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Sara Burkhardt
keywords: raum, klang,
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montage, übersetzung
Kunst und aktuelle
Medienkultur
in der Schule 3
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Sara Burkhardt
Den Raum der
Schule verlassen
In der ehemaligen Motorenhalle in Dresden steht viel herum. Tische,
Projektoren, Sockel, Kisten und Stühle. Fotos hängen an den Wänden.
Zeichnungen, Aufkleber und Karten, mühevoll mit Klebeband festgeklebte
Objekte und Textausschnitte. Fundstücke liegen auf dem Boden
und ein Turm aus Stühlen erhebt sich in den Raum.
Hier hat Unterricht stattgefunden, Kunstunterricht, eine Woche lang.
Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Schulen haben ihre Schulen
verlassen und sich in eine neue und fremdartige Situation begeben,
an einen ungewohnten Ort, mit ihnen unbekannten Lehrern. Das ist eine
ziemlich hohe Anforderung. Wenn man sich dann noch das ›Briefing‹
ansieht, das die Schüler am Anfang der Woche von den Stipendiaten Robert
Hausmann und Matthias Laabs vorgelegt bekamen, mag schnell der
Gedanke ›Überforderung‹ aufkommen: »Was ist ein System?« steht dort.
»Ist das Hacking, was wir machen?« »Was passiert, wenn wir etwas im
System verändern?« »Was passiert, wenn wir systemfremde Daten in ein
System einschleusen und damit experimentieren?«
Oder: »Welche Codes findet ihr in diesen Systemen?«
Eine andere Situation, ein anderer Ort. Mainz. Ein
blinder Guide führt eine Gruppe von Schülerinnen
und Schülern zusammen mit dem »kiss«-Stipendiaten
Christoph Medicus durch die Stadt. Sie ›erhören‹
sich die Stadt, mit verbundenen Augen. Sie tasten sich
durch Unterführungen, lauschen Geräuschen, nehmen
die Stadt neu und anders wahr, vielleicht auch
bewusster. Die Schülerinnen und Schüler agieren
im Stadtraum und übertragen ihre Erfahrungen mit
den entdeckten Schall- und Assoziationsräumen
später auf den Raum der Schule, um im Kunstunterricht
eigene Arbeiten mit dem Material Klang zu
entwickeln.
Stipendiaten
treffen Künstler
Studierende der Kunstpädagogik treffen im Rahmen von »kiss« auf Künstlerinnen
und Künstler in deren Ateliers, Wohnungen oder Ausstellungen.
Sie begegnen ihnen auf Augenhöhe, denn sie wollen mit ihnen arbeiten.
Nicht künstlerisch, sondern auf der Ebene der Vermittlung, der Initiierung
von Bildungsprozessen.
Häufig ist diese erste Begegnung mit dem Künstler oder der Künstlerin ein
besonderes Erlebnis, gerade für Studierende, die nicht an Kunsthochschulen
studieren. Das Reisen in eine fremde Stadt, das Betreten unbekannter
Viertel, Gespräche zwischen Umzugskartons oder in gut gesicherten
Ateliers – auch in den Rahmenbedingungen der Künstlergespräche vermittelt
sich den Stipendiaten bereits eine bestimmte Haltung, eine Sicht
auf die Welt. Hier treffen unterschiedliche Sichtweisen aufeinander, es gibt
jedoch bestimmte Schnittstellen. So haben die Stipendiaten ein Interesse
an der Arbeit ›ihres‹ Künstlers und die Künstler Interesse an Vermittlungsformen.
Während der Treffen sprechen die Stipendiaten mit den Künstlern über
deren Arbeiten und über mögliche Unterrichtsprozesse. Sie entwerfen in
der Folge eine Unterrichtseinheit, die dezidiert die Arbeiten des jeweiligen
Künstlers zum Gegenstand hat, sich an der jeweiligen künstlerischen
Vorgehensweise orientiert oder auch die intensive Auseinandersetzung
mit einer Arbeit als Impuls für das eigene Gestalten der Lernenden setzt.
Die vertiefte Rezeption und Reflexion der künstlerischen Arbeit ist Voraussetzung
für die Initiierung von Unterrichtsprozessen, in denen deutlich
wird, dass oft bereits die Arbeiten dieser Künstlerinnen und Künstler
selbst an der Vermittlung beteiligt sind und dass sie sich gegen einseitige
Betrachtungsweisen sperren.
Die Ausarbeitung des Unterrichts erfolgt am heimatlichen Schreibtisch –
in Abstimmung mit universitären Lehrenden, in Gesprächen in den
»kiss«-Workshops, in Rücksprache mit den Künstlern und in Absprache
mit Mentoren an der Schule.
