stahl + eisen 10/2020 (Leseprobe)
TITELSTRECKE zum Thema Grüner Wasserstoff in der Rohstahlerzeugung // WEITERE THEMEN: u.a. Erweiterte Landkarte für Künstliche Intelligenz, Qualitätskontrolle von Stangen und Rohren, China-Kolumne: Neue Kreisläufe und einheitliche Standards, Verlust von Umlageprivilegien droht, Eisenhüttenstadt feiert 70. Geburtstag
TITELSTRECKE zum Thema Grüner Wasserstoff in der Rohstahlerzeugung // WEITERE THEMEN: u.a. Erweiterte Landkarte für Künstliche Intelligenz, Qualitätskontrolle von Stangen und Rohren, China-Kolumne: Neue Kreisläufe und einheitliche Standards, Verlust von Umlageprivilegien droht, Eisenhüttenstadt feiert 70. Geburtstag
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Nr. <strong>10</strong> | Oktober <strong>2020</strong><br />
Magazin für die Herstellung und Verarbeitung von Eisen + Stahl<br />
Projekt „ProLMD“<br />
Hybrid-additive Fertigung<br />
70 Jahre Eisenhüttenstadt<br />
Planstadt dank Stahlwerk<br />
Grüner Wasserstoff<br />
...in der Roh<strong>stahl</strong>erzeugung
Alle Möglichkeiten<br />
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aktiv. Gemeinsam<br />
mit den Kollegen<br />
vom Stahlmarkt<br />
liefern wir aktuelle<br />
Stahl-News in aller<br />
Breite aus. Folgen<br />
Sie uns doch.<br />
in der öffentlichen Diskussion ist die Stahlbranche bei Themen rund um<br />
Klimaschutz und Dekarbonisierung sehr pragmatisch: Die Europäische<br />
Kommission und der deutsche Gesetzgeber, vulgo der Bundestag, geben<br />
die ambitionierten Wegmarken auf dem Weg zum „klimaneutralen<br />
Kontinent vor“ – und die Industrie liefert. Dabei kann es sich<br />
praxisorientiert um Grobbleche für Offshore-Monopiles handeln wie gerade<br />
erst bei Dillinger (siehe Seite <strong>10</strong>) oder um erfolgreich absolvierte Etappen bei<br />
der Umstellung in der Stahlerzeugung wie thyssenkrupp Steel Europe und<br />
Carbon2Chem (siehe Seite 24). Vor allem das zweite Beispiel zeigt das Wechselspiel<br />
mit der Politik, denn Bundesforschungsministerin Anja Karliczek übergab jüngst (Corona-konform<br />
natürlich digital) einen Förderbescheid über 75 Mio. Euro für die nächste Etappe des Projekts.<br />
Weitere technisch-wissenschaftliche und praxisorientierte Aspekte zum Thema Wasserstoff und<br />
Stahl finden Sie in der Titelgeschichte ab Seite 14 sowie in dem Fachtext ab Seite 53.<br />
Öffentliche Kritik am Klimakurs kommt von außerhalb, beispielsweise von Institutionen wie dem<br />
Europäischen Institut für Klima & Energie (EIKE), in dessen Beirat der jüngst verstorbene Prof. Dr.<br />
Dieter Ameling saß (den Nachruf finden Sie auf Seite 8) oder von Einzelpersonen. Der Ökonom<br />
Dr. Daniel Stelter, der auch den Blog „Think Beyond The Obvious“ betreibt, etwa hat jüngst<br />
gegenüber dem Publizisten Gabor Steingart eine klare Kante gezeigt. Beim Thema Energiewende<br />
gebe es offensichtlich „ein Primat der Ökonomen“, die oftmals Dinge annehmen würden, „die in<br />
der technischen Realität noch nicht vorhanden sind.“ Ebenso sei „Planwirtschaft, verbunden mit<br />
überoptimistischen Annahmen (...) eine schlechte Kombination“, gab er kritisch zu Protokoll. In<br />
eine ähnliche Kerbe schlägt der vormalige Hamburger SPD-Umweltsenator, Manager in der<br />
Energiewirtschaft und Hochschulprofessor Dr. Fritz Vahrenholt in seinem Meinungsbeitrag „Es<br />
gibt keinen Klimanotstand“ auf Seite 44.<br />
Wie denken Sie, liebe Leser, über diese Themen: Wird die Branche die politischen Vorgaben im<br />
