ZESO_03-20_Alleinerziehende als Armutsfalle
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SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
<strong>ZESO</strong><br />
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />
<strong>03</strong>/<strong>20</strong><br />
SOZIALE ARBEIT<br />
Ausbildung im Online-<br />
Modus – die Erfahrungen<br />
an der ZHAW<br />
SOZIALER STÜRMER<br />
Ex-Profi-Fussballer gründet<br />
soziales Unternehmen,<br />
um Flüchtlinge zu coachen<br />
EU-ARMUTSPOLITIK<br />
Kommt jetzt in der EU die<br />
Mindestsicherung zur<br />
Bekämpfung der Armut?<br />
ALLEINERZIEHEN ALS<br />
ARMUTSFALLE<br />
Massnahmen zur Armutsprävention sind dringlich
Folge der Innovation. Nicht dem Mainstream: Gestalte Angebote<br />
der Sozialen Arbeit.<br />
Master-Studium in Sozialer Arbeit<br />
Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, Olten<br />
www.masterstudium-sozialearbeit.ch<br />
Soziale Arbeit<br />
Master in Sozialer Arbeit<br />
mit Vertiefung Transitionen und Interventionen<br />
www.zhaw.ch/sozialearbeit/master<br />
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ZHAW_Inserat_Zeso_170x130mm.indd 1 21.11.19 17:02
Regine Gerber<br />
Redaktorin<br />
EDITORIAL<br />
ALLEINERZIEHEND – ALLEIN<br />
GELASSEN?<br />
Familie und Beruf zu vereinbaren, ist in jedem Fall eine Herausforderung.<br />
Ganz besonders gilt das für <strong>Alleinerziehende</strong> in<br />
prekären Arbeitsverhältnissen. Oft scheint es fast unmöglich,<br />
die Situation zu verbessern. Es fehlt an allen Ecken und Enden:<br />
An passender Kinderbetreuung, Weiterbildungsmöglichkeiten,<br />
Unterstützung im Alltag und schlicht an Zeit und Energie. Auch<br />
der Gang zur Sozialhilfe löst das Problem nur vorübergehend.<br />
Wie wichtig dort angesiedelte, weitsichtige Lösungen sind, machen<br />
die Projekte von a:primo (S.16) und frac (S.18) deutlich.<br />
Auf politischer Ebene geschieht erstaunlich wenig, um das Armutsrisiko<br />
für <strong>Alleinerziehende</strong> zu senken. Und das, obwohl<br />
die Probleme seit Jahren erkannt sind. Kleine Schritte führen<br />
zumindest in die richtige Richtung, seien dies neue Regelungen,<br />
um das finanzielle Manko für <strong>Alleinerziehende</strong> abzufedern<br />
(S.21), oder die vorgesehene Vereinheitlichung der Alimentenhilfe<br />
(S.22).<br />
Alles andere <strong>als</strong> langsam fand der Wechsel vom Präsenzunterricht<br />
ins Web statt, der das Departement Soziale Arbeit der<br />
ZHAW im März coronabedingt vollziehen musste. Der neue<br />
Direktor Frank Wittmann blickt im Interview auf die Zeit der<br />
Umstellung zurück und beschreibt, warum die Situation auch<br />
eine Plattform zur Reflexion und zum Kompetenzerwerb bietet<br />
(S.8).<br />
3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
1
SCHWERPUNKT<br />
<strong>Alleinerziehende</strong><br />
in Bedrängnis<br />
Scheidungen und Trennungen<br />
führen oft zu finanziellen<br />
Engpässen, insbesondere<br />
dann, wenn Kinder im Spiel<br />
sind. Meist sind es die Mütter<br />
und Kinder, die dann Sozialhilfe<br />
beziehen müssen. Nicht selten<br />
geraten sie in eine Negativspirale<br />
von Alltagshürden,<br />
prekärer Beschäftigung und<br />
fehlenden Weiterbildungsmöglichkeiten.<br />
Damit sie dort nicht<br />
stecken bleiben, sind sowohl<br />
politische wie auch praktische<br />
Lösungen gefragt.<br />
12–23<br />
12–25<br />
<strong>ZESO</strong><br />
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE HERAUSGEBERIN Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS, www.skos.ch REDAKTIONSADRESSE<br />
Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel. <strong>03</strong>1 326 19<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich<br />
ISSN 1422-0636 / 117. Jahrgang<br />
Erscheinungsdatum: 7. September <strong>20</strong><strong>20</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint am 7. Dezember <strong>20</strong><strong>20</strong><br />
13 REDAKTION Ingrid Hess, Regine Gerber MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER DIESER AUSGABE Andrea<br />
Beeler, Monika Büning, Béatrice Devènes, Palma Fiacco, Nicolas Galladé, Heike Isselhost, Markus Kaufmann,<br />
David Kieffer, Ornella Larenza, Philipp Mani, Anke Moors, Manuela Reuss, Max Spring, Alexander Suter, Astrid<br />
Tomczak-Plewka, Pia Wegmüller TITELBILD pixelio.de/Marlies Schwarzin LAYOUT Marco Bernet, Projekt<br />
Athleten GmbH Zürich KORREKTORAT Karin Meier DRUCK UND ABOVERWALTUNG rubmedia AG, Postfach,<br />
3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. <strong>03</strong>1 740 97 86 PREISE Jahresabonnement CHF 89.– (SKOS-Mitglieder<br />
CHF 74.–), Jahresabonnement Ausland CHF 125.–, Einzelnummer CHF 25.–.<br />
2 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>
INHALT<br />
8<br />
5 KOMMENTAR<br />
Lehren aus der Corona-Krise<br />
6 PRAXIS<br />
Welche Zahlungseingänge darf die Sozialhilfe<br />
berücksichtigen?<br />
7 WEITERBILDUNG<br />
Mittel für die Weiter- oder Ausbildung von Sozialhilfeempfangenden<br />
stehen zur Verfügung<br />
8 INTERVIEW: FRANK WITTMANN<br />
Der neue Leiter des Departements Soziale<br />
Arbeit der ZHAW über die Ausbildung an der<br />
Hochschule in der Corona-Krise, Herausforderungen,<br />
Lehren und Ziele<br />
31<br />
32 26<br />
34<br />
35<br />
12–25 ALLEINERZIEHEN ALS ARMUTSFALLE<br />
14 Kumulierte Nachteile führen Einelternhaushalte<br />
in die Sozialhilfe<br />
16 <strong>Alleinerziehende</strong> im Niedriglohnsektor – eine<br />
Sackgasse?<br />
18 Heraus aus der Passivität – berufliche<br />
Integration von alleinerziehenden Müttern<br />
21 Finanzielles Manko tragen meist die<br />
Mütter<br />
22 Alimentenbevorschussung: Ungleiche<br />
Voraussetzungen, ungleiche Leistungen<br />
24 Nachgefragt bei Yvonne Feri, Geschäftsführerin<br />
Schweizerischer Verband alleinerziehender<br />
Mütter und Väter<br />
26 PORTRÄT<br />
Stefan Frey, Ex-Profifussballer beim FC Basel,<br />
bereitet Flüchtlinge auf den Einstieg in die<br />
Arbeitswelt vor.<br />
29 DIE SOZIALHILFE IN DEN MEDIEN<br />
Eine Zürcher Studie analysiert die Berichterstattung<br />
der Medien über die Sozialhilfe.<br />
31 CORONA-MONITORING<br />
Die SKOS überwacht die Entwicklung der<br />
Fallzahlen in der Sozialhilfe mit einem<br />
Monitoring.<br />
32 DIE BEKÄMPFUNG DER ARMUT IN DER EU<br />
Die EU wird vor allem <strong>als</strong> Wirtschaftsunion<br />
wahrgenommen – soll nun aber auch Armut<br />
und soziale Ungleichheit bekämpfen.<br />
34 DEBATTE<br />
Die Nicht-Teilnahme an Integrationsprogrammen<br />
kann Sanktionen zur Folge haben, was<br />
laut einer Studie mehrfach problematisch ist<br />
35 TÜRE AUF<br />
Seit 10 Jahren lebt Stephan Büchi im Sommer<br />
in Rumänien. Im Winter übernimmt er Stellvertretungen<br />
in Schweizer Sozialdiensten.<br />
36 LESETIPPS UND VERANSTALTUNGEN<br />
3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
3
NACHRICHTEN<br />
Neue SKOS-Richtlinien:<br />
neues Web-Portal bald<br />
online<br />
Die Schweizerische Konferenz der Sozialdirektorinnen<br />
und Sozialdirektoren<br />
SODK empfiehlt den Kantonen die Anpassung<br />
der SKOS-Richtlinien ab 1. Januar<br />
<strong>20</strong>21 anzuwenden. Die neuen<br />
SKOS-Richtlinien sind auf den digitalen<br />
Zugang ausgerichtet. Ende September<br />
wird die SKOS das neue Web-Portal aufschalten.<br />
Die Anwendung der Richtlinien<br />
wird damit erleichtert. Der digitale<br />
Zugang ermöglicht auch die Integration<br />
von kantonalen und kommunalen Handbüchern<br />
und Hilfsmitteln. Die SKOS-Geschäftsstelle<br />
entwickelt im Moment mit<br />
verschiedenen Kantonen, Städten und<br />
Gemeinden kantons- und gemeindespezifische<br />
Lösungen. Die Richtlinien sind<br />
aber nach wie vor auch in gedruckter<br />
Form erhältlich. Sie erscheinen neu im<br />
A4-Format (A4-Ordner). Die bestehenden<br />
Richtlinienordner (A5) werden nicht<br />
mehr ergänzt. Als SKOS-Mitglied können<br />
Sie die neuen Richtlinienordner zum Vorzugspreis<br />
von CHF 35 vorbestellen (CHF<br />
55 für Nichtmitglieder). Achtung: Die<br />
Aktion läuft nur noch bis 11. September.<br />
Danach kosten die Ordner CHF 40 für Mitglieder<br />
/ CHF 60 für Nichtmitglieder. Die<br />
Lieferung der vorbestellten Richtlinien<br />
erfolgt im Oktober. (red.)<br />
Das soziale Existenzminimum<br />
in der<br />
Sozialhilfe<br />
Was braucht ein Mensch in der Schweiz<br />
zum Leben und welchen Lebensstandard<br />
soll der Staat der Bevölkerung garantieren?<br />
Der Kern der Sozialhilfe ist<br />
das soziale Existenzminimum, das eine<br />
zentrale Referenzgrösse in der schweizerischen<br />
Sozialpolitik geworden ist. Das<br />
soziale Existenzminimum ermöglicht<br />
armutsbetroffenen Menschen ein menschenwürdiges<br />
Dasein und die Teilhabe<br />
am Sozial- und Arbeitsleben. Das aktualisierte<br />
Grundlagenpapier der SKOS<br />
zeigt auf, wie das System des sozialen<br />
Existenzminimums ausgestaltet ist, und<br />
stellt dar, wie dieses System historisch<br />
gewachsen und begründet ist.<br />
www.skos.ch/publikationen/grundlagenpapiere<br />
Seit <strong>20</strong>18 vertritt Benjamin Roduit die CVP des Kantons Wallis im Nationalrat. <br />
Benjamin Roduit: Neuer Präsident<br />
von Artias<br />
Benjamin Roduit ist neuer Präsident der<br />
Artias. Roduit präsidiert die Organisation<br />
der Westschweizer und Tessiner Sozialdienste,<br />
die Mitglied der SKOS ist, seit<br />
März <strong>20</strong><strong>20</strong>. Der 58-Jährige sitzt seit<br />
<strong>20</strong>18 für die CVP des Kantons Wallis im<br />
Nationalrat. Der neue Artias-Präsident engagiert<br />
sich privat und politisch für soziale<br />
Fragen.<br />
Im Mai unterzeichnete Roduit eine<br />
Motion, mit der der Bundesrat beauftragt<br />
wird, pragmatische Lösungen für Unterstützungsmöglichkeiten<br />
und für die Zusammenarbeit<br />
mit Hilfsorganisationen<br />
vorzuschlagen, damit bei Krisen wie der<br />
Covid-19-Pandemie den Menschen ohne<br />
rechtlich geregelten Status geholfen werden<br />
kann. Roduit ist von Beruf Gymnasiallehrer.<br />
Er amtete <strong>als</strong> Rektor des Gymnasiums<br />
Creusets in Sitten. Im Rahmen einer<br />
Auszeit unternahm er vor einigen Jahren<br />
mit seiner Frau soziale Einsätze. «Eine Pilgerreise<br />
nach Santiago de Compostela und<br />
«Freiwilligeneinsätze in Haiti, im Hospiz<br />
des Grossen St. Bernhard und in Benin<br />
ermöglichten uns, die Welt mit neuen Augen<br />
zu sehen.» schreibt Roduit auf seiner<br />
Webseite. Wohl fühlt er sich auch in den<br />
Bergen. Benjamin Roduit hat alle Viertausender<br />
der Schweiz bezwungen. Nach der<br />
Rückkehr in die Schweiz entschied sich der<br />
CVP-Politiker wieder zu unterrichten. •<br />
Sébastien Mercier: Grosses Engagegement<br />
für die Entschuldung<br />
Sébastien Mercier, Geschäftsleiter des<br />
Dachverbands Schuldenberatung Schweiz,<br />
ist am 9. Juli <strong>20</strong><strong>20</strong> völlig unerwartet an einem<br />
Herzversagen verstorben. Schuldenberatung<br />
Schweiz verliert mit ihm einen<br />
äusserst engagierten und sachkundigen<br />
Geschäftsleiter, der in den letzten Jahren<br />
die Interessenvertretung der verschuldeten<br />
Menschen in der Schweiz namhaft vorangetrieben<br />
hat. Sébastien Mercier hat massgeblich<br />
dazu beigetragen, dass die Politik<br />
u.a. den Bedarf von Revisionen bei den<br />
Bild: zvg<br />
Entschuldungsverfahren erkannt hat. Sein<br />
humanistisches Denken prägte seine Arbeit<br />
und die Verteidigung der Anliegen<br />
und Rechte überschuldeter Menschen<br />
nachhaltig. Der Tod von Sébastien Mercier<br />
ist für die Schuldenberatung Schweiz ein<br />
immenser Verlust, sowohl persönlich <strong>als</strong><br />
auch beruflich. <br />
•<br />
Katharina Blessing<br />
Vorstand<br />
Schuldenberatung Schweiz<br />
4 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>
KOMMENTAR<br />
Lehren für die Sozialhilfe aus der Corona-Krise<br />
«Wir wissen halt immer noch sehr wenig<br />
über dieses Corona-Virus», brachte kürzlich<br />
jemand das Gespräch unter Bekannten<br />
auf den Punkt. Es gibt zwar laufend neue<br />
Erkenntnisse. Gleichzeitig sind aber immer<br />
noch viele Fragen und Ungewissheiten rund<br />
um Covid-19 in der Luft.<br />
Auch der Einfluss der Corona-Pandemie<br />
auf die Sozialhilfe ist unklar. Zu künftigen<br />
Entwicklungen gibt es Annahmen der SKOS.<br />
Das mittlere Szenario geht <strong>20</strong>22 von einem<br />
Anstieg von knapp 30 Prozent Sozialhilfebeziehender<br />
gegenüber <strong>20</strong>18 aus. Die<br />
SKOS hat bereits ein Monitoring etabliert<br />
und erste Erkenntnisse publiziert. Dies ist<br />
verdienstvoll und wichtig. Es birgt aber auch<br />
Risiken. Ich werde laufend mit den düsteren<br />
Prognosen aus dem SKOS-Analysepapier<br />
konfrontiert. Und kann wenig dazu sagen.<br />
Weil ich es nicht weiss.<br />
Ich weiss nicht, nach welcher Buchstabenkurve<br />
sich die Wirtschaft entwickelt. Ob<br />
und wie sich der Arbeitsmarkt erholt. Ich<br />
weiss nicht mal, ob es eine zweite Welle<br />
gibt. Oder sie sogar schon da ist. Ich<br />
beschränke mich deshalb<br />
auf die Punkte, die<br />
ich weiss:<br />
1. Es war in der Krise zentral, dass die<br />
Schweiz über ein funktionierendes soziales<br />
Sicherungssystem verfügt, das rasch<br />
wirksame Modelle wie Kurzarbeit und die<br />
Sozialhilfe <strong>als</strong> letztes Auffangnetz kennt.<br />
Unserem sozialen Sicherungssystem<br />
müssen wir Sorge tragen. In guten wie in<br />
schlechten Zeiten.<br />
2. Neben Menschen aus prekären Arbeitsverhältnissen<br />
kamen vor allem «Selbstständige<br />
auf Abruf» unmittelbar nach dem<br />
Lockdown <strong>als</strong> erste und in grosser Zahl in<br />
die Intake-Stellen städtischer Sozialämter.<br />
Hier besteht offensichtlich Handlungsbedarf<br />
im Sozialversicherungssystem.<br />
3. Jene, die wir in unserem Sicherungssystem<br />
«auf dem Radar» haben, gingen in<br />
der akutesten Krisenphase nicht vergessen.<br />
Schwieriger sah es bei Obdachlosen,<br />
Sans-Papiers oder Menschen mit (Kurz-)<br />
Aufenthaltsbewilligungen aus.<br />
Dieses Dunkelfeld, das auch mit dem<br />
Thema «Nichtbezug der Sozialhilfe»<br />
verknüpft ist, gilt es zu beleuchten.<br />
Generell ist festzuhalten: Was in der<br />
Vergangenheit richtig war, kann auch in der<br />
Zukunft – wie diese auch immer aussieht –<br />
nicht ganz f<strong>als</strong>ch sein: frühe Massnahmen<br />
zur Wiedereingliederung von Menschen, die<br />
in die Sozialhilfe gelangen. Genügend personelle<br />
Ressourcen bei der Sozialberatung.<br />
Umsetzung der Integrationsagenda im Asylbereich.<br />
Investitionen in Qualifizierung und<br />
Bildung. Programme zur sozialen Integration<br />
von Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt<br />
nicht mehr nachgefragt werden. Überbrückungsrenten<br />
für ältere Ausgesteuerte.<br />
Und am wirkungsvollsten wie bei Corona –<br />
präventive Massnahmen.<br />
Wir wissen noch nicht, wie sich die Corona-<br />
Krise auf die Sozialhilfe auswirkt. Aber wir<br />
wissen, was wirksam und richtig ist, unabhängig<br />
davon, was die Zukunft bringt.<br />
Nicolas Galladé<br />
Präsident Städteinitiative<br />
Sozialpolitik<br />
3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
5
Welche Zahlungseingänge darf die<br />
Sozialhilfe verrechnen?<br />
PRAXIS Einnahmen, die nachträglich bei unterstützten Personen eingehen, dürfen nur mit der bereits<br />
geleisteten Sozialhilfe verrechnet werden, wenn sich beide Leistungen auf den gleichen Zeitraum<br />
beziehen. Was sich nicht verrechnen lässt, wird im aktuellen Unterstützungsbudget <strong>als</strong> Einnahme<br />
angerechnet.<br />
Frau Kunz ist von ihrem früheren Partner<br />
geschieden und lebt mit den gemeinsamen<br />
Kindern in einem eigenen Haushalt. Für<br />
die Kinder werden vom Vater monatliche<br />
Unterhaltsbeiträge geleistet. Insgesamt reichen<br />
die Einnahmen jedoch nicht zur Deckung<br />
der materiellen Grundsicherung,<br />
weshalb die Familie ergänzend mit Sozialhilfe<br />
unterstützt wird. Nun werden für<br />
Frau Kunz einmalig ausstehende Unterhaltszahlungen<br />
überwiesen, deren Anspruch<br />
auf eine Zeit zurückgeht, <strong>als</strong> sie<br />
noch nicht mit Sozialhilfe unterstützt wurde.<br />
FRAGEN<br />
1. Werden die nachträglich eingehenden<br />
Leistungen für den nachehelichen Unterhalt<br />
mit der Sozialhilfe verrechnet?<br />
2. Stellen die Leistungen Einkommen<br />
oder Vermögen dar?<br />
3. Darf Frau Kunz dieses Geld behalten?<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen, die<br />
an die «SKOS-Line»gestellt werden, beantwortet<br />
und publiziert. Die «SKOS-Line» ist ein Beratungsangebot<br />
für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) Beratungsangebot<br />
GRUNDLAGEN<br />
Einen Anspruch auf Sozialhilfe besteht,<br />
wenn eine Person sich nicht selbst helfen<br />
kann und auch von Dritten keine oder<br />
nicht rechtzeitig Hilfe erhält. Es besteht<br />
kein Wahlrecht zwischen vorrangigen<br />
Hilfsquellen und der Sozialhilfe (SKOS-RL<br />
A.3. Abs.1). Der Unterhaltsanspruch geht<br />
aufgrund der Subsidiarität dem Sozialhilfeanspruch<br />
stets vor. Sobald ein Unterhaltsanspruch<br />
nicht rechtzeitig zur Verfügung<br />
steht, kann mit Blick auf das<br />
Bedarfsdeckungsprinzip ein Anspruch auf<br />
bevorschussende Sozialhilfe bestehen. Bei<br />
bevorschussend erbrachter Sozialhilfe<br />
muss die Rückerstattung sichergestellt<br />
werden, wofür verschiedene Sicherungsmassnahmen<br />
in Frage kommen (SKOS-RL<br />
E.2.3).<br />
Einnahmen, die nachträglich bei der<br />
unterstützten Person eingehen, werden<br />
mit bevorschussten Sozialhilfeleistungen<br />
verrechnet (SKOS-RL E.2.2. Abs. 1). Es<br />
dürfen jedoch nur Leistungen verrechnet<br />
werden, die zeitlich und sachlich übereinstimmen<br />
(SKOS-RL E.2.2. Abs. 2). Daher<br />
müssen die eingehenden Leistungen und<br />
die Sozialhilfegelder denselben Zeitraum<br />
betreffen (zeitliche Kongruenz) und demselben<br />
Zweck respektive dem Lebensunterhalt<br />
dienen (sachliche Kongruenz).<br />
Zahlungseingänge, die sich nicht mit<br />
bereits geleisteter Sozialhilfe verrechnen<br />
lassen, werden im aktuellen Unterstützungsbudget<br />
<strong>als</strong> Einnahmen angerechnet.<br />
Bei der Bemessung von finanziellen Leistungen<br />
der Sozialhilfe werden alle verfügbaren<br />
Einnahmen berücksichtigt (SKOS-<br />
RL D.1. Abs. 1). Verfügbare Einnahmen<br />
werden zum Zeitpunkt der Auszahlung angerechnet<br />
und es wird erwartet, dass dieses<br />
