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Im Havelland - Kunsthof Bahnitz

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Landpartie<br />

A us dem Norden kommend zieht der Fluss Havel<br />

gemächlich durch das flache Land. Er bildet weiträumige<br />

Überschwemmungsgebiete mit zahlreichen Nebenarmen<br />

und Kanälen, mit Inseln, Schilfgürteln und Seerosenteppichen.<br />

Mehr als 120 heimische Vogelarten, darunter die bedrohte<br />

Großtrappe, sind in dieser Landschaft zu Hause. In alten, nicht<br />

genutzten Turmbauten haben sich Fledermäuse und Schleiereulen<br />

eingerichtet. Und ab Juni kann man die Störche gut bei der<br />

Fütterung ihrer Brut beobachten.<br />

Die Stille in diesem Landstrich zwischen Rhinow, Fehrbellin,<br />

Potsdam und Brandenburg suchte bereits die in der Region hoch<br />

verehrte Königin Luise von Preußen, deren Todestag sich in<br />

diesem Jahr zum 200. Mal jährt. Auch Otto von Bismarck, Otto<br />

Lilienthal und Theodor Fontane schätzten die Gegend. Für<br />

Literaturfreunde sind Fontanes „Wanderungen durch die Mark<br />

160<br />

<strong>Im</strong> <strong>Havelland</strong><br />

Noch ist das Gebiet westlich von Berlin wenig bekannt<br />

und eine weitläufige Oase der Ruhe.<br />

Brandenburg“ eine empfehlenswerte Begleitung auf der Reise<br />

durchs <strong>Havelland</strong>. Er beschrieb vor 150 Jahren die Menschen,<br />

schilderte Geschichte und Architektur und beobachtete die<br />

Pflanzen- und Tierwelt. Es wird behauptet, dass er auf seinen<br />

Reisen das Schloss Nennhausen kennengelernt hat. Er soll es als<br />

Vorlage für den Wohnsitz Hohen-Cremmen von Effi Briest in<br />

seinem gleichnamigen Roman verwendet haben.<br />

Wege übers Land<br />

Reisen im <strong>Havelland</strong> ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit:<br />

Sicher fährt das Auto an viele Ziele, aber will man tief in die<br />

Landschaft gelangen, sind Fahrrad, Boot und die eigenen Füße<br />

das Allerbeste. Besonders kleine Pensionen und Ferienwohnungen<br />

sind ideenreich ausgestattet und bieten schmackhafte<br />

ländliche Küche. Eine gute Empfehlung ist die Wahl einer<br />

Unterkunft für mehrere Tage, von der aus die sternförmige


Erkundung der Gegend mit der passenden Fortbewegungsart<br />

starten kann. Unsere Rundreise führt uns durch gepflegte Dörfer<br />

und hübsch herausgeputzte Städtchen. Die meisten der ehemaligen<br />

Schlösser und Herrensitze haben alte oder neue Besitzer,<br />

die ihr Bestes für die detailgetreue Restaurierung der Anwesen<br />

und deren Bewirtschaftung getan haben und täglich neu tun.<br />

Herr von Ribbeck<br />

Wir beginnen in der Stadt Brandenburg an der Havel und<br />

fahren auf einer der wunderschönen Deutschen Alleenstraßen,<br />

von denen das Land Brandenburg einige zu bieten hat. Ab<br />

Brandenburg hält man sich rechts und fährt auf der Allee<br />

über Päwesin bis Nauen. Am Landgut Borsig in Groß Behnitz<br />

kommen wir vorbei und merken es uns vor. Unweit<br />

hinter Nauen in nordwestlicher Richtung erreichen wir<br />

den 800 Jahre alten Ort Ribbeck mit seiner gepflegten Park-<br />

Ein Havelfischer aus Pritzerbe<br />

Mit ihren langen Beinen können Uferschnepfen gut im Seichtwasser waten.<br />

Bockwindmühle am Gülper See<br />

Ein Biber schwimmt im Teichrosenteppich in der Havel.<br />

Reisen im <strong>Havelland</strong><br />

ist eine Frage der<br />

Verhältnismäßigkeit.<br />

und Schlossanlage. Theodor Fontane hat auf seinen Wanderungen<br />

durch die Mark nach einer Sage das Gedicht über Herrn<br />

von Ribbeck und seinen Birnbaum geschrieben. Dem Gutsherrn,<br />

der Mitte des 18. Jahrhunderts gestorben ist, setzte er<br />

damit ein Denkmal: Herr von Ribbeck hatte einen Birnbaum in<br />

seinem Garten, dessen saftige Früchte er gern den Mädchen und<br />

Jungen des Dorfes gab. Er hatte aber auch einen knauserigen<br />

Sohn, von dem er nicht erwarten konnte, dass er einmal<br />

genauso freigiebig Birnen spendieren würde wie der Vater. Also<br />

ließ sich der alte von Ribbeck eine Birne ins Grab legen. <strong>Im</strong><br />

