHAFT<br />

wiederholt sich das Ereignis immer wieder.<br />

»Schreckliche Alpträume quälen mich<br />

seither jede Nacht. Darüber darf ich aber<br />

nicht sprechen. Tote Kinder <strong>–</strong> wohin ich<br />

sehe«, so eine betroffene Frau. Wie ihr<br />

geht es Expertenangaben zufolge fast der<br />

Hälfte aller Frauen nach einer Abtreibung,<br />

und das zum Teil viele Jahre lang. Träume<br />

von abgerissenen Gliedmaßen, dem grausamen<br />

Ermorden eines hilflosen Kindes<br />

oder vom eigentlichen Abtreibungsgeschehen<br />

wiederholen sich blitzartig<br />

manchmal auch im Wachzustand als so<br />

genannte Flashbacks <strong>–</strong> oft ausgelöst durch<br />

ein kleines Detail, das mit der Abtreibung<br />

in Verbindung gebracht werden kann,<br />

Heilung erfordert einen mit der Abtreibungsthematik vertrauten Therapeuten.<br />

etwa ein an das Absaugen erinnerndes<br />

Staubsaugergeräusch oder die Begegnung<br />

mit einer schwangeren Frau.<br />

Von Alpträumen und Flashbacks gequälte<br />

Frauen sind oft auch anfällig für<br />

ein weiteres typisches Symptom des PAS:<br />

die Selbstverachtung. Diese kann so stark<br />

werden, dass die betroffenen Frauen<br />

selbstzerstörerische Tendenzen zeigen,<br />

die gepaart mit einer oft langjährigen<br />

Depression als Folge des unverarbeiteten<br />

Schmerzes bis hin zu Suizidversuchen<br />

führen können. »Ich fand mich nicht<br />

mehr für wert, auf dieser Welt zu leben«,<br />

schreibt Karin Lamplaier über ihren<br />

Selbstmordversuch nach einer Abtreibung<br />

in ihrem Buch »Ich nannte sie Nadine«.<br />

Bis zu 60 Prozent der unter ihrer Abtreibung<br />

leidenden Frauen ist laut einer amerikanischen<br />

Studie der Gedanke an Selbstmord<br />

gekommen. 28 Prozent haben<br />

diesen Gedanken auch in die Tat umgesetzt<br />

<strong>–</strong> die glücklicherweise bei den meisten<br />

misslang.<br />

24<br />

Aufsehen erregte 1996 eine im renommierten<br />

»British Medical Journal« (BMJ)<br />

vorgestellt Studie von Mika Gissler. Der<br />

Forscher hatte die Selbstmordfälle von<br />

Frauen in Finnland von 1987-94 untersucht.<br />

Die jährliche Selbstmordrate lag<br />

bei 11,3 pro 100.000 Frauen. Die Selbstmordrate<br />

bei Frauen, die innerhalb eines<br />

Jahres vor dem Suizid ein Kind geboren<br />

hatten, lag deutlich tiefer, nämlich bei<br />

5,9, nach einer Fehlgeburt war dagegen<br />

die Rate mit 18,1 erhöht. Hatten die<br />

Frauen im Jahr zuvor eine vorgeburtliche<br />

Kindstötung vornehmen lassen, lag die<br />

Rate bei 34,7. Das bedeutet, dass die<br />

Suizidrate bei Frauen nach einer Abtreibung<br />

rund dreimal so<br />

hoch ist wie die durchschnittliche<br />

Selbstmordrate<br />

unter Frauen.<br />

Verglichen mit der<br />

Quote nach einer Geburt<br />

ist die Suizidrate<br />

bei Frauen nach einer<br />

Abtreibung sogar<br />

sechsmal so hoch (vgl.<br />

Abbildung 3). Die Erklärung<br />

Gisslers im<br />

BMJ: Das erhöhte Risiko<br />

von Selbstmord<br />

nach einer Abtreibung<br />

könnte auf die verheerende<br />

Wirkung einer<br />

Abtreibung auf die<br />

mentale Gesundheit<br />

der Frau zurückzuführen<br />

sein. Bestätigt<br />

wird Gissler vom amerikanischen<br />

PAS-Experten<br />

Philip Ney, der<br />

untersucht hat, warum Frauen, die nach<br />

einer Abtreibung nicht ausreichend Trauerarbeit<br />

leisten, häufig depressiv werden<br />

und deshalb Gefahr laufen, den Suizid<br />

als einzigen Ausweg zu sehen. Depressionen<br />

nach einer Abtreibung können laut<br />

Ney darauf zurückzuführen sein, »dass<br />

ein Schmerz so allumfassend ist, dass er<br />

die Psychologie einer Person verändert.«<br />

DANIEL RENNEN<br />

HEILUNGSCHANCEN STEIGEN NACH<br />

TRAUERARBEIT UND VERSÖHNUNG<br />

Die Heilung des Abtreibungstraumas<br />

erfordert einen mit der Abtreibungsthematik<br />

vertrauten Therapeuten. Die Erfahrung<br />

hat gelehrt, dass reine Psychotherapie<br />

nicht in der Lage ist, dem<br />

Abtreibungstrauma gerecht zu werden.<br />

»Man kann Schuld nicht wegtherapieren«,<br />

begründet Maria Simon. Doch<br />

»wenn die Betroffene gemeinsam mit<br />

einem guten Therapeuten die einzelnen<br />

Schritte der Aufarbeitung und Bewältigung<br />

geht, dann stehen ihre Heilungschancen<br />

sehr gut«, erklärte die Linzer<br />

Psychotherapeutin Ingeborg Obereder<br />

gegenüber <strong>LebensForum</strong>. Ein erfolgreicher<br />

Heilungsprozess verläuft demnach<br />

in drei Phasen. Zuerst ist es nötig, dass<br />

»Ich fand mich nicht mehr für wert,<br />

auf dieser Welt zu leben.«<br />

die betroffene Frau mit der Trauerarbeit<br />

beginnt. Das beinhaltet Obereder zufolge,<br />

dass sich die Frau die Verlusterfahrung<br />

bewusst macht, ihren Fehler bekennt und<br />

betrauert. In einer zweiten Phase soll die<br />

Betroffene die Versöhnung mit dem Kind<br />

suchen. Dazu ist es notwendig, dass sie<br />

ihr Kind als eigenständige Person anerkennt,<br />

was sich etwa darin äußern kann,<br />

dass sie ihm einen Namen gibt oder ein<br />

symbolisches Begräbnis des Kindes vornimmt.<br />

Die Frau soll, wenn sie gläubig<br />

ist, auch Gott um Verzeihung bitten und<br />

lernen, sich selbst und den Mittätern, also<br />

dem Arzt, eventuell dem Partner, den<br />

Eltern und Freunden, zu verzeihen. »Der<br />

schwierigste Schritt ist sicherlich, sich<br />

selbst zu vergeben. Aber ohne Vergebung<br />

kommen wir in der Therapie keinen<br />

Schritt weiter«, so Obereder gegenüber<br />

<strong>LebensForum</strong>. In einer letzten Phase<br />

kann die Frau einen Neuanfang für ihr<br />

Leben suchen, der die Wiedergutmachung<br />

für das Geschehene mit einschließt,<br />

etwa indem sie schwangeren Frauen in<br />

Not hilft oder sich verstärkt für alleingelassene<br />

Kinder einsetzt. »Diese Wiedergutmachung<br />

ist eine große Hilfe für die<br />

Frauen«, erklärt Ingeborg Obereder.<br />

SELBSTHILFEGRUPPEN KÖNNEN<br />

BETROFFENE VON DRUCK BEFREIEN<br />

Sinnvoll kann es auch sein, sich einer<br />

Selbsthilfegruppe anzuschließen. »Nach<br />

der Abtreibung war ich körperlich und<br />

seelisch jahrelang krank. Ich ging von<br />

Arzt zu Arzt, ohne je gesund zu werden.<br />

Wut und Hass zerfraßen mein Leben!<br />

Angst und Verzweiflung bestimmten<br />

alles«, berichtet eine Frau, die schließlich<br />

beim Verein »Rahel« Hilfe gefunden hat.<br />

»Die Möglichkeit, über meine Probleme<br />

völlig frei zu sprechen, liebevoll angenommen<br />

zu sein, trauern zu dürfen, ohne sich<br />

zu schämen, befreiten mich von großem<br />

Druck! Hier fand ich Hilfe! Nun möchte<br />

ich auch anderen Frauen helfen, ihren<br />

Kummer zu überwinden.«<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>


MITTEILUNGEN DES BUNDESVORSTANDS<br />

Nicht nur die an den Stadtpark grenzende Orangerie in<br />

Fulda ist sehenswert.<br />

Runde und die Bundesdelegiertenversammlung<br />

vorgesehen. Einer der Workshops<br />

mit dem Titel »Von der Einladung<br />

bis zur Pressemeldung« wendet sich vor<br />

allem an die Regionalverbandsvorsitzenden,<br />

ein zweiter wird sich unter der Überschrift<br />

»Euthanasie: was spricht dafür?«<br />

mit den Argumenten der Gegenseite auseinander<br />

setzen. Im Anschluss an die<br />

einstündigen Workshops werden die Delegierten<br />

dann auf der BDV mit den Beratungen<br />

der Anträge beginnen.<br />

BDV <strong>2005</strong> in Fulda<br />

Vom 10.-12. Juni findet in Fulda die diesjährige<br />

Bundesdelegiertenversammlung der <strong>ALfA</strong> statt. Das Thema könnte<br />

kaum aktueller sein: »Euthanasie: heute ihr <strong>–</strong> morgen wir.«<br />

Wie in der letzten Ausgabe von<br />

<strong>LebensForum</strong> bereits angekündigt,<br />

findet die Bundesdelegiertenversammlung<br />

(BDV) der<br />

Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (<strong>ALfA</strong>)<br />