Geld zur Finanzierung des Lebensbedarfs<br />
verwendet wird (sog. Zuflusstheorie).<br />
Auf rückwirkend eingehende Zahlungen<br />
werden keine Vermögensfreibeträge<br />
gewährt. Dies gilt auch für Zahlungen,<br />
die im Monat eingehen, in welchem das<br />
Gesuch eingereicht wird. Unterstützten<br />
Personen kann aber ermöglicht werden,<br />
dass sie mit rückwirkend eingehenden<br />
Zahlungen, die sich nicht mit bereits geleisteter<br />
Sozialhilfe verrechnen lassen,<br />
nachweislich bestehende Schulden tilgen.<br />
ANTWORTEN<br />
1. Die nachträglich eingegangenen Unterhaltszahlungen<br />
dürfen im vorliegenden<br />
Fall nicht mit den bereits erfolgten Sozialhilfeleistungen<br />
verrechnet werden.<br />
2. Die einmalige Zahlung wird im aktuellen<br />
Unterstützungsbudget von Frau<br />
Kunz <strong>als</strong> Einnahme angerechnet. Es<br />
kann kein Vermögensfreibetrag gewährt<br />
werden.<br />
3. Frau Kunz darf das Geld behalten, jedoch<br />
verringert sich der aktuelle Unterstützungsbedarf<br />
im Umfang der<br />
eingegangenen Unterhaltsleistungen.<br />
Übersteigen die eingegangenen Unterstützungsleistungen<br />
den aktuellen<br />
Unterstützungsbedarf, kann dies zur<br />
vorübergehenden Ablösung von der Sozialhilfe<br />
führen.<br />
•<br />
Manuela Reuss<br />
SKOS-Kommission Richtlinien und Praxis<br />
WICHTIGER HINWEIS<br />
Die Verweise auf die SKOS-Richtlinien<br />
beziehen sich bereits auf die ab <strong>20</strong>21 neu<br />
geltende Richtlinien-Struktur.<br />
6 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>
Weiterbildung für<br />
Sozialhilfebeziehende<br />
SOZIALHILFE Wenn die Sozialhilfe bei der beruflichen Integration erfolgreich bleiben will, braucht es<br />
vermehrt Investitionen in die Kompetenzförderung und in die Qualifizierung. Erste Erfahrungen in<br />
der Stadt Bern weisen darauf hin, dass dieser Ansatz vielversprechend ist. Im Rahmen der neuen<br />
BFI-Botschaft stehen den Kantonen in den nächsten vier Jahren 43 Millionen Franken Bundesgelder<br />
für die Förderung von Grundkompetenzen und Weiterbildungen zur Verfügung. Die SKOS ruft dringlich<br />
dazu auf, diese Mittel zu nutzen.<br />
In der Schweiz verfügt fast die Hälfte aller<br />
Sozialhilfebeziehenden im Alter zwischen<br />
25 und 64 Jahren (46,4 %) über keinen<br />
Berufsabschluss. Damit ist der Anteil der<br />
Personen ohne Berufsbildung in der Sozialhilfe<br />
rund dreimal höher <strong>als</strong> in der ständigen<br />
Wohnbevölkerung. Gleichzeitig weisen<br />
rund 30 Prozent der Sozialhilfebeziehenden<br />
nur ungenügende Grundkompetenzen<br />
aus. Sozialhilfebeziehende werden aus diesem<br />
Grund in erster Linie in den unqualifizierten<br />
Arbeitsmarkt vermittelt.<br />
Aufgrund der bekannten Megatrends in<br />
der Arbeitswelt ist das Stellenangebot im<br />
Bereich des geringqualifizierten Arbeitsmarkts<br />
seit Jahren rückläufig. Der Ansatz<br />
der Sozialhilfe, die oftm<strong>als</strong> geringqualifizierten<br />
Stellensuchenden möglichst rasch<br />
und direkt in den Arbeitsmarkt zu vermitteln,<br />
wird dadurch zunehmend in Frage<br />
gestellt. Wenn die Sozialhilfe bei der beruflichen<br />
Integration erfolgreich bleiben will,<br />
braucht es deshalb künftig vermehrt Investitionen<br />
in die Kompetenzförderung und<br />
in die Qualifizierung. Für die Sozialhilfe<br />
bedeutet dies einen Paradigmenwechsel,<br />
denn bis anhin war sie bei der Finanzierung<br />
von Aus- und Weiterbildungen bei<br />
Personen über 25 Jahren sehr zurückhaltend.<br />
Gemeinsam lancierten deshalb die<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
(SKOS) und der Schweizerische Verband<br />
für Weiterbildung (SVEB) im <strong>20</strong>18 die<br />
Weiterbildungsoffensive.<br />
Beispielhafte Projekte in einzelnen<br />
Kantonen zeigen, dass der Weg erfolgversprechend<br />
ist. So beschäftigt sich das Sozialamt<br />
der Stadt Bern bereits seit mehreren<br />
Jahren intensiv mit der Kompetenzförderung<br />
und Qualifizierung in der Sozialhilfe.<br />
Die Stadt Bern investiert im Rahmen ihrer<br />
aktuellen Strategie zur Förderung der beruflichen<br />
und sozialen Integration für die<br />
Jahre <strong>20</strong>18 bis <strong>20</strong>21 rund 2,3 Mio. Franken<br />
in den Aufbau und die Pilotierung entsprechender<br />
Förderangebote.<br />
Falls bei Stellensuchenden in der Sozialhilfe<br />
eine Berufsbildung möglich ist,<br />
bietet diese Investition die beste Grundlage<br />
für eine nachhaltige Ablösung von<br />
der Sozialhilfe. Für viele Sozialhilfebeziehende<br />
ist eine Berufsbildung jedoch zu<br />
anspruchsvoll. Es gilt deshalb, Bildungswege<br />
unterhalb des Berufsbildungsniveaus<br />
zu erschliessen und gezielt zu nutzen.<br />
Das Sozialamt der Stadt Bern hat zu<br />
diesem Zweck ein Stufenmodell Bildung<br />
entwickelt, das vier verschiedene Förderstufen<br />
unterscheidet. Dieser Ansatz ermöglicht<br />
es, die verschiedenen Sozialhilfebeziehenden<br />
ihrem Potenzial entsprechend<br />
stufengerecht zu fördern.<br />
Mehr Mittel zum Schliessen der<br />
Angebotslücken<br />
Zurzeit laufen in der Stadt Bern Pilotprojekte<br />
zur Entwicklung von Kursen zur Förderung<br />
der Alltags- und Grundkompetenzen<br />
sowie zur Entwicklung von halbjährigen<br />
Fachkursen in den Bereichen Gastronomie<br />
und Reinigung. Erste Erfahrungen stimmen<br />
zuversichtlich: Es zeichnet sich ab,<br />
dass eine Förderung auf den verschiedenen<br />
Stufen mit einem Teil der Sozialhilfebeziehenden<br />
möglich ist und gerade die Fachkurse<br />
die Vermittlungschancen erhöhen.<br />
Die Bildungsangebote zeigen ausserdem<br />
eine Wirkung über die reine Wissensvermittlung<br />
hinaus, indem sie zu einer Verbesserung<br />
von Selbstvertrauen, Zuversicht und<br />
Motivation der Teilnehmenden führen und<br />
eine positive Dynamik anstossen.<br />
Eine wichtige Chance zur Intensivierung<br />
von Kompetenzförderung und Qualifizierung<br />
in der Schweiz bietet die neue<br />
BFI-Botschaft: In deren Rahmen stellt der<br />
Bund für die Jahre <strong>20</strong>21 bis <strong>20</strong>24 Mittel<br />
im Umfang von 43 Millionen Franken bereit.<br />
Mit diesen sollen einerseits bestehende<br />
Angebotslücken geschlossen werden.<br />
Andererseits soll für Sozialhilfebeziehende<br />
der Zugang zu den Förderstrukturen in<br />
der Weiterbildung, der Berufsbildung und<br />
der Arbeitslosenversicherung sichergestellt<br />
werden. Gefordert sind nun die Kantone,<br />
die in der gleichen Höhe Mittel für die Förderung<br />
von Grundkompetenzen zur Verfügung<br />
stellen sollen.<br />
Damit der Paradigmenwechsel hin zu<br />
mehr Bildung in der Sozialhilfe gelingen<br />
kann, braucht es aber mehr <strong>als</strong> nur geeignete<br />
Förderangebote. Neben der Bereitstellung<br />
der nötigen Mittel zur Finanzierung<br />
dieser Angebote müssen die Prozesse<br />
in der Arbeitsintegration weiterentwickelt<br />
werden. Vorhandenes Potenzial von Sozialhilfebeziehenden<br />
muss rasch identifiziert<br />
und gezielt gefördert werden.<br />
Damit dies gelingt, braucht es erstens<br />
eine frühzeitige, systematische und fachlich<br />
fundierte Potenzialabklärung. Zweitens ist<br />
eine durchgehende Kompetenzorientierung<br />
während des gesamten Arbeitsintegrationsprozesses<br />
erforderlich: Von der Potenzialabklärung<br />
über die Förderung bis zur Vermittlung<br />
muss allen Beteiligten klar sein, welche<br />
Kompetenzen bei den Stellensuchenden<br />
vorhanden sind, welche Kompetenzen sie<br />
für den angestrebten Integrationsweg benötigen<br />
und auf welche Weise fehlende Kompetenzen<br />
aufgebaut werden können. •<br />
David Kieffer, Sozialamt Stadt Bern<br />
3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
7
«Wir alle wurden im Frühjahr ins<br />
kalte Wasser geworfen»<br />
INTERVIEW Nach einem interimistischen Jahr ist Frank Wittmann auf den 1. Juni <strong>20</strong><strong>20</strong> offiziell zum<br />
Direktor des Departements Soziale Arbeit an der ZHAW ernannt worden. Wittmann will dem Studium<br />
mehr Aktualität und Praxisnähe verleihen und die Digitalisierung in der Sozialen Arbeit vorantreiben.<br />
«<strong>ZESO</strong>»: Seit März findet die Hochschule<br />
eigentlich nur noch im Web<br />
statt. Wie haben Sie die Phase des<br />
Web-Lehrsa<strong>als</strong> erlebt?<br />
Frank Wittmann: Ich war überrascht,<br />
wie gut der Wechsel geklappt hat. Er kam<br />
ja wirklich sehr abrupt. Erfreulich war auch<br />
die mehrheitlich positive Resonanz bei den<br />
Studierenden und Weiterbildungsteilnehmenden.<br />
Ich hatte damit gerechnet, dass<br />
mindestens ein Viertel bis ein Drittel von<br />
der Weiterbildung abspringt. Wir hatten<br />
allen Teilnehmenden angeboten, dass sie<br />
ihren CAS unter den neuen Umständen<br />
abbrechen können und die Kosten pro rata<br />
zurückerhalten würden. Davon machte<br />
aber niemand Gebrauch. Alle liessen sich<br />
auf die Erfahrung des neuen Lernens ein.<br />
Das gilt auch für die Bachelor- und Master-<br />
Studierenden, die jedoch wenig bis keine<br />
Wahlmöglichkeiten hatten.<br />
Wie schwierig war die Umstellung für<br />
die Dozierenden?<br />
Für die Dozierenden war die Umstellung<br />
ein grosser Effort. Bis vor der Corona-Krise<br />
war E-Learning bei vielen Dozierenden<br />
und Studierenden nur mässig<br />
beliebt. Die Haltung «ein bisschen ja, aber<br />
ja nicht zu viel» war verbreitet. Wir alle<br />
wurden im Frühjahr ins kalte Wasser geworfen.<br />
Innert Kürze haben wir die didaktischen<br />
Settings umgestellt und den Einsatz<br />
von digitalen Tools ausgeweitet. Eine<br />
so radikale Veränderung in so kurzer Zeit<br />
habe ich bisher noch nie erlebt. Aber aus<br />
dieser Situation entstand eine erstaunliche<br />
Dynamik. Unsere Lernkurve war steil.<br />
Erwies sich der Online-Hörsaal <strong>als</strong><br />
genauso gut geeignet wie der Präsenz-<br />
Unterricht?<br />
Es gibt gewisse Bereiche, bei denen das<br />
Digitale zu kurz greift. Das betrifft insbesondere<br />
Diskussionen und Reflexionen in<br />
grösseren Gruppen. Wenn ich physisch<br />
im Raum anwesend bin, sehe ich auch<br />
das Nonverbale der nicht sprechenden<br />
Personen. Ich sehe, wie die anderen Anwesenden<br />
reagieren, und ich kann diese<br />
Informationen in meine Voten und Interventionen<br />
einbauen. Per «Zoom» ist die<br />
Verlockung gross, stärker linear zu kommunizieren.<br />
Interessant war, dass am Anfang<br />
alle Studierenden mit Video an den<br />
Web-Vorlesungen teilnahmen. Nach einiger<br />
Zeit hatten dann die Dozentinnen<br />
und Dozenten nur noch hundert schwarze<br />
Bilder auf dem eigenen Monitor vor sich.<br />
Da merkten wir, wie wichtig es ist, Grundregeln<br />
zu vereinbaren. Als Dozent vier<br />
Stunden an einen schwarzen Bildschirm<br />
hinzureden, ist unmöglich. Es braucht die<br />
Rückmeldungen von und die Interaktionen<br />
mit den Studierenden.<br />
Welche Schlussfolgerungen und Lehren<br />
ziehen Sie aus dem Erlebten?<br />
Gewisse Dinge, die wir bisher im Kontaktstudium<br />
gemacht haben, können wir<br />
auch online vermitteln. Die Wissensvermittlung<br />
funktioniert online gut – beispielsweise<br />
mittels Lektüre, vertonter Präsentationen<br />
und Filme. Auch Gruppenarbeiten funktionieren<br />
online in sogenannten Breakout-Sessions<br />
relativ gut. Hingegen sollten wir das<br />
Kontaktstudium zukünftig noch gezielter<br />
dann einsetzen, wenn es einen hohen Mehrwert<br />
generiert. Zum Beispiel für die oben<br />
angesprochenen Plenumsdiskussionen und<br />
Gruppenreflexionen.<br />
Also auch dann, wenn die Corona-Krise<br />
vorbei und Social distancing nicht<br />
mehr nötig ist?<br />
Bei uns wird das reine Online-Studium<br />
nicht die Zukunft sein. Ich gehe davon aus,<br />
dass wir eine starke Verflechtung von Präsenz-<br />
und Online-Unterricht entwickeln<br />
werden. In jedem Fall hoffe ich, genauso<br />
wie fast alle Studierenden und Dozierenden,<br />
dass das Coronavirus bald unter<br />
Kontrolle ist und wir den Anteil des Kontaktstudiums<br />
wieder hochfahren können.<br />
Wie erleben die Studierenden den<br />
fehlenden sozialen Austausch des<br />
Studienlebens?<br />
Die Hochschule <strong>als</strong> sozialer Nahraum<br />
fehlt uns allen. Im Bachelorstudium gibt<br />
es aber viele Studierende, welche die neue<br />
Bilder: Palma Fiacco<br />
8 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>
Flexibilität des Online-Studiums sehr<br />
schätzen. Umfragen haben gezeigt, dass<br />
unseren Weiterbildungsteilnehmenden<br />
das Kontaktstudium am meisten fehlt.<br />
Wie geht es im Herbst weiter? Wie werden<br />
Sie an der ZHAW in den nächsten<br />
Monaten mit den Corona-Anforderungen<br />
umgehen?<br />
Wir haben ein Schutzkonzept und werden<br />
die Abstandsregel entsprechend umsetzen.<br />
Der aktuelle Stand ist, dass jeder zweite<br />
Platz in unseren Unterrichtsräumen frei<br />
bleibt. Ein Teil von Studium und Weiterbildung<br />
wird in unserem Campus Toni-Areal<br />
stattfinden, ein Teil bleibt digital. Wir sind<br />
auf dem Weg, Blended Learning zum neuen<br />
didaktischen Standard zu machen.<br />
Im Studium der Sozialen Arbeit sind<br />
Praktika wichtig. Sie konnten vermutlich<br />
auch nicht wie gewohnt stattfinden?<br />
Unsere Priorität war immer, den Studierenden<br />
zu ermöglichen, ihr Studium im<br />
vorgesehenen Zeitrahmen abschliessen zu<br />
können. Niemand sollte ein Semester verlieren.<br />
Das war nicht immer einfach, aber<br />
durch die Lösungsorientierung aller Beteiligten<br />
– besonders auch in der Praxisausbildung<br />
– haben wir das geschafft. Auch<br />
in der Weiterbildung war viel Flexibilität<br />
gefragt. So wurden beispielsweise fast<br />
alle Projektarbeiten in meinem CAS «Culture<br />
Change» von Corona beeinträchtigt.<br />
Home-Office, neue organisationale Dringlichkeiten,<br />
Strategiewechsel und andere<br />
Veränderungen haben die Zusammenarbeit<br />
erschwert oder sogar zum Abbruch<br />
von Projekten geführt.<br />
Die Aufgabe der Hochschule ist es, die<br />
Studierenden auf solche Krisen vorzubereiten.<br />
Wie kann die Hochschule<br />
das leisten?<br />
Unsere primäre Aufgabe ist es, den<br />
Studierenden die Möglichkeit zu geben,<br />
sich das nötige Wissen und die richtigen<br />
Kompetenzen anzueignen und diese mit<br />
praktischen Erfahrungen zu kombinieren.<br />
Dazu gehört auch der Bereich des Selbstmanagements.<br />
Corona hat die Studierenden<br />
und letztlich die ganze Gesellschaft<br />
gezwungen, einen Umgang mit einer ganz<br />
neuen Situation zu finden. Das war eine<br />
reale Übung im Umgang mit Volatilität,<br />
Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität,<br />
learning by doing. Wir haben in unterschiedlichen<br />
Settings dafür gesorgt, dass<br />
eine Reflexion über die Situation und die<br />
gemachten Erfahrungen stattfinden konnte.<br />
In diesem Sinne ist durch Corona eine<br />
Plattform für Reflexion und Kompetenzerwerb<br />
entstanden, über die wir sonst nicht<br />
verfügt hätten.<br />
Wie kann die Fachhochschule dazu<br />
beitragen, dass die Gesellschaft<br />
Probleme wie beispielsweise die der<br />
steigenden Zahl an Armutsbetroffenen<br />
bewältigen kann?<br />
Es gehört zu unseren Aufgaben, mit Ergebnissen<br />
aus der wissenschaftlichen Tä-<br />
<br />
«In diesem Sinne<br />
ist durch Corona<br />
eine Plattform<br />
für Reflexion und<br />
Kompetenzerwerb<br />
entstanden, über<br />
die wir sonst nicht<br />
verfügt hätten.»<br />
3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
9
«Es braucht ein gutes Verständnis der eigenen Ressourcen: Ich<br />
muss wissen, was ich kann und wo meine Grenzen sind oder jene<br />
meiner Kolleginnen und Kollegen.»<br />
<br />
tigkeit die Öffentlichkeit auf Missstände<br />
und neue Entwicklungen aufmerksam zu<br />
machen sowie einen Diskurs über diese<br />
Phänomene zu entfachen, für sie zu sensibilisieren<br />
und kollaborativ mit unseren<br />
Praxispartnern dazu beizutragen, Lösungen<br />
zu entwickeln.<br />
Welche weiteren Folgen erwarten Sie<br />
sich aus der Krise für die Fachhochschule?<br />
Die sozialen Bedürfnisse und die gesellschaftliche<br />
Agenda sind starken Veränderungen<br />
unterworfen, die immer klarer<br />
hervortreten. Dies hat Auswirkungen auf<br />
unsere Themen und Ansätze und damit<br />
auf unsere Lehre und Forschung. Sinkende<br />
Steuereinnahmen werden sich zudem<br />
nicht nur auf die Budgets im Sozialbereich,<br />
sondern auch auf die Finanzen der<br />
öffentlichen Fachhochschulen auswirken.<br />
Knappe Ressourcen können uns aber motivieren,<br />
Prioritäten noch klarer zu setzen.<br />
Welche Akzente wollen Sie <strong>als</strong> neuer<br />
Direktor des Departements Soziale<br />
Arbeit der ZHAW setzen?<br />
Die Themenstrategie, die durch unsere<br />
Institute abgebildet wird, geht mit dezidierter<br />
Kontinuität weiter. Wir ergänzen<br />
sie aber durch zwei neue Themencluster.<br />
Das eine ist die Existenzsicherung. Dieses<br />
Cluster verbindet Themen wie Armut, Arbeitsintegration,<br />
Sozialhilfe und Erwachsenenschutz.<br />
Das andere Themenfeld ist<br />
die Digitalisierung in der Sozialen Arbeit.<br />
Wir haben interne Netzwerke gebildet, die<br />
diese beiden Themenfelder interdisziplinär<br />
entwickeln. In der interdisziplinären<br />
Zusammenarbeit liegt eine grosse Kraft.<br />
Ferner ist es mir sehr wichtig, am Puls der<br />
Zeit zu sein und eng mit der Praxis zusammenzuarbeiten<br />
und auf deren Bedürfnisse<br />
einzugehen. Wir haben bereits damit begonnen,<br />
den Kontakt mit den sozialen Institutionen<br />
zu intensivieren. Die raison<br />
d‘être einer Fachhochschule ist die Auseinandersetzung<br />
mit den Themen, die in<br />
der Praxis eine Rolle spielen. Da haben wir<br />
Nachholbedarf und noch Entwicklungspotenzial.<br />
Das packen wir jetzt an!<br />
Bisher spielte das Thema Sozialhilfe<br />
im Studium an den meisten Fachhochschulen<br />
eine sehr kleine Rolle. Warum<br />
setzen Sie hier einen Schwerpunkt?<br />
Sozialhilfe ist ein Kernthema der sozialen<br />
Arbeit – gerade in einer Stadt und<br />
einem Kanton wie Zürich. Auch ist der<br />
ganze Bereich des öffentlichen Sozialwesens<br />
ein wichtiger Arbeitgeber für unsere<br />
Studierenden. Wir möchten ihnen die nötigen<br />
fachlichen Grundlagen vermitteln<br />
und dem Thema das Gewicht geben, das<br />
ihm gebührt. Unsere neuen thematisch<br />
einschlägigen Weiterbildungs-, Beratungsund<br />
Forschungsangebote verzeichnen eine<br />
erfreuliche Nachfrage.<br />
Das zweite Thema – die Digitalisierung<br />
