Leseprobe: Dino Buzzati - Beim Giro d'Italia
Als ich heute auf dem schrecklichen Anstieg des Col d’Izoard Bartali sah, wie er ganz allein zornig vor sich hin trat, schlammbedeckt, die Mundwinkel nach unten gezogen in seelischem und körperlichem Schmerz - und Coppi war schon seit einer Weile durch, er kletterte bereits die letzten Steilstücke des Passes hoch -, da stieg in mir ein in dreißig Jahren nie vergessenes Gefühl auf. Vor dreißig Jahren, das war, als ich erfuhr, dass Hektor von Achill getötet worden war. So erzählt der berühmte italienische Schriftsteller Dino Buzzati, der im Mai und Juni 1949 den 32. Giro d’Italia im Auftrag des Corriere della Sera begleitete, von der epischen Rivalität zwischen den beiden großen Radsportlern Gino Bartali und Fausto Coppi. Die Szene verdeutlicht, wie die 25 miteinander verbundenen Texte dieses Bandes fast eher als Erzählung gelesen werden können denn als Bericht. Der Erzähler Buzzati steckt den Journalisten in die Tasche, seine Wahrnehmung verschränkt sich immer enger mit der Phantasie, seine Beschreibungen gerinnen zur zaubermächtigen existenziellen Metapher. Dino Buzzati beim Giro d’Italia, das ist: Großer Sport. Zauberhafte Literatur. Ein bedeutendes Dokument der Zeitgeschichte, das nun - endlich - auch in einer deutschen Übersetzung vorliegt.
Als ich heute auf dem schrecklichen Anstieg des Col d’Izoard Bartali sah, wie er ganz allein zornig vor sich hin trat, schlammbedeckt, die Mundwinkel nach unten gezogen in seelischem und körperlichem Schmerz - und Coppi war schon seit einer Weile durch, er kletterte bereits die letzten Steilstücke des Passes hoch -, da stieg in mir ein in dreißig Jahren nie vergessenes Gefühl auf. Vor dreißig Jahren, das war, als ich erfuhr, dass Hektor von Achill getötet worden war.
So erzählt der berühmte italienische Schriftsteller Dino Buzzati, der im Mai und Juni 1949 den 32. Giro d’Italia im Auftrag des Corriere della Sera begleitete, von der epischen Rivalität zwischen den beiden großen Radsportlern Gino Bartali und Fausto Coppi. Die Szene verdeutlicht, wie die 25 miteinander verbundenen Texte dieses Bandes fast eher als Erzählung gelesen werden können denn als Bericht. Der Erzähler Buzzati steckt den Journalisten in die Tasche, seine Wahrnehmung verschränkt sich immer enger mit der Phantasie, seine Beschreibungen gerinnen zur zaubermächtigen existenziellen Metapher.
Dino Buzzati beim Giro d’Italia, das ist: Großer Sport. Zauberhafte Literatur. Ein bedeutendes Dokument der Zeitgeschichte, das nun - endlich - auch in einer deutschen Übersetzung vorliegt.
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Rennen ist
etwas Wunderbares
Palermo,
19. Mai, nachts.
Aufgrund einer Verkettung von Umständen, die vermutlich auf Launen
des Schicksals zurückzuführen und die zu beklagen müßig ist, hat der
Schreiber dieser Zeilen, Berichterstatter beim Giro d’Italia, nie zuvor in
seinem Leben ein Radrennen auf der Straße gesehen.
Etliches, nicht allzu vieles, hat dieser Schreiber schon auf die eine oder
andere Weise rennen sehen, über das Meer oder über Land; nie jedoch
die großen Radfahrer im Wettkampf unter sengender Sonne, Startnummer
auf dem Rücken, Schlauchreifen umgehängt und das Gesicht mit Staub
gepudert. Er hat, zum Beispiel, verspätete Kinder zur Schule rennen sehen,
Gewitterblitze über den Himmel, Leute in die Luftschutzkeller, wenn die
Sirenen heulten. Auch einen Dieb habe ich einmal rennen sehen, er flog
geradezu, weil er verfolgt wurde, in der Via Andrea del Sarto in Mailand;
dann wurde er eingeholt und verprügelt, aber beschwören könnte ich es
nicht, denn es geschah am anderen Ende der Straße und es herrschte ein
großes Durcheinander. Ich habe Strauße schnell wie Geschosse durch die
Wüste Afrikas rennen sehen; ich sah in sanften, bezaubernden Kurven
–25–
die Granaten der feindlichen Schiffe mit ihrem roten Licht durch die Nacht
sausen, und manche prallten perfekt wie Wurfscheiben vom Wasser ab
und spritzten weg als Querschläger. Ich sah Schnellzüge bei Einbruch der
Dämmerung mit schon erleuchteten Fenstern und all den Träumen und
Phantasien dahinter durch die verlassene Landschaft gleiten; und sie waren
wunderschön.