dieses Jahr nicht in Königswinter, sondern<br />

in Fulda statt. Die zentrale Lage und gute<br />

Verkehrsanbindung Fuldas dürfte vielen<br />

Delegierten entgegen kommen, und mit<br />

dem Bonifatiushaus haben wir hoffentlich<br />

einen Tagungsort gefunden, der dem<br />

AZK in nichts nachsteht.<br />

Von Cornelia Kaminski<br />

KULTURELLES RAHMENPROGRAMM<br />

Es ist uns gelungen, ein Kontingent<br />

an vergünstigten Karten für die Aufführung<br />

des Musicals »Bonifatius« am Samstagabend<br />

um 20 Uhr zu reservieren. Dieses<br />

Musical wurde eigens für das im letzten<br />

Jahr in Fulda gefeierte Bonifatiusjubiläum<br />

komponiert. Sämtliche Aufführungen<br />

waren ausverkauft und schlossen mit stehenden<br />

Ovationen eines begeisterten<br />

Publikums, so dass das Musical nun in<br />

ein zweites Aufführungsjahr geht. Die<br />

Preise für die Karten liegen je nach Kategorie<br />

zwischen 25 und 35 Euro. Das<br />

Musical wird im Schlosstheater aufgeführt,<br />

welches vom Bonifatiushaus zu Fuß<br />

VERSIERTE EXPERTEN ALS REFERENTEN<br />

Die BDV <strong>2005</strong> (10.<strong>–</strong>12. Juni) steht<br />

unter dem Motto: »Euthanasie: heute ihr<br />

<strong>–</strong> morgen wir«. Zu diesem Thema wird<br />

am Freitagabend (10.6.) eine Podiumsdiskussion<br />

stattfinden, zu der unter anderem<br />

der Bundesvorsitzende der Jungen Union<br />

Deutschlands, Philipp Missfelder, als auch<br />

der Würzburger Medizinrechtsexperte<br />

Rainer Beckmann, Mitglied der Enquete-<br />

Kommission »Ethik und Recht der modernen<br />

Medizin« des Deutschen Bundestags,<br />

teilnehmen werden. Angefragt sind<br />

außerdem: die frühere Bundesjustizministerin<br />

Herta Däubler-Gmelin (SPD) sowie<br />

Bischof Heinz Josef Algermissen.<br />

Am Samstag steht vormittags ein Vortrag<br />

des Stellvertretenden Vorsitzenden<br />

BUNDESTAG<br />

Wolfgang Zöller, Gesundheitsexperte der Union<br />

der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und<br />

Gesundheitsexperten der Union, Wolfgang<br />

Zöller, auf dem Programm. Der<br />

Seehofer-Nachfolger Zöller ist langjähriges<br />

Mitglied der Aktion Lebensrecht<br />

für Alle und hat gerade erst in jüngster<br />

Zeit wieder durch unmissverständliche<br />

Stellungnahmen zur Abtreibung für Aufsehen<br />

gesorgt. Er steht im Anschluss an<br />

seinen Vortrag auch noch für eine Diskussion<br />

zur Verfügung.<br />

Nachmittags ist eine, im Vergleich zu<br />

früheren Jahren, eher kurze Workshop-<br />

JUNGE UNION<br />

Philipp Missfelder, Bundesvorsitzender der JU<br />

zu erreichen ist. Als Alternative bieten<br />

wir am Samstagabend für Interessierte<br />

eine eigene Stadtführung an, die ebenfalls<br />

um 20 Uhr beginnt.<br />

Über das endgültige Programm der<br />

Fachtagung sowie der Delegiertenversammlung<br />

werden wir rechtzeitig mit<br />

einem entsprechenden Einladungsschreiben<br />

informieren.<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 25


GESELLSCHAFT<br />

Erfolgreich verhindert<br />

Beinahe wären Pro Familia und Verbündete erfolgreich gewesen. Doch nachdem der Bundesrat die<br />

Zustimmung verweigerte, hat das Gesundheitsministerium seine Pläne vom Tisch genommen.<br />

Die »Pille danach« bleibt rezeptpflichtig.<br />

Von Bernward Büchner<br />

In zahlreichen Ländern ist sie bereits<br />

rezeptfrei zu haben, die »Pille<br />

danach«, nicht zu verwechseln mit<br />

der Abtreibungspille Mifegyne. Für die<br />

International Planned Parenthood Federation<br />

(IPPF) und deren deutsches Mitglied<br />

Pro Familia gebieten es die in den Rang<br />

von Menschenrechten erhobenen »sexuellen<br />

und reproduktiven Rechte«, den<br />

Zugang zu dieser Pille durch rezeptfreie<br />

Abgabe weltweit zu erleichtern.<br />

VERSTOSS GEGEN DIE<br />

SCHUTZPFLICHT DES STAATES<br />

In Deutschland waren entsprechende<br />

Bemühungen von Pro Familia bereits<br />

weit gediehen. Im Juli 2003 hatte das<br />

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte<br />

die Entlassung der »Pille<br />

danach«, das heißt von Arzneimitteln,<br />

die das Gestagen Levonorgestrel enthalten,<br />

aus der Rezeptpflicht befürwortet.<br />

Im Dezember 2003 veranstalteten der<br />

Landesverband Berlin von Pro Familia<br />

sowie das Familienplanungszentrum Berlin<br />

mit Unterstützung der Bundesanstalt<br />

für gesundheitliche Aufklärung im Berliner<br />

Abgeordnetenhaus eine Tagung »Pille<br />

danach <strong>–</strong> rezeptfreie Vergabe in Deutschland«.<br />

(Vgl. <strong>LebensForum</strong> Nr. 69 S. 21ff)<br />

In einem Offenen Brief an die politischen<br />

Entscheidungsträger machten sich<br />

die Teilnehmer dieser Tagung »mehrheitlich«<br />

die Forderung der Veranstalter<br />

zu eigen. Mädchen und Frauen müssten<br />

selbst entscheiden können, welche Form<br />

der »Nachverhütung« sie wählen wollten.<br />

Die Pille danach in die Nähe der Abtreibung<br />

zu rücken, sei weder ethisch noch<br />

medizinisch haltbar. Sie trage vielmehr<br />

dazu bei, die Zahl der ungewollten<br />

Schwangerschaften und damit auch der<br />

Abtreibungen zu reduzieren. Gynäkologinnen<br />

aus Frankreich und Schweden<br />

hatten allerdings bei der Tagung referiert,<br />

die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche<br />

in diesen Ländern sei seit der rezeptfreien<br />

26<br />

Abgabe der »Pille danach« nur geringfügig<br />

zurückgegangen.<br />

Mit der Bezeichnung der »Pille<br />

danach« als Mittel der »Nachverhütung«<br />

wird der falsche Eindruck erweckt, diese<br />

Pille wirke lediglich empfängnisverhütend.<br />

Offenbar soll darüber hinweggetäuscht<br />

werden, dass mit Hilfe der in der<br />

»Morning-after-pill« enthaltenen Substanzen<br />

die Einnistung (Nidation) einer<br />

bereits befruchteten Eizelle in der Gebärmutter<br />

- mit tödlicher Wirkung für den<br />

Embryo im Frühstadium seiner Entwicklung<br />

- verhindert werden kann. In den<br />

gebräuchlichen Lehrbüchern der Gynäkologie<br />

und Geburtshilfe ist dies leicht<br />

nachzulesen.<br />

Die Pille danach<br />

Weil ihre Wirkung bereits vor Abschluss<br />

der Einnistung des befruchteten<br />

Eies in der Gebärmutter eintritt, gilt die<br />

Einnahme der »Pille danach« zwar nicht<br />

als Schwangerschaftsabbruch im Sinne<br />

des Gesetzes (§ 218 Absatz 1 Satz 2 Strafgesetzbuch).<br />

Soweit sie dessen Nidation<br />

verhindert, tötet sie jedoch den Embryo,<br />

»Neben- und Wechselwirkungen<br />

der ›Pille danach‹ sind erheblich.«<br />

Ina Lenke (FDP) in einer Pressemitteilung<br />

dem <strong>–</strong> nicht anders als dem künstlich<br />

gezeugten in der Petrischale <strong>–</strong> bereits<br />

Menschenwürde und Lebensrecht zukommen.<br />

Angesichts des Schutzes des<br />

künstlich gezeugten Embryos durch das<br />

Embryonenschutzgesetz wäre die Zulassung<br />

erst recht einer rezeptfreien Abgabe<br />

der »Pille danach« inkonsequent und ein<br />

Niederlage für die<br />

Abtreibungslobby:<br />

Die frühabtreibenden »Pille<br />

danach«-Präparate Duofem<br />

von Hexal und Tetragynom<br />

von Schreing bleiben<br />

rezeptpflichtig.<br />

Verstoß gegen die Schutzpflicht des Staates,<br />

die ihm auferlegt, sich schützend vor<br />

das Leben Ungeborener zu stellen und<br />

seinen rechtlichen Schutzanspruch »im<br />

allgemeinen Bewusstsein zu erhalten und<br />

zu beleben« (Bundesverfassungsgericht).<br />

Das Bundesministerium für Gesundheit<br />

war gleichwohl bereit, den Forderun-<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>