In der Phase der Umsetzung beteiligt sich zuweilen
der Künstler am Unterrichtsgeschehen, stattet der
Klasse einen Besuch ab oder trifft die Schü lerinnen
und Schüler in einer Ausstellung. So hat zum Beispiel
Gerald Nestler einen Tag bei und mit den Schülerinnen
und Schülern in der Motorenhalle in Dresden
verbracht. Er hat mit ihnen diskutiert, den Aufbau
der Ausstellung beratend begleitet und eine eigene
Arbeit ausgestellt. Immer jedoch agierte er als Experte
und als kommentierender Gast, nicht als Lehrer.
Künstler machen
Kunst
Die für diesen »kiss«-Durchgang ausgewählten Künstlerinnen
und Künstler zeigen durchaus Gemeinsamkeiten
im Vorgehen, bei aller Unterschiedlichkeit der
Positionen. Sie greifen auf historische und gegenwärtige
Produkte und Phänomene der Medienkultur
zurück, wandeln sie ab und stellen sie in Frage. Sie
beziehen sich auf Theorien und Praktiken, die nicht unbedingt
dem Feld der Kunst entstammen. Sie bearbeiten
drängende gegenwärtige Problemfelder wie
zum Beispiel Möglichkeiten des Umgangs mit brüchigen
Identitäten in komplexen kulturellen Gefügen.
Gerald Nestler zeigt in seinen Arbeiten Strukturen und
Verflechtungen der Wirtschaft mit anderen Systemen,
darunter das ›System Kunst‹, auf. Er hat selbst
zwei Jahre lang als Trader an der Börse gearbeitet,
kennt also die Innensicht dieses Systems. Von dieser
Innensicht geht er aus. Er stellt Börsenkurven den
Kurven von Herzfrequenzkardiogrammen gegenüber
oder schafft zusammen mit der Künstlerin Sylvia
Eckermann Installationen, in denen das vernetzte
Börsengeschehen in Echtzeit in leuchtende Gebilde
übersetzt wird. In Annäherung an die Komplexität
wirtschaftlicher Prozesse entstehen Reflexionsräume
und virtuelle Wissensräume.
Jakob Kolding erstellt Collagen. Er verbindet Motive
aus der Architektur, meist Stadtansichten, mit Bildern
aus alltäglichen Medienwelten und Jugendkulturen.
Es sind zeitgenössische Räume und Konstruktionen,
in denen sich seine Figuren bewegen, die
sie gleichzeitig immer wieder in Frage stellen, indem
sie schattenartig aus den Strukturen herausragen
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oder hinter ihnen verschwinden. So thematisiert Kolding nicht nur die
Beziehung zwischen Mensch und architektonischem Raum, sondern auch
die Nutzung dieses Raumes durch aktuelle kulturelle Ausdrucksformen.
Bestehende Raumkonzepte werden befragt und neu gedacht. Raum wird
bei ihm zum Möglichkeitsraum, zum ›space‹.
Katarina Zdjelar, die auf der Biennale in Venedig 2009 den Serbischen
Pavillon bespielte, setzt sich in ihren Videos und Installationen mit gesprochener
Sprache als Träger von Kultur auseinander. Unterschiedliche
Haltungen, unterschiedliche Kulturen manifestieren sich in Form von
Sprache. Der Akt des Sprechens wird durch kulturelle Konventionen geprägt.
Wenn etwas übersetzt wird, wird es nicht einfach nur in ein anderes System
übertragen, sondern die Logik eines Systems wird in ein anderes übertragen.
1 Die entstehenden Kommunikationsräume bergen Potenzial für
Missverständnisse und Misslingen von Kommunikation, ein Phänomen, das
wiederum von Zdjelar durchleuchtet und sorgfältig dokumentiert wird,
um auf die ständige Konstruktion von Bedeutung hinzuweisen.
In den Videoarbeiten und -installationen von Christoph Girardet wird
rhythmische Wiederholung als bestimmendes Prinzip eingesetzt. Aus
vorgefundenem Material aus Filmgeschichte und Medienkultur setzt der
Künstler mit präzisen Schnitten neue Erzählungen zusammen. Die
Neukombination des alten Materials im Zuge der Montage überrascht. Sie
verändert den Blick und stellt Sehkonventionen wie auch Klischeevorstellungen
in Frage. Einzelne Handlungen werden durch die Isolierung bzw.
Dekontextualisierung plötzlich bedeutsam, der Betrachter konstruiert
eine neue Erzählung abseits der ursprünglichen Handlung und ordnet seine
Vorstellungen neu.
Bei Susan Philipsz rückt mal der öffentliche Raum in den Fokus, mal der
Raum der Galerie oder des Museums. Sie installiert Klang im Raum:
intime, mitunter sentimental wirkende Gesänge, die durch die jeweilige
Form der Installation eine skulpturale Wirkung entfalten. Sie bestimmen
den Raum neu. Ob es im kontrollierbaren Raum einer Galerie ist oder
unter einer Betonbrücke bei den Skulpturprojekten in Münster – sie wirken
seltsam anrührend und entrückt, diese feinfühlig und sehr minutiös
arrangierten Klanginstallationen. Und lassen so den hörenden Betrachter
Raum neu erleben.