Zeitplan und im Kostenrahmen einhalten? Ist die Politik überambitioniert? Oder arbeiten wir<br />
immer noch mit zu wenig Nachdruck an den Lösungen, wie es beispielsweise die Fridays-for-<br />
Future-Bewegung apokalyptisch raunt? Wir freuen uns auf Ihr Feedback.<br />
Ich wünsche Ihnen eine angenehme und informative Lektüre<br />
Quelle: Christian Talla (www.talla.hamburg)<br />
Torsten Paßmann, Chefredakteur<br />
PS: Tief im Westen schlägt bekanntlich das Herz des Stahls, doch neben dem Ruhrgebiet sind auch<br />
andere Regionen nachhaltig durch Stahlwerke geprägt worden. Eine davon porträtieren wir ab Seite 70:<br />
die sozialistische Planstadt Eisenhüttenstadt, die heuer 70. Geburtstag feiert. Wir gratulieren!<br />
<strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de Oktober <strong>2020</strong> 3
Magazin für die Herstellung und Verarbeitung von Eisen + Stahl<br />
Hybrid-additive Fertigung<br />
Planstadt dank Stahlwerk<br />
...in der Roh<strong>stahl</strong>erzeugung<br />
Nr. <strong>10</strong> | Oktober <strong>2020</strong><br />
STAHL<br />
EISEN<br />
Inhalt <strong>10</strong> | <strong>2020</strong><br />
Projekt „ProLMD“<br />
70 Jahre Eisenhüttenstadt<br />
Grüner Wasserstoff<br />
Cover:<br />
Wasserstoff, speziell „grüner“,<br />
gilt als ein zentraler Treiber der<br />
Dekarbonisierung der Branche.<br />
Quelle: Shutterstock<br />
14<br />
Grüner<br />
Wasserstoff<br />
... in der Roh<strong>stahl</strong>erzeugung<br />
NEWS<br />
TERMINE<br />
6 Wirtschaft + Industrie<br />
u.a. mit thyssenkrupp, Swiss Steel und ArcelorMittal<br />
<strong>10</strong> Klima + Umwelt<br />
u.a. mit Stahl für Windkraft, Kernkraft und dem<br />
„Blue Cruiser“<br />
12 Additive Fertigung<br />
u.a. mit IFAM, nTopology und Sandvik<br />
TITELTHEMA: WASSERSTOFF<br />
14 Grüner Wasserstoff in der Roh<strong>stahl</strong>erzeugung<br />
Potentiale zur Verminderung der CO 2 -Erzeugung und<br />
der spezifische elektrische Energiebedarf<br />
19 Versuche mit fossilfreien Brennstoffen<br />
Schwedisch-finnisches Trio sieht Ergebnisse „in greifbarer<br />
Nähe“<br />
20 Spezialbeschichtung schützt Stahl<br />
vor Wasserstoff<br />
Fraunhofer IWM entwickelt innovativen<br />
Lösungsansatz<br />
22 Hoffnungsträger Wasserstoff:<br />
Was jetzt wichtig ist<br />
Meinungsbeitrag von Dieter Janeczek, MdB, und<br />
Ingrid Nestle, MdB<br />
24 Project Carbon2Chem erhält neue<br />
Fördermittel<br />
Jetzt geht es um den Nachweis der Langzeitstabilität<br />
SONDERSTRECKE GOLDEN SUMMER<br />
26 Erweiterte Landkarte für Künstliche<br />
Intelligenz<br />
Plattform liefert Überblick zu Forschung, Anwendung<br />
und Transfer<br />
28 Qualitätskontrolle von Stangen<br />
und Rohren<br />
Sema Systemtechnik integriert Geradheitsmessung in<br />
den Produktionsprozess<br />
30 Twin-Druckbiegemaschine für 90 Meter<br />
lange Rohrschlangen<br />
Schwarze-Robitec liefert für den modernen<br />
Kraftwerksbau<br />
70<br />
Eisenhüttenstadt feiert 70. Geburtstag<br />
Zwischen Stalin und Stahlwerk<br />
32 „Fast die Quadratur des Kreises“<br />
Interview mit den Partnern des Projektes „ProLMD“<br />
36 Neuer Campus soll Technologien und<br />
Spezialisten enger vernetzen<br />
SMS group wird innerhalb des Rheinlands umziehen<br />
40 8 Stunden, 350 Ampere und<br />
1 EWM-Stromdüse<br />
Anwenderbericht ISW Steel Components / EWM<br />
4 Oktober <strong>2020</strong> <strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de
POLITIK<br />
MÄRKTE<br />
44 „Es gibt keinen Klimanotstand“<br />