gen von Pro Familia und anderen nachzukommen<br />

und die hierfür nach dem<br />

Arzneimittelgesetz erforderliche Rechtsverordnung<br />

zu erlassen. Hierfür bedurfte<br />

es allerdings der Zustimmung des Bundesrates,<br />

der sich jedoch in seiner Mehrheit<br />

den gegen das Vorhaben des Ministeriums<br />

vorgebrachten Bedenken<br />

angeschlossen hat.<br />

BUNDESVERBAND LEBENSRECHT ZEIGTE<br />

SCHWERE GESUNDHEITLICHE RISIKEN AUF<br />

In einem Schreiben an die Ministerpräsidenten<br />

der Bundesländer hatte der<br />

Bundesverband Lebensrecht (BVL) über<br />

den Hinweis auf die Schutzpflicht des<br />

Staates für das menschliche Leben hinaus<br />

schwere gesundheitliche Risiken aufgezeigt.<br />

Die »Pille danach« enthält nämlich<br />

eine Hormondosis, die mehrfach höher<br />

ist als diejenige herkömmlicher Kontrazeptiva.<br />

Aufgrund dessen wird dem Organismus<br />

der Frau wegen der bloßen<br />

Möglichkeit des Eintritts einer Befruchtung<br />

nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr<br />

eine hormonelle Belastung zugemutet,<br />

deren Risiken und Nebenwirkungen<br />

besonders bei jungen Frauen<br />

keineswegs zu vernachlässigen sind. Eine<br />

nur durch die Rezeptpflicht gewährleistete<br />

ärztliche Aufklärung hierüber erscheint<br />

unverzichtbar. Ferner stünde zu befürchten,<br />

dass die Möglichkeit des rezeptfreien<br />

»Mit der erforderlichen Zustimmung<br />

des Bundesrates ist nicht zu rechnen.«<br />

Bundesministerium für Gesundheit<br />

Erwerbs der »Pille danach« die Bemühungen<br />

um eine verantwortliche Empfängnisverhütung<br />

vor dem Geschlechtsverkehr<br />

insbesondere bei jungen Menschen<br />

deutlich erschweren würde.<br />

Die von den Lebensrechtlern erhobenen<br />

Bedenken werden auch von Vertretern<br />

der Ärzteschaft vielfach geteilt. Die<br />

frauenpolitische Sprecherin der FDP-<br />

Bundestagsfraktion Ina Lenke beispielsweise<br />

bezeichnete die »Pille danach« als<br />

ein ernst zu nehmendes Medikament, das<br />

sehr stark den Hormonhaushalt der Frau<br />

beeinflusse. Die Neben- und Wechselwirkungen<br />

des Präparats seien erheblich.<br />

Deshalb sei eine ärztliche Beratung und<br />

Überwachung der Einnahme unerlässlich.<br />

Ferner warnte die Präsidentin des Ärztinnenverbandes<br />

Astrid Buehren vor der<br />

Unterschätzung der gesundheitlichen<br />

Folgen der »Pille danach«. Es wäre das<br />

erste Hormonpräparat, das freigestellt<br />

würde.<br />

In einer dem Bundesverband Lebensrecht<br />

vorliegenden Antwort auf eine Anfrage<br />

der Bundestagsabgeordneten Dr.<br />

Maria Flachsbarth (CDU) vom 5. November<br />

2004 hat das Bundesministerium<br />

für Gesundheit inzwischen mitgeteilt, die<br />

Entlassung Levonorgestrelhaltiger Arzneimittel<br />

aus der Verschreibungspflicht<br />

sei »derzeit nicht in Aussicht genommen,<br />

da nicht mit der erforderlichen Zustimmung<br />

des Bundesrates zu rechnen ist.«<br />

Nach einem Schreiben des Bundeskanzleramts<br />

an den Bundesverband Lebensrecht<br />

vom 17. Dezember 2004 hat die<br />

Bundesregierung die Anregung eines Expertengremiums,<br />

die Arzneimittel zur<br />

Notfallkonzeption aus der Verschreibungspflicht<br />

herauszunehmen, »geprüft,<br />

aber nach enger Abstimmung mit den<br />

Bundesländern nicht aufgegriffen.« Nach<br />

einem Beschluss des Bundesrates vom<br />

selben Tag werde es nicht zu einer Änderung<br />

der Rechtslage kommen.<br />

DIE FEIER ENTFÄLLT,<br />

DIE MEDIEN SCHWEIGEN<br />

Erstaunlicherweise ist das für Pro Familia<br />

und seine Verbündeten enttäuschende<br />

Ergebnis ihres Bemühens bisher zu<br />

den Medien anscheinend nicht vorgedrungen.<br />

Hätte die in der Presse vielfach<br />

berichtete und wohlwollend kommentierte<br />

Initiative Erfolg gehabt, wäre dies<br />

gewiss längst als wichtiger Schritt zur<br />

vollständigen Anerkennung eines »Menschenrechts<br />

auf sexuelle und reproduktive<br />

Gesundheit« gefeiert worden. Da es nun<br />

aber nichts zu feiern gibt, wird offenbar<br />

vorgezogen, die Sache still zu beerdigen.<br />

Der Beitrag erschien zuerst am 27. Januar <strong>2005</strong><br />

in: Die Tagespost, S. 9<br />

IM PORTRAIT<br />

Bernward Büchner<br />

geb. 1937, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht,<br />

inzwischen im Ruhestand,<br />

ist seit 1985 Vorsitzender der<br />

Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V.<br />

(JVL) sowie seit<br />

2002 stellvertretender<br />

Vorsitzender<br />

des Bundesverband<br />

Lebensrecht (BVL).<br />

Büchner ist Mitglied<br />

der Aktion<br />

Lebensrecht für Alle (<strong>ALfA</strong>) und der<br />

Christdemokraten für das Leben (CDL).<br />

KURZ & BÜ NDIG<br />

»Pille danach«-Hotline eingerichtet<br />

Rechtzeitig zum Straßenkarneval hat die<br />

Organisation Pro Familia eine Telefon-Hotline<br />

für die »Pille danach« eingerichtet. Für 12<br />

Cent pro Minute erhalten Anrufer rund um<br />

die Uhr (Des)Informationen über das frühabtreibende<br />

Präparat. Die automatischen Ansagen<br />

können auf Deutsch, Türkisch, Englisch<br />

und Russisch abgerufen werden. Damit solle,<br />

so Pro Familia, »sicher gestellt werden, dass<br />

MigrantInnen in gleichem Maße von dem<br />

neuen Service profitieren«. Mit der Hotline<br />

will Pro Familia das als »Methode der<br />

Nachverhütung« verharmloste Präparat nach<br />

eigenen Angaben »bekannter machen« und<br />

»der Forderung nach rezeptfreier Abgabe<br />

Nachdruck verleihen«.<br />

reh<br />

Clinton lobt sexuelle Enthaltsamkeit<br />

US-Senatorin Hillary Clinton hält die von den<br />

Republikanern propagierte sexuelle Enthaltsamkeit<br />

für geeignet,<br />

um die wachsende<br />

Zahl von<br />

Abtreibungen einzudämmen.<br />

Bei einer<br />

Rede in Albany,<br />

der Hauptstadt des<br />

Staates New York,<br />

äußerte sich die<br />

Hillary Clinton<br />

frühere »First Lady«<br />

lobend über »moralische<br />

und religiöse<br />

Werte«, die Jugendliche<br />

zum Verzicht auf den Geschlechtsverkehr<br />

ermunterten. »Wir unterstützen diese Programme,<br />

sie sind nicht nur intelligent, sondern<br />

auch gerechtfertigt.« Mitte Dezember hatte<br />

bereits der gescheiterte Präsidentschaftskandidat<br />

John Kerry seine Partei aufgefordert,<br />

sich kritischer mit dem Thema Abtreibung<br />

auseinander zu setzen. Die Demokraten müssten<br />

deutlicher machen, dass sie Abtreibungen<br />

nicht gut fänden und mehr Lebensrechtler in<br />

ihre Reihen aufnehmen.<br />

reh<br />

Planned Parenthood-Chefin tritt ab<br />

Gloria Feldt, Präsidentin der weltweit größten<br />

Abtreibungsorganisation »Planned Parenthood«<br />

scheidet überraschend aus dem Amt.<br />

Dem <strong>Magazin</strong> »Newsweek« sagte Feldt, dies<br />

gehöre zur Strategie. Die Strategie der Abtreibungslobby<br />

gleiche einem Staffellauf: »Du<br />

machst Deine Runde und übergibst deinen<br />

Stab an den Nächsten. So funktioniert es.«<br />

Laut des aktuellsten Jahresberichts von Planned<br />

Parenthood erzielt die Organisation 34<br />

Prozent ihrer Einnahmen durch Abtreibungen.<br />

Nur 17 Prozent sind private Spenden, der<br />

Großteil stammt aus Regierungsgeldern. reh<br />

US SENAT<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 27


GESELLSCHAFT<br />

Geschäftstüchtig sorgt »pro familia« dafür, dass die<br />

Nachfrage nach ihren Dienstleistungen nicht abreißt.<br />

Pro Familia hat eine neue Geschäftsidee entwickelt: Zu »Sexperten«<br />

ausgebildete Teenager sollen jüngere Mitschüler zu frühem Sex<br />

ermuntern. Denn für Abtreibungen gibt es schließlich pro familia.<br />

Pro Familia plant für das laufende<br />

Jahr an vier mittelhessischen<br />

Schulen ein »Peer-Education-<br />

Projekt«. Dabei sollen 14/15-jährige<br />

Schüler/innen in fünf dreistündigen Schulungen<br />

von Pro Familia-Mitarbeitern<br />

darauf »trainiert« werden, in den Klassen<br />

ihrer Schule im Zweierteam selbständig<br />

Sexualkundeunterricht abzuhalten. Vorgesehen<br />

sind in den 7., 8. und 9. Klassen<br />

jeweils drei mal zwei Stunden Sexualaufklärung<br />

durch die »peer educators«. Aus<br />

den Schulungsunterlagen geht hervor,<br />

dass die »Inhalte der Schulung der peereducators«<br />

den zu vermittelnden Klasseninhalten<br />

entsprechen. In den beiden<br />

ersten Schulungstreffen steht auf dem<br />

Stundenplan: »Weiblicher, männlicher<br />

Körper, Zyklus, Spermien; Verhütungsmittel,<br />

Vor- und Nachteile, Pille danach,<br />

schwanger werden, Abbruch«.<br />

Von der Schulleiterin der beteiligten<br />

Kestner-Schule in Wetzlar wird das Konzept<br />

so charakterisiert: »Dieser Baustein<br />

ist als bester Ansatz gedacht, um mit<br />

Jugendlichen ins Gespräch zu kommen<br />

und sie zu sensibilisieren, sich der Thematik<br />

enttabuisiert und damit offen zu<br />

nähern, Fragen zu stellen und kompetente<br />

Antworten sowie Hilfestellungen zu erhalten«<br />

(Schreiben vom 11.11.04). Pro<br />

Familia als Betreiber des Programms lobt<br />

sich folgendermaßen: »Ziel des Projekts<br />

ist eine bewusste Auseinandersetzungen<br />

von Jugendlichen mit sich selbst. (...)<br />

Begegnungen von Gleichaltrigen zum<br />

Thema, sexuelle Identitätsbildung, Austausch,<br />

selbständige Durchführung der<br />

28<br />

Lernziel Sex<br />

Von Hubert Hecker<br />

Veranstaltung, Meinungsbildung, Förderung<br />

von Engagement, Werte und Normen<br />

zu hinterfragen und zu besprechen,<br />

Kommunikation und Persönlichkeitsförderung.«<br />

Der Ansatz der so genannten Gleichaltrigen-Erziehung,<br />

also dass Schüler<br />

ihren Mitschüler/innen bei unterrichtlichen<br />

Inhalten helfen und nachhelfen,<br />

erklären und üben, repetieren und ggf.<br />

sogar kleinere Unterrichtsabschnitte unter<br />

Anleitung und Aufsicht des Lehrers übernehmen<br />

können, ist keine neue pädagogische<br />

Erkenntnis und wird an vielen<br />

Schulen praktiziert. Etwas völlig anderes<br />

ist bei diesem Projekt geplant: Eine schulfremde<br />

Beratungsinstitution, deren Mitarbeiter<br />

keine schulpädagogische Ausund<br />

Fortbildung absolviert haben, »trainieren«<br />

mit verbandseigenen Methoden<br />

und Zielen 14jährige Schüler/innen als<br />

»Multiplikatoren«, die dann in ihrer<br />

Schule »eigenständigen« Sexualkundeunterricht<br />

abhalten sollen. Wenn dieser<br />

Weg pädagogisch sinnvoll wäre, würde<br />

er die gesamte Aus- und Fortbildung von<br />

Lehrern in Frage stellen. Schule und<br />

Schulaufsicht verzichten darüber hinaus<br />

auf Kontrolle von Inhalten und Pädagogik;<br />

Pro Familia macht, was es will, z. B.<br />

Sexualkunde in der 7. und 8. Klasse, wo<br />

es laut Lehrplan gar nicht vorgesehen ist,<br />

und propagiert Ziele, die gegen den Erziehungsauftrag<br />

der Schule gerichtet sind.<br />

Es ist ausgeschlossen, dass 14jährige<br />

Schüler/innen zu den höchst komplexen<br />

Fragen von »Verhütungsmitteln, Pille<br />

danach, Schwangerschaft, Abtreibungen«<br />

DANIEL RENNEN<br />

und Post-Abortion-Syndrom »kompetente<br />

Antworten und Hilfestellungen«<br />

geben können, wie die Schulleiterin der<br />

Wetzlarer Kestner-Schule behauptet. Die<br />

Themen um Sexualität, Abtreibung, Kinder<br />

und Familie sind nicht nur psychologisch<br />

gesehen hoch sensible Bereiche und<br />

in der pädagogischen Vermittlung anspruchsvoll,<br />

sondern auch in der sozialen<br />

und rechtlichen Dimension mit komplexen<br />

Fragestellungen verbunden, zu denen<br />

14jährige in keiner Weise mit Hintergrundwissen<br />

und Erörterungszugängen<br />

beitragen können.<br />

Die ethischen Gesichtspunkte bzw. die<br />

entsprechende Verantwortung bei diesen<br />

Themenkomplexen ist besonders hervorzuheben.<br />

Gesellschaftspolitisch hat die<br />

Sexualerziehung »die grundlegende Bedeutung<br />

von Ehe und Familie zu vermitteln«<br />

(§ 7 des Hessischen Schulgesetzes,<br />

»Sexualerziehung«). Von diesen grundgesetzlich<br />

verankerten Werten als gesellschaftliche<br />

Lernziele, von Sexualpädagogik<br />

als Teil der Persönlichkeitserziehung<br />

und dem Ziel einer sittlichen Reife mündiger<br />

Menschen, wie es das Bundesverfassungsgericht<br />

im einschlägigen Urteil<br />

1977 aussagt, ist das Sexualprogramm<br />

von Pro Familia meilenweit entfernt. Es<br />

ist im Gegenteil zu erwarten, dass Pro<br />

Familia diese Schulschiene dazu benutzen<br />

will, seinen Blitz-Beratungs- und Verharmlosungsansatz<br />

bei Abtreibungen in<br />

den Schülerköpfen zu »multiplizieren«.<br />

»Alles ausprobieren,<br />

wenn man Lust dazu hat.«<br />

Zitat aus Pro Familia-Broschüre<br />

Aus der Pro Familia-Broschüre: »Du<br />

veränderst dich. …mehr darüber wissen«<br />

für 13- bis 16Jährige ergibt sich das Programm<br />

einer hedonistischen Lebensführung,<br />

das Pro Familia über die Schüler-<br />

Multiplikatoren an die Siebt- und Achtklässler<br />

vermitteln will. Auf S. 14 heißt<br />

es: »Das Glied (umgangsprachlich auch<br />

Schwanz, Pimmel …) ist nicht nur zum<br />

Wasserlassen (Pinkeln) da. Sondern vor<br />

allem auch ›zum Sex haben‹ und Lust<br />

erleben <strong>–</strong> das kann Selbstbefriedigung<br />

sein, oder Geschlechtsverkehr (miteinander<br />

schlafen), oder alles mögliche andere«.<br />

Und: »Alles ausprobieren, wenn man<br />

dazu Lust hat«, auch Anal- und Oralver-<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>


