Grundschule aktuell Heft 152
Grundschule in und nach Corona
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Thema: <strong>Grundschule</strong> in und nach Corona<br />
Thema: <strong>Grundschule</strong> in und nach Corona<br />
Ursula Winklhofer, Alexandra Langmeyer, Marc Urlen, Thorsten Naab, Angelika Guglhör-Rudan<br />
Veränderte Kindheit<br />
in Zeiten von Corona<br />
Ergebnisse der DJI-Studie „Kind sein in Zeiten von Corona“<br />
Die Coronavirus-Pandemie hat den Alltag von vielen Familien von heute auf<br />
morgen auf den Kopf gestellt: Kindergarten- und Schulschließungen für die<br />
Kinder, Homeoffice für die Eltern und mangelnder Zugang zu Freizeitangeboten<br />
führten zu einer Auflösung bestehender Routinen im Tagesablauf. Neben der<br />
Aufgabe, neue Familienalltagsstrukturen zu entwickeln, bedeuteten die Kontaktbeschränkungen<br />
eine merkliche Belastung für die Familien. Nicht nur die<br />
Eltern, sondern insbesondere die Kinder waren von diesen vielfältigen Veränderungen<br />
betroffen.<br />
Der gewohnte Tagesablauf entfiel,<br />
der Kontakt zu Gleichaltrigen<br />
war extrem eingeschränkt,<br />
Freund/innen konnten nicht besucht<br />
werden. Größeren Kindern und vor<br />
allem Jugendlichen fehlten die für die<br />
persönliche Entwicklung wichtigen<br />
Freiräume jenseits des familialen Wohnumfeldes.<br />
Für Eltern bedeutete diese<br />
neue Situation, dass sie nicht nur zu<br />
Hause arbeiten und die Kinder<br />
betreuen, sondern zusätzlich die Aufgaben<br />
der Erzieher/innen und Lehrer/<br />
innen übernehmen mussten.<br />
Vor diesem Hintergrund hat das Deutsche<br />
Jugendinstitut (DJI) als eines der<br />
ersten Forschungsinstitute in Deutschland<br />
eine Onlinebefragung von Eltern<br />
mit Kindern im Alter von 3 bis 15 Jahren<br />
durchgeführt, um herauszufinden, wie<br />
Kinder die Corona-Krise erleben und<br />
bewältigen. Dank des breiten Studienaufrufs<br />
haben in der Zeit vom 22. April bis<br />
zum 21. Mai dieses Jahres 12.628 Personen<br />
aus 16 Bundesländern an der Untersuchung<br />
teilgenommen, darunter 3.944<br />
Eltern von Kindern im Grundschulalter<br />
(7 bis 10 Jahre alt). Wie in vielen anderen<br />
Online-Umfragen haben auch hier vor<br />
allem Eltern mit einem hohen formalen<br />
Bildungsabschluss teilgenommen, Eltern<br />
mit mittlerem und niedrigem Bildungsabschluss<br />
sind hingegen unterrepräsentiert.<br />
Rund die Hälfte der Befragten geben<br />
an, dass sie mit dem gegenwärtigen<br />
Haushaltseinkommen bequem leben<br />
können, 40 Prozent „kommen zurecht“,<br />
aber immerhin 9 Prozent berichten, dass<br />
sie nur schwer oder sehr schwer zurechtkommen.<br />
Eine qualitative Studie in der<br />
Zeit von 26. Mai bis 08. Juni 2020 ergänzt<br />
die Ergebnisse um die Stimmen von 22<br />
Kindern und 21 Eltern.<br />
Veränderte Zeit- und<br />
Freizeitgestaltung der Kinder<br />
Mit den Einschränkungen der Corona-<br />
Krise waren die Kinder vor allem auf die<br />
Familie und das häusliche Umfeld verwiesen.<br />
Sie verbringen mehr Zeit allein<br />
sowie mit ihren Eltern und Geschwistern,<br />
während die Kontakte mit Freundinnen<br />
und Freunden sowie den Großeltern<br />
deutlich reduziert sind. Das schulische<br />
Lernen hat sich zeitweise vollständig<br />
nach Hause verlagert. Für gut drei<br />
Viertel der Schüler/innen hat dabei der<br />
Zeitaufwand für schulisches Arbeiten<br />
zugenommen.<br />
Bei den Kindern im Grundschulalter<br />
(wie bei allen Kindern) haben Freizeitaktivitäten<br />
zu Hause einen deutlich höheren<br />
Stellenwert bekommen (vgl. Abbildung<br />
1). Sie spielen häufiger in der<br />
Wohnung (62 %) und gehen vermehrt<br />
kreativen Tätigkeiten nach, wie beispielsweise<br />
basteln und malen. 39 Prozent<br />
der Kinder können jedoch auch<br />
mehr Zeit draußen verbringen, z. B. im<br />
Garten spielen oder Fahrrad fahren. Bei<br />
Kindern im ländlichen Raum hat sich<br />
dies häufiger gesteigert als bei Stadtkindern<br />
(45 % vs. 32 %). Eltern von Stadtkindern<br />
geben dagegen häufiger an, dass<br />
Aktivitäten wie fernsehen (69 % vs. 63 %)<br />