Meinungsbeitrag von Prof. Dr. Fritz Vahrenholt<br />
46 Neue Kreisläufe und einheitliche Standards<br />
China-Kolumne von Fabian Grummes<br />
47 Wirtschaftliche Erholung schreitet voran<br />
– aber verhaltener<br />
Aktuelle Meldung aus dem BMWi<br />
WISSENSCHAFT<br />
TECHNIK<br />
51 Hoffnung und Wagnis<br />
Wasserstoffversprödung von hochfesten<br />
martensitischen Stählen<br />
„Fast die Quadratur des Kreises“<br />
32 Interview mit den Partnern des Projektes „ProLMD“<br />
59 SMS digital und Noodle.ai launchen<br />
„Scheduling App“<br />
Fortschritte bei der Digitalisierung der<br />
Stahlherstellung durch KI-basierte Anwendung<br />
RECHT<br />
FINANZEN<br />
64 Verlust von Umlageprivilegien droht<br />
Übergangsfrist für rechtskonforme Abgrenzung von<br />
Drittstrommengen läuft bald aus<br />
65 Schreiben der Finanzverwaltung zur<br />
Rechnungsberichtigung<br />
Rechts-Tipp von Prof. Dr. Gunter M. Hoffmann<br />
BERUF<br />
KARRIERE<br />
67 Dörrenberg sucht Werkstofftechniker mit<br />
Lust auf Stahl<br />
Studienarbeiten können bei Wettbewerb eingereicht<br />
werden<br />
STYLE<br />
STORY<br />
70 Eisenhüttenstadt feiert 70. Geburtstag<br />
Zwischen Stalin und Stahlwerk<br />
Hoffnung und Wagnis<br />
54 Wasserstoffversprödung von hochfesten martensitischen<br />
Stählen<br />
IMMER<br />
EWIG<br />
3 Editorial<br />
9 Termine<br />
50 Länder + Anlagen<br />
60 VDEh-Personalia<br />
68 Vorschau + Impressum<br />
74 People<br />
<strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de Oktober <strong>2020</strong> 5
NEWS<br />
TERMINE<br />
Wirtschaft<br />
Industrie<br />
Der automobile Anlagenbau<br />
von thyssenkrupp ist seit dem<br />
1. Oktober <strong>2020</strong> in zwei unabhängig<br />
voneinander agierende<br />
Unternehmen aufgespaltet.<br />
Thyssenkrupp richtet automobilen<br />
Anlagenbau neu aus<br />
Mit Beginn des neuen Geschäftsjahres<br />
zum 1. Oktober hat thyssenkrupp mit<br />
der operativen Teilung seines automobilen<br />
Anlagenbaus gestartet. Mit der Maßnahme<br />
verfolgt der Industriekonzern das<br />
Ziel, zwei unabhängig voneinander agierende<br />
Unternehmen mit unterschiedlichen<br />
Produktprogrammen zu schaffen.<br />
Demnach soll es künftig einen auf Karosseriemontage<br />
spezialisierten Anlagenbauer<br />
geben, der weiterhin im automobilen<br />
Zulieferer- und Service-Segment (Automotive<br />
Technology) geführt wird. Im<br />
Bereich der Antriebs- und Batteriemontage<br />
will der Konzern indes die Transformation<br />
in Richtung Elektromobilität vorantreiben.<br />
Die Aktivitäten jener Sparte,<br />
so heißt es, werden aber in einem Unternehmen<br />
gebündelt, das zum neu etablierten<br />
Portfoliosegment Multi Tracks gehört.<br />
Dort sind die Bereiche zusammengefasst,<br />
für die thyssenkrupp langfristig<br />
kein Entwicklungspotenzial sieht. Für<br />
besagtes Geschäftsfeld werde demnach<br />
werde somit perspektivisch eine Lösung<br />
außerhalb des Konzerns gesucht - „entweder<br />
in Partnerschaften oder in neuen<br />
Eigentümerstrukturen“. Thyssenkrupp<br />
betont zudem, mit der Neuaufstellung<br />
der beiden Geschäftsbereiche gingen<br />
“weitere Restrukturierungen an den einzelnen<br />
Standorten” einher. So will der<br />
Konzern in beiden Einheiten noch im<br />
laufenden Geschäftsjahr rund 800 Stellen<br />
abbauen. Rund 500 Stellen entfielen dabei<br />
auf Standorte in Deutschland. Als<br />
Grund gibt der Konzern einen “durch die<br />