kehr sowie »Sexualität mit sich ganz alleine«.<br />

Mit solchen Sprüchen werden die<br />

Jugendlichen auf eine reduktionistische<br />

Sex-Spur gesetzt und mit »allem möglichen<br />

anderen« wird die Phantasie eines<br />

13Jährigen sicher lebenskundig angereichert<br />

und zur weiteren Internet-Recherche<br />

angeregt. Es ist also völlig berechtigt,<br />

dass die Wetzlarer Neue Zeitung die von<br />

Pro Familia trainierten Schüler-Multiplikatoren<br />

als junge »Sexperten« bezeichnet.<br />

Pro Familia betreibt eine Frühsexualisierung<br />

von Jugendlichen, propagiert<br />

einen möglichst frühen Geschlechtsverkehr<br />

<strong>–</strong> auch ohne Wissen und gegen den<br />

Willen der Eltern. In der besagten Broschüre<br />

heißt es: »Es war richtig gut, dass<br />

wir die Wohnung ganz für uns hatten,<br />

weil ihre Eltern weg waren. (...) Sie war<br />

viel entspannter, aktiver, leidenschaftlicher<br />

als damals meine Exfreundin«, sagt ein<br />

14jähriger Junge. Solche Geschichten im<br />

»Bravo«-Stil werden bis heute hunderttausendfach<br />

in hessischen Schulen über<br />

die Pro Familia-Broschüren und -Sexualpädagogen<br />

an junge Schüler vermittelt.<br />

Bei den jungen Lesern wird für »das erste<br />

Mal« ein Leistungsdruck aufgebaut, der<br />

von Aktivität und Leidenschaft nur so<br />

strotzt. Schließlich ist die indirekte Aufforderung<br />

an die Schüler/innen, frühesten<br />

Geschlechtsverkehr ohne Wissen und<br />

evtl. gegen den Willen der Eltern zu<br />

vollziehen, ein Vertrauensbruch zwischen<br />

Schule und Elternhaus. Die für den Sexualkundeunterricht<br />

verantwortlichen<br />

Lehrer sind verpflichtet, die Eltern über<br />

dieses Material und die Inhalte des Unterrichts<br />

zu informieren. Welche Eltern<br />

können dem zustimmen?<br />

Bei so viel frühsexueller Leidenschaft<br />

wird natürlich irgendwann »was schief<br />

gehen mit der Verhütung«. Kein Problem<br />

für Pro Familia: »Denn es gibt noch die<br />

Pille danach und die Spirale danach«.<br />

Und wenn auch das »schief geht«, gibt<br />

es für den Fall, dass »die Schwangerschaft<br />

zu große Probleme verursachen würde«,<br />

ja noch die »Abbruch«-Beratungsstellen<br />

von Pro Familia. Der Inhalt der dort<br />

getätigten Blitz-Beratungen wird den<br />

Schülern so vermittelt: Die Abreibung<br />

selbst sei »nicht riskant«, denn sie bedeutet<br />

nur, »dass die oberste Schicht der<br />

Gebärmutterschleimhaut und mit ihr der<br />

Embryo (das ist die mehr oder weniger<br />

entwickelte befruchtete Eizelle) aus der<br />

Gebärmutter entfernt werden. Das kann<br />

durch Absaugen oder Ausschaben geschehen<br />

oder durch Einnahme einer Pille, die<br />

die Abstoßung des Gebärmutterinhalts<br />

bewirkt« (S. 66-68). Das also sind die<br />

»kompetenten Antworten sowie Hilfestellungen«,<br />

auf die Pro Familia unter der<br />

Überschrift »Abbruch« die Multiplikatoren-Schüler<br />

trainiert und diese so geschulten<br />

jungen Sexperten sollen dann diese<br />

verharmloste Abtreibung ihren Mitschüler/innen<br />

nahe bringen.<br />

Was Pro Familia in seinen Programmen,<br />

Broschüren, Beratungsstellen, Schulungen<br />

und somit auch in Schulen über<br />

Abtreibungen verbreitet, verstößt in jeder<br />

Hinsicht gegen Recht und Gesetz, Bundesverfassungsgerichtsurteile<br />

und gesellschaftliche<br />

Ethik. Im geltenden § 219<br />

heißt es zum Thema Lebensschutz, was<br />

in gleicher Weise für die schulische Vermittlung<br />

gilt: »(1) Die Beratung dient<br />

dem Schutz des ungeborenen Lebens.<br />

Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu<br />

lassen, die Frau zur Fortsetzung der<br />

Schwangerschaft zu ermutigen und ihr<br />

Perspektiven für ein Leben mit dem Kind<br />

»Sie war viel leidenschaftlicher<br />

als meine Exfreundin.«<br />

Zitat aus pro familia-Broschüre<br />

zu eröffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche<br />

und gewissenhafte Entscheidung<br />

zu treffen. Dabei muss der Frau<br />

bewusst sein, dass das Ungeborene in<br />

jedem Stadium der Schwangerschaft (also<br />

auch als ›befruchtete Eizelle‹) auch ihr<br />

gegenüber ein eignes Recht auf Leben<br />

hat und dass deshalb nach der Rechtsordnung<br />

ein Schwangerschaftsabbruch nur<br />

in Ausnahmesituationen in Betracht kommen<br />

kann, wenn der Frau durch das Austragen<br />

des Kindes eine Belastung erwächst,<br />

die so schwer und außergewöhnlich<br />

ist, dass sie die zumutbare Opfergrenze<br />

übersteigt.« Für die Schulen hat das<br />

Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil<br />

von 1993 den Lebensschutz zur besonderen<br />

Aufgabe gemacht: »Der Schutzauftrag<br />

verpflichtet den Staat schließlich<br />

auch, den rechtlichen Schutzanspruch<br />

des ungeborenen Lebens im allgemeinen<br />

Bewusstsein zu erhalten und zu beleben.<br />

Deshalb müssen die Organe des Staates<br />

in Bund und Ländern erkennbar für den<br />

Schutz des Lebens eintreten. Das betrifft<br />

auch und gerade die Lehrpläne der Schule.«<br />

Nach dem Bericht der Bundesregierung<br />

auf eine Anfrage der CDU/CSU-<br />

Bundestagsfraktion ist zwischen 1996 bis<br />

2003 die Zahl der Abtreibungen bei Minderjährigen<br />

von 4724 um 61,8 Prozent<br />

auf 7.645 gestiegen; bei Mädchen unter<br />

15 Jahren hat sich die Abtreibungszahl<br />

im gleichen Zeitraum auf 715 fast verdoppelt.<br />

Pro Familia dagegen sieht sich durch<br />

diese Entwicklung der Jugend-<br />

Abtreibungen, bei denen sie kräftig mitgewirkt<br />

und mitverdient hat, in ihrer<br />

Strategie bestärkt, noch mehr und für<br />

noch jüngere Schüler ihren Aufklärungsund<br />

Verführungsunterricht anzubieten.<br />

Dabei ist dieses laute Haltet-den-Dieb-<br />

Rufen leicht als verlogene Geschäftsmasche<br />

von Pro Familia zu erkennen: Aufgrund<br />

der massiven Frühsexualisierung<br />

durch Pro Familia-Broschüren und -Sexperten,<br />

wird es unweigerlich zu einer<br />

steigenden Zahl von Frühschwangerschaften<br />

kommen. Und diesen schwangeren<br />

Mädchen bietet Pro Familia dann ihre<br />

Beratungs- und Abtreibungsscheine an,<br />

die anschließend in den verbandseigenen<br />

Abtreibungskliniken eingelöst werden<br />

können. Für jede Blitz-Beratung bekommt<br />

Pro Familia einen staatlichen<br />

Zuschuss von ca. 50 Euro, für jede Abtreibung<br />

kassiert die Organisation<br />

mehrere hundert Euro.<br />

Die Lüneburger Ärztin Dr. Gille hat<br />

in einer breit angelegten Untersuchung<br />

festgestellt, dass 80 Prozent der Jugendlichen<br />

im Nachhinein wünschen, sie<br />

hätten »mit dem Sex noch warten sollen«<br />

(Der Gynäkologe, 7/2004). Auf diesem<br />

Hintergrund muss man die Frühsexualisierung<br />

in den Aufklärungsbroschüren<br />

und -schulungen von Pro Familia tatsächlich<br />

als Verführungspädagogik charakterisieren.<br />

Das heisst konkret: die Kinder<br />

und Jugendlichen haben von sich aus das<br />

Gefühl oder die Einstellung, dass sie nicht<br />

so früh mit dem Sex beginnen sollten,<br />

werden dann aber von Pro Familia dazu<br />

ermuntert <strong>–</strong> alle Bedenken und Risiken<br />

herunterspielend <strong>–</strong>, bedenkenlos mit einer<br />

Sexualbeziehung zu beginnen. Diese Pro<br />

Familia-Verführungspädagogik steht dem<br />

Erziehungsanspruch und -auftrag von<br />

Elternhaus und Schule diametral entgegen.<br />

Aus diesem Grund sollten die Pro<br />

Familia-Schriften und -Sexperten strikt<br />

aus der Schule herausgehalten werden.<br />

IM PORTRAIT<br />

Hubert Hecker<br />

Der Autor, Jahrgang 1947, ist Oberstudienrat<br />

in Hadamar<br />

/Westerwald. Er<br />

unterrichtet katholische<br />

Religionslehre,<br />

Geschichte<br />

sowie Politik und<br />

Wirtschaft.<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 29


B Ü CHERFORUM<br />

Vielleicht geht es in der Debatte<br />

um Sterbehilfe dem Selbstbestimmungsrecht<br />

ähnlich wie der<br />

Menschenwürde in der bioethischen<br />

Diskussion. Die Häufigkeit ihrer Zitate<br />

und ihre besonderen<br />

Akzentuierungen<br />

haben beide<br />

Begriffe für die<br />

breite Öffentlichkeit<br />

eher undeutlicher<br />

gemacht.<br />

Anhand der eingehenden Analyse USamerikanischer,<br />

englischer und deutscher<br />

Rechtsprechungsverfahren zeigt der Jurist<br />

Oliver Tolmein, wie viel<br />

Skepsis gegenüber der<br />

Ermittlung der »mutmaßlichen<br />

Einwilligung«<br />

mit Hilfe von Angehörigen<br />

oder Betreuern als<br />

einer erweiterten Form<br />

von »Selbstbestimmung«<br />

angebracht ist, wenn es<br />

um die Sterbehilfe bei<br />

Wachkomapatienten<br />

geht. Paralleles gilt für<br />

das »substituted judgement«<br />

im Betreuungsrecht<br />

der USA und den<br />

britischen »Best interest-<br />

Standard«. Hier drängt<br />

sich immer wieder die<br />

Außenperspektive in den Vordergrund,<br />

d. h., der Wachkomapatient wird in seinem<br />

Zustand, selbst von Richtern, nahezu<br />

ausnahmslos als Schwerstbehinderter<br />

wahrgenommen, seine Situation als »aussichtsloser«<br />

Fall mit »infauster Prognose«<br />

definiert, als »menschenunwürdig« oder<br />

»nicht mehr lebenswert« bemitleidet und<br />

im Endeffekt fehl beurteilt, d.h. diskriminiert.<br />

Tolmein macht deutlich, dass auch<br />

Vormundschaftsgerichte überfordert sind,<br />

wenn sie über den Abbruch der künstlichen<br />

Ernährung entscheiden und damit<br />

das Urteil über Leben und Tod des Betroffenen<br />

fällen sollen.<br />

Weitere Schwierigkeiten: Niemand<br />

weiß Sicheres über die Wahrnehmungsfähigkeit<br />

solcher Patienten und deren<br />

Kommunikationsmöglichkeiten nichtsprachlicher<br />

Art. Die Prognose über den<br />

individuellen Verlauf lässt sich nur vage<br />

stellen. Ferner entspricht der Inhalt einer<br />

Patientenverfügung insofern nie der gegenwärtigen<br />

Situation, als sie aktuelle<br />

Patientenwünsche nicht befriedigend<br />

antizipieren kann. Die aus früheren Äußerungen<br />

abgeleitete »Selbstbestimmung«<br />

über Lebenserhaltung oder Behandlungsverzicht<br />

beruht also auf einer<br />

Fiktion. Trotzdem gilt das »Kemptener<br />

30<br />

Wie autonom<br />

ist der Patient?<br />

Urteil« (1995) bislang als juristisches<br />

exemplum, um das Konzept der mutmaßlichen<br />

Einwilligung trotz dogmatischer<br />

Unschärfe rechtspolitisch zu nutzen und<br />

die Grundsatzdebatte um Verzicht oder<br />

Abbruch von Behandlungsmaß-<br />

nahmen bei nichteinwilligungsfähigen<br />

Patienten voranzutreiben.<br />

Es gibt auch<br />

praktische Einwände: viele Wachkomapatienten<br />

werden trotz Schluckfähigkeit<br />

nur deswegen über eine Sonde ernährt,<br />

weil dies weniger aufwändig<br />

und damit ökonomischer<br />

ist als die Löffelernährung.<br />

Tolmein stellt den bisherigen<br />

Konzepten den<br />

»bedürfnisorientierten<br />

Ansatz« gegenüber, der<br />

sich am Patienten orientiert<br />

und mit dem deutschen<br />

Betreuungsrecht<br />

vereinbar wäre. Doch<br />

auch das »aktuelle Bedürfnis«<br />

des Patienten<br />

untersteht notwendigerer<br />

Weise der Interpretation<br />

durch Arzt und Betreuer.<br />

In Zweifelsfällen könnten<br />

Verfahrenspfleger bestellt werden. Das<br />

Strafrecht muss gerade hier als Garantie<br />

für den Lebensschutz erhalten bleiben,<br />

so Tolmein, zumal aufgrund einer fiktiven<br />

»mutmaßlichen Einwilligung« sonst auch<br />

andere schwerstbehinderte Menschen<br />

ihres Lebens nicht mehr sicher wären<br />

und eine Euthanasie-Lösung nach niederländisch-belgischem<br />

Muster resultieren<br />

könnte. Skepsis ist allerdings gegenüber<br />

Tolmeins Vorschlag angebracht, eine<br />

Lösung parallel zum §218a StGB zu suchen,<br />

nämlich »die passive Sterbehilfe<br />

nach Einhalten des dafür vorgesehenen,<br />

de lege ferenda (...) zu regelnden betreuungsrechtlichen<br />

Verfahrens« straffrei zu<br />

ermöglichen. Ob sich dann aber nicht<br />

auch wie hinter dem »mutmaßlichen<br />

Willen« verstärkt oder überwiegend die<br />

Interessen von Angehörigen und ökonomischen<br />

Dienstleistern durchsetzen und<br />

diese »ungeschoren« bleiben? Ein lesenswerter<br />

Beitrag für die juristische und<br />

politische Diskussion: für Lebensrechtler.<br />

Dr. Maria Overdick-Gulden<br />

Oliver Tolmein<br />

Selbstbestimmungsrecht und Einwilligungsfähigkeit<br />

Frankfurt a. M. 2004. 312 Seiten. 32,00 EUR<br />

Im Schaufenster<br />

Klinische<br />

Sterbehilfe und<br />

Menschenwürde<br />

Der Umgang mit dem<br />

sterbenden Menschen<br />

stellt seit jeher einen<br />

besonderen Gradmesser<br />

für die Humanität<br />

einer Gesellschaft dar.<br />

Die in diesem Band<br />

versammelten Beiträge basieren auf einem<br />

interdisziplinären Symposium, das in der Villa<br />

La Collina am Comer See, im Rahmen der<br />

Cadenabbia-Gesprächsreihe »Medizin-Ethik-<br />

Recht« der Konrad-Adenauer-Stiftung stattfand,<br />

und in dessen Verlauf namhafte Theologen,<br />

Philosophen, Historiker, Mediziner und<br />

Juristen zentrale Fragen der Sterbehilfe über<br />

Fach- und Ländergrenzen hinweg miteinander<br />

diskutierten. Wer bislang noch wenig Gelegenheit<br />

hatte, sich eingehender mit grundlegenden<br />

Fragen des Themas zu befassen oder<br />

wer nach Fallbeispielen aus der klinischen<br />

Praxis Ausschau hält, wird hier garantiert<br />

fündig werden. Fazit: Eine lohnende Lektüre.<br />

reh<br />

Volker Schumpelick (Hrsg.): Klinische Sterbehilfe<br />

und Menschenwürde <strong>–</strong> Ein deutsch-niederländischer<br />

Dialog. Herausgegeben im Auftrag der Konrad-<br />

Adenauer-Stiftung. Herder, Freiburg i.Br., Dezember<br />

2003. 464 Seiten. 18,00 EUR.<br />

Das Werden<br />

des Lebens<br />

In den bioethischen<br />

Debatten hat sich<br />

Nobelpreisträgerin<br />

Christiane Nüsslein-<br />

Volhard nicht selten<br />

mit Nachdruck zu<br />

Wort gemeldet. Als<br />

Mitglied des Nationalen<br />

Ethikrats zählt<br />

die Direktorin am Max-Planck-Institut für<br />

Entwicklungsbiologie zudem zu jenen Akteuren,<br />

die direkt Einfluss auf die Gestaltung der<br />

Biopolitik nehmen. Ihr jüngstes Buch wird<br />

vom Verlag zu Recht als »spannende Reise<br />

durch die Geschichte der Entwicklungsbiologie«<br />

beworben, auf welcher »der Leser die<br />

wunderbar anmutenden Vorgänge der Gestaltbildung<br />

kennen« lerne. Bemüht die stellenweise<br />

komplizierte Materie verständlich und<br />

mit Zeichnungen auch anschaulich zu machen,<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>


