WissenIm Wesentlichen sind sie zu demSchluss gekommen, dass das,was man für angeborenesmusikalisches Talent hält, eigentlichaus jahrelang akkumulierter Übungbesteht.Buchauszug aus David Epsteins»Die Sieger Gene«416 SeitenErschienen: September 2020Redline VerlagISBN: 978-3-868-81798-0über den zukünftigen Musiklehrern. Undauch wenn die beiden besseren Gruppenim Musikstudium gleich viel Zeit mit derPflege ihres Könnens verbrachten, hattendie zukünftigen Solisten im Alter von achtzehnJahren durchschnittlich 7.410 StundenÜbungszeit angesammelt, verglichenmit 5.301 Stunden in der »guten« Gruppeund 3.420 Stunden bei den angehendenLehrern. »Daher«, schreiben die Psychologen,»besteht eine klare Entsprechungzwischen dem Spielniveau der Gruppenund ihrer durchschnittlich angehäuftenÜbezeit mit der Geige.« Im Wesentlichensind sie zu dem Schluss gekommen, dassdas, was man für angeborenes musikalischesTalent hält, eigentlich aus jahrelangakkumulierter Übung besteht.Bemerkenswerterweise stellten die Psychologenfest, dass erfahrene Pianisten imDurchschnitt ähnlich viele Übestundenwie die besten Geiger angesammelt hatten,als ob es eine universelle Regel der Könnerschaftgäbe. Die Forscher schlossenaus den Schätzungen des wöchentlichenÜbevolumens, dass Spitzenmusiker unabhängigvom Instrument bis zum Alter vonzwanzig Jahren 10.000 Stunden Übung ansammeln,und dass gute Musiker eine größereMenge an »konzentriertem Üben«,schaffen, einer Art von anstrengendemTraining, das die Kraftreserven des Schülersbeansprucht. Einer Art von Üben, dieoft allein betrieben wird.In ihrem inzwischen berühmten ArtikelThe Role of Deliberate Practice in the Acquisitionof Expert Performance dehnendie Autoren ihre Schlussfolgerungen aufden Sport aus und zitieren Janet Starkes’Okklusionstests, die nachwiesen, dass erlernteWahrnehmungsfähigkeiten wichtigersind als reine Reaktionsschnelligkeit.Angesammelte Übestunden erschienenden Autoren zufolge sowohl in der Musikals auch im Sport als angeborenes Talent.Der Hauptautor des Aufsatzes, der PsychologeK. Anders Ericsson, der inzwischenan der Florida State University lehrt, wirdals der Vater der »10.000-Stunden-Regel«betrachtet, obwohl er selbst nie voneiner »Regel« oder vom Deliberate PracticeFramework gesprochen hat, wie esbei denjenigen bekannt ist, die sich mitdem Erlernen von Fähigkeiten befassen.Ericsson gilt als Experte für Experten. Erund andere Befürworter des Frameworksgehen des Weiteren davon aus, dass hinterdem schönen Schein angeborener Begabungin Wirklichkeit angesammeltesÜben steckt, sei es beim Sprint oder beider Chirurgie. Als die Genetik an Bedeutunggewann, arbeitete Ericsson sie in seineSchriften ein. In einem Artikel aus demJahr 2009, Toward a Science of ExceptionalAchievement, schreiben Ericsson undseine Mitautoren, dass die Gene, die einenProfisportler (oder jeden anderen Profi)ausmachen, »in der DNA jedes gesundenMenschen vorkommen«. So gesehenheben sich Könner durch ihre Übeerfahrunghervor, nicht durch ihre Gene. In denMedien wurde Ericssons Arbeit oft dahingehend interpretiert, dass 10.000 Stundensowohl notwendig als auch hinreichendsind, um irgendjemanden zu einemKönner in irgendeiner Sache machen.Niemand erreicht demnach Könnerschaftmit weniger Übung und mit ebendiesemUmfang erreicht sie jeder. Die10.000-Stunden-Regel (auch als Zehnjahresregelbezeichnet) fand den Weg aufdie Backcover einiger Bestseller und inunzählige Artikel, bis sie sich tief in dieBranche der Sportförderung einwurzelteund Anreiz gab, Kinder früh einem hartenTraining auszusetzen. In manchenFällen haben populärwissenschaftlicheAutoren, die Ericssons Erkenntnisse verarbeiten,zusätzlich zu den durch Übunghervorgerufenen Leistungsdifferenzenauch individuelle genetische Unterschiedeberücksichtigt, während anderedie 10.000-Stunden-Regel als absolutstarr darstellen und keinen Raum fürgenetisches Erbe sehen.Bei der Recherche für dieses Buchbegegneten mir die 10.000 Stundenals Erfolgsrezept in den unterschiedlichstenBereichen, in einem Interviewmit einem Wissenschaftler desamerikanischen Olympischen Komiteesebenso wie im Jahresberichteines Hedgefonds, der den Anlegerndie Grundsätze des Erfolgs erläuterte.Ich habe sogar einen Golfer kennengelernt,der die Regel auf eine sehr persönlicheProbe stellt.40 www.erfolg-magazin.de . Ausgabe 06/2020 . ERFOLG magazin
WissenBild: Depositphotos/ProShooter/HayDmitriyERFOLG magazin . Ausgabe 06/2020 . www.erfolg-magazin.de41