Corona-Krise drastisch verschärften Einbruch<br />
bei Auftragseingang und Umsatz”<br />
an. Zudem würden mit der Teilung bestehende<br />
zentrale Strukturen in der Verwaltung<br />
aufgelöst.<br />
Schmolz + Bickenbach: Namensänderung<br />
und Kapitalherabsetzung genehmigt<br />
Ein deutlicher Großteil der Aktionäre<br />
von Schmolz + Bickenbach hat dafür gestimmt,<br />
den Schweizer Stahlkonzern<br />
umzubenennen. Nunmehr soll dieser<br />
unter dem Namen „Swiss Steel Group“<br />
agieren. Formal lautet die Firmierung de<br />
Verwaltungsrat zufolge zwar „Swiss Steel<br />
Holding AG“. Der Unterschied habe sich<br />
aus „kurzfristigen juristischen Problemen“<br />
ergeben, wie die Luzerner Zeitung<br />
unter Berufung auf eine Sprecherin berichtet.<br />
Der Auftritt nach Außen erfolge<br />
künftig aber unter Swiss Steel Group,<br />
nachdem die Registrierung des Namens<br />
– so der Verwaltungsrat - „unverzüglich<br />
So sieht es aus, das<br />
neue Logo des Schweizer<br />
Konzerns Schmolz<br />
+ Bickenbach – der<br />
nunmehr unter der<br />
Firmierung „Swiss Steel<br />
Group“ agiert.<br />
vorangetrieben“ wurde. Die<br />
Zentrale bleibe dabei unverändert<br />
in Luzern und Börsennotierung<br />
und Valoren-Nummer<br />
unberührt.<br />
Neben der Namensänderung<br />
haben die Aktionäre einer Reduzierung<br />
des Nennwertes je<br />
Aktie von 0,30 auf 0,15 Schweizer Franken<br />
zugestimmt. Der Betrag der Nennwertreduktion<br />
sei den Reserven zugewiesen<br />
und zwecks Beseitigung der Unterbilanz<br />
per 31. Juli <strong>2020</strong> verrechnet worden,<br />
so der Konzern. Es erfolge keine Ausschüttung<br />
von Eigenkapital an die Aktionäre.<br />
In einer Pressemeldung des Unternehmens<br />
heißt es: „Dies ist ein technischer<br />
Schritt, ein Transfer innerhalb des<br />
Eigenkapitals, der alle Aktien gleichermaßen<br />
betrifft und die Rechte der Aktionäre<br />
nicht berührt, weder finanzielle<br />
Rechte noch Mitwirkungsrechte.“<br />
Quellen: thyssenkrupp; Viktor Macha ; Swiss Steel Group<br />
6 Oktober <strong>2020</strong> <strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de
Nach dem Brexit: Großbritanniens<br />
Stahlschutzmaßnahmen<br />
Das Ministerium für Internationalen Handel in Großbritannien<br />
will nach dem Abschluss der Brexit-Übergangsperiode Schutzmaßnahmen<br />
auf die Einfuhr von Stahlprodukten anwenden. So berichtet<br />
es das britische Stahlberatungshaus MEPS. Demnach wolle das<br />
Land so einheimische Produzenten vor einem kritischen Importanstieg<br />
schützen. Vor diesem Hintergrund, so MEPS, plane Großbritannien<br />
ein ähnliches Zollkontingentsystem (im Englischen<br />
„tariff rate quotas“, kurz TRQ) einzuführen, wie es derzeit in der<br />
Europäischen Union (EU) gilt. Darin sollen die wichtigsten Länder<br />
und Regionen, die Stahlprodukte nach Großbritannien liefern,<br />
spezifische TRQ-Mengen erhalten. Zugeteilt würden diese den Importeuren<br />
nach dem Windhundprinzip: wer zuerst komme, mahle<br />
also zuerst. Die Verwaltung der Kontingente erfolge vierteljährlich,<br />
wobei nicht genutzte Tonnagen automatisch auf das nächste<br />
Quartal übertragen würden. Das gelte jedoch nicht für Restbestände<br />
am Ende des Jahres, welche folglich verloren gingen. Sollte ein<br />
länder- oder regionsspezifischer Kontingent erschöpft sein, berichtet<br />
MEPS, könnten Lieferanten aus diesem Gebiet erst im letzten<br />
Quartal des Jahres auf die verbleibende globale TRQ für diese Kategorie<br />