ist der Autorin ein lesenwertes Werk gelungen,<br />

das auch Laien wichtige Erkenntnisse der<br />

Entwicklungsbiologie näher zu bringen vermag.<br />

Deutlichen Widerspruch verdienen jedoch die<br />

Thesen, die sie im letzten, dem einzigen biopolitischen<br />

Kapitel aufstellt und in dem etwa<br />

als »Mensch« erst »der Säugling« definiert<br />

wird, »der zur Not auch ohne Mutter weiterleben«<br />

kann. Hier erweist sich die Autorin als<br />

Anhängerin eines Szientizismus, der, weil er<br />

Teilaspekte als ganze Wahrheit ausgibt, zu<br />

eklatanten Fehlschlüssen führt. Es ist nicht<br />

ohne Tragik, wie wenige Seiten Nüsslein-<br />

Volhard ausreichen, um ihr sonst gelungenes<br />

Buch selbst zu diskreditieren.<br />

reh<br />

Christiane Nüsslein-Volhard: Werden des Lebens.<br />

Wie Gene die Entwicklung steuern. C.H. Beck, München<br />

2004. 208 Seiten, 55 Abbildungen. 19,90 EUR.<br />

Menschenwürde<br />

und Lebensschutz<br />

In einem lässt sich<br />

den Autoren des<br />

vorliegenden Bandes<br />

gewiss zustimmen:<br />

Kaum ein Begriff hat<br />

in der bioethischen<br />

Debatte eine so inflationäre<br />

Verwendung<br />

gefunden, wie<br />

der der »Menschenwürde«. Während die einen<br />

mit ihr sowohl das Verbot der Abtreibung, der<br />

Euthanasie als auch der verbrauchenden Embryonenforschung<br />

begründen, bringen andere<br />

den Begriff in Anschlag, um mit ihm das Klonen<br />

zu Forschungszwecken, die Präimplantationsdiagnostik<br />

(PID) und die »Tötung auf Verlangen«<br />

salonfähig zu machen. Dass die Autoren,<br />

drei protestantische Theologen, den Versuch<br />

unternehmen, systematisch Geschichte und<br />

theologische Deutung des Menschenwürdekonzepts<br />

aufzuarbeiten, ist begrüßenswert,<br />

der vorliegende Band jedoch ein Paradebeispiel<br />

dafür, wie katastrophal so etwas misslingen<br />

kann. Von der zuvor als »bedingungsloser<br />

Zuspruch und Anspruch Gottes an den<br />

leiblichen Menschen« definierten Menschenwürde<br />

bleibt am Ende des Buches kaum mehr<br />

etwas übrig. Allein bei der aktiven Sterbehilfe<br />

scheuen sich die Autoren, die überdies eine<br />

völlig unzureichende Vorstellung von Leiblichkeit<br />

besitzen, die Vermeidung von Leid zu<br />

einem Prinzip zu erheben, das jeden Wunsch<br />

rechtfertigt. Fazit: Gut verzichtbar.<br />

reh<br />

Peter Dabrock, Lars Klinnert, Stefanie Schardien: Menschenwürde<br />

und Lebensschutz. Herausforderungen<br />

theologischer Bioethik. Gütersloher Verlagshaus<br />

2004. 368 Seiten. 29,95 EUR.<br />

Bücher, die sich mit der demographischen<br />

Katastrophe auseinandersetzen,<br />

der ganz Europa<br />

mit Riesenschritten entgegen eilt, haben<br />

Konjunktur. Viele Titel lohnen die Lektüre,<br />

so etwa »Das<br />

Methusalem-<br />

Komplott«, von<br />

F.A.Z-Herausgeber<br />

Frank Schirrmacher,<br />

»Die demographische<br />

Zeitenwende«<br />

des Bevölkerungswissenschaftlers<br />

Herwig Birg oder »Die Pyramide<br />

steht Kopf« des Autorenehepaars Roland<br />

und Andrea Tichy.<br />

Doch nur eines ist bisher<br />

unverzichtbar. Denn<br />

»kinderlos. Europa in der<br />

demographischen Falle«,<br />

aus der Feder des Journalisten<br />

und Publizisten<br />

Stephan Baier, liefert nicht<br />

nur die schonungsloseste,<br />

sondern auch die ehrlichste<br />

Analyse des Problems.<br />

So macht Baier<br />

etwa die Massenabtreibungen<br />

in Europa der<br />

letzten Jahrzehnte als die<br />

eigentliche Ursache für<br />

den fehlenden Nachwuchs<br />

aus. Demographisch<br />

betrachtet würden europaweit<br />

»zwar nahezu ausreichend Kinder gezeugt,<br />

aber viel zu wenige geboren.«<br />

Allein in Deutschland werden <strong>–</strong> veranschaulicht<br />

Baier in seinem mutigen, im<br />

Aachener MM-Verlag erschienenen Buch<br />

<strong>–</strong> »Tag für Tag rund 30 Schulklassen<br />

abgetrieben <strong>–</strong> einschließlich Samstag und<br />

Sonntag.« Die Folge: Immer wenige Erwerbstätige<br />

müssen nun die explodierenden<br />

Kosten schultern, die Pensionen und<br />

Renten, Gesundheit und Pflege von immer<br />

mehr erwerbslosen Menschen mit<br />

steigender Lebenserwartung verursachen.<br />

Unter den wachsenden finanziellen Belastungen<br />

würden sich jedoch nicht nur<br />

immer weniger Paare für Kinder entscheiden,<br />

und so selbst zu einer weiteren Verschärfung<br />

der Lage beitragen. Unweigerlich<br />

würden die Jungen auch den Alten<br />

»das Tor zur Euthanasie« immer weiter<br />

aufstoßen.<br />

Was das Buch besonders wertvoll<br />

macht, ist dass der Autor, der auch regelmäßig<br />

im <strong>LebensForum</strong> publiziert, keineswegs<br />

bei seiner faktenreichen Beschreibung<br />

künftiger Szenarien stehen bleibt,<br />

sondern gangbare Wege aus der Krise<br />

aufzeigt. Der »Krieg der Generationen«,<br />

der drohende Verteilungskampf zwischen<br />

Krieg der<br />

Generationen<br />

jungen und alten Menschen, so die These<br />

dieses Buches, das einem wahren Augenöffner<br />

gleichkommt, ist »kein unbeeinflussbares<br />

Schicksal, dem wir wehrlos<br />

entgegen treiben«. Er lässt sich verhindern.<br />

Dafür sei<br />

allerdings, so Baier,<br />

eine »radikale<br />

Wende« notwendig.<br />

Nur wenn<br />

Politik und Gesellschaft<br />

die Familie<br />

künftig ganz ins Zentrum all ihrer<br />

Bemühungen rückten, könne die Katastrophe<br />

noch abgewendet werden. Dabei<br />

präsentiert Baier als einer<br />

der wenigen Vorschläge, die<br />

nicht vor allem zu Lasten<br />

älterer Generationen gehen.<br />

So fordert der Autor etwa,<br />

die öffentliche Hand solle,<br />

anstatt Millionen Euro in ein<br />

»immer engeres und flächendeckenderes<br />

Netz« von<br />

Kinderbetreuungseinrichtungen<br />

zu pumpen, dieses<br />

Geld den Eltern »in die<br />

Hand geben« und so für eine<br />

echte Wahlfreiheit zwischen<br />

Familie und Beruf sorgen.<br />

Erst dann könnten Eltern<br />

tatsächlich entscheiden, »ob<br />

sie sich selbst hauptamtlich<br />

um Erziehung und Betreuung ihrer Kinder<br />

kümmern«, und die steuerlichen Vorteile<br />

als eine Art »Erziehungsgehalt«<br />

verbuchen wollen oder ob sie einer außerfamiliären<br />

Berufsarbeit nachgehen<br />

und mit dem Geld eine von mehreren<br />

Kinderbetreuungsmöglichkeiten finanzieren<br />

wollen. Bemerkenswert sind auch<br />

die Vorschläge, die der Autor zur Einführung<br />

eines Familienwahlrechts sowie zur<br />

Abschaffung der Erbschaftssteuer macht.<br />

Für noch wichtiger als den richtigen Gebrauch<br />

der steuer- und sozialpolitischen<br />

Instrumente scheint dem Autor jedoch<br />

der Wechsel der Mentalität zu sein, den<br />

er für unverzichtbar erklärt. Denn ohne<br />

eine Abkehr von der »Selbstverwirklichungsideologie«<br />

hin zu einem »Bekenntnis<br />

persönlicher Verantwortung« könne<br />

die »Barbarisierung der europäischen<br />

Wohlstandsgesellschaft« nicht gestoppt<br />

werden. Fazit: Eine Pflichtlektüre für<br />

Politiker und jeden, der sich um das Gemeinwohl<br />

müht.<br />

Stefan Rehder, M.A.<br />

Stephan Baier<br />

kinderlos. Europa in der demographischen Falle<br />

MM-Verlag, Aachen 2004, 280 Seiten.18,00 EUR<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 31