in der Sozialarbeit – ist in aller Munde.<br />
In der Praxis ist sie, wie mir scheint,<br />
noch nicht wirklich angekommen.<br />
Wie wollen Sie da vorgehen?<br />
Wir befinden uns mitten in einer spannenden<br />
Explorations- und Experimentierphase.<br />
Die Mitglieder unseres Netzwerks<br />
bringen derzeit Akteure aus Bereichen wie<br />
Soziales, Statistik, Verwaltung und Technologie<br />
zusammen, um Problemlagen zu<br />
analysieren und Vorgehensweisen zu eruieren.<br />
Im Zusammenhang mit Big Data<br />
muss man bedenken, dass derzeit viele Datensätze<br />
noch nicht miteinander verbunden<br />
sind. Eine unserer Aufgaben ist es, das<br />
Potenzial dieser Daten und Datenkombinationen<br />
zu eruieren und auszuschöpfen<br />
und zugleich den Daten- und Persönlichkeitsschutz<br />
insbesondere von Klientinnen<br />
und Klienten zu gewährleisten. Hier ist viel<br />
Sensibilität und Umsicht gefragt. Kürzlich<br />
sagte eine Sozialdienstmitarbeiterin an einer<br />
Veranstaltung zu mir, sie fände das<br />
Thema Digitalisierung hoch spannend,<br />
aber leider habe es mit Sozialhilfe ja gar<br />
nichts zu tun. Diese persönliche Sichtweise<br />
kann ich zwar gut nachvollziehen, aber die<br />
Digitalisierung durchdringt zunehmend<br />
auch den Sozialbereich.<br />
Vor allem in der Westschweiz und in<br />
Frankreich ist die Partizipation von Armutsbetroffenen<br />
ein wichtiges Thema,<br />
auch bei der Ausbildung. Ist das für Sie<br />
eine Option?<br />
Ich habe für einen ganzheitlichen Blick<br />
auf Partizipation eine grosse Sympathie.<br />
Ich teile Ihre Einschätzung, dass wir uns in<br />
der deutschsprachigen Schweiz und auch<br />
an der ZHAW gegenüber der Praxis noch<br />
mehr öffnen und für eine breit angelegte<br />
Partizipation eigene Gefässe schaffen können.<br />
Wir müssen auf differenzierte Weise<br />
beurteilen, welche Form von Partizipation<br />
sich für welches Thema und Projekt eignet<br />
und einen echten Mehrwert bringt. Derzeit<br />
sind wir an einem ZHAW-weiten Projekt<br />
beteiligt, in welchem die hochschulinter-<br />
10 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>
FRANK WITTMANN<br />
Frank Wittmann ist seit 1. Juni <strong>20</strong><strong>20</strong> Direktor<br />
des Departements Soziale Arbeit an der ZHAW.<br />
Wittmann hat eine Dissertation in Medienkultur<br />
geschrieben, für die er ein Jahr im Senegal Feldforschung<br />
betrieben hatte. Nach dem Abschluss<br />
des Studiums koordinierte er in einem Freiwilligenprogramm<br />
der Uno-Friedensmission in<br />
Haiti die Kommunikation und die Weiterbildung.<br />
<strong>20</strong>07 kehrte Wittmann an die ZHAW zurück und<br />
übernahm die Leitung der Stabsstelle im Ressort<br />
Internationales.<br />
ne Partizipation von Studierenden, Mitarbeitenden<br />
und Dozierenden auf eine neue<br />
Grundlage gestellt wird.<br />
Soziale Arbeit ist ein beliebtes Studienfach,<br />
jedoch grossmehrheitlich bei<br />
Frauen. Sehen Sie Veränderungen am<br />
Horizont?<br />
Der Anteil Frauen ist nach wie vor wesentlich<br />
höher <strong>als</strong> der der Männer. Im Moment<br />
ist das Verhältnis etwa 75 zu 25. In<br />
der Weiterbildung ist es etwas ausgeglichener.<br />
In Gruppenarbeiten lässt sich jedoch<br />
gut beobachten, dass die männlichen<br />
Studierenden definitiv keinen Exotenstatus<br />
haben. Wir setzen uns dennoch weiter<br />
dafür ein, den Anteil der Männer zu erhöhen.<br />
Bei den Führungspositionen wiederum,<br />
müsste der Anteil der Frauen<br />
erhöht werden.<br />
Auf der Führungsebene im Sozial- und<br />
im Hochschulbereich ist das Verhältnis<br />
zwar nicht genau umgekehrt, aber häufig<br />
nur paritätisch. Wir hoffen, unter den<br />
weiblichen Studierenden der Sozialen Arbeit<br />
noch mehr Führungsnachwuchs zu<br />
rekrutieren. Wir können mit unserer Ausund<br />
Weiterbildung unterstützend wirken<br />
und in unserem Hochschuldepartement<br />
entsprechende Praktiken etablieren.<br />
Eine Studie der Berner Fachhochschule<br />
BFH kam zu dem Schluss, dass<br />
Sozialarbeitende überdurchschnittlich<br />
oft ein Burn-out erleiden. Sozialarbeitende<br />
treffen bei ihrer Arbeit häufig<br />
auf eine schwierige Umgebung und<br />
Leid. Ihre beruflichen Aufgaben seien<br />
herausfordernd, nervenaufreibend<br />
und belastend, wie die BFH schreibt.<br />
Wie bereiten Sie Studierende auf diese<br />
Belastung vor?<br />
Die Themen Stress, Druck und Burn-out<br />
sind in der Ausbildung sehr präsent. Auch<br />
von Führungskräften werden Gesundheit<br />
und Krankheit <strong>als</strong> wichtige Themen regelmässig<br />
in meinem CAS «Führung und<br />
Zusammenarbeit in Non-Profit-Organisationen»<br />
aufgebracht. Viele Fach- und<br />
Führungskräfte können noch dazulernen,<br />
wenn es um die Entwicklung eines entkrampften<br />
Verhältnisses zur Leis-tungsfähigkeit<br />
von sich und ihren Teams geht.<br />
Denn ein Burn-out stellt sich nicht automatisch<br />
nach ausserordentlich hoher Leistung<br />
ein, sondern ist die Folge, wenn sich<br />
mehrere Faktoren unheilvoll verketten. Der<br />
unzureichende Umgang mit Druck, das<br />
Ignorieren von eigenen Ressourcen und<br />
das Fehlen von intakten interpersonellen<br />
Beziehungen gehören häufig dazu.<br />
Welche Massnahmen zur Prävention<br />
empfehlen Sie?<br />
Wir müssen in Aus- und Weiterbildung<br />
Gelegenheit zur Selbsterkenntnis <strong>als</strong> Basis<br />
des Selbstmanagements geben. Es braucht<br />
ein gutes Verständnis der eigenen Ressourcen:<br />
Ich muss wissen, was ich kann und<br />
wo meine Grenzen sind oder jene meiner<br />
Kolleginnen und Kollegen. Ich muss lernen,<br />
diese Grenzen anzuerkennen und sie<br />
adäquat zu kommunizieren. Und ich kann<br />
schrittweise daran arbeiten, meine Resilienz<br />
und diejenige meines Teams zu erhöhen.<br />
Beispielsweise indem ich eine neue<br />
Sichtweise auf Drucksituationen entwickle<br />
oder überlege, welche individuellen und<br />
kollektiven Ressourcen ich mobilisieren<br />
kann, um eine Herausforderung zu bewältigen.<br />
Persönliches Wachstum hängt eng<br />
mit der Bereitschaft zusammen, mich von<br />
anderen unterstützen zu lassen. •<br />
Das Gespräch führte<br />
Ingrid Hess<br />
3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
11
Bild: pixelio.de<br />
12 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT
Kumulierte Nachteile führen Einelternhaushalte<br />
in die Sozialhilfe<br />
Welches Profil haben sozialhilfebeziehende <strong>Alleinerziehende</strong> im Kanton Neuenburg? Welche<br />
Faktoren führen zur Sozialhilfeabhängigkeit und zur Ablösung? Und wie schätzen die<br />
Fachpersonen der Sozialdienste die Situation ein? Diesen Fragen ist eine Studie des nationalen<br />
Forschungsschwerpunktes LIVES nachgegangen.<br />
In mehr <strong>als</strong> neun von zehn Fällen bestanden die Einelternhaushalte,<br />
die im Kanton Neuenburg <strong>20</strong>16 mit Sozialhilfe unterstützt<br />
wurden, aus einer Mutter und ihren Kindern. Die alleinerziehenden<br />
Eltern waren zwischen 26 und 55 Jahre alt; das Durchschnittsalter<br />
lag bei rund 40 Jahren. Die Einelternfamilien lebten<br />
vornehmlich in den am stärksten besiedelten Gebieten des Kantons,<br />
insbesondere in La Chaux-de-Fonds und Neuenburg.<br />
Die Eltern wurden in den meisten Fällen alleinerziehend, weil sie<br />
eine Paarbeziehung beendet haben, <strong>als</strong>o durch Trennung, Scheidung<br />
oder das Beenden des Zusammenlebens. Verwitwete Elternteile<br />
waren hingegen sehr selten. Die Mehrheit der alleinerziehenden<br />
Mütter und Väter gehörten einer Unterstützungseinheit mit<br />
einem einzigen abhängigen Kind an.<br />
Die meisten alleinerziehenden Eltern, die Sozialhilfe bezogen,<br />
waren auf Arbeitssuche oder nicht erwerbstätig. Rund ein Fünftel<br />
ging einer Erwerbstätigkeit nach – häufig in Teilzeit. Etwas mehr<br />
<strong>als</strong> die Hälfte der sozialhilfebeziehenden Einelternhaushalte im<br />
Kanton Neuenburg waren Schweizer Staatsangehörige, ein weiteres<br />
Viertel setzte sich aus europäischen Staatsbürgern zusammen.<br />
Beinahe alle Einelternfamilien bezogen langfristig Unterstützung.<br />
Lediglich einer kleinen Minderheit gelang es, sich innerhalb<br />
von weniger <strong>als</strong> zwölf Monaten von der Sozialhilfe abzulösen. Für<br />
die alleinerziehenden Väter konnten im Allgemeinen die gleichen<br />
Profileigenschaften wie für die untersuchte Gesamtpopulation<br />
(Mütter und Väter) ermittelt werden.<br />
Kein einzelner Auslöser<br />
Mit einer qualitativen Umfrage wurden die Entwicklungsverläufe<br />
von sozialhilfebeziehenden Einelternhaushalten und die subjektive<br />
Erfahrung der Sozialhilfebeziehenden untersucht.<br />
Die befragten Eltern wurden zu unterschiedlichen Zeitpunkten<br />
im Lebensverlauf alleinerziehend – unabhängig vom Eintritt in<br />
die Sozialhilfe. Manche bezogen bereits während der Paarbeziehung<br />
Sozialhilfe, manche sind <strong>als</strong> Folge der Trennung auf Unterstützung<br />
angewiesen. In einigen Fällen hatten die Personen bereits<br />
vor dem Paarleben und vor der Geburt der Kinder Sozialhilfeerfahrung<br />
und sind nun erneut auf Unterstützung angewiesen.<br />
Indem in der Befragung der Unterstützten der Zeitpunkt des<br />
Bezugsbeginns und der Ablösung fokusiert wurde, konnten Erkenntisse<br />
zu Ereignissen und Faktoren gewonnen werden, die<br />
zum Einstieg in die Sozialhilfe beitragen oder eine Ablösung verhindern<br />
können.<br />
In keiner der Biografien der Befragten war der Einstieg in<br />
die Sozialhilfe das Ergebnis eines einzelnen Auslösers zu einem<br />
bestimmten Zeitpunkt im Lebensverlauf. Er war vielmehr das<br />
Resultat eines Prozesses oder einer Kumulation von Nachteilen,<br />
die vor Beginn des Sozialhilfebezugs entstanden waren und sich<br />
zu einem auslösenden Ereignis verbanden. Zu diesen Nachteilen<br />
gehören Schwierigkeiten in Zusammenhang mit der sozialen Herkunft<br />
(Herkunftsfamilie), eine mangelhafte oder unvollständige<br />
Schullaufbahn, Ungleichheiten in der Paarbeziehung, gesundheitliche<br />
Probleme und schwierige Migrationshintergründe.<br />
Die Ablösung von der Sozialhilfe ist in der Regel durch die Wiederaufnahme<br />
der Berufstätigkeit oder durch die Erhöhung des<br />
Beschäftigungsgrads möglich. Damit das gelingen kann, sind insbesondere<br />
bei kleinen Kindern zuverlässige Betreuungsmöglichkeiten<br />
sehr wichtig. Es gab auch Eltern, die auf Sozialhilfe verzichtet<br />
haben, obwohl sie ihnen zugestanden hätte: Einige verliessen<br />
die Sozialhilfe, ohne dass sie eine neue Arbeitsstelle gefunden oder<br />
den Beschäftigungsgrad erhöht hatten, etwa wenn sie eine neue<br />
Paarbeziehung eingingen und/oder ein weiteres Kind mit einem<br />
neuen Partner bekamen.<br />
Mangelnde finanzielle und praktische Unterstützung<br />
Zu den Faktoren, die eine Ablösung verhindern können, gehören<br />
das Arbeiten in Bereichen mit wenig Arbeitsplätzen, körperliche<br />
Gesundheitsprobleme oder in Bezug auf den Arbeitsmarkt auch<br />
ein relativ hohes Alter der Arbeitssuchenden. Als einer der wichtigsten<br />
Hinderungsgründe für die Wiederaufnahme einer beruflichen<br />
Tätigkeit wurden fehlende zuverlässige Betreuungsmöglichkeiten<br />
für die Kinder genannt. Weiter wurden fehlende<br />
Weiterentwicklungsmöglichkeiten erwähnt, wenn die nötigen Bildungsmassnahmen<br />
von der Sozialhilfe nicht übernommen wurden.<br />
Bei überschuldeten Personen bestand zudem teilweise ein<br />
negativer Anreiz zum Ausstieg aus der Sozialhilfe, da bei der Ablösung<br />
die Lohnpfändung einsetzt. Und schliesslich war für die Mütter,<br />
denen es nicht gelang, sich von der Sozialhilfe abzulösen, der<br />
Mangel an finanzieller und/oder praktischer Unterstützung (Kinderbetreuung)<br />
des Vaters ein oft genanntes Hindernis.<br />
Alleinerziehend zu sein kann im Lebensverlauf eine unterschiedliche<br />
Rolle spielen. Es kann der Auslöser für die wirtschaftliche<br />
Instabilität des Haushaltes sein und zusammen mit weiteren<br />
kumulierten Nachteilen im Laufe des Lebens in die Sozialhilfe<br />
führen. Für manche kann es einen latenten Faktor darstellen, der<br />
nach dem Eintritt eines Auslösers (beispielsweise dem Verlust des<br />
Arbeitsplatzes) zum Einstieg in die Sozialhilfe beiträgt. Auch für<br />
diejenigen Müttter, die bereits Sozialhilfe bezogen hatten, bevor<br />
sie alleinerziehend wurden, kann es zu einer Verschlechterung<br />
14 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT
ALLEINERZIEHENDE<br />
SOZIALHILFEBEZIEHENDE<br />
EINELTERNHAUSHALTE IM KANTON<br />
NEUENBURG<br />
Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung der Ergebnisse<br />
eines Forschungsprojekts zu Einelternhaushalten, die <strong>20</strong>16<br />
im Kanton Neuenburg wirtschaftliche Sozialhilfe bezogen.<br />
Die Studie wurde <strong>20</strong>19 vom Amt für Familienpolitik und<br />
Gleichstellung des Kantons Neuenburgs in Auftrag gegeben<br />
und von der Universität Lausanne, dem Nationalen Forschungsschwerpunkt<br />
LIVES und vom Kanton Neuenburg<br />
finanziert.<br />
Studie online verfügbar unter:<br />
www.lives-nccr.ch/sites/default/files/rapport_de_recherche_<br />
neuchatel_final_101219.pdf<br />
Mehr <strong>als</strong> 90 Prozent der <strong>Alleinerziehende</strong>n in der Sozialhilfe sind Mütter. <br />
Bild: Palma Fiacco<br />
der persönlichen Situation führen. Diese unterschiedlichen Situationen<br />
zeigen, wie wichtig sowohl die Förderung von Präventionsmassnahmen<br />
(gegen die Anhäufung von Nachteilen) wie<br />
auch von Ansätzen zur Vereinbarkeit von Familie und Arbeit für<br />
alleinerziehende Elternteile ist. Diesbezüglich erkannten die befragten<br />
Unterstützten an, wie wichtig es ist, auf ein Instrument wie<br />
die Sozialhilfe zählen zu können. Sie wünschten sich jedoch mehr<br />
Flexibilität bei der Finanzierung der Betreuungs- und Bildungsmöglichkeiten.<br />
Fachleute wünschen sich angepasste Lösungen<br />
Die Ergebnisse der qualitativen Befragung wurden in Fokusgruppen<br />
mit Verantwortlichen von Sozialdiensten und Sozialarbeitenden<br />
bestätigt und mit Überlegungen aus der Berufspraxis ergänzt.<br />
Die Fachleute betonten, wie wichtig die Höhe und die Zahlung von<br />
Unterhaltsbeiträgen ist. Auch Fragen in Zusammenhang mit der<br />
Sorgerechtszuteilung seien relevant.<br />
Die befragten Fachpersonen möchten den alleinerziehenden<br />
Personen je nach Beschäftigungsbereich besser angepasste Hilfsmassnahmen<br />
anbieten können. Sie befürworten zudem, dass auch<br />
Eltern, die sich nicht in Beschäftigungsmassnahmen befinden,<br />
der Zugang zu Kinderbetreuungsmöglichkeiten erleichtert wird.<br />
Bestätigt wurde auch, dass für Personen, die wieder erwerbsttätig<br />
werden könnten, Bildungsprogramme gefördert werden müssten,<br />
damit eine Ablösung von der Sozialhilfe gelingen kann. Weitere<br />
Probleme sahen die Sozialarbeitenden beim Nichtbezug von Sozialhilfe<br />
durch potenzielle Empfängerinnen sowie bei negativen Anreizen<br />
zum Ausstieg aus der Sozialhilfe aufgrund von Schwelleneffekten.<br />
In Bezug auf diesen letzten Punkt wurde angeregt, dass<br />
die Sozialhilfe stärker <strong>als</strong> Teil des gesamten Sozi<strong>als</strong>ystems betrachtet<br />
werden muss und bei jeder normativen Änderung die Kohärenz<br />
des Systems geprüft werden sollte.<br />
Schliesslich gestanden die Fachleute eine gewisse Oberflächlichkeit<br />
bei der Erfassung der Daten zu den Sozialhilfebeziehenden<br />
für die kantonalen Statistiken ein. Sie würden es begrüssen, wenn<br />
gewisse Kategorien abgeändert würden, damit die Komplexität der<br />
individuellen Situationen besser abgebildet werden könnte. •<br />
Dr. Ornella Larenza<br />
Nationaler Forschungsschwerpunkt LIVES<br />
SCHWERPUNKT 3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
Alleinerziehend im Niedriglohnsektor −<br />
eine Sackgasse?<br />
Arbeit, Kinderbetreuung und die Bedürfnisse der Kinder in Einklang zu bringen, ist für<br />
<strong>Alleinerziehende</strong> besonders schwierig. Wer im Niedriglohnsektor arbeitet oder auf Sozialhilfe<br />
angewiesen ist, hat zudem wenige Möglichkeiten, Perspektiven zu entwickeln.<br />
Die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit hat gemäss<br />
OECD (<strong>20</strong>04) zwei Ziele: Zum einen geht es um die Möglichkeit<br />
am Arbeitsmarkt teilzunehmen, ein Einkommen zu generieren<br />
und sich dadurch in die Gesellschaft zu integrieren. Zum anderen<br />
sollen die Kinder die bestmögliche Betreuung und Erziehung erhalten.<br />
Für Familien in Belastungssituationen und insbesondere für<br />
<strong>Alleinerziehende</strong> ist die Erfüllung dieser Ziele eine Herkulesaufgabe,<br />
die ohne Unterstützung Dritter nicht zu bewältigen ist.<br />
<strong>Alleinerziehende</strong>n mit tiefer beruflicher Qualifikation, die keine<br />
Unterhaltszahlungen des Vaters bekommen, bleibt nur das Arbeiten<br />
in hohem Pensum oder Vollzeit, um den Lebensunterhalt für<br />
die Familie zu gewährleisten, oder der Gang zur Sozialhilfe. In beiden<br />
Fällen besteht das Risiko, in einen Teufelskreis aus Armut und<br />
Überforderung zu geraten.<br />
Zwischen Arbeit und Kinderbetreuung<br />
Im Niedriglohnbereich zu arbeiten, bedeutet häufig unregelmässige<br />
Arbeitszeiten, Schichtarbeit, ein geringes Einkommen trotz<br />
eines vollen Arbeitspensums und wenig Unterstützungsangebote<br />
seitens der Arbeitgeber. Zudem ist ein geregeltes Einkommen nicht<br />
immer gewährleistet.<br />
Beziehen <strong>Alleinerziehende</strong> Sozialhilfe, ist der Grundbedarf gedeckt.<br />
Auch die Kinderbetreuung wird von der Sozialhilfe übernommen.<br />
Es besteht aber die Pflicht, möglichst schnell wieder<br />
finanziell unabhängig zu werden und eine Arbeit anzunehmen.<br />
Die Praxis in den Sozialdiensten ist diesbezüglich von Kanton zu<br />
Kanton verschieden. An manchen Orten wird auf die Betreuung<br />
junger Kinder Rücksicht genommen. Sie wird höher gewichtet <strong>als</strong><br />
die Arbeitsaufnahme, an anderen Orten ist dies nicht der Fall. So<br />
werden Mütter teilweise gedrängt, eine 100%-Ausbildung zu machen<br />
und ihre Kinder auch abends fremdbetreuen zu lassen.<br />
FAMILIE UND ERWERBSTÄTIGKEIT IM<br />
KONTEXT SOZIALER BENACHTEILIGUNG<br />
Der Verein a:primo hat <strong>20</strong>19 den Bericht «Vereinbarkeit von<br />
Familie und Erwerbstätigkeit im Kontext sozialer Benachteiligung»<br />
herausgegeben. Er basiert auf den Daten des<br />
laufenden Monitorings der a:primo-Programme und auf Befragungen<br />