zugreifen. Bis dahin werde ein zusätzlicher Zoll von 25 Prozent<br />
auf alle nachfolgenden Importe innerhalb dieser Kategorien<br />
erhoben. Allerdings heißt es auch, dass es aufgrund der derzeitigen<br />
Situation auf dem britischen Stahlmarkt gewisse Änderungen<br />
in der Art und Weise gebe, wie die TRQ verwaltet werden. Insgesamt<br />
19 der vom EU-System abgedeckten Kategorien seien daher<br />
von den erwähnten Maßnahmen ausgenommen. Laut MEPS gehören<br />
dazu unter anderem Elektrobleche und warm- und kaltgewalzte<br />
nichtrostende Bleche und Bänder.<br />
Cleveland-Cliffs übernimmt US-Geschäft<br />
von ArcelorMittal<br />
Blick auf die Hochöfen des Cleveland-Werks von ArcelorMittal<br />
USA, dessen Geschicke künftig das US-Unternehmen Cleveland-<br />
Cliffs leiten wird.<br />
ArcelorMittal hat bekanntgegeben, seine Geschäftstätigkeit in<br />
den Vereinigten Staaten an den US-Konkurrenten Cleveland-<br />
Cliffs verkaufen zu wollen. Nach Angaben beider Unternehmen<br />
haben die jeweiligen Aufsichtsräte der Übernahme bereits zugestimmt,<br />
die wohl eine Transaktion von rund 1,2 Milliarden Euro<br />
umfasst. Sie werde voraussichtlich noch innerhalb des vierten<br />
Quartals des laufenden Jahres abgeschlossen – „vorbehaltlich<br />
der behördlichen Genehmigungen und der Erfüllung anderer<br />
üblicher Abschlussbedingungen“.<br />
Der Deal macht Cleveland-Cliffs zum größten Produzenten von<br />
Flach<strong>stahl</strong> und Eisenerzpellets in Nordamerika, heißt es in dessen<br />
Pressemeldung zum Kauf. Inklusive der Übernahme der<br />
Pensionsverpflichtungen und anderen Posten liege der Wert des<br />
akquirierten Unternehmens bei rund 2,8 Milliarden Euro. Zu<br />
den erworbenen Vermögenswerten zählen sechs Stahlwerke,<br />
acht Veredelungsanlagen, zwei Eisenerzgruben sowie drei Kokereien.<br />
Die Leitung der erweiterten Organisation soll Laurenco<br />
Goncalves übernehmen, der bereits den Vorstandvorsitz von<br />
Cleveland-Cliffs innehat. Er betont: „Die Stahlerzeugung ist ein<br />
Geschäft, in dem Produktionsvolumen, betriebliche Diversifizierung,<br />
Verringerung der Fixkosten und technisches Fachwissen<br />
über alles andere entscheiden.“ Mit dieser Transaktion, so Goncalves,<br />
werde all dies erreicht.<br />
Für Cleveland-Cliffs handelt es sich bei dem aktuellen Deal bereits<br />
um den zweiten großen Wurf binnen kurzer Zeit. Bereits<br />
im März hatte das Unternehmen den US-amerikanischen Stahlproduzenten<br />
AK Steel gekauft, der Stahl und Spezialteile für die<br />
Automobilindustrie herstellt.<br />
BDI zum Tag der Industrie: „Aus Krisen- in<br />
Zukunftsmodus umschalten“<br />
Anlässlich des Tages der Industrie, den der Bundesverband der<br />
Deutschen Industrie (BDI) in diesem Jahr am 5. und 6. Oktober<br />
veranstaltete, forderte BDI-Präsident Dieter Kempf: „Wir müssen<br />
aus dem Krisenmodus in den Zukunftsmodus umschalten.“<br />
Der durch die Pandemie erschwerte Strukturwandel der deutschen<br />
Industrie sei tiefgreifend und eine existenzielle Bedrohung.<br />
In diesem Zusammenhang forderte der BDI von der Bundesregierung<br />
deutlich mehr Anstrengungen, um den Industrieund<br />
Investitionsstandort Deutschland nachhaltig zu stärken.<br />
„Die Gefahr ist groß, dass die akute Krise und eine Selbstzufriedenheit<br />
mit den bisher beschlossenen Rettungspaketen den<br />
Blick auf die Realität verstellen“, mahnte Kempf. Auf EU-Ebene<br />
forderte er im Umgang mit China und in den transatlantischen<br />