dritten Jahr wuchs ein Baum heran. In dessen Laub war das<br />

Flüstern vom Herrn zu hören: „Wiste ’ne Beer?“<br />

Den Birnbaum gab es in der Tat. Er stand in der Nähe der<br />

Kirche über der Gruft der Familie und ist 1911 bei einem<br />

Sturm umgefallen. Ein Nachfolger, mittlerweile Nummer drei,<br />

muss seine Pracht noch entwickeln.<br />

161


Herr von rIbbeck<br />

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im <strong>Havelland</strong>,<br />

Ein Birnbaum in seinem Garten stand,<br />

Und kam die goldene Herbsteszeit<br />

Und die Birnen leuchteten weit und breit,<br />

Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl,<br />

Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,<br />

Und kam in Pantinen ein Junge daher,<br />

So rief er: „Junge, wiste ’ne Beer?“<br />

Und kam ein Mädel, so rief er: „Lütt Dirn,<br />

Kumm man röwer, ick hebb ’ne Birn.“<br />

So ging es viel Jahre, bis lobesam<br />

Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.<br />

Er fühlte sein Ende. ’s war Herbsteszeit,<br />

Wieder lachten die Birnen weit und breit;<br />

Da sagte von Ribbeck: „Ich scheide nun ab.<br />

Legt mir eine Birne mit ins Grab.“<br />

Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus,<br />

Trugen von Ribbeck sie hinaus,<br />

Alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht<br />

Sangen „Jesus meine Zuversicht“,<br />

Und die Kinder klagten, das Herze schwer:<br />

„He is dod nu. Wer giwt uns nu ’ne Beer?“<br />

So klagten die Kinder. Das war nicht recht –<br />

Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht;<br />

Der neue freilich, der knausert und spart,<br />

Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt.<br />

Aber der alte, vorahnend schon<br />

Und voll Mißtraun gegen den eigenen Sohn,<br />

Der wußte genau, was damals er tat,<br />

Als um eine Birn’ ins Grab er bat,<br />

Und im dritten Jahr aus dem stillen Haus<br />

Ein Birnbaumsprößling sproßt heraus.<br />

Und die Jahre gingen wohl auf und ab,<br />

Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,<br />

Und in der goldenen Herbsteszeit<br />

Leuchtet’s wieder weit und breit.<br />

Und kommt ein Jung’ übern Kirchhof her,<br />

So flüstert’s im Baume: „Wiste ’ne Beer?“<br />

Und kommt ein Mädel, so flüstert’s: „Lütt Dirn,<br />

Kumm man röwer, ick gew’ di ’ne Birn.“<br />

So spendet Segen noch immer die Hand<br />

Des von Ribbeck auf Ribbeck im <strong>Havelland</strong>.<br />

Theodor Fontane<br />

Museum, Schnaps und Birnenkuchen<br />

Schloss Ribbeck hatte wie so viele märkische Schlösser<br />

besonders in der Nachwendezeit ein wechselvolles Schicksal zu<br />

bestehen. Heute ist aus den Einzelobjekten des Ortes ein<br />

funktionsfähiges Ensemble geworden. <strong>Im</strong> Schloss befinden<br />

sich Museum, Hotel und Restaurant. Der Nachfahr der Familie<br />

Ribbeck, Friedrich von Ribbeck, und seine Frau Ute stellen<br />

im Gebäude der alten Brennerei Essig und Essigprodukte<br />

aus Birnen her.<br />

<strong>Im</strong> alten Waschhaus hat die Kunsthandwerkerin Marina<br />

Wesche ein Café eingerichtet, in dem es selbst gemachte<br />

Birnentorte und Birnen-Windbeutel sowie weitere Gerichte<br />

mit Birnen gibt. Außerdem hat sie Gegenstände rund ums<br />

Waschen gesammelt und überrascht die Gäste zusätzlich<br />

mit schönen alten Dingen, die sie neu verwendet.<br />

162<br />

Den Birnbaum aus dem Gedicht Fontanes gibt es<br />

nicht mehr. Nun wächst ein Nachfolger heran.<br />

Marina Wesche<br />

backt Birnentorten.<br />

<strong>Im</strong> Spielzeugmuseum<br />

in Kleßen<br />

Legende von Ritter Kahlbutz<br />

Auf der Weiterfahrt in nördlicher Richtung liegt die hübsch<br />

anzuschauende, kleine Stadt Friesack. Man muss sich durchfragen,<br />

um die Sieben-Brüder-Eichen zu finden. Aus dem Wurzelstock eines<br />

etwa 250 Jahre alten Baumes sind sieben kräftige Stämme gewachsen,<br />

um die sich verschiedene Legenden ranken wie zum Beispiel,<br />

dass hier sieben schwedische Offiziere begraben worden seien.<br />

Unweit der Sieben-Brüder-Eichen befindet sich versteckt am<br />

Wegesrand ein alter jüdischer Friedhof; auch ihn muss man suchen.<br />

Bei Neustadt/Dosse erreichen wir den kleinen Ort Kampehl. In der<br />

denkmalgeschützten Backsteinkirche liegt die gut erhaltene Mumie<br />

des Ritters Kahlbutz in einem gläsernen Sarg. Inzwischen hört man,<br />

dass er die brandenburgische Antwort auf Ötzi sei.<br />

Kahlbutz soll 1690 einen Schäfer erschlagen haben, weil dessen<br />

Verlobte dem Ritter das Recht der ersten Nacht verweigerte.<br />

Vor Gericht leugnete er die Tat und schwor, dass er nicht zu<br />

Staub würde, falls er gelogen habe. Seit mehr als 300 Jahren<br />

liegt nun die Mumie im Sarg und – so sagt die Legende – der<br />

Geist des Ritters irre rast- und ruhelos umher.<br />

In gemächlicher Fahrt auf der Landstraße in südlicher<br />

Richtung fallen dem Beifahrer mit der Landkarte auf den Knien<br />

eigenwillige Ortsnamen auf: Da gibt es zum Beispiel Knoblauch,


Sieben-Brüder-<br />

Eichen: Aus dem<br />

Wurzelstock sind<br />

sieben kräftige<br />

Stämme gewachsen.<br />

Schloss Klessen wurde liebevoll restauriert. <strong>Bahnitz</strong>er Weg<br />