der Programmmitarbeiterinnen und Familien. Die<br />
Aussagen in diesem Text beziehen sich auf diese Daten. Es<br />
wird lediglich von alleinerziehenden Müttern gesprochen, da<br />
nur diese an den Programmen teilgenommen haben. Vieles<br />
trifft auf alleinerziehende Väter gleichermassen zu.<br />
Diesen Druck bekommen die Mütter auch von den regionalen<br />
Arbeitsvermittlungen zu spüren.<br />
Bei <strong>Alleinerziehende</strong>n steht der Vater für die Kinderbetreuung<br />
häufig nicht zur Verfügung. Wenn die Familie nicht in der unmittelbaren<br />
Umgebung lebt, muss für die Betreuung im Alltag eine<br />
andere Lösung gesucht werden. Kitas bieten zwar eine stabile Betreuungssituation,<br />
doch die Kosten sind vielfach zu hoch. Betreuungsgutscheine<br />
für die Kita oder Subventionen zu beantragen,<br />
ist mit administrativem Aufwand verbunden, den insbesondere<br />
Eltern mit wenigen Bildungsressourcen nicht alleine bewältigen<br />
können. Selbst mit Subventionen ist die Kinderbetreuung oft zu<br />
teuer, zumal je nach Arbeitssituation ein grosser Zeitumfang externer<br />
Betreuung notwendig ist, beispielsweise bei unregelmässigen<br />
Arbeitszeiten. Informelle Tagesmütter bieten sich <strong>als</strong> alternative<br />
Lösung an. Sie sind meist kostengünstiger und flexibler,<br />
allerdings weniger stabil in der Gewährleistung der Betreuung.<br />
Die Qualität der Betreuungslösung spielt oft eine untergeordnete<br />
Rolle. Hauptsache das Kind ist betreut und die Finanzierung ist<br />
gesichert.<br />
Ist das Kind krank oder hat es Schulferien, bringt das <strong>Alleinerziehende</strong><br />
schnell ans Limit. Sie sind auf ein funktionierendes soziales<br />
Netz angewiesen. Solche Strukturen stehen aber nicht einfach<br />
zur Verfügung, sondern müssen aufgebaut und gepflegt werden.<br />
Dafür sind die zeitlichen Ressourcen neben Arbeit, Kindern und<br />
Haushalt knapp.<br />
Für die Kinder ist die Familie der primäre Bildungs- und Sozialisationsort.<br />
Die Familie hat einen entscheidenden Einfluss auf die<br />
kindliche Entwicklung. Für ein gesundes Aufwachsen benötigen<br />
Kinder eine verlässliche soziale Umwelt. Sie wollen Zuwendung,<br />
Sicherheit und Anregungen bekommen. Fällt ein Elternteil weg,<br />
so brauchen die Kinder liebevolle Unterstützung bei der Bewältigung<br />
dieser existenziellen Veränderung.<br />
Die Balance zwischen diesen Rahmenbedingungen und Anforderungen<br />
ist fragil und wird schnell zu einem Teufelskreis mit<br />
wenig Spielraum. Eingespannt zwischen Arbeit und Familie bleibt<br />
kaum Zeit über Veränderungsmöglichkeiten nachzudenken, die<br />
aus dem Teufelskreis herausführen könnten.<br />
Wenig Perspektiven für Aus- und Weiterbildung<br />
Die Sozialhilfe finanziert häufig den Kita-Platz und teilweise auch<br />
Sprachkurse. Damit diese Kosten neben Miete, Krankenkasse etc.<br />
alleine getragen werden könnten, bräuchte es einen deutlichen Einkommensanstieg.<br />
Dieser ist in der Regel nur durch eine bessere<br />
berufliche Qualifikation zu erreichen. Insbesondere für Frauen mit<br />
einer tiefen Erstausbildung würden sich dadurch die Chancen auf<br />
dem Arbeitsmarkt erhöhen.<br />
16 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT
Heraus aus der Passivität – berufliche<br />
Integration von alleinerziehenden Müttern<br />
<strong>Alleinerziehende</strong>, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, müssen viele Hürden überwinden, um<br />
wieder in die Arbeitswelt einzusteigen. In Biel hilft das Angebot für die berufliche Integration von<br />
alleinerziehenden Müttern (BIM) die Weichen für die Zukunft zu stellen.<br />
<strong>Alleinerziehende</strong>, die auf Unterstützung der Sozialhilfe angewiesen<br />
sind, befassen sich häufig erst spät mit ihrem beruflichen Erst- oder<br />
Wiedereinstieg; freiwillig oft erst, wenn ihre Kinder im Schulalter<br />
sind. Dies kann dazu führen, dass die Frauen während Jahren sehr<br />
isoliert mit ihren Kindern leben. Daraus entsteht eine fast symbiotische<br />
Beziehung zwischen Kindern und Mutter. Bereits kleine Loslösungsschritte,<br />
wie ein paar Stunden Fremdbetreuung, stellen<br />
eine grosse Herausforderung dar. Zudem entwickeln die Frauen<br />
mit ihren Familien häufig eigene Tagesstrukturen, investieren viel<br />
Zeit in Alltägliches und haben dann grosse Mühe, hinsichtlich einer<br />
Arbeitsstelle oder eines Kurses ihre Zeitressourcen neu zu verteilen<br />
und die Tagesstruktur zu verändern. Eine weitere Hürde für den<br />
beruflichen Wiedereinstieg liegt darin, dass diese Frauen durch<br />
ihre lange Absenz vom Arbeitsmarkt ihre beruflichen Kompetenzen<br />
und damit einhergehend auch ihr Selbstvertrauen verlieren.<br />
Mit dieser Ausgangslage stehen die Chancen schlecht, aus eigener<br />
Kraft eine Stelle zu finden. Und genau hier setzt das Angebot<br />
für die berufliche Integration von alleinerziehenden Müttern<br />
(BIM) an. Das Programm wurde <strong>20</strong>16 im Auftrag der Abteilung<br />
Soziales der Stadt Biel vom Informations- und Beratungszentrum<br />
frac entwickelt. Die potenziellen Teilnehmerinnen werden dem<br />
frac von der Fachstelle Arbeitsintegration der Abteilung Soziales<br />
Biel zugewiesen.<br />
Weichen frühzeitig stellen<br />
Im BIM sollen frühzeitig die Weichen gestellt werden, damit die<br />
Mütter sich schnell und nachhaltig wieder in den Arbeitsmarkt integrieren<br />
und von der Sozialhilfe ablösen können. Im Zentrum<br />
steht die Vorbereitung auf den neuen Alltag <strong>als</strong> berufstätige, alleinerziehende<br />
Mutter. Ein weiterer Fokus liegt auf der Entwicklung<br />
nachhaltiger beruflicher Perspektiven unter der Berücksichtigung<br />
der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Teilnehmerinnen<br />
setzen sich vertieft mit den Anforderungen und Spielregeln der<br />
Arbeitswelt auseinander. Und sie erarbeiten einen ganz persönlichen<br />
und vor allem realistischen Aktionsplan und setzen erste konkrete<br />
Schritte um.<br />
Das Programm ist modular in Gruppen- und Einzelsequenzen<br />
aufgebaut. Dieser Mix erlaubt es, den unterschiedlichen Bedürfnissen<br />
optimal gerecht zu werden. Die Gruppenberatung fördert<br />
den Erfahrungsaustausch, die Selbstwahrnehmung, die Motivation,<br />
die gegenseitige Unterstützung, den Zusammenhalt unter den<br />
Frauen und deren Vernetzung. Die Einzelberatungen erlauben es,<br />
auf die sehr unterschiedlichen Ausgangslagen und Bedürfnisse individuell<br />
einzugehen.<br />
Die Gruppen- und Einzelberatungen finden mehrheitlich morgens<br />
statt, da etliche Mütter auch Schulkinder haben, die bereits<br />
Es ist wichtig, eine Ausbildung <strong>als</strong> langfristiges Ziel vor Augen zu haben.<br />
Bild: Béatrice Devènes<br />
regelmässig am Morgen betreut sind. Für Kinder ab sechs Monaten<br />
organisiert frac die Kinderbetreuung während den Gruppenberatungen,<br />
den Einzelberatungen und den Schnuppertagen in<br />
Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Biel.<br />
Von der Standortbestimmung bis zum Aktionsplan<br />
Standortbestimmung: In den Einzelberatungen und Gruppensequenzen<br />
machen die Teilnehmerinnen eine Mini-Kompetenzbilanz.<br />
Sie eruieren die Kompetenzen und Stärken, die sie in ihren<br />
beruflichen und ausserberuflichen Erfahrungsfeldern erworben<br />
18 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT
ALLEINERZIEHENDE<br />
und bewiesen haben. Sie gehen ihren persönlichen und beruflichen<br />
Interessen und Wünschen auf den Grund.<br />
Entwickeln von beruflichen Perspektiven: Die Teilnehmerinnen<br />
setzen sich mit der Arbeitswelt und den verschiedenen Berufsfeldern<br />
auseinander. Sie definieren ihre beruflichen und persönlichen<br />
kurz- und langfristigen Ziele. Für viele Mütter ist es kurzfristig<br />
nicht realistisch, eine Ausbildung in Angriff zu nehmen, die zu<br />
nachhaltig guten Chancen auf dem Arbeitsmarkt führt. Es ist aber<br />
wichtig, die Option einer Ausbildung respektive Nachholbildung<br />
<strong>als</strong> langfristiges Ziel vor Augen zu haben. So wird die nachhaltige<br />
Ablösung von der Sozialhilfe viel wahrscheinlicher. Die ersten kleinen<br />
Schritte Richtung beruflicher Wiedereinstieg werden so wenn<br />
möglich auf ein langfristiges Ziel hin abgestimmt, was sehr motivierend<br />
wirkt.<br />
<br />
Fallbeispiel<br />
«Ich war froh, dass mir ein<br />
gangbarer Weg aufgezeigt<br />
wurde.»<br />
Die 29-jährige Frau Martinek (Name geändert) war seit<br />
mehreren Jahren im Verkauf tätig. Sie hatte nach ihrem<br />
Mutterschaftsurlaub ihre Stelle gekündigt, da sie keine<br />
Möglichkeit gefunden hatte, ihr Kind betreuen zu lassen.<br />
Sie musste sich beim Sozialamt anmelden. Nach einigen<br />
Monaten wurde Frau Martinek vom Sozialamt für das<br />
Angebot BIM angemeldet.<br />
Realisierte Schritte und Wirkung<br />
Bereits beim Erstgespräch wurde deutlich, dass Frau<br />
Martinek an ihrer Situation etwas ändern wollte. Sie sorgte<br />
sich aber auch um ihr Kind und befürchtete, dass es<br />
unter einer Fremdbetreuung leiden könnte. In der Gruppenarbeit<br />
mit den alleinerziehenden Frauen wurden<br />
dem Aspekt der Vereinbarkeit zwischen Familienleben<br />
und Beruf viel Gewicht beigemessen und die Zeitressourcen<br />
(Ist- und Soll-Zustand) analysiert. Die Kolleginnen<br />
erzählten einerseits von ihren eigenen Ängsten, andererseits<br />
machten sie sich gegenseitig Mut. Sie arbeiteten<br />
heraus, wie sie zukünftig die zusätzliche Aufgabe der Erwerbsarbeit<br />
bewältigen wollten. Zusammen mit der<br />
Gruppe setzte sich Frau Martinek kritisch mit ihren Ansprüchen<br />
an die Mutterrolle auseinander. Sie entschied,<br />
noch vor dem Wiedereinstieg die Fremdbetreuung mit<br />
ihrer Tochter zu üben. Die pensionierte Nachbarin war<br />
bereit, das Kind zweimal pro Woche zu betreuen. Alles<br />
lief gut, die Tochter von Frau Martinek schien die Zeit bei<br />
der Nachbarin sogar sehr zu geniessen. Dies ermutigte<br />
die alleinerziehende Mutter. Allmählich wuchs bei ihr<br />
die Überzeugung, dass sie es schaffen könnte.<br />
Frau Martinek wollte ihr Diplom, das sie in ihrer Heimat<br />
Slowakei erworben hatte, in der Schweiz anerkennen<br />
lassen. Das BIM unterstützten sie dabei. Frau Martinek<br />
erarbeitete ebenfalls ein auf ihr Stellenprofil hin<br />
ausgerichtetes Bewerbungsdossier und übte das Vorgehen<br />
für Online-Bewerbungen. Sie war nun bereit für die<br />
Stellensuche. In Zusammenarbeit mit dem Sozialamt<br />
wurde vereinbart, vorerst einen Kinderbetreuungsplatz<br />
in einer privaten Krippe in Anspruch zu nehmen. Sobald<br />
ein subventionierter Platz frei würde, könnte ihre Tochter<br />
die Krippe wechseln. Frau Martinek machte sich auf<br />
die Stellensuche. Bereits nach der fünften Bewerbung<br />
konnte sie sich in einem Betrieb vorstellen. Sie erhielt<br />
die Zusage für eine 50-Prozent-Stelle im Verkauf, glücklicherweise<br />
mit fixen Arbeitszeiten. Ihre Nachbarin war<br />
bereit, sich bei Krankheit oder bei ausnahmsweise unregelmässiger<br />
Arbeitszeit um die Tochter zu kümmern.<br />
Der in der Nähe wohnende Vater wird das Kind abends<br />
von der Krippe abholen. <br />
•<br />
SCHWERPUNKT 3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
Eine grosse Herausforderung<br />
bleibt die Organisation der Kinderbetreuung<br />
für Randzeiten<br />
sowie an Wochenenden.<br />
Klären der Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Die Teilnehmerinnen<br />
beschäftigen sich intensiv mit der Frage, wie sie bei der Aufnahme<br />
einer Erwerbstätigkeit ihre Zeitressourcen neu verteilen<br />
können. In der Gruppe erarbeiten sie anhand einer exemplarischen<br />
Woche einen konkreten Plan, wie sie ihren Lebensalltag <strong>als</strong><br />
berufstätige Mütter organisieren werden.<br />
Die Organisation einer familienexternen Kinderbetreuung ist<br />
ein zentrales Thema für die Teilnehmerinnen. Sie erhalten Informationen<br />
über die Angebote der Fremdbetreuung und werden<br />
bei Bedarf ganz konkret bei der Einschreibung in einer Kita und<br />
der Beantragung der Betreuungsgutscheine unterstützt. Intensiv<br />
thematisiert wird die Frage, wie die Mütter die Kinderbetreuung<br />
in Ausnahmesituationen wie Krankheit der Kinder und während<br />
Ferien organisieren können.<br />
Eine grosse Herausforderung bleibt die Organisation der Kinderbetreuung<br />
für Randzeiten (frühmorgens/spätabends) sowie<br />
an Wochenenden, da diese durch keine Regelstrukturangebote<br />
abgedeckt werden. Ein grosser Teil der BIM-Teilnehmerinnen<br />
bewegt sich in Berufsfeldern mit unregelmässigen Arbeitszeiten,<br />
beispielsweise im Verkauf oder in der Pflege. Können diese Randzeiten<br />
nicht durch die Väter, Verwandte oder Bekannte abgedeckt<br />
werden, bleibt nur die Lösung über Babysitter, Nannys und allenfalls<br />
Tageseltern.<br />
Vorbereitung auf die Stellensuche: Die Teilnehmerinnen erstellen<br />
einen zeitgemässen und auf das Berufsziel abgestimmten Lebenslauf<br />
inklusive Kurzprofil. Sie stellen ihre Bewerbungsunterlagen<br />
zusammen, beschaffen fehlende Belege wie Arbeitszeugnisse, Referenzen<br />
für freiwillige Engagements, Kursbestätigungen usw. Sie<br />
lernen, wie sie einen wirkungsvollen Bewerbungsbrief erstellen<br />
können und üben Bewerbungstechniken.<br />
Erste Schritte umsetzen: Die Teilnehmerinnen organisieren auch<br />
Schnuppertage und sammeln so aktuelle Erfahrungen im realen<br />
Kontext der Arbeitswelt. Sie erproben die aufgegleiste Kinderbetreuungsorganisation<br />
und machen erste, wichtige Schritte im Loslösungsprozess<br />
von ihren Kindern und in Richtung neuer Tagesstrukturgestaltung.<br />
Erarbeiten eines Aktionsplanes: Jede Teilnehmerin erarbeitet zudem<br />
einen persönlichen kurz- und mittelfristigen Aktionsplan.<br />
Der Fokus liegt hierbei auf konkreten und realisierbaren Umsetzungsschritten.<br />
Zum Abschluss des Programmes wird mit jeder<br />
Teilnehmerin und ihrer Sozialarbeiterin, bzw. ihrem Sozialarbeiter<br />
ein Netzgespräch durchgeführt. Dort wird das Erreichte ausgewertet<br />
und das weitere Vorgehen geplant. So wird sichergestellt, dass<br />
der aufgegleiste Reintegrationsprozess kontinuierlich weiterverfolgt<br />
wird.<br />
Vielfältige Ziele werden erreicht<br />
Das Angebot BIM wird viermal pro Jahr durchgeführt – zweimal<br />
auf Deutsch und zweimal auf Französisch. Pro Gruppe nehmen<br />
rund 8 bis 10 Frauen teil. Insgesamt profitieren so jährlich 32 bis<br />
40 Mütter vom BIM-Angebot.<br />
Während der Programmteilnahme haben die Teilnehmerinnen<br />
verschiedene Zwischenziele erreicht (s. Tabelle). Obwohl es nicht<br />
das Hauptziel des BIM ist, fanden 14 Prozent der Teilnehmerinnen<br />
noch während des laufenden Programmes eine Anstellung im<br />
1. Arbeitsmarkt. Zwei Drittel der Teilnehmerinnen, die keine Stelle<br />
gefunden haben, starteten im Anschluss an das BIM Bildungsund<br />
Qualifizierungsmassnahmen, beispielsweise Sprachkurse,<br />
Beschäftigungsprogramme oder Ausbildungen. Ein Drittel der<br />
Teilnehmerinnen begann mit der aktiven Stellensuche. •<br />
Pia Wegmüller<br />
Informations- und Beratungszentrum frac<br />
PROFILE DER<br />
BIM-TEILNEHMERINNEN<br />
• 60 % haben ihre Schullaufbahn nicht in der<br />
Schweiz absolviert.<br />
• Knapp 40 % haben eine Berufsausbildung<br />
(Schweiz und Ausland).<br />
• 2/3 haben in der Schweiz schon einmal gearbeitet.<br />
• Rund die Hälfte der Kinder sind noch nicht im<br />
Schulalter.<br />
Erreichte<br />
BIM-Ziele<br />
<strong>20</strong>17 bis <strong>20</strong><strong>20</strong><br />
Total 115<br />
Teilnehmerinnen,<br />
7 deutsche und<br />
7 französische<br />
Durchführungen<br />
97 %<br />
100 %<br />
90 %<br />
80 %<br />
70 %<br />
60 %<br />
50 %<br />
40 %<br />
30 %<br />
<strong>20</strong> %<br />
10 %<br />
0 %<br />
Berufliche<br />
Ziele<br />
sind geklärt<br />
93 %<br />
Bewerbungsdossier<br />
ist<br />
bereit<br />
88 %<br />
Alltagsorganisation<br />
Fokus Erwerbsarbeit<br />
ist geklärt<br />
82 %<br />
Kinderbetreuung<br />
ist<br />
organisiert<br />
<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT
ALLEINERZIEHENDE<br />
Finanzielles Manko tragen meist die Mütter<br />
Bei Trennungen kann für den Kindesunterhalt ein finanzielles Manko entstehen. Da in diesem Fall<br />
<strong>Alleinerziehende</strong> die finanzielle Verantwortung tragen, ist ihr Sozialhilferisiko besonderen hoch. Mit<br />
neuen Regelungen wird versucht, das ungelöste Mankoproblem zumindest abzufedern.<br />
Wenn ein Kind überwiegend bei einem Elternteil lebt, hat sich der<br />
andere Elternteil finanziell am Unterhalt zu beteiligen. Insbesondere<br />
bei einkommensschwachen Eltern reichen die Einnahmen aber<br />
häufig nicht, um sowohl das eigene Existenzminimum wie auch den<br />
Unterhalt eines getrenntlebenden Kindes zu decken. In solchen Fällen<br />
besteht für den Kindesunterhalt ein finanzielles Manko.<br />
Zuletzt wurde anlässlich der Revision des Kindesunterhaltsrechts<br />
(<strong>20</strong>15) in den eidgenössischen Räten darüber debattiert, wie mit<br />
solchen Mankofällen umzugehen ist. Weil gemäss Familienrecht<br />
beide Elternteile für den Unterhalt des Kindes verantwortlich sind,<br />
wurde eine sogenannte Mankoteilung <strong>als</strong> Lösung vorgeschlagen:<br />
Demnach soll ein Manko beiden Eltern zu gleichen Teilen aufgebürdet<br />
werden. Nicht zuletzt aus föderalistischen Gründen war dieser<br />
Vorschlag jedoch nicht mehrheitsfähig. Die bisherige Regelung<br />
der Mankoübertragung blieb bestehen: Das Existenzminimum<br />
eines unterhaltspflichtigen Elternteils geht daher seiner Unterhaltspflicht<br />
vor, weshalb in Mankofällen allenfalls kein oder kein ausreichender<br />
Unterhaltsbetrag festgesetzt werden kann.<br />
Als Folge ist das Sozialhilferisiko für <strong>Alleinerziehende</strong> besonders<br />
hoch, rund 26 Prozent werden über die Jahre von Sozialhilfe<br />
abhängig, wobei diese Quote für junge Eltern mit kleinen Kindern<br />
über 70 Prozent liegt (Büro BASS, <strong>20</strong><strong>20</strong>). Es besteht daher ein<br />
grosses Interesse an einer Lösung, damit die Unterhaltspflichten<br />
für Kinder von einkommensschwachen Eltern nicht mehrheitlich<br />
vom erziehenden Elternteil, und damit stark überwiegend von<br />
Frauen, getragen werden müssen. Weil Sozialhilfe rückerstattungspflichtig<br />
ist, tragen sie auch diese finanzielle Bürde.<br />
Trennungen sind ein strukturelles Armutsrisiko. Bild: Palma Fiacco<br />
Die Einführung einer Mankoteilung würde aber auch zahlreiche<br />
