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Häusliche Gewaltmuss bereits die Zeit danach geplant werden. Da engagierensich viele Organisationen sehr professionell mitgrossem Know-how.Dennoch gibt es Lücken, vor allem bei denSchnittstellen und Übergängen von den einzelnen Angeboten.Das alles müssen wir als Stiftung mitberücksichtigen.Das geht nur in engster Kooperation und Absprachemit allen involvierten Stellen. Deshalb haben wir dasJustiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt und die Fachstelle Häusliche Gewalt gebeten,einen Runden Tisch zum Thema häusliche Gewalt einzuberufen.Und das wurde gemacht?Ja, der Runde Tisch fand 2017 statt, mit 18 Fachstellenund Organisationen, unter der Leitung von Sonja Roestund Miko Iso von der Fachstelle Häusliche Gewalt imJustiz- und Sicherheitsdepartment des Kantons Basel-Stadt.Waren Sie eine Art Katalysator?Das kann man so sehen. Katalysator waren wir von derCMS vor allem auch für andere Stiftungen, die sich nachunserer umfassenden Bedarfsanalyse im Sozialbereichmit mir in Verbindung gesetzt und um Tipps gebetenhaben, wie man da am besten vorgeht. Das hat unsgefreut, weil es uns zeigte: Wir haben es offenbar gutangepackt.Welche zusätzlichen Erkenntnisse hatder Runde Tisch gebracht?Es hat sich bestätigt, was ich aufgrund der Rückmeldungender vielen Praxisorganisationen wie dem Frauenhaus,der Opferhilfe, aber auch Behördenvertretern des KinderundJugenddiensts, der Kinder- und Erwachsenenschutzbehördeund der Fachstelle Häusliche Gewalt vermutethatte: Wir verfügen in Basel zwar über gute einzelneAngebote zur Bekämpfung der häuslichen Gewalt. DieZusammenarbeit zwischen den Stellen muss aber intensiviertund die Übergänge müssen für die Betroffenen inKrisensituationen besser ausgestaltet werden.Wo haben Sie denn Defizite ausgemacht?Bei der Zusammenarbeit, der Früherkennung von Gewaltund der Triage der verschiedenen Fälle. Dann gibt esimmer noch zu wenig spezifische Unterstützungsangebotefür gewaltbetroffene Frauen mit Kindern und fürtraumatisierte Kleinkinder. Noch besser werden müssteauch der Erfahrungsaustausch zwischen den verschiedenenStellen und Organisationen und die Weiterbildungihrer Mitarbeitenden. Genau dort setzen wir mit unsererUnterstützung an.Wäre das nicht primär Aufgabe des Staates?Basel-Stadt investiert schon sehr viel in die Präventionund den Schutz der Schwächsten. Wir engagieren unsdort, wo es Lücken und Defizite gibt, wo wir etwas inBewegung setzen können – und wo es uns braucht.Das ist doch Pflästerlipolitik. Sie stopfen dieLöcher und investieren Hunderttausendevon Stiftungsfranken. An den Ursachen vonhäuslicher Gewalt ändert das aber wenig …Ganz im Gegenteil. Ursachenbekämpfung ist eine derLeitlinien unserer Förderstrategie. Daher unterstützt dieCMS soziale Benachteiligte umfassend, indem sie derenLebenssituation verbessert. «Wohl fördern» gehört genausozu unserem Stiftungsauftrag wie «Noth lindern»– die beiden Pfeiler des Testaments unseres Stifters, dieja auch zusammenhängen. Wir investieren zum Beispielsehr viel in gute Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche,in zahlreiche ausserschulische Unterstützungsangeboteund in ein gutes Wohnumfeld. Wir stützen sozialeNetze und Angebote – übrigens auch im Kultur- und Naturbereich.Und ganz wichtig: Wir initiieren und finanzierenPraxisstudien und ermöglichen damit auch Pilotprojekte,die ganz neue Ansätze aufzeigen.Welche Auswirkungen wird dieCorona-Krise haben?Die Gräben zwischen den Schichten werden grösser werden.Armutsgefährdete werden zu Armutsbetroffenen.Jugendliche benötigen mehr Unterstützung bei der Berufsbildung,damit die Jugendarbeitslosigkeit nicht an-steigt. Ältere Menschen werden verstärkt Hilfe benötigen.Gleichzeitig erlebe ich auch mehr Solidarität undAustausch zwischen den Menschen.Ihre Förderstrategie im Sozialbereich stütztsich auf die Bedarfsanalyse von 2017.Planen Sie Änderungen für Ihre nächsteFörderperiode 2021–2024?Wir haben die Bedarfsanalyse von 2017 zu Beginn diesesJahres bereits überprüft und aktualisiert. Rund 80Prozent der Empfehlungen haben wir bereits umgesetzt.Das ist eine sehr gute Bilanz, auf die wir stolz sind. GrosseVeränderungen wird es in der nächsten Förderperiodenicht geben. Neben der Unterstützung von sozial Benachteiligtenwollen wir unser Engagement aber noch stärkerauf den sozialen Zusammenhalt, die Generationenarbeitund die Unterstützung der älteren Generation ausrichten.Was ist das Schwierigste bei Ihrer Arbeit?Die Ursachen sozialer Not richtig einzuschätzen. Mit welchenMassnahmen können wir als Stiftung die grösstmöglicheWirkung erzielen? Wo wollen wir ansetzen? Was isterfolgversprechend? Wie schaffen wir es, gute Kooperationeneinzugehen, damit wirksame Projekte auch längerfristigfinanzierbar sind? Das ist nicht immer einfach.Sie sind jetzt seit bald fünf Jahren Leiterinder Abteilung Soziales der CMS. Sie müssensich mit vielen Problemen dieser Stadtauseinandersetzen: Gewalt, Armut, Elend,Diskriminierungen … Das kann auch belasten.Wie gehen Sie damit um?Ich empfinde es nicht als belastend, im Gegenteil. Ich bewegegerne etwas. Und in meiner Funktion kann ich jatatsächlich viel bewegen. Oberflächliches würde michlangweilen. Ich arbeite in einem engagierten und motiviertenTeam und schätze auch die vielen Kontakte zu allunseren Partnern.Interview: Sylvia ScalabrinoExistenziell betroffen —besonders vulnerable Gruppen imBereich der häuslichen GewaltFür das Jahr 2019 verzeichnet die baselstädtische Kri-minalstatistik 746 Delikte häuslicher Gewalt. Dochdürfte dies nur die Spitze des Eisbergs sein. Die Dunkelzifferin diesem Bereich ist enorm. Die FachstelleHäusliche Gewalt im Basler Justiz- und Sicherheitsdepartement(JSD) versucht auch jene Opfer zu unterstützen,die in keiner Statistik auftauchen. Die LeiterinMiko Iso gibt Einblick in die Arbeit der Fachstelle.Rund ein Drittel der Fälle häuslicher Gewalt beginnt inZeiten der Familiengründung, um Schwangerschaft undGeburt, also in einer besonders vulnerablen Phase desÜbergangs: Werdende Eltern müssen vielerlei Anpassungsleistungenerbringen, um sich vom Paar zur Familiezu wandeln. Das fällt nicht allen leicht.Nach der Geburt eines Kindes steht die Weltoft kopf. Für viele Mütter und Väter bedeutet dies einenVerlust an Autonomie. Der Radius wird eingeschränkt,die gewohnte Tagesstruktur wird vom Neugeborenenüber den Haufen geworfen. Manche fühlen sich fremdbestimmt,die Decke fällt ihnen auf den Kopf. Schlaf-lose Nächte