KURZ VOR SCHLUSS<br />

Expressis verbis<br />

»<br />

Es gibt im realen Leben für Frauen auch<br />

Situationen, wo Abtreibungen unvermeidlich<br />

sind. Da sind wir verpflichtet, dass wir die<br />

bestmöglichen Bedingungen schaffen.«<br />

Luise Müller, Superintendentin der Evangelischen<br />

Kirche Salzburg und Tirol<br />

»<br />

Dass in einer Wohlstandsgesellschaft wie<br />

der unseren, die nachweislich die reichste<br />

und verfressenste aller Jahrtausende ist,<br />

Argumente wie ‚sozialer Härtefall’ zu hören<br />

sind, ist (...) nicht zu rechtfertigen.«<br />

Klaus Berger, Buchautor und Professor für<br />

Neutestamentliche Theologie in Heidelberg zur<br />

Diskussion um Abtreibung<br />

»<br />

Wenn wir den Leidensdruck in das Zentrum<br />

der Überlegung stellen, bietet das Gesetz<br />

ausreichenden Spielraum, das Leben wegen<br />

Depressionen zu beenden.«<br />

Aus der Stellungnahme einer Kommission der<br />

Niederländischen Regierung, in der Euthanasie<br />

auch für Lebensmüde gefordert wird<br />

»<br />

Rund 20 Prozent der Ärzte, die Schwerstkranke<br />

behandeln, haben schon eine aktive<br />

Lebensbeendigung erlebt.«<br />

»<br />

Karl-Heinz Wehkamp, Professor für Gesundheitswissenschaften<br />

zum Ergebnis einer anonymen<br />

Befragung unter deutschen Medizinern<br />

Ende der neunziger Jahre.<br />

Zu einem brüderlichen Miteinander soll man<br />

uns erziehen, nicht zu einem Miteinander<br />

von Brudermördern.«<br />

Tops & Flops<br />

Joachim Kardinal Meisner<br />

Joachim Kardinal Meisner<br />

hat in mehreren Predigten<br />

Abtreibungen verurteilt und<br />

mehr Lebensschutz gefordert.<br />

Verstöße gegen die Menschenrechte<br />

seien, so der Kölner Erzbischof an Weihnachten,<br />

auch ein »Attentat auf die Heiligkeit<br />

Gottes«. Die Kirche müsse »sich<br />

vor die ungeborenen Kinder stellen, um<br />

sie vor Abtreibung zu schützen.« Auch<br />

müsse sie sich »an<br />

die Krankenbetten<br />

der alten und<br />

behinderten Menschen<br />

stellen, um<br />

sie vor der Euthanasie<br />

zu bewahren.«<br />

An Sylvester<br />

sagte Meisner,<br />

Politiker würden<br />

über die demographische<br />

Entwicklung in Deutschland<br />

»lamentieren und schwadronieren«, aber<br />

»das massenhafte Töten ungeborener<br />

Kinder im Mutterleib« ignorieren. An<br />

Dreikönig deutete der Kardinal Massentötungen<br />

als Folge der Selbstentgrenzung:<br />

»Wo der Mensch sich nicht relativieren<br />

und eingrenzen lässt, dort verfehlt er sich<br />

immer am Leben: zuerst Herodes, der<br />

die Kinder von Bethlehem umbringen<br />

lässt, dann unter anderem Hitler und<br />

Stalin, die Millionen Menschen vernichten<br />

ließen, und heute, in unserer Zeit,<br />

werden ungeborene Kinder millionenfach<br />

umgebracht.« bla<br />

ARCHIV<br />

Völlig vergaloppiert hat sich<br />

der Vorsitzende des Zentralrates<br />

der Juden in Deutschland,<br />

Paul Spiegel. Offensichtlich<br />

ohne Kenntnis des genauen<br />

Wortlauts, griff Spiegel Joachim Kardinal<br />

Meisner wegen<br />

dessen Predigt<br />

am Dreikönigstag<br />

scharf an.<br />

Via Medien<br />

warf Spiegel<br />

dem Erzbischof<br />

von Köln vor,<br />

Abtreibung und<br />

Euthanasie mit<br />

dem Holocaust<br />

verglichen und<br />

Paul Spiegel<br />

damit die Opfer der Nazi-Diktatur beleidigt<br />

zu haben. Der Deutschen Presse-<br />

Agentur (dpa) sagte Spiegel: Meisners<br />

Sätze seien eine Beleidigung von Millionen<br />

Holocaust-Opfern. »Was soll man<br />

von der Jugend erwarten, wenn ein katholischer<br />

Würdenträger auf diese Weise<br />

und ungestraft den millionenfachen Mord<br />

an Juden relativieren kann?«<br />

Den Erzbischof von Köln forderte der<br />

Vorsitzende des Zentralrats der Juden in<br />

Deutschland auf, sich unverzüglich von<br />

dem angeblichen Vergleich zu distanzieren<br />

und drohte laut dpa gar, es habe schon<br />

Personen des Öffentlichen Lebens gegeben,<br />

»die haben auf Grund solcher Äußerungen<br />

von ihren Ämtern zurücktreten<br />

müssen«. reh<br />

ARCHIV<br />

Kardinal Geraldo Majella Agnello, Präsident der<br />

brasilianischen Bischofskonferenz, zu der von<br />

der Regierung angestrebten Liberalisierung der<br />

Abtreibungsgesetzgebung<br />

»<br />

Der Druck, den der Rat der Vereinten<br />

Nationen zur Legalisierung der Abtreibung<br />

unter bestimmten Umständen auf den<br />

Maltesischen Staat ausübt, ist verwerflich<br />

und inakzeptabel.«<br />

Die Bischöfe von Malta zu der Forderung der<br />

UNO, Malta solle seine Abtreibungsgesetze<br />

liberalisieren<br />

32<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong>


Aus dem Netz gefischt<br />

Eine Krankenschwester packt aus<br />

Diese Webseite ist nichts für schwache<br />

Nerven. Denn auf www.whatthenurse<br />

saw.com berichtet die Krankschwester<br />

Brenda Shafer von der Teilgeburtsabtreibung<br />

eines Kindes im 6. Monat. Shafer<br />

schildert das so: »Der Herzschlag des<br />

Kindes war auf dem Ultraschall klar sichtbar.<br />

Der Arzt dringt mit einer Geburtszange<br />

ein, packt die Beine des Kindes<br />

und zieht sie runter in den Geburtskanal.<br />

Dann holt er das Kind heraus, den Körper,<br />

die Arme, alles nur nicht den Kopf. Das<br />

Kind klammert mit seinen kleinen Fingern<br />

und tritt mit seinen Füßen. Als der<br />

Arzt ihm ein Paar Scheren in den Hinterkopf<br />

stößt, zucken die Arme des Kindes<br />

so krampfhaft wild, wie es Kinder tun,<br />

wenn sie denken, dass sie fallen. Dann<br />

drückt der Arzt die Scheren auseinander,<br />

Laut Bildungsministerium gibt es<br />

derzeit 345 anerkannte Ausbildungsberufe.<br />

Kein Wunder, dass die Arbeitslosenzahl<br />

bei fünf Millionen liegt. Es gibt<br />

einfach zu wenig Berufe. Doch wie aus<br />

Berlin verlautet, hat die Regierung jetzt<br />

ein Konzept entwickelt, das jeden gemäß<br />

seinen Talenten Arbeit bringen<br />

soll. Wer ohne Ausbildung ist, soll künftig<br />

Bannmeilen um Abtreibungskliniken<br />

errichten. Ketten aus ehemaligen<br />

Arbeitslosen sollen dafür sorgen, dass<br />

abtreibungswillige Frauen nicht Gefahr<br />

laufen, von betenden Lebensschützern<br />

belästig zu werden. Dank des flächendeckenden<br />

Netzes von Abtreibungsklinken<br />

ließen sich so gleich Hunderttausenden<br />

in Lohn und Brot bringen.<br />

»Deutschland. Das von morgen«<br />

um ein Loch im Schädel zu erzeugen.<br />

Danach führt er ein starkes Saugrohr in<br />

die Öffnung und saugt das Hirn des Kindes<br />

ab.«<br />

Da sich die lizensierte Krankenschwester<br />

für eine überzeugte Anhängerin des<br />

so genannten »Rechts auf Abtreibung«<br />

hielt, dachte sie, sie hätte kein Problem<br />

damit, dass ihre Agentur sie an eine Abtreibungsklinik<br />

vermittelte. An ihrem<br />

ersten Arbeitstag assistierte sie bei einigen<br />

vorgeburtlichen Kindstötungen im Ersten<br />

Trimester, darunter bei der Abtreibung<br />

eines Kindes, dessen Mutter gerade mal<br />

15 Jahre alt war, dafür aber bereits zwei<br />

Abtreibungen hinter sich hatte. Am dritten<br />

Arbeitstag sollte sie dem Arzt dann<br />

bei der beschriebenen Teilgeburtsabtreibung<br />

zur Hand gehen. Was sie sah und<br />

»Das Kind klammert mit seinen<br />

Fingern und trat mit den Füßen.«<br />

erlebte, änderte ihre Meinung. Gut möglich<br />

also, dass auch diejenigen, die ihre<br />

Meinung noch nicht geändert haben,<br />

Lebensrechtlern für einen »Wink mit<br />

dem Link« dankbar sind. reh<br />

Regierung und Gewerkschaften müssen<br />

sich nur noch über die Höhe des<br />

Schlechtwettergeldes einigen. Handwerklich<br />

Begabte, denen es an Techniken<br />

wie Lesen, Schreiben und Rechnen<br />

mangelt, sollen Eizellen für die Forschung<br />

entkernen. Dafür soll das Embryonenschutzgesetz<br />

entsorgt werden.<br />

Gefeilt wir noch an dem Vorschlag,<br />

Arbeitslosen mit Grundkenntnissen in<br />