neue Probleme schaffen. Einerseits ist davon auszugehen, dass bei<br />
Einführung einer Mankoteilung insgesamt mehr Personen auf Sozialhilfeleistungen<br />
angewiesen sein würden, was auch den administrativen<br />
Aufwand erhöht. Gemeinden würden indirekt für die<br />
Existenzsicherung von Kindern zuständig, die allenfalls in einer<br />
anderen Gemeinde oder einem anderen Kanton wohnen. Zudem<br />
wären diverse Anpassungen bei der Bedarfsbemessung der Sozialhilfe<br />
notwendig, um die Unterhaltspflicht für getrenntlebende<br />
Kinder in den Sozialhilfebudgets berücksichtigen zu können.<br />
Neue Regelungen lindern Mankoproblem<br />
Nicht nur praktische Gründe sprechen gegen eine Lösung des<br />
Mankoproblems innerhalb der Sozialhilfe. Scheidungen und Trennungen<br />
stellen heute ein strukturelles Armutsrisiko dar, das nach<br />
einer längerfristigen, zielgerichteten Absicherung verlangt. Mit<br />
Blick auf das mehrstufige Sozi<strong>als</strong>ystem wäre es sinnvoll, dieses Armutsrisiko<br />
im Rahmen einer der Sozialhilfe vorgelagerten Bedarfsleistung<br />
abzudecken. Mit der Alimentenhilfe oder den Ergänzungsleistungen<br />
für Familien bestehen bereits Instrumente, die auf die<br />
Problematik der Unterhaltsschulden ausgerichtet sind. Sie könnten<br />
entsprechend angepasst und schweizweit harmonisiert respektive<br />
überall eingeführt werden.<br />
Während die Diskussion zum Umgang mit Mankofällen andauert,<br />
versucht die SKOS die Probleme mit den geltenden Regeln<br />
zumindest abzufedern. In den revidierten SKOS-Richtlinien,<br />
die den Kantonen per 1. Januar <strong>20</strong>21 zur Anwendung empfohlen<br />
werden, werden Kinder und Jugendliche explizit von der Pflicht<br />
zur Rückerstattung von Sozialhilfeleistungen ausgenommen. Die<br />
Eltern bleiben für diese Leistungen zwar rückerstattungspflichtig,<br />
doch werden die genauen Voraussetzungen für eine solche Rückerstattungspflicht<br />
in den neuen Richtlinien detaillierter geregelt.<br />
Weiterhin gilt, dass Rückerstattungen aus Erwerbseinkommen<br />
nur restriktiv und zeitlich klar beschränkt gefordert werden sollen.<br />
Auch auf Bundesebene sind diverse neue Regelungen geschaffen<br />
worden, die das ungelöste Mankoproblem lindern. Wenn sich<br />
die finanziellen Verhältnisse eines Elternteils verbessern, kann neu<br />
bis fünf Jahre rückwirkend ein angemessener Unterhalt eingefordert<br />
werden (Art. 286a ZGB). Zudem wird die Inkassohilfe für<br />
Kindesunterhalt schweizweit vereinheitlicht. Die neuen Bestimmungen<br />
werden per 1.1.<strong>20</strong>22 in Kraft treten. Der Druck hin zu<br />
einer Lösung von Mankofällen bleibt dennoch gross, und mit der<br />
gegenwärtigen coronabedingten Wirtschaftskrise könnte er noch<br />
weiter steigen. Es ist davon auszugehen, dass das Thema bald<br />
schon wieder politisch diskutiert wird. <br />
•<br />
Dr. iur. Alexander Suter<br />
SKOS-Fachbereich Recht und Beratung<br />
SCHWERPUNKT 3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
Alimentenbevorschussung: Ungleiche<br />
Voraussetzungen; ungleiche Leistungen<br />
Mit der Bevorschussung von Kindesunterhaltsbeiträgen soll Sozialhilfeabhängigkeit vermieden<br />
werden. Grundvoraussetzungen für die Alimentenbevorschussung (ALBV) sind ein vorhandener<br />
Rechtstitel sowie die gegebene Bedürftigkeit. Die kantonale Ausgestaltung der ALBV ist jedoch sehr<br />
unterschiedlich. Zudem bringt das Inkasso verschiedene Praxisprobleme mit sich.<br />
Die Erfüllung von Unterhaltsbeiträgen ist unverzichtbar. Zu<br />
dieser Erkenntnis gelangte man schon vor langer Zeit. Dennoch<br />
wurde die Idee der Bevorschussung erst in den 1970er-Jahren<br />
geboren und im Verlaufe 1980er Jahren in sämtlichen Kantonen<br />
gesetzlich verankert – dies mit zum Teil sehr unterschiedlichen<br />
Ausprägungen. Obwohl damit unisono das Abrutschen in die<br />
Sozialhilfe verhindert werden sollte, werden bis dato in der Mehrheit<br />
der Kantone nur Kinderunterhaltsbeiträge bevorschusst. Lediglich<br />
die Kantone FR, GE, JU, NE, VD, VS und ZG, <strong>als</strong> einziger Kanton<br />
der Deutschschweiz, sehen dies auch beim Ehegattenunterhalt vor.<br />
Verschiedene kantonale Eigenheiten<br />
Im Unterschied zur Sozialhilfe, die ebenso eine öffentliche Unterhaltsleistung<br />
im Sinne von Art. 131a Abs. 1/289 Abs. 2 ZGB darstellt,<br />
wird bei der Alimentenbevorschussung (ALBV) das Vorhandensein<br />
eines Rechtstitels (Urteil, Unterhaltsvertrag) vorausgesetzt.<br />
Fehlt nach Auseinanderfallen des Familiengefüges ein solcher, sei<br />
dies, weil unverheiratete Eltern auf eine vorgängige Unterhaltsregelung<br />
verzichtet oder Verheiratete noch keine Trennungsentscheidung<br />
(Eheschutz/Scheidung) erwirkt haben, müssen entsprechende<br />
Gesuche sofort abgewiesen werden.<br />
Liegt ein Rechtstitel vor, kommen unter dem Stichwort Bedürftigkeit<br />
die Vermögens- und Einkommensverhältnisse der Gesuchstellenden<br />
sowie allenfalls ihrer Hausgenossen mit ins Spiel.<br />
Begründet wird dies mit dem öffentlichen Interesse, wonach die<br />
Gelder der öffentlichen Hand grundsätzlich begrenzt sind und<br />
deshalb nur den tatsächlich Bedürftigen zugutekommen sollen.<br />
Dabei stellt jeder Kanton seine eigenen Regeln auf, was aufgrund<br />
seiner Siedlungsstruktur <strong>als</strong> geboten erscheint. In ländlichen Gegenden,<br />
wo die bewohnten Liegenschaften oftm<strong>als</strong> im Eigentum<br />
der Gesuchstellenden stehen, erfolgt die Bestimmung des anrechenbaren<br />
Vermögens aus gutem Grund nach andern Grundsätzen<br />
<strong>als</strong> in den Kantonen, in denen der Mietwohnungsanteil deutlich<br />
über 50 Prozent liegt. Dabei haben wiederum verschiedene<br />
Stadtkantone auf fixe Einkommens- und Vermögensgrenzen verzichtet.<br />
Im Einzelfall werden diese nach Haushaltsgrösse und der<br />
Anzahl darin lebenden Kinder berechnet.<br />
Um dies mit Blick auf die im Kanton Zürich geltende Regelung<br />
zu verdeutlichen: Bei einem Einelternhaushalt mit einem Kind<br />
liegt die Vermögensobergrenze bei 105 000 und die Einkommensobergrenze<br />
bei 53 900 Franken. Bei einem Zweielternhaushalt<br />
mit drei Kindern sind dies 210 000 resp. 91 <strong>20</strong>0 Franken. Aber<br />
auch hier gilt keine Regel ohne Ausnahme. Tessin verzichtet <strong>als</strong><br />
einziger Kanton auf den Miteinbezug der finanziellen Verhältnisse.<br />
Auch das gemeinsame Sorgerecht hat nicht viel daran geändert, dass<br />
es meistens Männer sind, die in der Unterhaltspflicht stehen.<br />
Bild: pixelio/Maryline Weyland<br />
22 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT
ALLEINERZIEHENDE<br />
Eine weitere kantonale Eigenheit bilden die Höchstbeträge,<br />
womit die zivilrechtlich festgelegten Unterhaltsbeiträge bevorschusst<br />
werden. Im Kanton Tessin werden maximal 700 Franken<br />
pro Monat und Kind ausgerichtet, im Kanton Freiburg 400 Franken/Kind<br />
und 250 Franken/erwachsene Person, während in den<br />
Kantonen BE, BL, LU, SG und ZH die Obergrenze an den Maximalbetrag<br />
der einfachen Waisenrente gemäss Alters- und Hinterlassenenversicherung<br />
(AHVG) gekoppelt wurden. Diese beläuft<br />
sich derzeit auf 948 Franken.<br />
Erfolgt aufgrund der finanziellen Verhältnisse nur eine Teilbevorschussung,<br />
ist der Rest der Beitragsforderung im Zuge der Inkassohilfe<br />
(Art. 131 Abs. 1/290 Abs. 1 ZGB) geltend zu machen.<br />
Ein Bevorschussungsgesuch umfasst deshalb auch immer ein solches<br />
um Inkassohilfe. Im Gegensatz zur ALBV, die aufgrund der<br />
Bundesverfassung in die Zuständigkeit der Kantone fällt, obliegt<br />
die Regelungskompetenz bei der Inkassohilfe dem Bund. Dieser<br />
hat davon in der Vergangenheit Gebrauch gemacht und eine Inkassohilfeverordnung<br />
(InkHV) ausgearbeitet, deren Inkrafttreten<br />
für den 1. Januar <strong>20</strong>22 vorgesehen ist. Damit sollen im Rahmen<br />
der Festlegung eines einheitlichen Minim<strong>als</strong>tandards die heute<br />
auch bei der Inkassohilfe bestehenden kantonalen Unterschiede<br />
möglichst minimiert werden.<br />
Praxisprobleme beim Inkasso<br />
Bevorschussungsleistungen erfolgen keineswegs à fonds perdu,<br />
sondern sind bei den zur Unterhaltszahlung verpflichteten Personen<br />
wieder hereinzuholen. Auch wenn sich diese Formulierung<br />
um Geschlechtsneutralität bemüht, ist es statistisch nach wie vor<br />
so, dass diese fast ausschliesslich männlicher Natur sind. Daran<br />
hat auch die am 1. Juli <strong>20</strong>14 eingeführte Möglichkeit des gemeinsamen<br />
Sorgerechts nicht viel geändert. Mit der Bevorschussung<br />
wächst das Gemeinwesen zudem in die Gläubigerstellung der unterhaltsberechtigten<br />
Person (Art. 131a Abs. 2/289 Abs. 2 ZGB),<br />
womit es auch das sogenannte Einbringlichkeitsrisiko übernimmt.<br />
Das heisst, wenn sich der Schuldner nach unbekannt ins Ausland<br />
abgesetzt hat oder dieser einfach so untergetaucht ist, was in der<br />
Praxis einer jeder Inkassostelle häufig anzutreffen ist, bleibt das<br />
Gemeinwesen auf seiner Forderung sitzen. Die Ursache dafür ist<br />
nicht etwa in einer zu laschen Gesetzgebung zu suchen, sondern in<br />
dem allgemeinen Umstand, dass es nach unserem Bundesgesetz<br />
über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG) Sache des Gläubigers<br />
ist, zu wissen, wo sich sein Schuldner aufhält. Diese Regel<br />
wird von den Betreibungsämtern strikte angewendet, auch wenn<br />
dies nirgends so im Gesetz festgeschrieben ist. Das Gemeinwesen<br />
Betreibungsgesuche werden<br />
unter Kostenfolge kurzerhand<br />
abgewiesen, wenn der<br />
Schuldner an der angegebenen<br />
Adresse nicht anzutreffen ist.<br />
kann hier somit nicht auf die Hilfe einer anderen staatlichen Institution<br />
zurückgreifen, sondern wird von den Betreibungsämtern<br />
wie ein Fremder behandelt. Betreibungsgesuche (Art. 67 SchKG),<br />
wie auch Fortsetzungsbegehren (Art. 88 SchKG) werden unter<br />
Kostenfolge kurzerhand abgewiesen, wenn der Schuldner an der<br />
angegebenen Adresse nicht angetroffen wird. Anders verhält es<br />
sich bei der Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften. Bevorschusste<br />
Unterhaltsforderungen werden vom Tatbestand der Vernachlässigung<br />
von Unterhaltspflichten (Art. 217 StGB) ebenso<br />
miterfasst. Wo sich der Schuldner aufhält, spielt bei einer Anzeige<br />
keine Rolle, weshalb solche Zahlungsfluchten wenigstens strafrechtlich<br />
geahndet werden können, auch wenn sich so kein Geld<br />
direkt hereinholen lässt.<br />
Mit der Einführung des Betreuungsunterhalts (Art. 285 Abs. 2<br />
ZGB), der in der Juristerei oftm<strong>als</strong> etwas abschätzig <strong>als</strong> Ehegattenunterhalt<br />
im Kleid des Kinderunterhalts bezeichnet wird, wollte<br />
man die Stellung der <strong>Alleinerziehende</strong>n verbessern. In der Praxis<br />
der Gerichte wird dies dann auch mit einem Verzicht im Ehegattenunterhaltspunkt<br />
bewerkstelligt. In den Kantonen, die auch<br />
Ehegattenunterhaltsbeiträge bevorschussen, heisst dies nun: Ist<br />
beim Kinderunterhalt die kantonale Obergrenze ausgeschöpft,<br />
erfolgt keine Mehrbevorschussung in der Höhe der Erwachsenenobergrenze,<br />
wenn zugunsten des Betreuungsunterhalts kein Ehegattenunterhalt<br />
festgelegt worden ist. Ebenso hat die Einführung<br />
des Betreuungsunterhalts die Kantone, die nur Kinderunterhaltsbeiträge<br />
bevorschussen, nicht dazu bewogen, ihre Obergrenzen<br />
entsprechend anzuheben. <br />
•<br />
Philip Mani<br />
Stabsjurist Alimentenstelle, Sozialdepartement der Stadt Zürich<br />
SCHWERPUNKT 3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
«Rollenverteilungen ziehen sich<br />
nach einer Trennung meistens<br />
automatisch weiter»<br />
NACHGEFRAGT Yvonne Feri, Politikerin und Geschäftsführerin des Verbands alleinerziehender<br />
Mütter und Väter (SVAMV), verlangt baldige Evaluationen der Sorgerechts- sowie der<br />
Unterhaltsrechtsrevision. Im Interview spricht sie zudem über schwierige Rahmenbedingungen und<br />
alltägliche Herausforderungen für <strong>Alleinerziehende</strong>.<br />
«<strong>ZESO</strong>»: Yvonne Feri, Sie waren einst selbst alleinerziehende Mutter<br />
zweier inzwischen erwachsener Töchter. Was ist Ihnen aus dieser Zeit<br />
besonders in Erinnerung geblieben?<br />
Yvonne Feri: Ich erinnere mich daran, dass es sehr anstrengend<br />
war! Ich hatte zwar ein gutes Netzwerk − viele gute<br />
Freunde unterstützten mich. Es fehlte mir aber eine Familie,<br />
die mir helfen konnte. Die Zeit hat mich auch politisch sehr geprägt.<br />
Sie zeigte mir, dass es sich lohnt, um seine Rechte zu<br />
kämpfen und dass man mit Stigmatisierungen nicht zu leben<br />
hat. Auch wurde mir klar, dass soziale und finanzielle Gerechtigkeit<br />
keine Selbstverständlichkeit ist.<br />
Wie geht es den Frauen und Männern, die sich beim SVAMV melden?<br />
Die Personen, die sich bei uns melden, befinden sich oft in<br />
einer akut schwierigen Situation, in der sie auch einfach mal<br />
Dampf ablassen müssen. Es melden sich aber ebenso oft sehr<br />
vorausschauende Personen bei uns, die schon im Vorfeld Abklärungen<br />
treffen wollen, wie ihre Situation im Falle einer Trennung<br />
betreffend Alimente etc. aussehen würde.<br />
Welche Fragen werden am meisten gestellt?<br />
Viele Fragen betreffen die finanzielle Situation, insbesondere<br />
die Höhe des Unterhalts. Häufig geht es auch um Unsicherheiten<br />
und Anliegen in Zusammenhang mit dem Sorge- oder<br />
dem Besuchsrecht, ebenso sind die Betreuungssituationen für<br />
die Kinder ein wichtiges Thema.<br />
Was sind die grössten Herausforderungen für <strong>Alleinerziehende</strong> im<br />
Alltag?<br />
<strong>Alleinerziehende</strong> tragen die gesamte Verantwortung alleine<br />
und müssen sämtliche Entscheidungen treffen. Das kann eine<br />
riesige Belastung sein. Daneben gibt es ganz viele konkrete<br />
Herausforderungen, beispielsweise wenn ein Kind krank ist<br />
und man eigentlich zur Arbeit müsste. Während sich andere<br />
die Betreuung teilen können, sind <strong>Alleinerziehende</strong> auf sich<br />
gestellt. Generell würde ich sagen: Geschieht etwas Unvorhergesehenes,<br />
gerät das Familiensystem schnell ins Wanken.<br />
<strong>Alleinerziehende</strong> müssen lernen, Hilfe zu fordern und auch anzunehmen.<br />
<strong>Alleinerziehende</strong> sind heute – im Gegensatz zu früher –<br />
gesellschaftlich akzeptiert. Gibt es dennoch Vorurteile, die sich<br />
aufrecht erhalten haben?<br />
Es gibt tatsächlich immer noch eine gewisse Stigmatisierung<br />
dieses Familienmodelles. Das zeigt sich etwa darin, dass<br />
viele <strong>Alleinerziehende</strong> hauptsächlich Kontakte zu anderen<br />
<strong>Alleinerziehende</strong>n pflegen und wenig Austausch mit traditionellen<br />
Familien haben. Dies kann sein, weil man weniger Geld<br />
für Freizeitaktivitäten zu Verfügung hat oder andere Themen<br />
wichtig sind. Es ist auch häufig so, dass nach einer Trennung<br />
Freundschaften zerbrechen.<br />
Gibt es auch Gutes am alleinerziehend sein?<br />
Ja, in der Tat! Man muss beispielsweise keine Erziehungsfragen<br />
mit dem Partner oder der Partnerin aushandeln. Häufig<br />
haben alleinerziehende Eltern und ihre Kinder auch eine besonders<br />
starke Beziehung zueinander. Viele Erlebnisse prägen<br />
sich stärker ein, da man sie nur miteinander teilt. Und Kinder<br />
von <strong>Alleinerziehende</strong>n werden nach meiner Erfahrung früher<br />
selbstständig.<br />
Von alleinerziehenden Väter wird wenig gesprochen – gibt<br />
es sie eigentlich? Und sind sie mit denselben Problemen wie<br />
alleinerziehende Mütter konfrontiert?<br />
Natürlich gibt es sie. Es sind jedoch lediglich rund 10 Prozent;<br />
90 Prozent der <strong>Alleinerziehende</strong>n sind Mütter. <strong>Alleinerziehende</strong><br />
Väter sind <strong>als</strong>o deutlich in der Minderheit, haben aber<br />
mit denselben Problemen und Herausforderungen zu kämpfen<br />
wie alleinerziehende Mütter. Ich habe jedoch schon öfters individuelle<br />
Geschichten gehört, die mir aufgezeigt haben, dass<br />
alleinerziehende Väter tendenziell eher bedauert und deshalb<br />
stärker von der Gesellschaft unterstützt werden <strong>als</strong> alleinerziehende<br />
Mütter.<br />
Unter den Personen, die in der Schweiz Sozialhilfe beziehen, stellen<br />
die alleinerziehenden Mütter eine grosse Gruppe dar. Was erachten<br />
Sie <strong>als</strong> wichtigste Ursache?<br />
Der Hauptgrund ist, dass in der Schweiz das traditionelle Familienmodell<br />
immer noch sehr verbreitet ist, bei dem der Mann<br />
24 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong> SCHWERPUNKT
ALLEINERZIEHENDE<br />
VERBAND FÜR ALLEINERZIEHENDE<br />
Der Schweizerische Verband für alleinerziehende Mütter und<br />
Väter setzt sich seit 1984 für Einelternfamilien und ihre Anliegen<br />
ein. Er engagiert sich mit Beratung und Unterstützungsangeboten,<br />
positioniert sich öffentlich <strong>als</strong> Interessensvertreter<br />
der Kinder und ihrer alleinerziehenden Eltern und setzt sich<br />
für gute Rahmenbedingungen für Einelternfamilien in der Gesellschaft<br />
ein. Seit <strong>20</strong>19 ist die SP-Politikerin und langjährige<br />
Nationalrätin Yvonne Feri Geschäftsführerin des Verbands.<br />
www.svamv.ch<br />
Yvonne Feri, Geschäftsführerin SVAMV.<br />
Bild: zVg<br />
der hauptsächlich Berufstätige und damit der Ernährer der Familie<br />
ist. Wenn nach einer Scheidung das Geld nicht für zwei<br />
Haushalte reicht, geraten wegen der fehlenden Mankoteilung<br />
daher die Frauen in die Sozialhilfe, während den Männern das<br />
Existenzminimum gelassen wird. Ich finde es sehr problematisch,<br />
wenn diese Frauen die Sozialhilfe dann sogar noch<br />
rückerstatten müssen. Es ist so, dass sich Rollenverteilungen<br />
meistens auch nach einer Trennung automatisch weiterziehen.<br />
Darum sage ich Frauen immer: Bleibt berufstätig! Und Männer<br />
müssen auch bereits während der Beziehung Betreuungsarbeit<br />
leisten, wenn sie diese nach einer Trennung einfordern<br />
wollen.<br />
Haben die Sorgerechtsrevision von <strong>20</strong>14 und die Revision des<br />
Unterhaltsrechts <strong>20</strong>17 für <strong>Alleinerziehende</strong>n trotz fehlender<br />
Mankoteilung Verbesserungen gebracht?<br />
Ja, sicher. Die Höhe der Unterhaltszahlungen für die Kinder<br />
ist klarer festgelegt und die Betreuungskosten werden eingerechnet.<br />
Aber mein Eindruck ist, dass es in manchen Bereichen<br />
noch an der Umsetzung hapert. Beispielsweise wird die gemeinsame<br />