Kotzen, Ohnewitz, Schmerzke, Witzke, Spaatz, Protzen und<br />

auch Wassersuppe. Sie waren schon ein verschmitztes Völkchen,<br />

die Havelländer!<br />

Zu Gast im Schloss Klessen<br />

Über Dreetz und Giesenhorst gelangen wir zum Schloss Klessen,<br />

das mit vollem Recht „Märkischer Edelstein“ genannt wird.<br />

Hier war die Familie von Bredow zu Hause, nach Fontane ein<br />

„urmärkisches Geschlecht“. Zum Anwesen gehören das dreiflügelige<br />

Herrenhaus, ein stilvoller Garten, die Orangerie, die Kirche<br />

und ein Park.<br />

Die heutige Besitzerfamilie Thiedig fand auf ihren eigenen<br />

Wanderungen durch die Mark die einst verfallenen Gebäude und<br />

den verwilderten Park. Sie hat das Ensemble über sechs Jahre<br />

behutsam, in authentischer Qualität und mit einem fest umrissenen<br />

Konzept für den künftigen Betrieb restauriert. Daneben<br />

liegt das Spielzeugmuseum: eine Sammlung von altem Spielzeug<br />

aus Holz und Blech, Puppen, kleinen Maschinchen, Zinnfiguren<br />

und nicht zuletzt Puppenstuben und Kasperletheater – mehr als<br />

200 Jahre alte Zeitzeugen. Außerdem gibt es einen kleinen<br />

Laden, der nachgebautes altes Spielzeug und Reprints alter<br />

Kinderbücher anbietet.<br />

„Ich sitze hier und schneide Speck ...“<br />

Das Forsthaus Lochow in der Umgebung war die Heimat der Schriftstellerin<br />

Ilse von Bredow. Ihr Vater war nicht der Erstgeborene und<br />

erbte somit nicht das Schloss. Er erlernte den Beruf des Försters und<br />

wohnte mit seiner Familie im Forsthaus. Ilse von Bredow wurde 1922<br />

geboren und lebt heute in Hamburg. Ihre Bücher sind heitere Erinnerungen<br />

an die sorgenfreie Kindheit und Jugend der Bredow-Kinder.<br />

Das erste Buch „Kartoffeln mit Stippe“ galt als Bestseller seiner Zeit.<br />

Sätze wie „Ich sitze hier und schneide Speck“ oder „Deine Keile<br />

kriegste doch“ sind in den festen Sprachgebrauch übergegangen.<br />

Gedenkstätte für Otto Lilienthal<br />

Die Fahrt zum 110 Meter hohen Gollenberg im Ort Stölln lohnt<br />

sich für alle, die sich für die Wiege der Fliegerei interessieren.<br />

Dort arbeitete der große Pionier der Lüfte Otto Lilienthal<br />

unermüdlich an seiner Idee, die Welt des Fliegens zu erobern<br />

(lesen Sie auch unser Calendarium auf Seite 91). Über einer<br />

kleinen Fläche, die heute als ältester Flugplatz der Welt gilt,<br />

stürzte er im Jahre 1896 ab. <strong>Im</strong> Düsenflugzeug Typ IL 62 ist eine<br />

Lilienthalgedenkstätte eingerichtet, die nach seiner Frau „Lady<br />

Agnes“ getauft wurde. Wer heiraten möchte, kann das sogar in<br />

diesem Flugzeug tun.<br />

163


Zur Mündung<br />

Weiter geht es über Rhinow zum Gülper See, wo bei Prietzen<br />

eine Bockwindmühle zu sehen ist. Solche Mühlen gibt es im<br />

<strong>Havelland</strong> noch in Ketzin, Ketzür, Bamme (430 Jahre alt) und<br />

die fast 500 Jahre alte Mühle in Werder, die zu den Wahrzeichen<br />

dieser Stadt gehört.<br />

Bei Strodehne befindet sich einer der wichtigsten Rastplätze für<br />

Zugvögel, vor allem Wildgänse, die im Frühling über einen<br />

Aussichtspunkt oder vom Naturlehrpfad aus beobachtet werden<br />

können. Wer den Reiz einer Flussmündung erleben möchte, fährt<br />

über die Brücke zum linken (westlichen) Ufer der Havel und weiter<br />

in nördlicher Richtung ins Städtchen Havelberg mit seinem<br />

überragenden Dom und der bestens restaurierten Altstadt. Die<br />

eigentliche Mündung der Havel in die Elbe liegt weitere zehn<br />

Kilometer nördlich, zuvor bildet der Fluss noch einmal verwirrende<br />

Arme und Inselchen.<br />

Historische Nadelwehre<br />

Die Fahrt zurück auf der Landstraße führt nach Garz, einen<br />

idyllisch gelegenen alten slawischen Ort mit einer liebevoll<br />

restaurierten achteckigen Kirche, die zu den kleinen, kaum<br />

164<br />

In Stölln machte Otto Lilienthal seine<br />

Flugversuche. Ein Museum ist in diesem<br />

Düsenflugzeug eingerichtet.<br />

Durch Herausziehen und Setzen der<br />

Nadeln der Nadelwehre in Garz (Bild) und<br />

Grütz werden die Wasserstände reguliert.<br />

Auf einer Havelinsel liegt der historische Kern von Havelberg.<br />

Die Stadt gehört nicht mehr zum Land Brandenburg, sondern zu Sachsen-Anhalt.<br />

