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Leseprobe_Josef Strauss Associationen

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Ingomar Rainer<br />

darstellt) 4 transferiert werden. Gerade der im Novecento meistbewunderte und<br />

-geschätzte Komponist hatte – genau besehen – ein Leben lang nichts anderes<br />

als Gebrauchs- und Gesellschaftsmusik geschrieben, zu freilich sehr vielfältigem<br />

und differenziertem Gebrauch. Tanzmusik war eine Funktion unter anderen, die<br />

gelegentlich zu bedienen war.<br />

Die ‚Unterhaltung‘ mittels und durch Musik war unter dem ancien regime eine<br />

höchst wichtige, ja sogar nötige Funktion, musste sie doch den ennui, die Langeweile<br />

bannen und damit die gesellschaftlich und politisch so gefährliche Melancholie<br />

verhindern oder, wenn sie sich eingestellt hatte, vertreiben. 5 Die ‚Zerstreuung‘<br />

schädlicher Gedanken, das Divertissement, war soziales Beruhigungsmittel,<br />

das otium Beschäftigung, aber nicht Geschäft. Das Titelblatt für „sein instrumentales<br />

Hauptwerk“ 6 sagt es ganz deutlich:<br />

Das Wohltemperirte Clavier, oder Praeludia, und Fugen durch alle Tone und<br />

Semitonia, [...]. Zum Nutzen und Gebrauch der Lehr-begierigen Musicalischen<br />

Jugend, als auch derer in diesem studio schon habil seyenden besonderem Zeit Vertreib<br />

auffgesetzet und verfertiget von Johann Sebastian Bach [...]. Anno 1722.<br />

Solchermaßen ist die „reine“, die „absolute“ Musik von vornherein Unterhaltung,<br />

Bachs Zeit-Vertreib, passe temps im besten Sinne. Gerade unser Beispiel<br />

zeigt auch, wie eine solche, als Didaktik und Unterhaltung konzipierte Musik,<br />

völlig jenseits des Horizonts ihres Schöpfers zur absoluten mutieren konnte: aus<br />

einer Musik für Spieler wurde eine solche für Zuhörer. Das Ergebnis sehen wir<br />

als erfüllte Zeit, keineswegs als eine leere, die es irgendwie zu „vertreiben“ gilt. 7<br />

Die Erfindung des deutschen Terminus „Unterhaltungsmusik“, deren Urheberschaft<br />

oder zumindest erstmals nachgewiesene Verwendung Johann <strong>Strauss</strong> (Vater)<br />

1845 zugeschrieben wird, 8 stellt keineswegs etwas grundsätzlich Neues in der<br />

abendländischen Musikkultur dar: Es ist quasi die Adaptierung des ehemals der<br />

4 Zur Analogie der Präsentation von Kunst im Museum und im Konzertritual (zumal bei der Aufführung<br />

Alter Musik) vgl. John Butt: Playing with History. The Historical Approach to Musical Performance,<br />

Cambridge: Cambridge UP, 2002, S. 171–187 [unter dem Begriff einer „heritage industry“].<br />

5 Vgl. dazu grundlegend Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt/M.: suhrkamp tb,<br />

1972, bes. S. 46–65; [zur Operette S. 95].<br />

6 Theodor W. Adorno: „Bach gegen seine Liebhaber verteidigt“, in: Kulturkritik und Gesellschaft I<br />

(= Ges. Schriften Bd. 10.1), Frankfurt/M.: suhrkamp, 1977, S. 143.<br />

7 Zu Mythos und Musik als „Apparat[e] zur Beseitigung der Zeit“, eine Art Zeitvernichtungsmaschinen<br />

[im Original „machines à supprimer le temps“] vgl. Claude Lévi-<strong>Strauss</strong>: Mythologica I:<br />

Das Rohe und das Gekochte, aus dem Französ. von Eva Moldenhauer, Frankfurt/M.: suhrkamp,<br />

1976, S. 31.<br />

8 Norbert Linke: „Recherchen und Funde. Einige Anmerkungen zur Notwendigkeit, Original-Materialien<br />

zu sichten und auszuwerten“, in: Die Fledermaus. Hg. vom Wiener Institut für <strong>Strauss</strong>-Forschung,<br />

Mitteilungen 7–8 (1994), S. 49 und Zitat Anm. 72 (S. 52).<br />

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