können dazu führen, dass die Nerven blankliegen.Wer selbst in einem Klima häuslicher Gewaltaufgewachsen ist, greift unter Umständen selbst aufGewaltmuster zurück, und es kommt erneut zu Gewalt.Für die Kinder ist das verheerend, denn sie sind vondieser Gewalt existenziell betroffen. Sie können wederausweichen noch Hilfe holen. Deshalb ist es wichtig,Oasen zu schaffen und Unterstützung anzubieten.Um diesen Gewaltkreislauf zu unterbrechen,hat die Fachstelle Häusliche Gewalt einen Schwerpunktauf die frühe Kindheit gelegt und Anstoss für mehrereProjekte gegeben, die alle derselben Idee entspringen,nämlich gewaltbetroffene Kleinstkinder, Kleinkinderund Kinder möglichst früh zu erkennen, zu schützenund ihnen niederschwellige Unterstützung anzubieten.Dafür wurde mit Fachpersonen aus unterschiedlichstenBereichen über Jahre ein enger Austausch aufgebautund gepflegt. Die aktuellen Projekte für diese Zielgruppezeigen eindrücklich, wie sehr es sich lohnt, Schwerpunktezu setzen und dranzubleiben, bis alle am selbenStrang ziehen. Die Schwerpunktsetzung hat es sogarmöglich gemacht, dass der Schutz von Kindern vorhäuslicher Gewalt Eingang in die Legislaturziele derbaselstädtischen Regierung fand.Im Bereich der Bekämpfung und der Präventionvon häuslicher Gewalt wurden in den letzten Jahrenzahlreiche weitere Projekte initiiert sowie bestehendeAngebote weiterentwickelt und in feste Strukturen überführt:das Lernprogramm für gewaltausübende Männer,die Väterberatung, die Erweiterte Gefährderansprachesowie Sensibilisierungskampagnen im Gesundheitsbereich(Schütteltrauma, Mädchenbeschneidung, sexuelleGewalt etc.).Das Fachreferat des JSD, in welches die FachstelleHäusliche Gewalt eingebettet ist, sorgt durch dieLeitung von Gesetzgebungsprojekten dafür, dass dasFachwissen zu häuslicher Gewalt Eingang in die Rechts-grundlagen der Polizeiarbeit findet. Bei der letzten Polizeigesetzrevisionkonnte unter anderem die Definition desBegriffs «häusliche Gewalt» präzisiert und auf Minder-jährige erweitert werden, wodurch diese heute besser un-terstützt werden können. Aktuell leitet das Fachreferatein Projekt für die Entwicklung und Umsetzung eineskantonalen Bedrohungsmanagements.Dabei bleibt es eine komplexe Herausforderung,sich ein Bild vom wirklichen Ausmass häuslicherGewalt zu machen. Polizeiliche Statistiken sind nichtaussagekräftig für ein Gesamtbild. Sie bilden nur jenenTeil häuslicher Gewalt ab, der angezeigt wird. Studienzeigen jedoch: Häusliche Gewalt findet zu rund 90Prozent im Verborgenen statt. Aufgrund von Scham undAmbivalenz kommt es nur ganz selten vor, dass Fällehäuslicher Gewalt angezeigt werden.Fälle häuslicher Gewalt, die im Gesundheits-oder Sozialbereich auftauchen, werden bislang nichtsystematisch erfasst. Hier braucht es ein transdisziplinäresMonitoring-Konzept, um Ursachen, Ausmass undAuswirkungen häuslicher Gewalt ganzheitlich einschät-zen und aufeinander abgestimmte Massnahmen planenzu können.Die Fachstelle Häusliche Gewalt setzt sich auchin Zukunft dafür ein, dass Massnahmen zur Verhinderungvon häuslicher Gewalt entwickelt, koordiniert undumgesetzt werden.Miko Iso, Leiterin Fachstelle HäuslicheGewalt im Fachreferat des Justiz- und Sicherheitsdepartementsdes Kantons Basel-Stadt5