So lässt es sich gut leben: Der Hund eines<br />

Fischers begleitet seinen Herrn bei der Arbeit.<br />

Tagelöhner, die in Rathenow ihr Geld mit dem<br />

Löschen der Schiffe verdienten, vertrieben sich<br />

in den Pausen die Zeit mit Spucken. Das<br />

Denkmal der Schleusenspucker erinnert an sie.<br />

bekannten Perlen des <strong>Havelland</strong>es gehört. In Garz gibt es eines der<br />

beiden im <strong>Havelland</strong> noch existierenden historischen und voll<br />

funktionstüchtigen Nadelwehre. Eigentlich ist der Begriff „Nadeln“<br />

irreführend, denn es handelt sich um stabile, etwa vier Meter lange<br />

Aluminium-Profile (früher waren es Holzstangen), die quer zur<br />

Fließrichtung stehen.<br />

Nadelwehre sind keine Schleusen, denn sie dienen der vorausschauenden<br />

Regulierung des Wasserstandes und bleiben mitunter<br />

offen für durchziehende Fische. Gut 15 Kilometer südlich hat der<br />

kleine Ort Grütz das zweite der Nadelwehre aufzuweisen. Auch hier<br />

kann man beobachten, wie durch Herausziehen oder Einsetzen der<br />

„Nadeln“ wechselnde Wasserstände reguliert werden.<br />

Schleusenspucker von Rathenow<br />

Ein kurzer Abstecher führt nach Rathenow, die rund 800 Jahre<br />

alte Kreisstadt des <strong>Havelland</strong>es mit der Sankt-Marien-Andreas-<br />