Obhut nach wie vor zu selten von den Gerichten<br />
zugesprochen. Die Gesetze sind nun einige Jahre in Kraft. Es<br />
ist bald an der Zeit, erste Evaluationen zu verlangen. Die Forderung<br />
nach einer Mankoteilung hat jetzt einige Jahre geruht,<br />
ist aber natürlich nicht vom Tisch. Auch das wird man wieder<br />
thematisieren müssen.<br />
Wo sind weitere Knackpunkte bei den Rahmenbedingungen für<br />
<strong>Alleinerziehende</strong>?<br />
Zu wenige und teure Kinderbetreuungsplätze sind ein<br />
grosses Thema. Auch fehlende Weiterbildungsmöglichkeiten<br />
für <strong>Alleinerziehende</strong> sind ein problematischer Punkt. Diese<br />
Rahmenbedingungen machen es <strong>Alleinerziehende</strong>n schwer,<br />
beruflich weiterzukommen.<br />
Was ist bei der Weiterbildung oder beruflichen Neuorientierung das<br />
Problem?<br />
Es beginnt bei der fehlenden Zeit: Kann man nicht auf ein<br />
Netzwerk zurückgreifen, das einen bei der Kinderbetreuung<br />
entlastet, ist eine Weiterbildung praktisch unmöglich. Dazu<br />
kommen fehlende finanzielle Möglichkeiten, die einer Weiterbildung<br />
oft im Weg stehen. Wir versuchen unseren Ratsuchenden<br />
bei Stipendienanträgen zu helfen und verfügen auch über<br />
einen eigenen Unterstützungsfonds. Bei <strong>Alleinerziehende</strong>n,<br />
die Sozialhilfe beziehen, ist es besonders schwierig. Die Sozialhilfe<br />
übernimmt kaum Weiterbildungen. Da die Negativspirale<br />
zu durchbrechen, ist sehr schwierig. Es wäre langfristig gesehen,<br />
eine lohnende Investition, wenn in solchen Fällen Weiterbildungen<br />
durch den Staat bezahlt würden.<br />
Wie stehen <strong>Alleinerziehende</strong> in der Corona-Krise da?<br />
Jede Krise akzentuiert Probleme. Der Verlust von Arbeitsstellen,<br />
wirtschaftliche Einbussen etc. fallen bei <strong>Alleinerziehende</strong>n<br />
viel mehr ins Gewicht. Während der akuten Krisen-Zeit<br />
hatten wir vermehrt Anfragen zu Umgangs- und Besuchsrecht<br />
in Hinblick auf eine mögliche Infektion. Ansonsten blieb die<br />
Anfrageflut aus. Die Auswirkungen werden sich wohl erst im<br />
Nachgang zeigen. In einigen Monaten ist erstens mit mehr<br />
Geburten zu rechnen. Zweitens sind auch Trennungen und<br />
Scheidungen zu erwarten. Die Krise hat sicherlich für etliche<br />
Menschen gezeigt, dass ihre Beziehung nicht funktioniert. •<br />
Das Gespräch führte<br />
Regine Gerber<br />
Bild: Béatrice Devènes<br />
26 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>
Die zweite Karriere des Profi-<br />
Fussballers – <strong>als</strong> sozialer Stürmer<br />
PORTRÄT Ein sportlicher, bärtiger Typ, Tattoos auf den Armen, Haare zusammengebunden, offener Blick<br />
hinter den modischen Brillengläsern. Stephan Frey, hängte vor gut 10 Jahren die Fussballschuhe an<br />
den Nagel und beschloss Sozialunternehmer zu werden.<br />
Stephan Frey, Ex-Stürmer beim FC Basel,<br />
40 Jahre alt, ist heute Coach und Sozialunternehmer.<br />
Damit schlug er einen Weg ein,<br />
der früher für ihn kaum vorstellbar gewesen<br />
wäre. Als Kind und Jugendlicher bestand<br />
die Zukunftsperspektive für den Basler<br />
aus einem Ball, einem Rasen, einem<br />
Tor: Er spielte im Nachwuchs des FC Basel,<br />
war ganz nahe dran, gross rauszukommen.<br />
«Ich hatte wirklich Talent», sagt er. «Doch<br />
nach 18 Jahren hatte ich die Nase voll. Das<br />
war mir zu militärisch.» Die Nachwuchshoffnung<br />
wechselte zum FC Biel und zog<br />
nach Bern um. Mit 29 Jahren realisierte er:<br />
«Ich schaffe es nicht mehr, ganz oben mitzuspielen.»<br />
Sein Leben war der Fussball<br />
gewesen, er hatte kaum andere soziale Kontakte,<br />
wusste nicht, was er anfangen sollte.<br />
Er hatte zwar eine Handelsschule absolviert,<br />
kannte aber die Arbeitswelt ausserhalb<br />
des Fussballs nicht. «Es war eine<br />
schwierige Zeit», sagt Frey.<br />
Doch dann nahm ihn Unternehmensberater<br />
Michael Luginbühl von der Beratungsfirma<br />
Covariaton search unter seine<br />
Fittiche. Frey wurde zum «Lehrling unter<br />
Studierten», wie er sich selber rückblickend<br />
nennt. Der Ex-Fussballprofi machte<br />
eine Führungsausbildung und kickte beim<br />
FC Breitenrain. «Nach sieben Jahren war<br />
ich dann in der Lage, anderen Leuten die<br />
Hand auszustrecken, so wie mir selber die<br />
Hand gereicht worden war», sagt er. Der<br />
Teamplayer merkte, dass ihm die Beratung<br />
von Menschen in Schwierigkeiten ein<br />
wichtiges Anliegen ist. «Im Fussball bist<br />
Du immer in einem fight», sagt er rückblickend.<br />
«Du kannst Dich nicht verletzlich<br />
zeigen. Dabei ist mir der menschliche Zusammenhalt<br />
sehr wichtig.»<br />
Das mütterliche Vorbild<br />
Es war die Zeit der Flüchtlingskrise – und<br />
irgendwann war die Zeit reif fürs «Netzwärk»<br />
(siehe Kasten), das Frey mit seinem<br />
Freund Reto Regez gründete. Vielleicht<br />
war es kein Zufall, dass er diesen Weg einschlug:<br />
Freys Mutter näht für eine soziale<br />
Institution Taschen aus Kaffeeverpackungen,<br />
engagiert sich gegen Foodwaste. «Soziale<br />
Gerechtigkeit, sich einsetzen für andere,<br />
hinschauen und solidarisch sein<br />
– das hat sie mir wohl schon mitgegeben»,<br />
sagt Frey. Beim FC Basel war er einer der<br />
wenigen Schweizer. Der Umgang mit verschiedenen<br />
Kulturen war ihm <strong>als</strong>o nicht<br />
neu.<br />
Beim FC Basel war<br />
er einer der wenigen<br />
Schweizer. Der Umgang<br />
mit verschiedenen<br />
Kulturen war<br />
ihm <strong>als</strong>o nicht neu.<br />
Am Anfang von Netzwärk standen «Sensibilisierungsanlässe»,<br />
wie Frey es nennt.<br />
«Mitenand ässe, mitenand tanze.» Später<br />
kamen grössere Events mit mehreren<br />
hundert Teilnehmenden dazu. «Das war<br />
ein grosser Erfolg», erinnert er sich. «Aber<br />
wir merkten, dass solche Veranstaltungen<br />
nicht nachhaltig sind.» Die Freunde<br />
wollten einen echten Mehrwert schaffen.<br />
«Das war knallharte Arbeit», sagt Frey. Ein<br />
Jahr lang recherchierten sie, wie ein Sozialwerk<br />
aufgestellt sein muss, damit auch den<br />
Bedürfnissen der Wirtschaft Rechnung getragen<br />
werden kann.<br />
Eines wurde dabei besonders klar: «Das<br />
Fachliche kannst Du lernen», sagt Frey.<br />
Viel wichtiger sei es für Flüchtlinge, an<br />
der persönlichen Entwicklung zu arbeiten,<br />
in der Schweiz anzukommen, die Kultur<br />
zu verstehen. Daraus entwickelte Frey das<br />
«Inclusion Programm», einen dreimonatigen<br />
Kurs, in dem die Teilnehmenden<br />
vor allem viel über sich lernen, über ihre<br />
Stärken, aber auch ihr Verhalten. Das<br />
Stichwort dazu: «Empowerment». Es geht<br />
darum, dass die Teilnehmenden eine neue<br />
Mentalität entwickeln: nämlich proaktiv<br />
werden, weg von der Erfahrung, immer in<br />
der Nehmer-Haltung zu sein. Nach dieser<br />
«Lebensschule» können sie in ein Arbeitspraktikum<br />
in ausgewählten Betrieben<br />
vermittelt werden. «Viele Geflüchtete werden<br />
hier einfach an die Hand genommen.<br />
Bei uns lernen sie Selbständigkeit.» Wer<br />
am Programm teilnehmen möchte, muss<br />
sich bewerben, die Plätze sind beschränkt. <br />
Wichtig ist für Frey, dass die Flüchtlinge die<br />
Nehmerhaltung verlassen.<br />
Bilder: zvg<br />
3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
27
Wer am Programm<br />
teilnehmen möchte,<br />
muss sich bewerben,<br />
die Plätze sind<br />
beschränkt.<br />
Dafür sind die Teilnehmenden dann auch<br />
hochmotiviert für die Arbeit – mehr, <strong>als</strong><br />
wenn sie von der Sozialhilfe einfach irgendwo<br />
platziert werden.<br />
Mal wieder durchatmen<br />
Seit vier Jahren existiert der Verein Netzwärk<br />
– und Geschäftsleiter Frey möchte<br />
mindestens noch ein «grosses Ding damit<br />
reissen»: Der Verein hat bei der Stadt Bern<br />
ein Betriebskonzept für die Übernahme<br />
der Villa Stucki eingereicht. Bereits in den<br />
letzten Jahren fanden dort regelmässig kulinarische<br />
Veranstaltungen des Netzwärk-<br />
Inklusionsprojekts statt. «Ich hoffe sehr,<br />
dass ich das umsetzen kann», sagt Frey.<br />
Viel mehr Gedanken über die Zukunft hat<br />
er sich noch nicht gemacht. Im Herbst<br />
schliesst er an der Berner Fachhochschule<br />
das CAS Innovation ab. «Ein Grund dafür<br />
war, wieder mal einen neuen Blickwinkel<br />
zu bekommen. Ich achte etwas zu wenig<br />
auf mich selbst», sagt er. «Ich hatte in den<br />
letzten Jahren kaum mehr Zeit zum Durchatmen.»<br />
Durchatmen – das tut er vor allem<br />
im Yoga. Und irgendwann hofft er, wieder<br />
EIN NETZWERK FÜR BILDUNG, BERUF UND GAUMEN<br />
<strong>20</strong>16 gründeten Stephan Frey und Reto<br />
Regez den Verein Netzwärk <strong>als</strong> Kompetenzzentrum<br />
für inklusive Bildungsangebote.<br />
Frey und Regez hatten sich zum Ziel gesetzt,<br />
zum führenden Anbieter von ganzheitlichen<br />
Potenzialentwicklungsprogrammen für<br />
geflüchtete Menschen in der Schweiz zu<br />
werden. Netzwärk umfasst drei Bereiche:<br />
Inclusion, Job-Coaching und Gastronomie.<br />
Das Inclusion-Program bereitet zwei Mal<br />
jährlich maximal 12 Teilnehmende gezielt auf<br />
die Anforderungen des Schweizer Arbeitsmarkts<br />
vor. Im Zentrum steht die persönliche<br />
Entwicklung. Dabei lernen die Teilnehmenden<br />
eigenverantwortlich und selbstorganisiert<br />
zu handeln. Zusätzlich werden fachliche<br />
Kompetenzen vermittelt, die wichtig für den<br />
Beruf und die soziale Partizipation sind. Die<br />
Teilnehmenden lernen beispielsweise, wie<br />
sie einen Lebenslauf erstellen oder wie sie<br />
sich in einem Vorstellungsgespräch korrekt<br />
verhalten. Diese Kombination aus Hard- und<br />
Softskills erhöht die nachhaltige Integration<br />
in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft.<br />
Durch die vermittelten Praktikumseinsätze<br />
erhalten die Teilnehmenden nicht nur Einblick<br />
in die Arbeitswelt, sondern fördern auch ihre<br />
berufliche Entwicklung. Dabei werden sie von<br />
Job-Mentoren begleitet und von Netzwärk<br />
über den Jobeinstieg hinaus unterstützt.<br />
auf Reisen gehen zu können, besonders die<br />
südostasiatischen Länder haben es ihm angetan.<br />
Wenn er nochmal anfangen könnte,<br />
würde er etwas ändern? Frey überlegt<br />
kurz. «Vielleicht hätte ich dam<strong>als</strong> beim FC<br />
Das Programm wird durch die Gesundheits-,<br />
Sozial- und Integrationsdirektion<br />
des Kantons Bern teilfinanziert. Es besteht<br />
ein Kontingent für Sozialwerke, wodurch<br />
der Kurs für die Teilnehmenden kostenlos<br />
ist. Die Absolvierenden werden über einen<br />
Personalverleihvertrag an Unternehmen<br />
vermittelt. Der Verein Netzwärk wickelt<br />
dabei alle administrativen Aufwände<br />
wie Lohnwesen, Arbeitsbewilligungen<br />
oder Versicherungen ab und fungiert <strong>als</strong><br />
Drehscheibe zwischen den Firmen, den<br />
Teilnehmenden, den Sozialwerken und dem<br />
Migrationsdienst.<br />
Im Bereich Job-Coaching unterstützt<br />
Netzwärk Menschen mit Migrations- oder<br />
Fluchthintergrund bei der Suche nach einer<br />
geeigneten Anstellung. Im Rahmen des<br />
Job-Coachings erfolgt eine individuelle<br />
Begleitung der Kandidatinnen und Kandidaten,<br />
die situativ auf deren Bedürfnisse<br />
angepasst wird. Die Job-Coaches unterstützen<br />
die jeweiligen Kandidaten während<br />
des gesamten Prozesses persönlich und<br />
werden dadurch zu einer Vertrauensperson.<br />
Das Catering «Gaumenliebe» bietet<br />
geflüchteten Menschen eine berufliche<br />
Grundlage und ist mittlerweile so gut etabliert,<br />
dass sogar schon Bundespräsidentin<br />
Simonetta Sommaruga bekocht wurde.<br />
Basel noch ein Jahr beissen sollen», sagt<br />
er. Und schiebt dann entschlossen nach:<br />
«Aber ich denke, ich habe das Beste draus<br />
gemacht.»<br />
•<br />
Astrid Tomczak-Plewka<br />
Im Zentrum der Ausbildung steht die persönliche Entwicklung. Die Teilnehmenden lernen eigenverantwortlich und selbstorganisiert zu handeln. <br />
28 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>
Das Thema Sozialhilfe in den<br />
Schweizer Medien<br />
FACHBEITRAG «Sozialhilfemissbrauch», «Sozialhilfebetrug» oder «Sozialbetrug» sind Schlagwörter,<br />
die es regelmässig in Titel der Schweizer Medien schaffen. Die Skandalisierung von Einzelfällen<br />
scheint an der Tagesordnung. Weil die Medienberichterstattung auch die gesellschaftliche<br />
Wahrnehmung prägt, hat das Sozialdepartement der Stadt Zürich eine Analyse des medialen<br />
Diskurses zur Sozialhilfe bei der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in<br />
Auftrag gegeben. Die Ergebnisse liegen nun vor.<br />
Vor dem Hintergrund steigender Kosten,<br />
längerer Bezugsdauern und den sich veränderten<br />
Ursachen für den Bezug von Sozialleistungen<br />
steht die soziale Sicherung vor<br />
grossen Herausforderungen. Genau darum<br />
steht das Sozialhilfesystem in den letzten<br />
Jahren immer wieder im Fokus des öffentlichen<br />
Interesses.<br />
Dabei sind sowohl das System <strong>als</strong> auch<br />
die Menschen, die auf Unterstützung<br />
angewiesen sind, vor allem im medialen<br />
Diskurs immer wieder und zum Teil<br />
massiv unter Beschuss geraten. Während<br />
sich die eigentliche Fachdebatte um Fragen<br />
zur Fallbelastung der Fachpersonen<br />
in der Sozialhilfeberatung oder über die<br />
möglichen Ursachen für den Nichtbezug<br />
von Sozialhilfe drehte, reichen die Inhalte<br />
der journalistischen Massenmedien von<br />
Themen wie den rechtlichen Rahmensetzungen<br />
über die Höhe des Grundbedarfs<br />
bis hin zur lautstarken Skandalisierung<br />
von Einzelfällen. Mit bunten Bildern und<br />
in grossen Lettern berichteten die Medien<br />
mitunter tage-‐und wochenweise über<br />
vermeintliche Betrugsfälle, in denen Sozialhilfebeziehende<br />
die ihnen zustehenden<br />
Leistungen offenbar nicht zweckmässig<br />
verwendeten.<br />
Von wenigen – gelegentlich nur vermuteten<br />
– Rechtsübertretungen ausgehend,<br />
die vom Schweizer Boulevard angeprangert<br />
werden, gerät die Sozialhilfe auch in den<br />
sogenannten Qualitätsmedien immer wieder<br />
unter Generalverdacht. Mit Folgen für<br />
die staatlichen Akteure: Die Sozialdienste<br />
sehen sich zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt,<br />
einem System von «Trittbrettfahrern»<br />
und «Profiteuren» des Sozi<strong>als</strong>taats nur<br />
mehr ohnmächtig und mit wirkungsloser<br />
Bürokratie gegenüberzustehen.<br />
Die demokratiefördernde Rolle der<br />
Massenmedien<br />
Die journalistischen Medien werden in unserer<br />
Demokratie oft <strong>als</strong> «vierte Gewalt» betitelt.<br />
Sie bilden Meinungen, schaffen öffentliche<br />
Diskurse und liefern Fakten um<br />
ebendiese Meinungen der Bevölkerung zu<br />
untermauern. Dort wo es angebracht ist,<br />
üben sie aber auch die nötige Kritik – <strong>als</strong><br />
sinnbildlich vierte Gewalt.<br />
Doch auch die Medien müssen ihr eigenes<br />
Handeln kritisch hinterfragen lassen,<br />
da auch sie nicht frei von Vereinfachungen<br />
und Polarisierungen sind, speziell im<br />
Kontext von kontroversen gesellschaftspolitischen<br />
Fragen. Im Hinblick auf den<br />
medialen Diskurs zur Sozialhilfe liegt die<br />
Vermutung nahe, dass vor allem die Skandalisierung<br />
von Einzelfällen dem Drang<br />
nach emotionalen Schlagzeilen geschuldet<br />
ist, der schlussendlich auf Kosten einer differenzierten<br />
Berichterstattung geht.<br />
Diskurs der Print- und Online-Medien<br />
im Fokus<br />
Diese These wollte das Sozialdepartement<br />
der Stadt Zürich prüfen lassen. Sie hat deshalb<br />
ein interdisziplinäres Team der Zürcher<br />
Hochschule für Angewandte Wissenschaften<br />
(ZHAW) beauftragt, den medialen<br />
Diskurs zur Sozialhilfe in der Schweiz zwischen<br />
den Jahren <strong>20</strong>10 und <strong>20</strong>19 umfassend<br />
zu untersuchen. Der Fokus lag dabei<br />
auf Berichterstattung Schweizer Print- und<br />
Online-Medien. Ziel war es, den Mediendiskurs<br />
zur Sozialhilfe zu beleuchten und<br />
herauszufinden, welche bestimmten Aspekte<br />
resp. Ursachen von Sozialhilfe von<br />
den Autoren der betreffenden Medien in<br />
den Fokus genommen werden. Auch wollte<br />
man herausfinden, wie die Medien Sozialhilfe<br />
<strong>als</strong> «Problem» bzw. gesellschaftliche<br />
Herausforderung bewerten und welches<br />
Gesamtbild über die Sozialhilfe auf dieser<br />
Grundlage entsteht. Es sollte verständlich<br />
gemacht werden, welche allgemeinen Tendenzen<br />
und konkreten Ereignisse in Bezug<br />
auf die Sozialhilfe medial verbreitet werden.<br />
Nicht zuletzt ging es auch darum, gesicherte<br />
Grundlagen für eine Diskussion<br />
über die Rolle der Medien im schweizerischen<br />
Sozialhilfediskurs zu schaffen.<br />
Diskursanalyse <strong>als</strong> Untersuchungsmethode<br />
Unter einem Diskurs wurden dabei nicht in<br />
erster Linie bestimmte Debatten oder Diskussionen<br />
verstanden, sondern die kommunikativen<br />
Bedingungen, die das Denken<br />
und Sprechen über die Sozialhilfe prägen<br />
und leiten. Nach diesem Verständnis sorgen<br />
regelhaft wiederkehrende sprachliche Äusserungen<br />
(z.B. Wörter, Wortverbindungen<br />
und Phrasen) dafür, dass in einer bestimmten<br />
Art und Weise über Sozialhilfe geschrieben<br />
wird. Mit der Analyse dieser wiederkehrenden<br />
Muster lassen sich sowohl der<br />
mediale Mainstream belegen, aber auch<br />
Unterschiede innerhalb der Presse.<br />
Zentrale Erkenntnisse der Analyse<br />
Die Massenmedien thematisieren die Sozialhilfe<br />
weitestgehend abstrakt und simplifiziert<br />
und fokussieren sich in ihrer Berichterstattung<br />
auf die aufgewendeten Geldleistungen.<br />
Leistungen im Bereich der persönlichen<br />
Hilfe und Beratung finden kaum<br />
Eingang in die Berichterstattung. Auch die<br />
persönlichen und individuellen Lebensumstände<br />
der Bezügerinnen und Bezüger werden<br />
– ausserhalb der Skandalisierung von<br />
Einzelfällen – nicht präsentiert. Dieser Fo-<br />
3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
29
«Der Wind<br />
hat sich<br />
gedreht»<br />
kus auf diese Gegebenheiten erschweren<br />
eine echte Debatte über die Ziele der Sozialhilfe,<br />
nämlich Menschen die Überbrückung<br />
einer Notlage zu ermöglichen. Damit<br />
ist das für eine Solidargemeinschaft<br />
wichtige gemeinschaftsstiftende Element<br />
der wechselseitigen Unterstützung wenig<br />
bis gar nicht präsent.<br />
Auch die moderne Sozi<strong>als</strong>taatsprämisse<br />
«Fördern und Fordern» wird im medialen<br />