Ich habe auf der Via Aurelia, vor vielen Jahren, einen Radrennfahrer
im Trikot gesehen, der trainierte, und jemand sagte, es sei Girardengo,
aber ich glaube das nicht, weil er ihm nicht ähnlich sah. Ich sah auch den
Kurier Karls des Kühnen durch die Wälder sprengen, um dessen treuem
Knappen, der als Verräter verleumdet worden und dem der Henker gerade
dabei war, den blonden Kopf abzuschlagen, im letzten Moment die Begnadigung
zu überbringen; doch das war im Kinematographen und ist
vielleicht nicht ganz genau so geschehen. Ich habe mit eigenen Augen kurz
vor Sonnenaufgang über den Dächern von Mailand ein paar fliegende
Untertassen dahinsausen sehen; sie waren rot und hübsch anzusehen, nur
leider wollte mir niemand glauben. Ich habe die Zeit davonrennen sehen,
ach, wie viele Jahre und Monate und Tage unter uns Menschen dahinrennen
und unsere Gesichter allmählich verändern; und diese erschreckende Geschwindigkeit,
auch wenn sie nicht gemessen wird, ist gewiss viel höher
als jede jemals errechnete Durchschnittsgeschwindigkeit jedes einzelnen
Radrennfahrers, Autorennfahrers oder Raketenflugzeugpiloten seit Anbeginn
der Welt. Und schließlich fuhr auch ich meine Rennen als Junge auf
einem Fahrrad, dem ich die Schutzbleche abgenommen hatte, damit es
den Rädern der Champions ähnlicher sähe, und ich erinnere mich, dass
ich eines Abends im Park zwei ganze Runden lang, ich schwöre, am Hinterrad
von Alfonsina Strada klebte, die mich am Ende völlig ausgepumpt und
blamiert zurückließ; umso mehr, als ich, während sie davonschoss, von
einem Stadtpolizisten geschnappt wurde und Strafe zahlen musste (Geschwindigkeitsüberschreitung:
das machte damals die enorme Summe von
zwanzig Lire aus).
–26–
Etliches also habe ich rennen sehen: nie aber die Giganten der Landstraße
in einem regulären, von den höchsten radsportlichen Institutionen genehmigten
Rennen. Und das ist gewiss ein Nachteil für einen Berichterstatter,
der sich anschickt, ein Heldenepos wie den Giro ciclistico d’Italia zu schildern.
Diese meine Bildungslücke reizt, ich weiß nicht, ob aus Gutmütigkeit
oder Bosheit, meine Reisekameraden, für die der Giro eine alte Gewohnheit
ist. Und da der Giro in gewisser Weise schon vorgestern in Genua begonnen
hat, von wo ein Teil der Karawane und der Fahrer gemeinsam
über das Meer nach Neapel und von dort nach Palermo reiste (ein kurioses
Detail für die Chronik: gestern Abend, vor Capri, musste sich Serse Coppi
wegen beginnender Übelkeit überstürzt in seine Koje zurückziehen, und
auch Fausto schien sich nicht ganz wohlzufühlen, obwohl die Città di
Tunisi unbeweglich wie ein Basaltmassiv im Wasser lag), aufgrund dessen
also gab es schon reichlich Gelegenheit für diese alten Hasen, die die Weisheit
mit Löffeln gefressen haben, mich zu unterweisen und dabei ständig
für mich demütigende Anspielungen auszutauschen auf das Jahr, weißt
du noch?, als Camusso auf dem Ghisallo einen Reifenschaden hatte und
Pélissier im Ziel einen gewaltigen Streit mit Antonin Magne vom Zaun
brach. Der eine erzählte Schauergeschichten, der andere schilderte die
19 Etappen als ebenso viele erholsame Paradiese. So vieles wurde mir erzählt,
dass in jedem Fall, sei der Giro nun ein Kostümspektakel, eine Tortur,
ein gigantisches Geschäft, ein lyrisches Gedicht, eine Komödie oder ein
blutiger Krieg, dass also in jedem Fall zumindest einer von diesen Veteranen,
die mir Nachhilfe erteilen, recht behalten wird.