Kirche. Der Dreißigjährige Krieg führte zum fast vollständigen<br />

Niedergang der Stadt, nur 40 Bürger überlebten das Chaos.<br />

Rathenow wurde durch die Erfindung einer Schleifmaschine für<br />

Brillengläser zum Zentrum für deren Herstellung und hat<br />

Weltruf als „Brillenstadt“ erlangt. An der Stadtschleuse befindet


In diesem Haus wurde Carl Bolle geboren.<br />

Die Milower Fachwerkkirche hat<br />

einen fein gearbeiteten Holzaltar.<br />

sich das kuriose Denkmal der Schleusenspucker, das erst 2006<br />

anlässlich der Landesgartenschau errichtet wurde. Erinnert wird<br />

damit an Tagelöhner, die ihren Lebensunterhalt mit dem Löschen<br />

der Ladung von Schiffen verdienten und sich in den langen<br />

Pausen im Spucken übten. In Rathenow begann die politische<br />

Laufbahn des späteren deutschen Reichskanzlers Otto von<br />

Bismarck. Er wurde 1875 zum Ehrenbürger ernannt und man<br />

baute ihm einen Turm auf dem Weinberg, der heute eines der<br />

Wahrzeichen der Stadt und beliebtes Ausflugsziel ist.<br />

Milch-Bolle<br />

Wieder am linken Ufer der Havel führt die Route in südlicher<br />

Richtung über Böhne nach Milow. Wer hier in die Kirche geht, tut<br />

das nicht unbedingt zur Andacht, sondern er braucht Geld – in<br />

der Kirche ist auch die Bank! Die zweite Kirche, vor 360 Jahren im<br />

Fachwerkstil erbaut, hat einen fein gearbeiteten Holzaltar, den<br />

man sich unbedingt ansehen sollte.<br />

Aus Milow stammt Carl Bolle, der vor 180 Jahren hier geboren<br />

wurde – bei Berlinern als Milchmann wohlbekannt. Bolle war ein<br />

begnadeter Geschäftsmann voller kreativer Ideen, zupackend und<br />

mit einem glücklichen Händchen. Nach einer seiner Ideen wurde<br />

Auf Exkursionen lässt sich das außergewöhnliche Balzverhalten der<br />

Großtrappe beobachten. Sie zählt zu den größten flugfähigen Vögeln.<br />

eIn blIck zurück<br />

1 300 Jahre ist es her, dass die<br />

ersten Siedler die nasse<br />

Gegend und das ausgedehnte<br />

Überschwemmungsland für<br />

sich nutzbar machten. Auf<br />

Grund- und Endmoränenplatten<br />

– das sind inselförmige<br />

Erhebungen, die sogenannten<br />

„Ländchen“ – entstanden die<br />

ersten Dörfer und später die<br />

Städte. Albrecht der Bär, ein<br />

mächtiger deutscher Fürst aus<br />

der Dynastie der Askanier,<br />

erbte im 12. Jahrhundert das<br />

Land Brandenburg und holte<br />

Zuwanderer aus Sachsen, den<br />

Niederlanden und vom<br />

Oberrhein ins Land. Mit deren<br />

Wissen und Können blühte die<br />

Region auf. In der Folgezeit<br />

entstand die spätere Stadt<br />

Brandenburg. Sie bietet drei<br />

Stadtkerne, die vom Dom<br />

St. Peter und Paul überragt<br />

werden. Vor gut 250 Jahren<br />

begann die großflächige<br />

Trockenlegung in der Region,<br />

was eine gewaltige Veränderung<br />