Stipendiaten
unterrichten Kunst
Kunstunterricht, der von Stipendiaten im Rahmen
von »kiss« durchgeführt wird, bedeutet immer Erprobung.
Die Stipendiaten begeben sich in einen für
sie neuartigen Raum, den Raum der Schule aus der
Perspektive des Lehrers. Sie versuchen, im Studium
Erlerntes und in der Auseinandersetzung mit der jeweiligen
Künstlerin oder dem jeweiligen Künstler Erfahrenes
umzusetzen. Dazu gehört mitunter, den Raum
der Schule zu verlassen, aber auch gewohntes Terrain
zu verlassen, sich in die Institution Schule hineinzubegeben,
aber in ihr so frei wie möglich zu
agieren. Die Stipendiatin Sara Dahme beschreibt den
Raum des Kunstunterrichts als einen Raum der Zumutungen,
u.a. der Zumutung der Suche nach einer
eigenen Strategie. »Das Spezifische eines solchen im
Kunstunterricht hergestellten Raumes ist, dass es hier
in besonderer Weise um die Arbeit am Verhältnis von
Individuellem, Singulärem und Allgemeinem geht.« 2
Auch die Schülerinnen und Schüler im Unterricht von
Tabea Kießling arbeiten an diesem Verhältnis. Sie
untersuchen den täglich genutzten Raum ihrer Schule
und erleben ihn als gestaltbaren Möglichkeitsraum.
Sie setzen ihn in direkte Beziehung zu ihren individuellen
Alltagserfahrungen und weisen ihm neue Bedeutungen
zu. Dabei wechseln sie wiederholt bewusst
die Perspektive, um Interessen der Raumgestaltung
nachzuvollziehen und unterschiedliche Raumerfahrungen
zu durchleben.
In einen anderen Raum begeben sich Schülerinnen
und Schüler, die im Unterricht von Angela Hiller ihre
eigenen Medienwelten untersuchen. Sie entlarven
Stereotypen und brechen Klischees auf, indem
sie im Medium Video das selbst Erlebte und ihre
Alltagswelten widerspiegeln, neu konstruieren und
reflektieren.
1 Vgl. Katarina Zdjelar im Interview mit Costanza Meli.
Katarina Zdjelar – The Serbian Pavillon at 53 Venice
Biennial 2009, s. unter www.succoacido.net [10.11.2010].
2 Sara Dahme in der vorliegenden Publikation.
Zurück in die Schule –
was bleibt?
Stipendiaten beim
»kiss«-Workshop
Ziel von »kiss« ist die Auseinandersetzung mit aktueller Kunst im Unterricht.
Ausgewählter aktueller Kunst wird hier ein Bildungspotenzial zugesprochen.
Ihr wird unterstellt, dass ihre Methoden und Strategien Schülerinnen und
Schülern neue Handlungsfelder eröffnen und ihnen ermöglichen, im Verlauf
kommunikativer Arbeitsprozesse ihre individuellen Weltsichten in eigene
gestaltete Produkte zu überführen. Dabei geht es weder um Nachahmung
noch um Instrumentalisierung von Kunst, sondern um Kunst als
Möglichkeitsraum, als Repertoire von Methoden, als Vorstellung von Welt.
Im Zuge von »kiss« probieren Studierende der Kunstpädagogik mit Schülerinnen
und Schülern etwas aus. Sie praktizieren und haben dabei die
Möglichkeit und vor allem den Raum, zu experimentieren. Sie bewegen
sich nicht in festen (Lauf-)Bahnen, in gewohnten Mustern. Sie erproben
Neuartiges, auch für sie selbst Neuartiges, zunächst ungewohnt Anmutendes.
Ähnlich arbeiten die Schüler. Ihr Interesse wird geweckt. Ihnen wird
etwas zugemutet. Sie erobern sich allen Widrigkeiten zum Trotz Räume,
dringen in Strukturen ein – sei es im Stadtraum oder
im Netz – und verändern sie von innen heraus. So
eignen sie sich Aspekte von Kultur an. Sie erlernen
Handwerkszeug, entdecken Fähigkeiten und üben
Fertigkeiten, von der Collage über die Montage von
Videos zum Mixen von Klängen und Geräuschen.
Sie legen sich ein Repertoire an Methoden zu, an
Ausdrucksweisen und Handlungsmöglichkeiten,
orientiert an aktueller Kunst.
Nun gilt es, über »kiss« hinaus, den Prozess weiterzuverfolgen.
Hierzu sind Kunstlehrende an den
Schulen gefragt: Was bleibt? Welche Impulse sind
anregend für die Praxis, an was lässt sich anknüpfen,
was ist umsetzbar, welche Unterrichtsideen
lassen sich in schulische Abläufe integrieren? Was
muss abgewandelt, was kann weiterentwickelt
werden?