Einer sagt, der Giro sei ein unvergleichliches Tonikum, eine wunderbare
Landpartie, ein Pilgerzug von Wirtshaus zu Wirtshaus durch die Gastronomie
ganz Italiens. Er sagt, früher sei er jedes Jahr auf Kur nach
Montecatini gefahren, heute begleite er stattdessen den Giro und das bekomme
ihm sehr viel besser. Bei seiner Rückkehr, sagt er, sei seine Frau
stets bass erstaunt darüber, wie verjüngt er aussehe.
–27–
Ein anderer, ihm gleich an Erfahrung und Dienstalter, behauptet hingegen,
der Giro sei eine Höllenmaschine, um Menschen zu zerstören, Fahrer,
Begleiter, Manager, Journalisten, Photographen etcetera. Er sagt, drei
Wochen lang esse man nichts oder fast nichts, höchstens ein belegtes Brötchen
zum Frühstück und am Abend eine Mahlzeit, die einem aus Eile
und Erschöpfung im Hals stecken bleibe. Mit dem Schlafen, fügt er hinzu,
sei es noch schlimmer. Letztes Jahr, zum Beispiel, habe er nur an den
Ruhetagen vier Stunden am Stück geschlafen, eine ganze Nacht sei ihm
erst nach der letzten Zielankunft vergönnt gewesen. Aber ob das stimmt?
Einer sagt, das Ganze sei ein abgekartetes Spiel. Die Fahrer würden
Erster, Zweiter, Dritter und so weiter aufgrund vorherbestimmender Intrigen,
Bestechungen, obskurer übergeordneter Interessen. Wahrscheinlich
ist er ein Anhänger des dialektischen Materialismus, der alles mit den
sogenannten ökonomischen Faktoren erklärt, auch das Furunkel von
Malabrocca. Dennoch ist er suggestiv. Einfältig sei die Masse, sagt er, verrückt
die Fans, die sich erregen und nicht schlafen können, wenn ihr Liebling
im Klassement ein paar Minuten verloren hat. Der Liebling werde
schon seine Gründe gehabt haben, da könnten sie sicher sein.
Aber da ist auch der andere, nicht weniger besonnen und intelligent,
der die erhabene Reinheit des Giro beschwört. Er sieht darin eines der
letzten großen Phänomene individueller und kollektiver Mystik. Auch
wenn sie haufenweise Geld hätten, verausgabten sich die Fahrer allein für
die Idee. Die Idee, nichts anderes, bewirke die Massenansammlungen an
den Straßenrändern. Er bestreitet den Einfluss des Geldes, der Interessen,
sogar der Muskeln. Der Geist, sagt er, allein die Macht des Geistes lasse
die Räder rollen, erklimme Falzarego und Pordoi, breche Rekorde. Auserwählte
Helden sind für ihn die Champions, zelebrierende Priester die
Organisatoren, inbrünstig Glaubende die Menge der anonymen Sportsfreunde.
Und schließlich gibt es den einen, der sich den lieben langen Tag beklagt
und den verdammten Moment verflucht, in dem er zugesagt hat, auch in
–28–
diesem Jahr wieder dabei zu sein. Schon sagt er gemeine Strapazen voraus,
Regen, Unannehmlichkeiten und Wanzen in den Gasthäusern, Schnupfen.