Diskurs so fast ausschliesslich auf das Fordern<br />
bzw. auf die Kontrolle und Sanktionierung<br />
von Verfehlungen verkürzt. In<br />
dieser Perspektive erscheint die Sozialhilfe<br />
allgemein <strong>als</strong> entpersonifizierter Verwaltungsakt,<br />
dessen ordnungsgemässer<br />
Vollzug von Systemfehlern beeinträchtigt<br />
wird. Dementsprechend technokratisch<br />
und unter Ausschluss der Lebenswelt der<br />
Leistungsbeziehenden dreht sich die Debatte<br />
auch hauptsächlich um die Anpassung<br />
zentraler Systemparameter wie zum<br />
Beispiel die Höhe des Grundbedarfs.<br />
Im Gesamtbild ergibt sich daraus das<br />
Bild einer grossen gesellschaftlichen Herausforderung,<br />
die es durch grosse Anstrengungen<br />
von Politik und Verwaltung<br />
zu meistern gilt. Im Diskurs wird eine<br />
Drohkulisse aufgebaut, die Emotionen<br />
wie Angst, Wut oder Ohnmacht erzeugen.<br />
Demgegenüber wird die Idee der solidarischen<br />
Hilfe – anders <strong>als</strong> bei der medialen<br />
Darstellung beispielsweise des AHV-Systems<br />
– im Grunde nicht vermittelt.<br />
Fazit der Analyse<br />
Alles in allem betrachtet, behandelt der<br />
massenmediale Diskurs die Sozialhilfe selektiv<br />
und abstrakt und blendet die Realität<br />
von Sozialhilfebeziehenden mehrheitlich<br />
aus. Auch wenn in der medialen Berichterstattung<br />
nicht durchgängig mit «offenem<br />
Visier» gegen die Sozialhilfe zu Felde gezogen<br />
wird, sind im Hinblick auf die Auswahl,<br />
Darstellung und Gewichtung von<br />
Themen, Begriffen und Akteuren Zweifel<br />
angebracht, ob die Medien ihrer Rolle <strong>als</strong><br />
objektive Beobachter zu jedem Zeitpunkt<br />
vollumfänglich nachkommen. Mit einer<br />
stärkeren Berücksichtigung dessen, was<br />
die Sozialhilfe über Geldleistungen hinaus<br />
ausmacht, könnten sie lohnende Ansatzpunkte<br />
für eine konstruktive Debatte über<br />
die Zukunft der Sozialhilfe schaffen. •<br />
Heike Isselhorst<br />
Sozialdepartement Stadt Zürich<br />
www.stadt-zurich.ch/sd-diskursanalyse<br />
PERSONEN Ernst Reimann ist<br />
<strong>als</strong> langjähriger Direktor im Amt<br />
für Zusatzleistungen der Stadt<br />
Zürich in Pension gegangen. Ein<br />
Rückblick auf 30 Jahre Sozialpolitik.<br />
«<strong>ZESO</strong>»: Sie haben die Sozialpolitik<br />
über Jahrzehnte beobachtet. Welche<br />
Fragestellungen haben sich verändert?<br />
Ernst Reimann: Bei den bedarfsorientierten<br />
Sozialleistungen hat sich der Wind<br />
gedreht. Anfang der 90er-Jahre ging zum<br />
Beispiel die EL-Debatte in Richtung automatische<br />
Prüfung/Auszahlung. Die aktuelle<br />
EL-Reform weist nur Zugangsbeschränkungen<br />
und Leistungsverschlechterungen<br />
auf, denn die Anpassung der Mieten hat<br />
mit der Reform ja nichts zu tun. Es ist die<br />
erste Abbaurevision seit Einführung der EL<br />
1966. Trotzdem schreien weite Kreise nach<br />
weiteren, «echten» Abbaumassnahmen.<br />
Als Direktor des Amtes für Zusatzleistungen<br />
kennen Sie die Schnittstellen<br />
zwischen EL und Sozialhilfe bestens.<br />
Welches sind dabei die grössten Herausforderungen?<br />
Die Schnittstellen sind rein technischer<br />
Natur, man kommt sich nicht ins Gehege.<br />
Fakt ist: Die EL sind gesellschaftspolitisch<br />
breiter und besser akzeptiert <strong>als</strong> die Sozialhilfe.<br />
Dennoch ist nicht zu verkennen, dass<br />
das Einprügeln auf die Sozialhilfe auch EL-<br />
Kollater<strong>als</strong>chäden zur Folge hat. Die vorliegende<br />
EL-Abbaureform wäre ohne das<br />
Schlechtmachen von bedarfsorientierten<br />
Leistungen nicht möglich gewesen.<br />
Welche Anpassung braucht das System<br />
der sozialen Sicherheit aus Ihrer Sicht?<br />
Man kann das Fehlen einer Gesamtkonzeption<br />
der sozialen Sicherheit bedauern.<br />
Es ist aber <strong>als</strong> gegeben hinzunehmen.<br />
Trotzdem finde ich, dass das Silodenken in<br />
den einzelnen Systemen immer unzureichender<br />
wird und mehr Flexibilität über<br />
Bild: zVg<br />
das Gesamtsystem gegeben sein müsste.<br />
Das Hauptproblem aber ist meines Erachtens,<br />
dass die parteiübergreifende Kompromissbereitschaft<br />
zur Lösungssuche<br />
nicht mehr gegeben ist. Bedenklich ist<br />
doch, dass die letzte erfolgreiche AHV-<br />
Reform in der Ära von Ruth Dreifuss stattfand,<br />
die <strong>20</strong>02 zurücktrat.<br />
Fachleute fordern eine bedarfsorientierte<br />
Existenzsicherung anstelle der<br />
Sozialhilfe. Das Modell orientiert sich<br />
an der EL. Was halten Sie davon?<br />
Eine generelle bedarfsorientierte<br />
Existenzsicherung nach dem EL-Prinzipund<br />
deren Leistungshöhe wäre ein deutlich<br />
ausgeweitetes garantiertes Grundeinkommen,<br />
<strong>als</strong>o unfinanzierbar und nicht<br />
ansatzweise mehrheitsfähig. Mit den Überbrückungsleistungen<br />
beispielsweise wird<br />
– hoffentlich – einiges erreicht. Für mich<br />
ist klar, dass Personen, die über Jahrzehnte<br />
erwerbstätig waren und die ihren Beitrag<br />
in der Gesellschaft auch über Steuern und<br />
Sozialversicherungsabgaben geleistet haben<br />
und die nun bei der ALV ausgesteuert<br />
sind, nicht einfach über die Sozialhilfe und<br />
deren Leis tungsniveau abgespiesen werden<br />
dürfen.<br />
Sie waren viele Jahre Mitglied der<br />
Kommission Sozialpolitik und Sozialhilfe<br />
und kennen die SKOS gut. Wie<br />
haben Sie ihre Entwicklung erlebt?<br />
Die Arbeit der SKOS-Gremien hat mich<br />
immer beeindruckt. Kenntnisreich, nimmermüde,<br />
auch bei viel Zugluft Gegensteuer<br />
geben, das ist nicht leicht. Was viel<br />
Kraft kostet und vielleicht zu lange nicht<br />
konsequent genug gemacht wurde: Die<br />
Debatte in den Kommunen und Kantonen<br />
knochenhart, beharrlich und faktenbasiert<br />
zu führen. Der Ausgang über eine<br />
Abbaurevision im Kanton Bern hat mich<br />
doppelt gefreut: Die Forderung nach einer<br />
Leistungsreduktion konnte erfolgreich abgewehrt<br />
werden, der Baukasten zum politischen<br />
Erfolg steht. <br />
•<br />
Das Gespräch führte Markus Kaufmann<br />
30 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>
Covid-Monitoring der SKOS:<br />
Fallzahlen bleiben insgesamt stabil<br />
FACHBEITRAG Die ersten Monate des Corona-Monitorings der SKOS zeigen insgesamt einen geringen Anstieg<br />
der Fallzahlen. Die SKOS geht jedoch davon aus, dass sich die Sozialhilfe in mittlerer Zukunft auf<br />
einen starken Anstieg der Fallzahlen vorbereiten muss. Mit dem monatlichen Monitoring der Fallzahlen<br />
beobachtet die SKOS die Auswirkungen der Krise aus Sicht der Sozialhilfe.<br />
Gesamtschweizerisch ist in der Sozialhilfe<br />
seit Beginn der Corona-Krise ein leichter<br />
Anstieg der Fallzahlen festzustellen. Der<br />
Anstieg gegenüber dem Durchschnittsmonat<br />
<strong>20</strong>19 beträgt per Ende Juli <strong>20</strong><strong>20</strong><br />
2 Prozent. Der Anstieg gegenüber Februar<br />
<strong>20</strong><strong>20</strong> (Beginn der Corona-Krise) beträgt<br />
2,7 Prozent. Gegenüber dem Vormonat<br />
Juni sind die Fallzahlen um 0,1 Prozent<br />
gestiegen.<br />
Etwas deutlicher war der Anstieg per<br />
Ende Juli in der Romandie (+ 3,7 Prozent)<br />
und in der Zentr<strong>als</strong>chweiz (+ 4,8 Prozent).<br />
In den Regionen Nordwestschweiz (+ 0,2<br />
Prozent), Ostschweiz (+ 1,3 Prozent) und<br />
im Kanton Tessin (+ 0,5 Prozent) ist er verschwindend<br />
gering.<br />
Die SKOS geht davon aus, dass sich der<br />
durch die Corona-Krise bedingte Anstieg<br />
erst nach einigen Monaten in der ganzen<br />
Schweiz bemerkbar machen wird. Im Moment<br />
wirken nach wie vor die Instrumente<br />
der Arbeitslosenversicherung (Kurzarbeit,<br />
verlängerter Taggeldbezug) und die Corona-Erwerbsersatzentschädigung,<br />
die vom<br />
Bundesrat bis im September verlängert<br />
wurde. Ferner wird Sozialhilfe erst bewilligt,<br />
wenn das Vermögen aufgebraucht ist.<br />
Die bestehenden Auswertungen der<br />
Sozialhilfestatistik und der Kennzahlenbericht<br />
der Städteinitiative Sozialpolitik werden<br />
jeweils im Nachfolgejahr erstellt und<br />
können keine kurzfristige Entwicklungen<br />
erkennen. In Koordination mit dem Bundesamt<br />
für Statistik (BFS) realisiert die<br />
SKOS deshalb ein monatliches Monitoring<br />
zu den Fallzahlen. Dieses ist jedoch nicht<br />
mit den Zahlen des BFS kompatibel. Die<br />
teilnehmenden Gemeinden und Kantone<br />
repräsentieren 58 Prozent der Sozialhilfebeziehenden<br />
in der Schweiz. Die herangezogenen<br />
Vergleichsdaten beruhen auf bestehenden<br />
Reportings der Sozialdienste. •<br />
Andrea Beeler<br />
Bieler Tagung, 2. November <strong>20</strong><strong>20</strong><br />
Der steinige Weg in den ersten<br />
Arbeitsmarkt<br />
Die berufliche Integration von unterstützten Personen ist eine wichtige<br />
Aufgabe der Sozialdienste. Doch gelingt die nachhaltige Integration in den<br />
ersten Arbeitsmarkt trotz aller Massnahmen und Anstrengungen oft<br />
nicht. Gibt es für arbeitsfähige Personen, die von der Sozialhilfe unterstützt<br />
werden, Platz im ersten Arbeitsmarkt? Welche Bedingungen stellen<br />
Arbeitgeber an die Anstellung der meist gering qualifizierten Personen?<br />
Wie können existenzsichernde Jobs und Tätigkeitsfelder für Menschen mit<br />
Leistungseinschränkungen oder Sprachschwierigkeiten aussehen?<br />
Die Bieler Tagung <strong>20</strong><strong>20</strong> bietet eine Plattform für Präsentationen und Diskussionen.<br />
Praktikerinnen und Praktiker erhalten Inputs und Impulse für ihre<br />
tägliche Arbeit.<br />
Anmeldung bis 16. Oktober <strong>20</strong><strong>20</strong><br />
Programm und Anmeldungen unter www.skos.ch/Veranstaltungen<br />
MASKEN FÜR SOZIALHILFE-<br />
BEZIEHENDE PERSONEN<br />
Da der Bundesrat ab 6. Juli eine Maskenpflicht<br />
für den öffentlichen Verkehr erlassen hat,<br />
empfiehlt die SKOS die kostenlose Abgabe von<br />
Masken oder die Rückerstattung der Kosten.<br />
Sozialhilfebeziehende sollen Masken in der Regel<br />
nicht aus dem Grundbedarf bezahlen müssen.<br />
Die SKOS empfiehlt, dass die Kosten für die Masken<br />
<strong>als</strong> grundversorgende situationsbedingte<br />
Leistung (SIL) übernommen werden. Dies für<br />
Personen, die Sozialhilfe beziehen und den öffentlichen<br />
Verkehr nutzen müssen (Schülerinnen<br />
und Schüler ab 12 Jahren, Arbeitnehmende,<br />
Teilnehmende an Massnahmen zur beruflichen<br />
und sozialen Integration, medizinische und<br />
therapeutische Termine etc.). Alternativ können<br />
Sozialdienste eine einmalige SIL-Pauschale in der<br />
Höhe der Kosten für vier geprüfte Stoffmasken<br />
pro Person ausrichten. Eine kostenlose Abgabe<br />
von geeigneten Masken ist für die Sozialdienste<br />
eine weitere aufwandreduzierende Möglichkeit.<br />
(SKOS)<br />
3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
31
Bekämpfung der Armut in der EU<br />
FACHBEITRAG Seit Jahrzehnten steht das Thema Armutsbekämpfung auf der Agenda der Europäischen<br />
Union. Immer wieder haben Krisen wie die der Finanzmärkte oder derzeit die Corona-Pandemie zu Rückschlägen<br />
geführt. Die EU-Kommission und das EU-Parlament sprechen sich für einen EU-Rahmen für<br />
Grundsicherungssysteme aus, um Armut und soziale Ungleichheit in der EU dauerhaft zu bekämpfen. Der<br />
Deutsche Verein für Fürsorge hofft nun in Anbetracht der deutschen Ratspräsidentschaft auf Fortschritte.<br />
Im Jahr <strong>20</strong>10 hat sich die EU im Rahmen<br />
ihrer übergreifenden Strategie «Europa<br />
<strong>20</strong><strong>20</strong> – Eine Strategie für intelligentes,<br />
nachhaltiges und integratives Wachstum»<br />
verpflichtet, bis <strong>20</strong><strong>20</strong> mindestens <strong>20</strong> Millionen<br />
Menschen aus Armut und sozialer<br />
Ausgrenzung zu holen; der Referenzwert<br />
betrug 1<strong>20</strong> Millionen Menschen, die im<br />
Jahr <strong>20</strong>08 in Armut lebten. Dieses Ziel<br />
wäre auch ohne die COVI-19-Pandemie<br />
nicht erreicht worden. Im Jahr <strong>20</strong>18 waren<br />
mehr <strong>als</strong> 109 Millionen Menschen in<br />
der EU armutsgefährdet, was einem Bevölkerungsanteil<br />
von 21,7 Prozent entspricht.<br />
Wie die Zahlen gedreht und gewendet<br />
werden: Die EU hat ihr Ziel verfehlt und<br />
die Corona-Pandemie wird noch nicht<br />
vollständig absehbare wirtschaftliche und<br />
soziale Folgen haben und in allen Ländern<br />
der EU die Armutsquote nach oben treiben.<br />
Darum braucht es jetzt einen Ansatz,<br />
der Armut effektiv bekämpfen kann. Die<br />
Einführung eines Rahmens für Grundsicherungssysteme<br />
ist ein solcher Ansatz, der<br />
von vielen Akteuren gefordert wird. Schon<br />
in der Europäischen Säule sozialer Rechte,<br />
die von der EU im Jahr <strong>20</strong>17 proklamiert<br />
wurde, wird das Recht auf ein Mindesteinkommen<br />
eingefordert.<br />
Grundsicherungssysteme gelten <strong>als</strong><br />
wirksames Mittel gegen Armut<br />
Die Europäische Kommission hat in den<br />
letzten Monaten eine Zusammenstellung<br />
des Ist-Zustandes der Grundsicherungssysteme<br />
in allen Mitgliedsstaaten erarbeiten<br />
lassen, die leider (noch) nicht veröffentlicht<br />
ist. Aber auch ohne diese Übersicht ist<br />
klar, dass Grundsicherungssysteme in den<br />
EU-Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich<br />
ausgestaltet sind, was sich darin zeigt, dass<br />
einige steuerfinanziert und andere beitragsfinanziert<br />
sind. In einigen Ländern ist<br />
die Dauer der Zahlungen begrenzt, in anderen<br />
Ländern gibt es Abstufungen in der<br />
GRUNDSICHERUNGSSYSTEME<br />
Grundsicherungs- oder Mindesteinkommenssysteme<br />
bieten ein Sicherheitsnetz für<br />
Menschen, die – unabhängig davon, ob sie<br />
erwerbstätig oder nicht erwerbstätig sind<br />
– nicht über ausreichende finanzielle Mittel<br />
zur Unterstützung verfügen, und die keinen<br />
Anspruch auf versicherungsbasierte Sozialleistungen<br />
haben oder deren Ansprüche abgelaufen<br />
sind. Es handelt sich um Systeme,<br />
die einen Mindestlebensstandard für die<br />
betroffenen Personen und ihre Angehörigen<br />
gewährleisten sollen.<br />
Link zur Dokumentation zur Veranstaltung «Wege<br />
aus der Armut – Ein Rahmen für nationale Grundsicherungssysteme<br />
in den EU-Staaten»:<br />
www.deutscher-verein.de/de/internationale-europaeische-sozialpolitik-1136.html<br />
Nicolas Schmit, EU-Kommissar für<br />
Beschäftigung und Soziales, spricht sich<br />
für einen EU-Rahmen für Grundsicherungssysteme<br />
aus. <br />
Bild: dv<br />
Höhe. Dass man diese unterschiedlichen<br />
Traditionen – hinter denen sich vielfach<br />
auch Denkweisen oder historische Entwicklungen<br />
verbergen – beibehalten<br />
möchte, ist unter den Akteuren nicht umstritten.<br />
Denn Grundsicherungssysteme,<br />
in welcher Ausgestaltung auch immer, gelten<br />
<strong>als</strong> wirksames Mittel gegen Armut. Da<br />
aber in einigen EU-Ländern die Zahlungen<br />
nicht hoch genug sind, um Armut und Armutsrisiko<br />
wirksam zu bekämpfen, sollen<br />
EU-Rahmenbestimmungen Abhilfe schaffen.<br />
Diese können die Untergrenzen der<br />
32 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>
Sozialleistungen so festlegen, dass Menschen<br />
in dem jeweiligen Mitgliedsland<br />
dauerhaft aus der Armut geholt werden<br />
und die Mitgliedsstaaten finanziell nicht<br />
überfordert werden.<br />
Rechtliche Fragen<br />
Noch unklar ist, inwieweit die Einführung<br />
eines Rahmens für Grundsicherungssysteme<br />
in der Europäischen Union innerhalb<br />
der Verträge rechtlich möglich ist. In seinem<br />
Gutachten «Ausgestaltung eines europäischen<br />
Rahmens für die Mindestsicherung»<br />
hat Benjamin Benz, Professor für<br />
Politikwissenschaft/Sozialpolitik an der<br />
Evangelischen Hochschule Rheinland-<br />
Westfalen-Lippe, diese Frage durchaus positiv<br />
beantwortet. Es sei möglich, «einen<br />
mindestsicherungspolitisch verbindlichen<br />
Rahmen auf EU-Ebene (nach Art. 153<br />
Abs. 1 lit. H) per Mehrheitsbeschluss im<br />
Rat der Arbeits- und Sozialministerinnen<br />
und -minister <strong>als</strong> Richtlinie zu verabschieden.<br />
Deren Inhalt wären schrittweise und<br />
zwingend in den Mitgliedstaaten umzusetzende<br />
Mindeststandards.»<br />
Thorsten Kingreen, Professor am Lehrstuhl<br />
für Öffentliches Recht, Sozial- und<br />
Gesundheitsrecht an der Universität in Regensburg,<br />
hat in einem – vom Bundesministerium<br />
für Arbeit und Soziales (BMAS) in<br />
Auftrag gegebenem Gutachten – ein ebenso<br />
positives Bild gezeichnet. Er kommt,<br />
wie Benjamin Benz, zu dem Ergebnis, dass<br />
der Artikel 153 des AEU-Vertrags nur gestattet,<br />
Mindestvorschriften zu erlassen,<br />
die schrittweise anzuwenden sind. Diese<br />
haben die Funktion, einen allgemeinen<br />
Standard innerhalb der Union sicherzustellen,<br />
der auf der einen Seite weniger leistungsfähige<br />
Staaten nicht überfordert, leistungsfähige<br />
Staaten aber auf der anderen<br />
Seite auch nicht daran hindert, ein höheres<br />
Schutzniveau vorzusehen. Bezüglich der<br />
Finanzierung schlägt Thorsten Kingreen<br />
vor, finanzföderalistische Strukturen aufzubauen.<br />
Die EU könnte Mindeststandards<br />
für die Grundsicherungssysteme in<br />
den Mitgliedstaaten festlegen und dann<br />
über die Strukturfonds diejenigen Mitgliedsstaaten<br />
unterstützen, die bereit sind,<br />
diese Standards zu erfüllen, dies aber aus<br />
eigener Kraft nicht vermögen. Sinnvoll ist<br />
insoweit aus seiner Sicht ein Matching-<br />
Fund aus Unions- und Eigenmitteln der<br />
geförderten Mitgliedstaaten.<br />
Positive Signale<br />
Wie realistisch ist die Einführung eines<br />
EU-Rahmens für Grundsicherungssysteme?<br />
Aus deutscher Sicht stehen viele Ampeln<br />
auf grün. Die deutsche Regierung und<br />
auch die deutschen Bundesländer sprechen<br />
sich für soziale Mindeststandards im<br />
Rahmen der Europäischen Säule sozialer<br />
Rechte aus, auch wenn sie deutlich daran<br />
erinnern, dass die Sozialpolitik primär Aufgabe<br />
der Mitgliedstaaten ist und die Kompetenzgrenzen<br />
sowie der Grundsatz der<br />
Subsidiarität zu achten sind. Die Bundesregierung<br />
fordert in ihrem Programm zur<br />
deutschen Ratspräsidentschaft den Schutz<br />
durch Mindestsicherungssysteme und ein<br />
erster Entwurf zu Handen des Ministerrates<br />
liegt seit dem 2. Juli <strong>20</strong><strong>20</strong> vor.<br />
Auch von der EU-Ebene gibt es positive<br />
Signale: Die EU-Kommission bekennt<br />
sich zur Europäischen Säule sozialer<br />