der Lebensgewohnheiten, der<br />

wirtschaftlichen Situation und<br />

der Umwelt zur Folge hatte.<br />

die Milch von den Bauernhöfen eingesammelt, nach Berlin<br />

gebracht und gleich an den Haustüren verkauft. Schon bald hatte<br />

er auch 150 eigene Kühe, 100 Pferdewagen und 2 000 Milchjungs<br />

und -mädchen, die in adrettes Weiß gekleidet waren.<br />

Überlieferungen bezeichnen Carl Bolle als Vollblutmann, der<br />

keinem Glas und keinem Spaß abgeneigt war. Einige Redewendungen<br />

wie die „Milchmädchenrechnung“ sind heute noch<br />

Belege seines Wirkens. Eines der Mädchen konnte nur kleine<br />

Zahlen multiplizieren, was von den gewitzten Hausfrauen<br />

weidlich ausgenutzt wurde. Auch „frech wie Bolle“ oder „Ick<br />

hab mir wie Bolle aufm Milchwagen amüsiert“ gehen auf ihn<br />

zurück. Der Volksmund hat viele Lieder gedichtet, die gern auf<br />

den Refrain „… aber dennoch hat sich Bolle janz feste amüsiert!“<br />

enden. Die als Sommersitz errichtete Villa Bolle in Milow<br />

ist heute eine Jugendherberge, leider kein Museum.<br />

Balz der Großtrappe<br />

In Milow befindet sich das Informationszentrum des Naturparks<br />

Westhavelland, der rund 1300 Quadratkilometer zwischen Neustadt<br />

an der Dosse, Pritzerbe und Friesack umfasst. In diesem großen<br />

Gebiet gibt es eiszeitliche Moore und Sumpfgebiete wie das Rhin-<br />

165


luch, das Drosselbruch und das Havelländische Luch. Durch die<br />

Arbeit des Naturparks soll zuallererst die einmalige Naturlandschaft<br />

mit ihrer besonderen Tier- und Pflanzenwelt erhalten werden und<br />

die Havel durch den Rückbau von Uferbefestigungen sowie das<br />

Öffnen von alten Wasserarmen und gestauten Wasserflächen<br />

weitestgehend ihr altes Bett zurückbekommen. Wechselnde<br />

Ausstellungen informieren über Geschichte und Kultur der Region<br />

sowie das Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen.<br />

Der Naturpark bietet auch geführte Exkursionen zu den Großtrappen<br />

an. Die bis zu 17 Kilogramm schweren Tiere zählen zu den<br />

größten flugfähigen Vögeln der Welt. <strong>Im</strong> Havelländischen Luch bei<br />

Buckow haben die vom Aussterben bedrohten Großtrappen einen<br />

ihrer letzten Lebensräume hierzulande. <strong>Im</strong> April und Mai können<br />

sie auf versteckten Flächen bei ihrem ungewöhnlichen Balzverhalten<br />

beobachtet werden, bei dem sie ihren weißen Schwanz auf den<br />

Rücken klappen und sich in Sekundenschnelle in einen Federbusch<br />

verwandeln.<br />

Ein Ort für Künstler<br />

Südlich von Milow liegt im Ort <strong>Bahnitz</strong> eine der kleinsten Kirchen<br />

Deutschlands und der <strong>Kunsthof</strong> <strong>Bahnitz</strong>, in dem ganzjährig<br />

Malkurse angeboten werden. Betreiberin des <strong>Kunsthof</strong>es ist Melodie<br />