Außerdem, beteuert er, sei das ganze Rennen eigentlich ohne Interesse,
da ein gewisser Fahrer fehle, man könne es genauso gut ausfallen lassen,
aber den Leuten sei ja alles egal. In den schlimmsten Momenten versichert
er sogar, der Radsport sei tot, mausetot, der Stoff, aus dem die Sieger sind,
sei Vergangenheit, die Tretkurbel im Jahrhundert der Atombombe ein Alteisen,
das ins Museum gehöre, und es sei lächerlich, dass man diesen Zirkus
weiterhin aufrechterhalte. Ich schaue ihn mir an. Er ist etwa 45, bärenstark
und wie immer gerade dabei, irgendeine unerwartete Attacke zu parieren;
sein Gesicht hat etwas von einem Bluthund, hart, aber sympathisch. Seit
einem Tag beobachte ich ihn aufmerksam. Ich habe nicht recht verstanden,
ob er sportlicher oder technischer Direktor oder Chefmechaniker oder der
Masseur irgendeines Teams ist. Er schimpft herum, grinst, sieht alles
schwarz, hetzt von einer Seite zur anderen, als ob sich ständig irgendetwas
überstürzen würde. Er schwitzt, flucht und raucht bis spät in die Nacht
hinein. Er wird so bleiben, nehme ich an, bis der Giro zu Ende ist. Einer
am falschen Ort, denkt man auf den ersten Blick, einer, der in einer Umgebung
arbeiten muss, die ihm ganz gegen den Strich geht. Auf den ersten
Blick. Dann habe ich es mir anders überlegt. Jetzt betrachte ich ihn, wie
er mault und herumläuft wie eine schmollende Bulldogge, ich betrachte
ihn mit außerordentlichem Vergnügen und frage mich: Wann habe ich zuletzt
einen so glücklichen Menschen gesehen?
–29–
Hundert Fahrer stürmen los
auf den Straßen Garibaldis
Palermo,
20. Mai, nachts.
Alles ist bereit. In wenigen Stunden heißt es aufstehen. Es ist Zeit zu
starten. Nach all den Feiern, Klängen, Gesängen, den Fahnen, dem bewegenden
Jubel dieser letzten beiden Tage schläft Palermo, aber nur mit
einem Auge.
Bereit stehen die Fahrräder, auf Hochglanz poliert wie edle Pferde am
Vorabend des Turniers. Getränkt wurden sie mit Öl, bis sie genug hatten.
Das rosa Schild mit der Startnummer wurde am Rahmen befestigt und
verplompt. Die schmalen Reifen sind glatt und prall wie junge Schlangen.
Die Schrauben sind angezogen, die Sattelneigung exakt eingestellt, millimetergenau
berechnet die Höhe des Lenkers. Die Räder haben ordentlich
gelernt, man könnte sagen, sie wissen jetzt alles, was es zu wissen gibt,
sie können es längst auswendig nach so vielen Trainings, Proben, Gegenproben.
Wie sollten sie auch nur ein Komma vergessen bei der großen
Prüfung? Bereit liegen die geheimen Taktiken der Rennställe, überarbeitet,
bis Nerven und Hirne nachgaben. Keine Eventualität, kein Zwischenfall,
keine Überraschung, kein böses Missgeschick, die nicht vorausbedacht
–30–
wären: wenn es regnet, wenn es nicht regnet, wenn die Asse sofort angreifen,
wenn sie eine ruhige Kugel schieben, wenn irgendein Wasserträger
ausreißt, wenn es staubig ist, wenn es warm ist, wenn es kalt ist und so
weiter.
Ganze Bände radsportlicher Weisheit sind in diese mysteriösen Strategien
eingegangen. Das Schlachtfeld ist neu, zumindest zum Teil. Viele
Regeln sind neu und gewagt: die fliegenden Etappen, die Zeitbonifikationen
für die Bergwertugen. Das hat den Generalstäben nie da gewesene
Rechenleistung, Intuition, Genialität abverlangt. Schließlich wurde, vom
General zum Oberst bis hinunter zum allerletzten Soldaten, unter größter
Geheimhaltung die Parole durchgegeben. Werden ihr die Kämpfer die
Treue halten können?
Bereit sind die Soldaten, die einhundertzwei Radrennfahrer (morgen
vielleicht Helden, oder besiegte Fußsoldaten auf beschämender Flucht?).
Heute Nacht noch, dann ist Schluss mit den Phantastereien. Ab morgen
wird ihr Schlaf hart, kompakt und schwarz wie Teer sein, um alle verfügbare
Erholung anzuhäufen, ohne den kleinsten Spalt, durch den das
täuschende Licht der Träume dringen könnte. Sie sind vorbereitet. Ihre
Muskeln haben die gebotene Elastizität erreicht. Die vorgeschriebenen
Hunderte von Kalorien sind in ihrem Verdauungstrakt verschwunden.