und Radio hören (58 % vs. 51 %) zugenommen<br />
haben.<br />
Eltern mit maximal mittlerem formalem<br />
Bildungsabschluss berichten etwas<br />
häufiger als die befragten Eltern mit höherer<br />
Bildung, dass bei ihren Kindern<br />
der Konsum von Videospielen (57 % vs.<br />
53 %) und das Surfen im Netz zugenommen<br />
haben (38 % vs. 35 %). Kinder von<br />
Eltern mit höherer Bildung lesen in der<br />
Krise hingegen häufiger (49 % vs. 34 %),<br />
hören mehr Radio oder Hörspiele (57 %<br />
vs. 45 %) und beschäftigen sich häufiger<br />
mit Dingen für die Schule (80 % vs. 71 %).<br />
Mehr als die Hälfte der Grundschulkinder<br />
verbringt nach Einschätzung ihrer Eltern<br />
mehr Zeit mit Computerspielen und<br />
ein Drittel ist häufiger im Internet.<br />
Die Situation in den Familien und<br />
das Wohlbefinden der Kinder<br />
Betrachtet man das gesamte Sample über<br />
alle Altersgruppen, so geben drei Viertel<br />
der Befragten an, dass in ihrer Familie<br />
das ungewohnte ständige Zusammensein<br />
überwiegend gut gelingt. Bei jeder<br />
fünften Familie (22 %) herrscht allerdings<br />
während der Krise häufig oder<br />
sehr häufig ein konflikthaltiges bzw.<br />
chaotisches Klima. Diese Situation<br />
kommt verstärkt in Haushalten mit<br />
meh r eren Kindern vor (25 % gegenüber<br />
15 % in Ein-Kind-Familien). Dabei ist<br />
zu bedenken, dass unter den Befragten<br />
überdurchschnittlich viele Familien mit<br />
formal hohem Bildungsgrad und ohne<br />
finanzielle Sorgen sind – unter ungünstigeren<br />
Bedingungen wären hier weitaus<br />
höhere Zahlen zu erwarten.<br />
Ein Drittel der Eltern gibt an, dass<br />
ihr Kind Schwierigkeiten habe, mit der<br />
Situation zurechtzukommen. Dies betrifft<br />
deutlich mehr Kinder von Eltern<br />
mit maximal mittlerem formalem Bildungsabschluss<br />
als Kinder von Eltern<br />
mit hohem Bildungsabschluss (42 % vs.<br />
29 %). Zudem schätzen Eltern mit einer<br />
angespannten finanziellen Situation die<br />
Belastung höher ein als diejenigen, die<br />
ihre finanzielle Lage positiver beurteilen<br />
(56 % vs. 31 %). Mehr als ein Viertel<br />
(27 %) der befragten Eltern stimmen<br />
der Aussage zu, dass sich ihr Kind häufig<br />
oder sehr häufig einsam fühle. Dies<br />
betrifft vor allem Kindergartenkinder<br />
(30 % vs. 21 % der Kinder im Sekundarstufenalter)<br />
sowie Einzelkinder (33 % vs.<br />
25 % der Kinder mit Geschwistern).<br />
Die Perspektiven der<br />
Kinder und ihrer Eltern<br />
Die vertiefenden qualitativen Interviews<br />
mit 21 Familien zeigen, dass die Anforderung,<br />
Beruf, Kinderbetreuung und<br />
Familienarbeit ohne externe Unterstützung<br />
zu vereinbaren, für viele Eltern<br />
nur schwer zu leisten war. Die stärksten<br />
Belastungen wurden von Eltern geschildert,<br />
die sich von der Schule im Stich<br />
gelassen fühlten. Die Hauptverantwortung<br />
für die Umsetzung und das Gelingen<br />
des schulischen Lernens zu Hause<br />
lag bei ihnen.<br />
drinnen spielen<br />
draußen spielen<br />
nichts tun rumhängen<br />
zuhause etwas für die Schule tun<br />
basteln, malen, schreiben, handarbeiten<br />
Bücher lesen / Bücher vorgelesen bekommen<br />
Ein Musikinstrument spielen, singen<br />
Fernsehen, Streamingdienste, YouTube<br />
Musik / Radio / Hörspiele hören<br />
Spiele am Computer, dem Tablet, dem Handy<br />
oder einer Spielkonsole spielen<br />
im Internet sein<br />
„Bleibt an uns hängen, ja klar. Also<br />
man kann nicht, also ich habe meine<br />
Arbeit so gelegt, dass ich an Tagen, wo ich<br />
nicht hier war, eigentlich alles, mehr gearbeitet<br />
habe, […] ich musste den Lehrern<br />
die Sachen schicken, musste das aufbereiten,<br />
ich musste die Lernpläne angucken,<br />
und so weiter.“ (Mutter von Lars, 11)<br />
Die Kinder empfanden vor allem die<br />
Trennung von ihren Freund/innen und<br />
Großeltern als traurig und belastend. In<br />
den meisten Fällen bemühten sich die<br />
Eltern, durch Zuwendung und gemeinsame<br />
Aktivitäten in der Familie einen<br />
Ausgleich zu schaffen. Dazu trugen vielfältige<br />