Chemie, in Alten- und Krankenheimen<br />

weiter zu qualifizieren. Strittig ist vor<br />

allem, wo sie das Setzen von Spritzen<br />

erlernen sollen. Als aussichtsreichster<br />

Standort gilt Sonthofen. Doch heißt<br />

es, der Kanzler sperre sich noch dagegen,<br />

da dies vor allem in Bayern die<br />

Arbeitslosenquote senken würde. reh<br />

ARCHIV<br />

KURZ & BÜ NDIG<br />

McCorvey ficht »Roe vs. Wade« an<br />

Die Ex-Abtreibungsaktivisten Norma Mc-<br />

Corvey und Sandra Cano haben das Grundsatzurteil<br />

zur Freigabe von Abtreibungen in<br />

den USA beim<br />

Obersten Gerichtshof<br />

in<br />

Washington<br />

angefochten.<br />

McCorvey und<br />

Cano hatten<br />

das 19<strong>73</strong> ergangene<br />

Urteil<br />

durch ihre Klage<br />

selbst herbeigeführt.<br />

Ihre<br />

neuerliche Klage begründen beide nun mit<br />

»neuen Einsichten« über die Wirkung von<br />

Abtreibungen. Man habe damals zu wenig<br />

über die Folgeschäden von Abtreibungen<br />

gewusst. Auch könne die Frage nach dem<br />

Beginn menschlichen Lebens durch aktuelle<br />

Forschungen heute auf den Zeitpunkt der<br />

Empfängnis definiert werden. McCorvey will<br />

dem Gericht die Berichte von mehr als tausend<br />

Frauen vorlegen, die infolge von Abtreibungen<br />

schwere seelische Schäden erlitten hätten.<br />

Norma McCorvey hatte unter dem Pseudonym<br />

»Jane Roe« in dem als »Roe gegen Wade«<br />

bekannten Prozess für das Recht auf Abtreibung<br />

geklagt. Die Mutter dreier Kinder hat<br />

nach eigenen Angaben nie selbst abgetrieben,<br />

unterstützte aber jahrelang die Abtreibungslobby<br />

und arbeitete in einer Abtreibungsklinik.<br />

Durch den Kontakt mit Frauen, die abgetrieben<br />

haben, änderte sie später jedoch ihre Einstellung.<br />

reh<br />

Papst: Lebensschutz gebührt Vorrang<br />

Papst Johannes Paul II.<br />

Norma McCorvey<br />

Papst Johannes Paul II. hat in seiner Ansprache<br />

beim Neujahrempfang für das Diplomatische<br />

Corps in Rom den Schutz des Lebens als »die<br />

erste Herausforderung« bezeichnet. Im Laufe<br />

der letzten Jahre<br />

sei, so der Papst,<br />

»diese Herausforderung<br />

immer<br />

größer und entscheidender<br />

geworden«.<br />

Dabei<br />

liege der Schwerpunkt<br />

»vor allem<br />

auf dem Beginn<br />

des menschlichen<br />

Lebens, dem Moment, in dem der Mensch<br />

am schwächsten ist und am meisten des<br />

Schutzes bedarf«. Vor den beim Heiligen Stuhl<br />

akkreditierten Botschaftern von 174 Staaten<br />

betonte der Papst: »Der Schutz und die Förderung<br />

des menschlichen Lebens sind die<br />

vorrangige Aufgabe des Staates.« reh<br />

WWW.ROENOMORE.ORG<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong> 33


LESERFORUM<br />

»Zu Recht wird die These abgelehnt,<br />

wonach die Fortführung einer<br />

Zellforschung zulässig sei, wenn nur<br />

zu Beginn Unkenntnis über deren<br />

rechtswidrige Erlangung herrschte.<br />

Danach hätte auch Adam weiter<br />

essen dürfen, wenn Eva ihm erst nach<br />

dem ersten Bissen von der Herkunft<br />

erzählt hätte.«<br />

RA Reinhard H. Liedgens, Hürth zum Editorial:<br />

»Kultur des Todes führt in den Ruin«.<br />

Dass Sie es schaffen, selbst einem Dauerthema<br />

wie Abtreibung stets neue Aspekte<br />

abzuringen (zuletzt der ausgezeichnete<br />

Beitrag »Jedes vierte Kind wird abgetrieben«<br />

von Stefan Rehder und Veronika<br />

Blasel), imponiert mir. Die Lektüre von<br />

<strong>LebensForum</strong> macht immer wieder deutlich,<br />

welch ein erschreckendes Ausmaß<br />

die Tötung ungeborener Kinder im Mutterleib<br />

inzwischen angenommen hat und<br />

offenkundig, wie sträflich das Thema in<br />

den meisten anderen Medien vernachlässigt<br />

wird. <strong>LebensForum</strong> schließt eine<br />

enorme Lücke in der öffentlichen Kommunikation.<br />

Machen Sie weiter so!<br />

Priv.-Doz. Dr. iur. Arnd Uhle, Bonn-Bad Godesberg<br />

Tote zu Impfstoffen<br />

Der Beitrag von Irmtraut Babel über<br />

die Herstellung von Impfstoffen aus dem<br />

Gewebe abgetriebener Kinder hat mich<br />

zutiefst schockiert. Es scheint, als machten<br />

Wissenschaftler vor nichts mehr halt. In<br />

was für einer Welt leben wir eigentlich,<br />

wenn selbst Leichen kommerziell weiterverarbeitet<br />

werden? Gibt es denn überhaupt<br />

keinen Anstand mehr?<br />

Treffendes Titelbild<br />

Herzlichen Dank für die wieder einmal<br />

hervorragende Ausgabe des »Lebens-<br />

Forum«. Besonders ins Auge gestochen<br />

ist mir das Titelbild. Die Wahl des Verkehrsschilds<br />

(Gebotsschild!) macht in<br />

besonderer Weise deutlich, dass der Staat<br />

Abtreibungen in Deutschland nicht nur<br />

duldet, sondern sogar explizit dazu auffordert.<br />

Und es stimmt: Wieviele Frauen werden<br />

in unserem Land z. B. nach der sog.<br />

Pränataldiagnose unter Druck gesetzt,<br />

sie seien geradezu verpflichtet ihr Kind<br />

abzutreiben! Die Zeitangabe »Werktags<br />

von 0 bis 24 Uhr« unterstreicht sehr<br />

anschaulich, dass in den Augen des Staates<br />

jede Frau das Recht hat ihr Kind abzutreiben.<br />

Tatsächlich sieht es der Staat ja<br />

als seine Aufgabe an, flächendeckend für<br />

genügend Abtreibungseinrichtungen zu<br />

sorgen. Die erwachsene Person, die das<br />

Baby in den Mülleimer wirft, zeigt uns<br />

wieder einmal, welchen Wert ein ungeborenes<br />

Kind in den Augen vieler in Staat<br />

und Gesellschaft Verantwortlicher bereits<br />

hat <strong>–</strong> nämlich gar keinen!<br />

Antonia Egger, München<br />

Frauenfeindlich<br />

34<br />

Zuerst einmal ein »Danke« für Ihren<br />

engagierten Einsatz für den Lebensschutz<br />

und die gut verfassten Artikel in Ihrer<br />

Zeitschrift <strong>LebensForum</strong>. Heute möchte<br />

ich Ihnen jedoch auch eine Kritik am<br />

aktuellen Titelfoto übermitteln: Ich finde<br />

die Aufmachung des Schildes zwar plakativ,<br />

allerdings auch in gewisser Hinsicht<br />

frauenfeindlich, da wieder einmal die Frau<br />

als Hauptverantwortliche für einen<br />

Schwangerschaftsabbruch dargestellt<br />

wird. Außerdem hat das Bild meines Erachtens<br />

eine insgesamt negative, eher<br />

anklagende Wirkung. Sollte aber eine<br />

Zeitschrift wie die Ihre nicht eher dem<br />

Lebensschutz als einer Verurteilung der<br />

leider nicht entsprechend Handelnden<br />

dienen?<br />

Zusammenfassend möchte ich sagen,<br />

dass ich Ihre Zeitschrift gerne auch an<br />

Freunde/Freundinnen im Bekanntenkreis<br />

und Kolleginnen, die vom Lebensschutz<br />

nicht so überzeugt sind wie ich selbst,<br />

weiterreiche, tue dies aber nicht aus den<br />

oben genannten Kritikgründen. Ich bin<br />

mir sicher, dass diese Aufmachung eher<br />

eine abschreckende und Vorurteile gegenüber<br />

den Lebensschützern fördernde<br />

Wirkung hat als Interesse am Thema<br />

weckt.<br />

Bettina Schade, Berlin<br />

Dauerthema Abtreibung<br />

Sabine Schmidt, Stuttgart<br />

Mehr Positives<br />

Positive Resonanz: City-Life-Aktion in Frankfurt<br />

Es gibt keinen Zweifel: Die »Kultur<br />

des Todes« breitet sich aus. Dass Lebens-<br />

Forum sie unter die Lupe nimmt, finde<br />

ich gut und richtig. Besonders weil andernorts<br />

Vieles bewusst verschwiegen<br />

oder zumindest ignoriert wird. Gleichwohl<br />

würde ich mir mehr positive Beiträge<br />

im <strong>LebensForum</strong> wünschen. Beispiele<br />

dafür aus den letzten Ausgaben sind für<br />

mich: Der Bericht über die Umkehr eines<br />

ehemaligen Abtreibungsarztes (Nr. 72),<br />

die »City-Life«-Aktion der »Jugend für<br />

das Leben« (Nr. 71) oder auch der Umschwung<br />

der öffentlichen Meinung in<br />

den USA (Nr. 70). Solche Beiträge machen<br />

Mut. Und der ist gerade dann wichtig,<br />

wenn es wie derzeit Schlag auf Schlag<br />

geht.<br />

Reinhard Backes, Bonn<br />

<strong>LebensForum</strong> <strong>73</strong><br />

JUGEND FÜR DAS LEBEN


IMPRESSUM<br />