Ebner-Joerges. Sie wurde in den USA geboren, hat Malerei studiert<br />

und suchte in Berlin ein Atelier. Durch Freunde ist sie in den Ort<br />

<strong>Bahnitz</strong> gekommen. Es war Zufall und Liebe auf den ersten Blick –<br />

aus dem verfallenden Dorfgasthof hat sie gemeinsam mit ihrem<br />

Mann und einigen Künstlerkollegen ein schmuckes Anwesen mit<br />

166<br />

Malsaal des <strong>Kunsthof</strong>es <strong>Bahnitz</strong><br />

Melodie Ebner-Joerges Wappen von Pritzerbe<br />

Das Landgut Borsig war einst ein landwirtschaftliches Mustergut.<br />

einem Rosengarten und vielen Möglichkeiten für Gäste und<br />

Naturinteressierte geschaffen. Melodie Ebner-Joerges sieht ihr<br />

Wirken im <strong>Kunsthof</strong> als Einheit von Atelier, Küche und Garten. In<br />

den liebevoll eingerichteten sieben Zimmern des Gästehauses (Bed<br />

und Breakfast) kann man mehrere Tage Station machen und von<br />

hier aus zu Fuß mit dem Rad oder Boot die schönsten Fleckchen<br />

erkunden. Am ersten Maiwochenende öffnen die ansässigen<br />

Künstler ihre Ateliers für Besucher.<br />

Fisch aus der Havel<br />

Nach wenigen Kilometern erreichen wir Pritzerbe mit der rustikalen<br />

Marienkirche. Die ehemalige Fischerstadt wurde an beiden Seiten<br />

der Havel gebaut und besitzt seit 1062 Jahren Stadtrecht. Die<br />

Gaststätte „Am Kreuzdamm“ bietet gern einheimische Fischarten<br />

wie Zander, Hecht und Plötze an, die von den leider immer weniger<br />

werdenden Fischern aus der Havel gefangen werden. Pritzerbe bildet<br />

das südliche Tor zum Naturpark Westhavelland.<br />

Über Brandenburg machen wir uns zum Ausklang unserer Reise die<br />

Freude, noch einmal über die Deutsche Alleenstraße zu fahren und<br />

das Landgut Borsig in Groß Behnitz zu besuchen. Die „A. Borsig<br />

Maschinenbauanstalt“ richtete Ende des 19. Jahrhunderts in Groß<br />

Behnitz ein landwirtschaftliches Mustergut ein, das damals bereits<br />

mit modernen landwirtschaftlichen Methoden geführt wurde. Mit<br />

den Erzeugnissen wurden auch die Kantinen der Borsig-Werke<br />

versorgt. Seit etwa zehn Jahren ist das gründlich und liebevoll<br />

sanierte Landgut ein etwa 20 000 Quadratmeter großes Ensemble<br />

mit Hotel und Gastronomie.


Blick in eine Allee. Davon hat das<br />

Land Brandenburg einige zu bieten.<br />

entlang der Havel Die Quellwässer der Havel liegen bei Ankenberg<br />

im Nationalpark Müritz in Mecklenburg-Vorpommern. Aus dem schmalen Bach wird ein<br />

typischer Flachlandfluss, der etwa 350 km lang ist. Sein Lauf beschreibt einen lang gezogenen<br />

Dreiviertelbogen. Damit mündet der Fluss nur in etwa 70 km Luftlinie von seiner<br />

Quelle entfernt hinter Havelberg bei Gnevsdorf in die Elbe. Er fließt in großen Mäandern<br />

durch die eiszeitlich geformte Landschaft und bildet mit seinem fast trägen Lauf immer<br />

wieder kleine und größere Seen, tief gestaffelte Nebenarme und Altwässer, Inseln und ausgedehnte<br />

Auen. Große Teile davon sind als Naturschutzgebiete und als „Flächen von internationaler<br />

Bedeutung“ ausgewiesen. Der Fluss fließt an Berlin und Potsdam vorbei – auch<br />

der Wannsee ist einer der Havelseen.<br />

Tipp: Der Havelradweg führt von den Quellwässern bis zur Mündung (www.havel-radweg.de);<br />