Der Herzschlag hat sich bei dem von den Ärzten empfohlenen Rhythmus
eingependelt. Jeder hält das Viereck aus Wachstuch mit seiner Startnummer
bereit und Nadeln, um es am Rücken zu befestigen. Jeder hat seine
kleinen Geheimwaffen dabei, von denen die anderen nichts erfahren dürfen:
den Talisman mit dem Foto der Kinder, die Medaille der Lieblingsmadonna,
die alte speckige dreckige Mütze, die unschlagbar ist als Glücksbringer,
die speziellen Schuhe mit ihrem besonders geformten Absatz,
die vor drei Jahren zu einem spektakulären Sieg führten. Weniger originell
hat einer eine Tube Simpamina in der Trikottasche versteckt, ein anderer
schwört auf den Energietrunk, den sich der Dorfapotheker eigens für
ihn ausgedacht hat.
–31–
Die Verpflegungsbeutel? Der Sportdirektor jedes Rennstalls hat sie
bereits mit väterlicher Sorge herrichten lassen, hat Art und Menge der
Speisen auf den Geschmack und die körperliche Verfassung eines jeden
Fahrers abgestimmt: dem einen ein Filet, dem anderen gekochtes Huhn,
für alle reichlich Zuckerwürfel, Brötchen mit Butter und Marmelade,
Reisküchlein, Kompottfrüchte. Bereit steht auch das Instrumentarium
des Masseurs: Pflaster, Salben, Einreibungen, Abführmittel für den Notfall;
blitzschnell wirkende Aufbaumittel. Und natürlich die »Bomben«,
dynamische Gebräue, die einen Toten vom Katafalk springen lassen wie
einen Zirkusartisten.
Bereit stehen die Fläschchen mit Tee, Kaffee, Mineralwasser. Bereit die
Ersatzteile. Bereit die Lastwagen der Werbung, die das Heer der Fahrer
in einen mitreißenden Karnevalszug verwandeln werden. Auf Punkt fünf
Uhr gestellt die Alarmzeiger der Wecker, die die Fans von Palermo morgen
rechtzeitig auf die Beine bringen sollen (die immer noch nicht genug
haben nach den Strapazen, dem Geschrei, dem Gedrängel, dem Tumult
und Irrsinn heute vor dem Gitterzaun des Teatro Politeama, wo die Fahrräder
plombiert wurden). Bereit sind in Catania, dem ersten Etappenziel,
die Jubelbotschaften für Cerami (gesprochen Seramì), den Kapitän der
belgischen Mannschaft, der in Catania geboren ist. Bereit die Blumen für
Corrieri, den Stolz Siziliens. Bereit die Rundschreiben der Polizeipräsidenten
über die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung längs der
Strecke. Bereit die Zielbänder, die Triumphbögen, die Girlanden, die Musikkapellen
mit spiegelblank polierten Blechen. Bereit sind die Stifte der
Berichterstatter, die Filmkameras, die Übertragungswagen. Bereit liegt das
gelbe Taschentuch, das unser Korrespondent Di Francesco beim Eintreffen
der Karawane am Stadteingang von Cefalù, gegenüber der Tankstelle,
als Erkennungszeichen schwenken wird.
Aber bereit ist auch der Feind, der diesmal noch stärker und furchterregender
ist als all die Jahre zuvor. Achtung, ihr Herren der Landstraße,
traut ihm nicht. Ja, Palermo hat euch wie Söhne willkommen gehei-
–32–
ßen, zwei Tage lang hat euch nichts umgeben als Beifall, Festlichkeiten,
das Lächeln schöner Mädchen. Gleich dahinter kommt nun der bittere
Nachgeschmack. Ein widerspenstiges und überaus zähes Heer habt
ihr vom ersten Tag an zu bekämpfen; es wird euch morgen, übermorgen
und von da an alle Tage euren Weg versperren. Es wird euch seine Regimenter
entgegenwerfen, die sinistre Namen tragen: Kilometer heißen
sie, Wolken und Donner (eine bedrohliche Ansammlung davon ist bereits
am Himmel zu sehen), Staub, Steigung, Scirocco, Schlaglöcher, Erschöpfung.
Eisige Schauer werden auf eure Rücken herabregnen, aufreibende Auf
und Abs werden euch zermürben, perfider Splitt wird unter euren Rädern
knirschen. Dann geht es los mit den berüchtigten Reifenschäden, mit
Zusammenstößen, Stürzen, Krämpfen, Furunkeln, Durst, falschen Abzweigungen,
Rückenschmerzen, Entmutigung und Einsamkeit. Zu den
verbotenen Waffen des Bourbonen gehören sogar die verdammten Zeitstrafen,
die Stunden über Stunden epischer Mühen verpuffen lassen und
zunichte machen. Und so geht es weiter bis zum Ende.