neue Aktivitäten in der Familie<br />
bei: Sport, Radtouren, Spieleabende und<br />
gemeinsame Ausflüge. Auch Kontakte<br />
über digitale Medien halfen, die Isolation<br />
zu durchbrechen.<br />
Die Kinder und ihre Eltern berichten,<br />
wie in den Familien Arrangements geschaffen<br />
wurden, um die Situation zu<br />
entspannen. Das schulische Lernen zu<br />
Hause wurde so bald schon als „normal“<br />
empfunden. Als besonders entlastend<br />
wirkte dann die rasche Wiederaufnahme<br />
des Schulbetriebs – wenngleich<br />
diese noch mit großen Einschränkungen<br />
verbunden war.<br />
„Also ich hatte heute tatsächlich meinen<br />
ersten Schultag wieder, natürlich<br />
mit den Hygieneregeln und Abstand und<br />
Maske; es war jetzt (kurzes Lachen) nicht<br />
so unbedingt mein Lieblingsschultag, aber<br />
na gut. Ja, es ist auch sehr schwer auf<br />
dem Schulhof, weil man, also man sieht<br />
häufiger geworden gleich geblieben weniger geworden<br />
Veränderungen im Freizeitverhalten im Grundschulalter (in Prozent)<br />
Quelle: Langmeyer, Guglhör-Rudan, Naab, Urlen & Winklhofer (2020): Kind sein in Zeiten<br />
von Corona. Abschlussbericht; Angaben von 3944 Eltern von Kindern im Grundschulalter<br />
sich, aber man […] hat trotzdem noch<br />
viel mehr Entfernung, weil sich eben die<br />
Gruppen nicht vermischen dürfen, und<br />
es ist halt sehr schwer, dann nicht zu seiner<br />
Freundin zu rennen und sie zu umarmen<br />
und sagen: Ich hab dich so vermisst,<br />
komm her!“ (Maja, 11)<br />
Insgesamt zeichnen die Interviews<br />
komplexe Dynamiken in einer Zeit nach,<br />
die von einem beispiellosen Aufbrechen<br />
der gewohnten „Normalität“ gekennzeichnet<br />
ist. Bei positiven Bedingungen<br />
Ursula Winklhofer, Alexandra Langmeyer,<br />
Marc Urlen, Thorsten Naab,<br />
Angelika Guglhör-Rudan<br />
Wissenschaftliche Referent*innen am<br />
Deutschen Jugendinstitut (DJI), Fachgruppe<br />
„Lebenslagen und Lebenswelten<br />
von Kindern“ (Leitung: Alexandra<br />
Langmeyer), Abteilung Kinder und<br />
Kinderbetreuung.<br />
Weitere Informationen zur Studie<br />
„Kind sein in Zeiten von Corona“:<br />
www.dji.de/projekt/kindsein-corona<br />
zeigte sich teilweise eine unerwartet<br />
hohe Resilienz: Viele der befragten Familien<br />
entwickelten Anpassungsstrategien,<br />
die die Folgen der Krise, zumindest<br />
für ihre Kinder, teilweise abmildern<br />
konnten.<br />
Fazit<br />
Insgesamt zeigt die Studie „Kind sein in<br />
Zeiten von Corona“, dass die Ausgangsund<br />
Kontaktbeschränkungen eine beispiellose<br />
Herausforderung für Familien<br />
dargestellt haben. Jenseits von den<br />
gesundheitlichen und wirtschaftlichen<br />
Folgen der Pandemie ergaben sich in<br />
den Familien nur schwer zu meisternde<br />
Belastungsproben durch den Einbruch<br />
der gewohnten Betreuungs- und Kommunikationsstrukturen.<br />
Im Zweifelsfall<br />
blieb es den Eltern überlassen, die Situation<br />
zu meistern – und wenn dies nicht<br />
gelang, waren Kinder die Leidtragenden.<br />
Da sich noch kein Ende der Corona-Krise<br />
abzeichnet und es in einer globalisierten<br />
Gesellschaft jederzeit wieder<br />
zu einer solchen Krise kommen kann,<br />
sollte alles daran gesetzt werden, Konzepte<br />
zu erstellen, die Familien in solchen<br />
Situationen noch stärker entlasten<br />
und das Wohl der Kinder in den Mittelpunkt<br />
stellen. Denn wenngleich es<br />
vielen Familien gelungen ist, die Belastungen<br />
der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen<br />
für eine begrenzte Zeit zu<br />
schultern, deutet sich ebenfalls an, dass<br />
keine nachhaltigen Strukturen für eine<br />
wirksame Bewältigung geschaffen wurden.<br />
Vielmehr lagen der gesellschaftliche<br />
und familiale Fokus auf einer temporären<br />
Überbrückung und der Rückkehr<br />
zum „normalen“ Alltagsleben nach<br />
Aufhebung der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen.<br />
18 GS <strong>aktuell</strong> <strong>152</strong> • November 2020<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>152</strong> • November 2020 19