Rechte, die Mindestsicherungssysteme <strong>als</strong><br />
einen Grundsatz beinhaltet. Der zuständige<br />
Kommissar für Beschäftigung und<br />
Soziales, Nicolas Schmit, ist Befürworter<br />
eines EU-Rahmens für Grundsicherungssysteme.<br />
Dies hat er in der Online-Veranstaltung<br />
des Deutschen Vereins und der<br />
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien<br />
Wohlfahrtspflege «Wege aus der Armut<br />
– Ein Rahmen für nationale Grundsicherungssysteme<br />
in den EU-Staaten» am<br />
24. Juni <strong>20</strong><strong>20</strong> deutlich formuliert.<br />
Der Deutsche Verein für öffentliche und<br />
private Fürsorge wird sich auch weiterhin<br />
für die konsequente Umsetzung der Europäischen<br />
Säule sozialer Rechte einsetzen<br />
und diese konstruktiv begleiten. Den<br />
Rahmen für Grundsicherungssysteme in<br />
der EU einzuführen, ist ein wichtiger Teil<br />
dieser Umsetzung, den der Deutsche Verein<br />
ausdrücklich begrüsst. Es ist nun an<br />
der EU, den Rahmen zu ziehen und dabei<br />
rechtliche und finanzielle Fragen so zu berücksichtigen,<br />
dass die Umsetzung in den<br />
EU-Mitgliedsstaaten Armut schrittweise<br />
und wirksam bekämpft.<br />
•<br />
Monika Büning<br />
Leitung Stabsstelle Internationales<br />
Deutscher Verein für öffentliche und private<br />
Fürsorge e.V.<br />
3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
33
DEBATTE<br />
Mindeststandards für das Arbeiten unter<br />
sozialhilferechtlichen Bedingungen<br />
Das Arbeiten in einem sozialhilferechtlichen Beschäftigungsprogramm kann eine<br />
Voraussetzung für (ungekürzte) Sozialhilfeleistungen sein. Es spielt daher eine wichtige Rolle<br />
zur Existenzsicherung von Sozialhilfeempfangenden. Weitgehend ungeklärt ist, unter welchen<br />
Bedingungen in solchen Programmen gearbeitet wird. Der Schlussbericht des Forschungsprojekts<br />
«Arbeiten unter sozialhilferechtlichen Bedingungen» liegt nun vor.<br />
Bis anhin wird die Rechtsbeziehung –<br />
obwohl eine Arbeitsleistung erfolgt – vor<br />
allem durch das Sozialhilferecht gestaltet.<br />
Es wird dabei betont, dass die Teilnahme<br />
an einem Programm eine Pflicht ist, bei<br />
deren Verletzung Leistungskürzungen drohen,<br />
bis hin zum Verlust der Anspruchsberechtigung.<br />
Der Schutz des Arbeitsrechts<br />
– <strong>als</strong> Schutz der schwächeren Partei – und<br />
der Schutz des Sozialversicherungsrechts<br />
treten dabei in den Hintergrund.<br />
Der vorliegende Bericht zeigt auf, dass<br />
dies in mehrerer Hinsicht problematisch<br />
ist. So wird dadurch eine disziplinierende<br />
Wirkung gegenüber einer tatsächlichen<br />
Reintegration begünstigt. Durch die starke<br />
Betonung des Pflichtcharakters und der<br />
Durchsetzung mit negativen Anreizen werden<br />
zusätzlich Anspruchsvoraussetzungen<br />
für die staatlichen Leistungen geschaffen,<br />
die ein Leben in Würde und soziale Teilhabe<br />
garantieren sollen und es kann zu<br />
besonders einschneidenden Folgen für die<br />
Rechtsstellung der Einzelnen kommen.<br />
Dabei ist unzureichend geklärt, wann eine<br />
Teilnahme mit guten Gründen verweigert<br />
werden darf.<br />
Im Zuge der Verbreitung einer aktivierenden<br />
Sozialhilfepolitik seit etwa <strong>20</strong> Jahren<br />
gewann die Teilnahme an Integrationsprogrammen<br />
in Form von Arbeitsleistung für<br />
Sozialhilfeempfangende zunehmend an<br />
Bedeutung. Zusätzlich zur Sozialhilfe fliessen<br />
daher erhebliche öffentliche Mittel in<br />
die Aktivierung der Sozialhilfebeziehenden.<br />
Mit interdisziplinären Methoden aus<br />
der sozial- und rechtswissenschaftlichen<br />
Forschung wurde in dem Forschungsprogramm<br />
«Arbeiten unter sozialhilferechtlichen<br />
Bedingungen» das Arbeiten im Dreiecksverhältnis<br />
zwischen Sozialdienst,<br />
Sozialhilfeempfangenden und Einsatzbetrieb<br />
untersucht.<br />
Dabei stellten die Forscherinnen und<br />
Forscher fest, dass grundsätzlich vier Typen<br />
von Beschäftigungsverhältnissen in<br />
der ganzen Schweiz verbreitet sind: Abklärung,<br />
Qualifizierung, Vermittlung und<br />
Teilhabe. Die tatsächliche Ausgestaltung<br />
der Rechtsbeziehungen ist jedoch äusserst<br />
divers.<br />
Die rechtliche Regelung der Teilnahme an<br />
Integrationsprogrammen wirft Fragen auf.<br />
Bild: Béatrice Devennes<br />
Empfehlungen aus der Praxis der<br />
Kantone<br />
Basierend auf dieser Analyse wird empfohlen,<br />
in drei Bereichen Anpassungen vorzunehmen<br />
und Mindeststandards für das Arbeiten<br />
unter sozialhilferechtlichen<br />
Bedingungen einzuführen. Diese sollen<br />
eine rechtsgleiche Behandlung und die<br />
Menschenwürde der Sozialhilfeempfangenden<br />
sichern und die notwendige Klarheit<br />
und Rechtssicherheit für die Rechtsanwendenden<br />
bringen:<br />
1. Die Teilnahme an einem Beschäftigungsprogramm<br />
ist keine Voraussetzung<br />
für den Anspruch auf Sozial- oder<br />
Nothilfe. Allfällige Kürzungen wegen<br />
verweigerter Teilnahme an geeigneten<br />
und zumutbaren Beschäftigungsprogrammen<br />
müssen verhältnismässig sein.<br />
2. Die Rechtsbeziehung in denjenigen<br />
Programmen, die eine Arbeitsleistung<br />
beinhalten, wird mit Arbeitsverträgen<br />
geregelt und der Lohn ist den Sozialversicherungen<br />
zu unterstellen.<br />
3. Die Wirkung der Programme ist mit<br />
aussagekräftigen Evaluationen zu messen.<br />
Das ist Voraussetzung, um die Angebote<br />
steuern zu können.<br />
Diese Empfehlungen lehnen sich an die<br />
bereits bestehende Praxis in gewissen Kantonen<br />
oder Programmen an. (Red.)<br />
Schlussbericht: www.skos.ch/themen/arbeit<br />
34 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>
TÜRE AUF<br />
BEI STEPHAN BÜCHI<br />
Sozialdienst:<br />
Regionaler Sozialdienst Niederbipp<br />
Ausbildung/Funktion: Sozialarbeiter FH<br />
Angestellt seit: <strong>20</strong>19<br />
Alter:<br />
60 Jahre<br />
Seit zehn Jahren ist Stephan Büchi<br />
im Winterhalbjahr bei Sozialdiensten<br />
in den Kantonen Bern und Solothurn<br />
<strong>als</strong> Stellvertretung (Kindes- und<br />
Erwachsenenschutz, Pflegekinderaufsicht)<br />
tätig und im Sommerhalbjahr in Rumänien<br />
im Tourismus.<br />
Bild: zvg<br />
Sie verbringen den Sommer<br />
normalerweise in Rumänien und den<br />
Winter in der Schweiz. Was bringen Sie<br />
aus Rumänien mit in Ihren aktuellen<br />
Sozialdienst Niederbipp?<br />
Grundsätzlich existiert in Rumänien ein<br />
deutlich schwächeres Netz im Sozialbereich<br />
<strong>als</strong> bei uns in der Schweiz. Auch<br />
ist der Zugang zu staatlicher Unterstützung<br />
schwieriger und es gibt weniger<br />
Angebote. Deshalb sind die Menschen<br />
gezwungen, Situationen länger auszuhalten<br />
und Selbsthilfestrategien zu<br />
entwickeln. Dies gelingt oft erstaunlich<br />
gut. Ich erlebe in der Schweiz die Tendenz,<br />
möglichst rasch und umfänglich<br />
zu unterstützen. Dies birgt aber auch<br />
die Gefahr, dass Selbsthilfestrategien<br />
gar nicht erst entwickelt werden.<br />
Sie kennen nicht nur viele andere<br />
Schweizer Sozialdienste, sondern auch<br />
soziale Institutionen in Rumänien.<br />
Welche Vergleiche können Sie ziehen?<br />
Soziale Institutionen und Strukturen<br />
in Rumänien mussten nach Ende des<br />
kommunistischen Systems 1989 neu<br />
entstehen und sich entwickeln. Dazu<br />
sind auch die gesellschaftlichen Veränderungen<br />
bis heute nicht abgeschlossen.<br />
Finanzielle Mittel und Fachpersonal<br />
sind im Sozialbereich knapp und viele<br />
bei uns bestehende Angebote fehlen.<br />
Unterstützung muss man sich in Rumänien<br />
erkämpfen, sie ist weniger selbstverständlich<br />
<strong>als</strong> bei uns.<br />
Was würden Sie gerne von Rumänien in<br />
die Schweiz holen , was aus der Schweiz<br />
nach Rumänien?<br />
Den Zusammenhalt und die gegenseitige<br />
Unterstützung innerhalb der bestehenden<br />
Familien- und teilweise auch<br />
Dorfgemeinschaften würde ich gerne<br />
in die Schweiz importieren. Dagegen<br />
wäre im rumänischen Sozi<strong>als</strong>ystem,<br />
und nicht nur dort, mehr Stabilität und<br />
Rechtssicherheit gefragt. Dazu menschenwürdigere<br />
Angebote insbesondere<br />
im Alters- und Behindertenbereich.<br />
Wie erleben Sie diese Corona-Krisen-<br />
Zeit?<br />
Persönlich vermisse ich bereits etwas<br />
die Lockdown-Ruhe, die leeren<br />
Strassen, den reduzierten Lärmpegel<br />
und die frei gewordene Zeit<br />
bei der Arbeit und in der Freizeit.<br />
Selbst viele meiner Klienten haben<br />
die termin- und auflagenfreiere Zeit<br />
gut überstanden und ihre erhöhte<br />
Selbstverantwortung erstaunlich gut<br />
wahrgenommen. Persönlich musste<br />
ich wegen der Corona-Krise alle Rumänienreisen<br />
<strong>20</strong><strong>20</strong> annullieren und<br />
werde die Verluste <strong>als</strong> Selbständig-<br />
Erwerbender selber tragen müssen.<br />
Zum Glück werde ich bis April <strong>20</strong>21<br />
weiterhin beim RSD Niederbipp arbeiten<br />
können und erstm<strong>als</strong> seit zehn<br />
Jahren den Sommer wieder in der<br />
Schweiz verbringen dürfen.<br />
Was machte Ihnen in den letzten<br />
Wochen an Ihrer Arbeit besonders<br />
Freude?<br />
Ich schätze die Vielseitigkeit meiner Arbeit<br />
sehr und vor allem auch den Kontakt<br />
und die Auseinandersetzung mit<br />
den Klienten, den persönlichen Kontakt.<br />
Wie meisterten Sie besonders<br />
belastendeSituationen?<br />
Als sehr belastend empfinde ich immer<br />
wieder das Dilemma, die zur Verfügung<br />
stehende Zeit zwischen den zunehmenden<br />
und klar vorgegebenen administrativen<br />
Aufgaben und dem direkten<br />
Kontakt, der Arbeit mit den Klienten,<br />
optimal einzuteilen.<br />
Was wünschen Sie sich für die Zukunft<br />
in Bezug auf Ihre Arbeit auf den<br />
verschiedenen Sozialdiensten?<br />
Mehr Zeit, um meine Klienten bei ihrer<br />
Perspektivenplanung zu unterstützen<br />
und zu begleiten. Zusätzliche Flexibilität<br />
für individuelle Lösungen und möglichst<br />
keine allzu häufigen Systemanpassungen.<br />
Dazu eine schweizweit<br />
einheitliche Unterstützungsgrundlage.<br />
» dieser<br />
In der Schweiz gibt es Hunderte von Sozialdiensten mit unzähligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Sie unterstützen Kinder, Jugendliche<br />
und Erwachsene in unterschiedlichen Lebenslagen und leisten damit einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt. In<br />
Serie berichten sie aus ihrem Berufsalltag, den schönen und den schwierigen Seiten ihrer Arbeit.<br />
3/<strong>20</strong> <strong>ZESO</strong><br />
35
LESETIPPS<br />
Soziale Arbeit in Schlüsselbegriffen<br />
Das Buch richtet sich <strong>als</strong> Einführung und<br />
Nachschlagewerk zugleich auf das Studium<br />
der Sozialen Arbeit aus. Vierzig Schlüsselbegriffe<br />
fassen die grundlegenden Leitgedanken,<br />
Prinzipien, Strukturen und Methoden der Sozialen<br />
Arbeit zusammen und verbinden sie mit<br />
konkreten Praxisbezügen aus Arbeitsfeldern,<br />
Lebensbedingungen und Aufträgen. Bei den Verfasserinnen der Beiträge<br />
handelt es sich sowohl um versierte Akteure der beruflichen Praxis <strong>als</strong><br />
auch um Wissenschaftlerinnen, die hauptberuflich Soziale Arbeit lehren<br />
und zur Sozialen Arbeit forschen.<br />
Peter-Ulrich Wendt (Hrsg.), Soziale Arbeit in Schlüsselbegriffen, Beltz Fachmedien,<br />
<strong>20</strong><strong>20</strong>, 260 Seiten, CHF 22.−, ISBN 978-3-7799-6065-2<br />
Sozialhilfe im Asylbereich<br />
Das Recht auf Sozialhilfe und das Migrationsrecht<br />
verfolgen unterschiedliche Zwecksetzungen.<br />
Und doch wird das Sozialhilferecht<br />
auch zur Verfolgung migrationspolitischer Ziele<br />
genutzt. Dieses Buch untersucht die rechtlichen<br />
Grenzen bei der Ausgestaltung der Sozial- und<br />
Nothilfe für Flüchtlinge, Asylsuchende, vorläufig<br />
Aufgenommene und abgelehnte Asylsuchende<br />
in der Schweiz. Es zeichnet unter anderem die historische Entwicklung<br />
nach, analysiert die Bedeutung der Gleichbehandlungsgebote sowie der<br />
Diskriminierungsverbote und arbeitet die verankerten Standards menschenwürdiger<br />
Existenzsicherung heraus.<br />
Teresia Gordzielik, Sozialhilfe im Asylbereich. Zwischen Migrationskontrolle und<br />
menschenwürdiger Existenzsicherung, Schulthess Verlag, <strong>20</strong><strong>20</strong>, 702 Seiten,<br />
CHF 109.−, ISBN 978-3-7255-8187-0<br />
Sozialraumorientierung <strong>als</strong><br />
Fachkonzept Sozialer Arbeit<br />
Die Beiträge zeigen die Bedeutung des Fachkonzepts<br />
angesichts sozialer und sozi<strong>als</strong>taatlicher<br />
Entwicklungen. Sie legen dar, wie Sozialunternehmen<br />
durch sozialräumliche Steuerung Ressourcen<br />
besser mobilisieren, die Wirksamkeit<br />
und Wirtschaftlichkeit ihrer Leistungen erhöhen<br />
und gleichzeitig die Lebensverhältnisse im<br />
Gemeinwesen verbessern können. Praxisberichte aus unterschiedlichen<br />
Arbeitsfeldern liefern Anschauungsmaterial zur Umsetzung von Sozialraumorientierung<br />
und illustrieren, wie Sozialunternehmen Anpassungsleistungen<br />
auf der Steuerungs- und Handlungsebene gestalten können.<br />
Ulrike Wössner (Hrsg.) Sozialraumorientierung <strong>als</strong> Fachkonzept Sozialer Arbeit und<br />
Steuerungskonzept von Sozialunternehmen; Springer Verlag, <strong>20</strong><strong>20</strong>, 302 Seiten,<br />
€ 45, ISBN 978-3-7841-8666-5<br />
Wohnungslosigkeit verhindern<br />
Es gibt immer mehr Menschen ohne gesicherte<br />
Wohnung. Für die Betroffenen ist dies fast immer<br />
eine dramatische Situation – in Zeiten der<br />
Coronakrise wird sie katastrophal. Wohnungslosigkeit<br />
lässt sich durch Prävention verhindern.<br />
Anhand der Befunde einer bundesweiten Studie<br />
und mithilfe des Teilhabe- und Chancenmodells<br />
von Amartya Sen analysiert Jutta Henke die<br />
Problemlage und kommt zu dem Ergebnis: Die Instrumente, um Wohnungslosigkeit<br />
zu beheben oder gar zu verhindern, sind vorhanden, sie<br />
müssten jedoch neu organisiert werden.<br />
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Hrsg.) Wie lässt sich<br />
Wohnungslosigkeit verhindern. Ein Plädoyer von Jutta Henke, Lambertus Verlag,<br />
<strong>20</strong><strong>20</strong>, 64 Seiten, € 9, ISBN: 978-3-7841-3267-9<br />
VERANSTALTUNGEN<br />
«Sozial und digital: Wie wir<br />
neue Chancen nutzen»<br />
Algorhythmen, Clouds und Neue Medien – die<br />
Digitalisierung verändert das gesellschaftliche<br />
Leben rasant und beeinflusst auch die Soziale<br />
Arbeit. Welche Chancen entstehen dadurch für<br />
Klientinnen und Klienten, aber auch für Fachpersonen<br />
der Sozialen Arbeit. Welche Herausforderungen<br />
sind rasch anzupacken und wie? Inputs,<br />
Good-Practice-Beispiele und der Erfahrungsaustausch<br />
sollen an der Tagung inspirieren Horizonte<br />
öffnen und weiterführende Diskussionen<br />
anstossen.<br />
ZHAW, Campus Toni-Areal Zürich<br />
Donnerstag, 29. Oktober <strong>20</strong><strong>20</strong><br />
www.zhaw.ch Soziale Arbeit Weiterbildung<br />
4. Nationale Tagung Gesundheit<br />
und Armut<br />
Zahlreiche Studien zeigen, dass es auch in der<br />
Schweiz soziale Ungleichheiten in der Gesundheit<br />
gibt. Die Tagung der Berner Fachhochschule widmet<br />
sich dem Thema «Verzicht und Entbehrung:<br />
Wenn Armutsbetroffene Gesundheitsleistungen<br />
nicht in Anspruch nehmen». Dabei orientiert sie<br />
sich an Fragestellungen aus sozialethischer,<br />
ökonomischer und politischer Perspektive<br />
und integriert dabei nicht zuletzt die Sicht von<br />
Betroffenen.<br />
Eventfabrik Bern<br />
Donnerstag, 21. Januar <strong>20</strong>21<br />
www.bfh.ch Aktuell Veranstaltungen<br />
SKOS-Weiterbildung:<br />
Einführung in die Sozialhilfe<br />
Die Weiterbildung der SKOS vermittelt an zwei<br />
Halbtagen Grundlagen zur Ausgestaltung der Sozialhilfe<br />
und zur Umsetzung der SKOS-Richtlinien,<br />
zu Verfahrensgrundsätzen und zum Prinzip der<br />
Subsidiarität. Insbesondere werden auch die Änderungen<br />
der aktuellen Richtlinienrevision erläutert.<br />
Den Teilnehmenden stehen vier Weiterbildungsmodule<br />
zur Auswahl. Es können jeweils zwei Module<br />
besucht werden. Es besteht die Möglichkeit, zwei<br />
weitere Module im Juni <strong>20</strong>21 in Olten zu besuchen.<br />
Montag, 16. November <strong>20</strong><strong>20</strong>, Winterthur<br />
Dienstag, 29. Juni <strong>20</strong>21, Olten<br />
www.skos.ch veranstaltungen Weiterbildung<br />
36 <strong>ZESO</strong> 3/<strong>20</strong>
Hier bilden sich Fachleute<br />
der Sozialen<br />
Arbeit für Praxis und<br />
Wissenschaft aus.<br />
Der Master mit der Kompetenz<br />
von 3 Hochschulen<br />
Berner Fachhochschule BFH I Soziale Arbeit<br />
Hochschule Luzern – Soziale Arbeit<br />
FHS St.Gallen, Fachbereich Soziale Arbeit<br />
masterinsozialerarbeit.ch<br />
MSA_Inserat_<strong>ZESO</strong>_170x130_<strong>20</strong>0107.indd 4 07.01.<strong>20</strong> 16:18<br />
Integration und Partizipation<br />
Beratung und Coaching<br />
Kinder- und Jugendhilfe<br />
Management, Recht und Ethik<br />
Gesundheit<br />
Alle Weiterbildungsangebote zu diesen und vielen<br />
weiteren interessanten Themen finden Sie online:<br />
Neue Impulse für Ihren professionellen Berufsalltag<br />
Die Weiterbildungen an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW in Olten und Muttenz unterstützen Sie<br />
dabei, sich fachlich und persönlich weiterzuentwickeln. Sie erhalten neustes Wissen aus der Forschung<br />
und verknüpfen dieses mit Ihren Erfahrungen aus dem Berufsalltag.<br />
www.fhnw.ch/soziale-arbeit/weiterbildung
-<br />
Sozialberatung, Sozialhilfe<br />
und Sozialversicherungen<br />
CAS Soziale Sicherheit<br />
22 Studientage, Februar bis November <strong>20</strong>21<br />
CAS Sozialberatung<br />
<strong>20</strong> Studientage, Start mit dem Fachkurs Sozialberatung<br />
Fachkurs Beratung von jungen Erwachsenen<br />
6 Kurstage (davon 4 Präsenztage), 14./15. Oktober<br />
und 4./5. November <strong>20</strong><strong>20</strong><br />
Fachkurs Beratung von Menschen mit Migrationshintergrund<br />
6 Kurstage (davon 4 Präsenztage), 26./27. November<br />
und 17./18. Dezember <strong>20</strong><strong>20</strong><br />
Kurs Einführung Sozialhilfe<br />
4 Kurstage, 30. Oktober, 17. November sowie<br />
3. und 9. Dezember <strong>20</strong><strong>20</strong><br />
Alle Informationen unter<br />
bfh.ch/soziale-sicherheit<br />
Jetzt weiterbilden.<br />
Coaching und Beratung<br />
sowie Soziale Arbeit<br />
ost.ch/wb-sozialearbeit<br />
Ins_ZeSo_OST_170x130_4c_CoachingSA.indd 1 30.07.<strong>20</strong><strong>20</strong> 08:54:01