Wer wird durchhalten, ihr Garibaldini ohne Bajonette? Wer wird euer
Garibaldi werden? Noch habt ihr keine Generäle, noch seid ihr alle einfache
Soldaten. Die Sporen müssen verdient werden. Morgen früh geht
alles wieder von vorne los. Noch lächelt Viktoria mit ihrem unergründlichen
Gesicht euch allen, ohne Unterschied.
Es gibt unter euch formidable Krieger. Wenn man in einen neuen Krieg
zieht, kann auch das bescheidenste Herz größte Hoffnungen hegen. Man
kann nie wissen. Wer sich in der Vergangenheit mit Ruhm bedeckte,
mag im ersten Kampf geschlagen werden. Wer ergeben in der Etappe
diente, mag sich als Adler an die Spitze setzen. Und dann sind da die
neuen Rekruten, die unbekannten Jungen, denen das Schicksal vielleicht
schon einen Wink gegeben hat. Alles fängt nun von Neuem an, die Karten
sind noch nicht aufgedeckt, und unparteiisch wogt, für alle gleich
stark, die Illusion über den Startenden.
–33–
Wird das ganze Unternehmen auf ein Duell zwischen den beiden anerkannten
Assen hinauslaufen? Oder wird aus der Schar der Kadetten
plötzlich ein neuer Name aufsteigen und um die Welt gehen? Der alte
Pavesi, Entdecker von Siegern, Rutengänger künftigen Ruhms, Nestor
des Giro, runzelt diplomatisch das gutmütig mephistophelische Gesicht.
Vielleicht hat er ja, unter all den unbekannten Jungen, schon den einen
entdeckt, den das Schicksal auserkoren hat? Ist er schon unter uns, er,
der den Stern Bartalis und Coppis verblassen lassen wird? Aber der alte
Pavesi lächelt und sagt weder Ja noch Nein. »Wir werden sehen«, sagt
er, »morgen werden wir sehen.« Der Prolog ist nun zu Ende. Wir öffnen
die erste Seite des Romans. Eine lange Straße unter der Sonne, links
und rechts zwei Mauern tobender Menschheit. Und ganz hinten, gerade
erst zu erkennen, etwas Schwarzes, das näher kommt. Gott, wie der dahinfliegt!
Ein Mann auf einem Fahrrad, tiefgebeugt, allein, auf dem Weg
zum Sieg. Wer ist es? Wer? Ein Grollen nähert sich, wie ein Donner
rollt der Schrei der Menge. Wer ist es? Es gibt keine Antwort. Er ist
noch zu weit weg.
–34–
Ein Glücksfall für Freunde des Sports und der Literatur: 1949 entscheidet
sich die Mailänder Tageszeitung Corriere della Sera, Dino Buzzati als Korrespondent
zum Giro d’Italia zu entsenden. Und was sich in den folgenden
Wochen auf den Straßen eines vom Kriege gezeichneten Landes vor
den Augen des gefeierten Romanciers abspielt, gerät zu einer Sternstunde
in der Geschichte des Radsports. Das Duell zwischen den ungleichen
Nationalhelden Fausto Coppi und Gino Bartali gipfelt in einer endgültigen
Machtübernahme, die Buzzati in seinen täglichen Reportagen vom
Rennen kunstvoll zur Schlacht zwischen Achill und Hektor verdichtet.
»Dino Buzzati beim G iro d’Italia«, das ist: Großer Sport. Großer
Journalismus. Ein bedeut endes Dokument der Zeit geschichte, das
nun – endlich – auch in einer deutschen Übersetzung vorliegt.
In seiner Heimat Italien gilt Dino Buzzati (1906-1972) bis zum
heutigen Tag als einer der bedeutendsten Literaten. H ierzulande
hat insbesondere sein im Jahr 1940 veröffentlichter
Roman Die Tatarenwüste zahlreiche Neuaùagen erfahren.
Dieser Band lädt nun ein, auch den phänomenalen Reporter
Dino Buzzati zu entdecken.
ISBN 978-3-936973-95-2
9 783936 973952
covadonga