Karte: bikeline Radtourenbuch „Havel-Radweg“, Verlag Esterbauer,<br />

ISBN 978-3-85000-235-6, 11,90 €<br />

ELBE<br />

Havelberg<br />

Strodehne<br />

Garz<br />

HAVEL<br />

Gülper See<br />

188<br />

Grütz<br />

Rhinow<br />

Stölln Kleßen<br />

102<br />

Neustadt<br />

(Dosse)<br />

Gollenberg Friesack<br />

Rathenow<br />

Pritzerbe<br />

Havelsee<br />

Milow<br />

<strong>Bahnitz</strong><br />

Beetzsee<br />

Plauer See<br />

Kampehl<br />

Hohennauener<br />

See<br />

A2<br />

5<br />

Fehrbellin<br />

Ribbeck A10<br />

Nauen<br />

Groß Behnitz<br />

A24<br />

Päwesin<br />

HAVEL<br />

273<br />

BRANDENBURG 1<br />

a.d. Havel<br />

Rietzer<br />

See<br />

Werder<br />

A9<br />

BERLIN<br />

HAVEL<br />

POTSDAM<br />

Schwielowsee<br />

A10<br />

InformatIon<br />

• Tourist-Information Brandenburg a. d. Havel,<br />

Neustädtischer Markt 3, 14776 Brandenburg<br />

a.d. Havel, Tel.: 0 33 81/20 87 69,<br />

www.stg-brandenburg.de<br />

• Touristinformationsbüro Fremdenverkehrsverein<br />

Westhavelland e. V., Freier Hof 5,<br />

14712 Rathenow, Tel.: 0 33 85/51 49 91,<br />

www.fvv-westhavelland.de<br />

• Touristische Informationen, Am Birnbaum 3,<br />

14641 Ribbeck, Tel.: 03 32 37/8 54 58,<br />

www.touristeninfo-ribbeck.de<br />

ScHlöSSer/kulInarIScH<br />

• Schloss Ribbeck GmbH, Theodor-<br />

Fontane-Straße 10, 14641 Ribbeck,<br />

Tel.: 03 32 37/8 59 00, www.ribbeckhavelland.de,<br />

Homepage der Familie<br />

von Ribbeck: www.vonribbeck.de,<br />

Waschhaus: Tel.: 03 32 37/8 51 06<br />

• Schloss Klessen, Lindenplatz 1,<br />

14728 Kleßen, Tel.: 03 32 35/2 900 44,<br />

www.schloss-klessen.de, Öffnungszeiten<br />

Garten und Café, Mai bis Oktober:<br />

Mi – So von 11 – 17 Uhr,<br />

Gartenfest: 6. Juni 2010, ab 11 Uhr<br />

• Spielzeugmuseum im Schloss Klessen,<br />

Schulweg 1, 14728 Kleßen,<br />

Tel.: 03 32 35/2 93 11,<br />

www.spielzeugmuseum-havelland.de,<br />

Öffnungszeiten: Mi – So 11 – 17 Uhr<br />

• Gasthof am Kreuzdamm, Puschkinstraße 8,<br />

14798 Havelsee-Pritzerbe, Tel.: 03 38 34/<br />

5 02 35, www.am-kreuzdamm.de<br />

• Landgut A. Borsig GmbH & Co KG,<br />

Behnitzer Dorfstraße 29–31, 14641 Nauen,<br />

Ortsteil Groß Behnitz, Tel.: 03 32 39/20 80 60,<br />

www.landgut-aborsig.de<br />

• Otto Lilienthal Flugzeug „Lady Agnes“,<br />

Am Gollenberg 10, 14728 Gollenberg-<br />

Stölln, Tel.: 03 38 75/3 20 20,<br />

www.otto-lilienthal.de, Öffnungszeiten:<br />

April bis Okt.: Mo – So 10 – 17 Uhr;<br />

November bis März: Sa + So 11 – 16 Uhr<br />

natur<br />

• Besucherzentrum Milow, Stremmestraße 10,<br />

14715 Milower Land, Tel.: 0 33 86/21 12 27,<br />

http://brandenburg.nabu.de/naturerleben/<br />

zentren/, Öffnungszeiten:<br />

April bis Oktober: Di – So 10 – 17 Uhr;<br />

November bis März: Mi – Fr 10 – 16 Uhr<br />

(Exkursionen zu den Großtrappen: 24. und<br />

30. April, 1., 8., 15. und 22. Mai 2010<br />

jeweils ab 17 Uhr vom Parkplatz Vogelschutzwarte<br />

Buckow aus. Weitere Exkursionen<br />

unter: www.großtrappen.de)<br />

kunSt<br />

• <strong>Kunsthof</strong> <strong>Bahnitz</strong>/Malschule (b & b)<br />

Dorfstraße 33, 14715 Milower Land,<br />

Ortsteil <strong>Bahnitz</strong>, Tel.: 03 38 77/9 07 14,<br />

www.kunsthof-bahnitz.de<br />

■ Text: Monika Heerling, Fotos: Gerhard Bußmann (18),<br />

Neeltje Reijerman (6), Mauritius (1)

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