IMPRESSUM<br />

LEBENSFORUM<br />

Ausgabe Nr. <strong>73</strong>, 1. Quartal <strong>2005</strong><br />

ISSN 0945-4586<br />

Verlag<br />

Aktion Lebensrecht für Alle (<strong>ALfA</strong>) e.V.<br />

Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg<br />

Tel.: 08 21 / 51 20 31, Fax: 08 21 / 15 64 07<br />

www.alfa-ev.de, Email: info@alfa-ev.de<br />

Herausgeber<br />

Aktion Lebensrecht für Alle e.V.<br />

Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminski (V.i.S.d.P.)<br />

Kooperation<br />

Ärzte für das Leben e.V.<br />

Perusastr. 3, 80333 München<br />

Tel.: 0 89 / 29 57 90, Fax: 0 89 / 29 29 74<br />

www.aerzte-fuer-das-leben.de<br />

Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen e.V.<br />

Olgastr. 57a, 70182 Stuttgart<br />

Tel.: 0711 / 237 19 53-12, Fax 0711 / 237 19 53-53<br />

www.tclrg.de<br />

Redaktionsleitung<br />

Stefan Rehder, M.A.<br />

Dr. phil. nat. Andreas Reimann<br />

Redaktion<br />

Veronika Blasel, M.A.,Alexandra Linder, M.A.,<br />

Dr. med. Maria Overdick-Gulden, Prof. Dr. med. Ingolf Schmid-<br />

Tannwald (Ärzte für das Leben e.V.), Kurt Hönscheidt (Fotos)<br />

Anzeigenverwaltung<br />

Aktion Lebensrecht für Alle (<strong>ALfA</strong>) e.V.<br />

Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg<br />

Tel.: 08 21 / 51 20 31, Fax: 08 21 / 15 64 07<br />

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Satz / Layout<br />

Rehder Medienagentur, Aachen<br />

www.rehder-agentur.de<br />

Auflage<br />

7.500 Exemplare<br />

Anzeigen<br />

Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 5 vom 01.01.2003<br />

Erscheinungweise<br />

Vierteljährlich, Lebensforum Nr. 74 erscheint am 13.05.<strong>2005</strong>,<br />

Redaktionsschluss ist der 15.04.<strong>2005</strong><br />

Jahresbezugspreis<br />

12,- EUR (für ordentliche Mitglieder der <strong>ALfA</strong> und der Ärzte für<br />

das Leben im Beitrag enthalten)<br />

Bankverbindung<br />

Augusta-Bank<br />

Konto Nr. 50 40 990 - BLZ 720 900 00<br />

Spenden erwünscht<br />

Druck<br />

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Wiesenstraße 11, 57537 Wissen<br />

www.rewi.de<br />

Titelbild<br />

Rehder Medienagentur, Aachen<br />

www.rehder-agentur.de<br />

Das Lebensforum ist auf umweltfreundlichem chlorfrei gebleichtem<br />

Papier gedruckt.<br />

Mit vollem Namen gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt<br />

die Meinung der Redaktion oder der <strong>ALfA</strong> wieder und stehen in<br />

der Verantwortung des jeweiligen Autors.<br />

Fotomechanische Wiedergabe und Nachdruck <strong>–</strong> auch auszugsweise<br />

<strong>–</strong> nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für<br />

unverlangt eingesandte Beiträge können wir keine Haftung<br />

übernehmen. Unverlangt eingesandte Rezensionsexemplare<br />

werden nicht zurückgesandt. Die Redaktion behält sich vor,<br />

Leserbriefe zu kürzen.<br />

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Geboren am<br />

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Religion<br />

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einzuziehen:<br />

Institut Konto.-Nr. BLZ<br />

Datum, Unterschrift


Vera Drake<br />

Mit »Vera Drake <strong>–</strong> Frau und Mutter« trägt<br />

Regisseur Mike Leigh die »Kultur des Todes«<br />

in die Kinos. Sein hoch dekorierter Film ist<br />

ein lupenreines Plädoyer für ein Recht auf<br />

vorgeburtliche Kindstötungen.<br />

Von Dr. José García<br />

Postvertriebsstück B 42890 Entgelt bezahlt<br />

Deutsche Post AG (DPAG)<br />

Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (<strong>ALfA</strong>)<br />

Ottmarsgässchen 8, 86152 Ausgburg<br />

Vera Drake <strong>–</strong> Frau und Mutter«<br />

wurde beim Filmfestival Venedig<br />

2004 mit dem »Goldenen Löwen«<br />

als bester Film ausgezeichnet. Für<br />

die Rolle der Vera Drake gewann Imelda<br />

Staunton den Preis als beste Hauptdarstellerin.<br />

Darüber hinaus wurde sie für<br />

den Oscar nominiert.<br />

Das hat seinen Grund. Denn die Familienmutter<br />

hütet ein Geheimnis: Vera<br />

hilft jungen Frauen abtreiben. Seit vielen<br />

Jahren leitet sie bei ungewollt schwanger<br />

gewordenen Mädchen mittels Einlauf die<br />

Abtreibung ein. Unter ihren »Patientinnen«<br />

ist auch eine gestandene Frau,<br />

die argumentiert, sie habe bereits sieben<br />

erklärt: »Zuallererst ist da die Tatsache,<br />

dass das Thema in den letzten Jahren<br />

durch religiöse Fundamentalisten, nicht<br />

zuletzt in der Bush-Regierung, wieder<br />

ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten<br />

ist. Es gibt Versuche, Abtreibung wieder<br />

zu kriminalisieren. Wenn das gelingen<br />

sollte, werden zwangsläufig wieder Laien<br />

die Arbeit von professionellen Medizinern<br />

machen«. Sein Film ist ein Plädoyer für<br />

die freie Abtreibung. Dramaturgisch setzt<br />

er dies durch eine Nebenhandlung um:<br />

Als ein junges Mädchen aus reicher Familie<br />

von einem Bekannten vergewaltigt<br />

wird, wendet sie sich an eine Freundin.<br />

Diese weiht sie in die »Lösung« ein: das<br />

Attest eines Psychiaters ermöglicht ihr<br />

die Abtreibung in einer teuren Klinik<br />

unter ärztlicher Aufsicht.<br />

Mike Leigh zeigt die Tötung ungeborener Kinder als Akt der Nächstenliebe: Vera Drake bei der Arbeit<br />

Der Film zeigt Vera Drake als Inbegriff<br />

der Hilfsbereitschaft: Sie versorgt im<br />

Jahre 1950 in London nicht nur ihren<br />

Mann und ihre zwei Kinder, sondern auch<br />

noch ihre kranke Mutter. Nebenbei arbeitet<br />

sie als Putzfrau bei der »besseren<br />

Gesellschaft«. Die filmisch gelungene<br />

Inszenierung lässt nicht nur die Enge und<br />

die gedeckten Grün- und Brauntöne des<br />

Arbeitermilieus mit den weiten Räumen<br />

und den hellen Farben der »eleganten<br />

Welt« kontrastieren. Im Gegensatz zu<br />

ihrer kinderlosen Schwägerin, die aus<br />

dem proletarischen Umfeld ausbrechen<br />

möchte, erscheint darüber hinaus Vera<br />

als eine glücklich anspruchlose Frau. Sympathischer<br />

könnte eine Filmfigur kaum<br />

gezeichnet werden.<br />

Kinder und könne kein achtes mehr ernähren.<br />

Dafür nimmt Vera natürlich kein<br />

Geld <strong>–</strong> sich bereichern, das tun andere,<br />

etwa die dubiose Bekannte, die ihr die<br />

Adressen liefert. Vera indessen handelt<br />

aus reinster Gutmütigkeit: »Ich helfe<br />

Frauen, die in Not sind«. Als jedoch nach<br />

ihrem Eingriff eine junge Frau in lebensbedrohlichem<br />

Zustand ins Krankenhaus<br />

eingeliefert wird, kommt die Polizei Vera<br />

auf die Spur. Für sie und ihre ahnungslose<br />

Familie stürzt eine Welt zusammen.<br />

Die Handlung ist in den fünfziger<br />

Jahren angesiedelt, weil damals Abtreibungen<br />

nicht nur illegal waren, sondern<br />

auch strafrechtliche Konsequenzen nach<br />

sich zogen, wie Regisseur Mike Leigh in<br />

einem Interview mit der taz (3. Februar)<br />

CONCORDE FILMVERLEIH<br />

»Es gibt Versuche, Abtreibung<br />

wieder zu kriminalisieren.«<br />

Mike Leigh, Regisseur<br />

Somit reitet der Film auf dem altbekannten,<br />

primitiven Argument, ein Abtreibungsverbot<br />

führe nur zu illegalen<br />

Abtreibungen, die unter großen Risiken<br />

von Kurpfuschern wie Vera Drake vorgenommen<br />

werden. Deshalb müsse die Abtreibung<br />

unter ärztlicher Aufsicht erlaubt<br />

werden. Merkwürdig, dass im zweistündigen,<br />

gut gespielten Film der Begriff<br />

»Baby« lediglich ein einziges Mal zu<br />

hören ist, als Veras Sohn Sid entsetzt<br />

ausruft: »Das ist falsch; das sind kleine<br />

Babys!« Selbst darauf hat der Regisseur<br />

in der Person von Veras Mann eine Antwort:<br />

»Für Sid gibt es nur schwarz oder<br />

weiß, er ist noch jung.« Dass Vera Drake<br />

aus lauter Menschenfreundlichkeit ungeborene<br />

Menschen getötet hat, wird damit<br />

wieder verdrängt.

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