Beziehungen eine geeinte Außen- und Handelspolitik. Europa<br />
müsse den Ehrgeiz haben, “Stammspieler zu sein und nicht<br />
Reservespieler – oder gar zum Spielfeld oder noch schlimmer<br />
Spielball wirtschaftlicher Großmächte zu werden”. Mehr denn<br />
je, meinte der BDI-Präsident, brauche es jetzt ein Europa, das<br />
auf Grundlage gegenseitiger Solidarität durchsetzungs- und<br />
konkurrenzfähig sei. “Es ist wichtig, dass Europa, gerade in der<br />
laufenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft, mit einer Stimme<br />
spricht.”<br />
<strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de Oktober <strong>2020</strong> 7
TITELTHEMA: WASSERSTOFF<br />
Überblick<br />
Grüner Wasser<br />
Potentiale zur Verminderung von<br />
CO 2 -Emissionen und der spezifische<br />
elektrische Energiebedarf<br />
14 Oktober <strong>2020</strong> <strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de
stoff in der<br />
Roh<strong>stahl</strong>erzeugung<br />
Die CO 2 -Emissionen des industriellen Sektors lassen sich im Kern in<br />
energiebedingte und prozessbedingte Emissionen unterscheiden.<br />
Angesichts der bedeutenden Rolle, die Stahl in Industrie und Wirtschaft<br />
einnimmt, ist es bei der avisierten Defossilierung entscheidend,<br />
diese neben ökologischen auch unter ökonomischen Aspekten<br />
zu betrachten und umzusetzen. Hierfür vergleichen die Autoren aus<br />
dem Fraunhofer IKTS verschiedene Ansätze.<br />
Quelle: Shutterstock<br />
<strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de Oktober <strong>2020</strong> 15
TITELTHEMA: WASSERSTOFF<br />
Überblick<br />
AUTOR: Gregor Herz, Nils Müller, Paul<br />
Adam, Dr.-Ing. Stefan Megel, Dr.-Ing.<br />
Erik Reichelt, Dr.-Ing. habil. Matthias<br />
Jahn, Fraunhofer-Institut für Keramische<br />
Technologien und Systeme (IKTS)<br />
gregor.herz@ikts.fraunhofer.de<br />
DARUM GEHT‘S: Im Rahmen des IPCC-<br />
Sonderberichts von 2018 [1] wurden die<br />
Machbarkeit sowie die Auswirkungen einer<br />
Limitierung der globalen Erwärmung<br />
auf 1,5 °C untersucht. Für das Erreichen<br />
dieses Ziels ist dabei ein fundamentaler<br />
Umbau des Energie- und<br />
Rohstoffsystems notwendig, um die Abhängigkeit<br />
von fossilen Ressourcen zu<br />
verringern und die Emission von Treibhausgasen<br />
zu limitieren. Während in<br />
den Sektoren Energie und Mobilität bereits<br />
verschiedene Ansätze zur Defossilierung<br />
vorliegen und teilweise wirksam<br />
sind, gestaltet sich selbiges für den industriellen<br />
Sektor deutlich schwieriger.<br />
In Deutschland werden etwa 21 % der<br />
CO 2 - Emissionen durch den industriellen<br />
Sektor verursacht [2] . Um die Emissionsziele<br />
der Bundesregierung (80–95 %<br />
bis 2050) zu erreichen, ist deshalb auch<br />
eine erhebliche Reduktion der Emissionen<br />
in diesem Bereich unumgänglich. Die CO 2 -<br />
Emissionen des industriellen Sektors werden<br />
hinsichtlich ihrer Ursache in zwei<br />
Kategorien unterteilt: energiebedingte und<br />
prozessbedingte Emissionen. Während erstere<br />
über die Bereitstellung von Energie<br />
und Wärme in Form elektrischer Energie<br />
bzw. nachhaltig erzeugter Brennstoffe vergleichsweise<br />
einfach vermieden werden<br />
können, ist die Verringerung prozessbedingter<br />
Emissionen deutlich schwieriger,<br />
da Kohlenstoff hierbei meist einen intrinsischen<br />
Teil der Prozesskette darstellt. Ein<br />
bedeutendes Beispiel hierfür ist die integrierte<br />
Hochofenroute zur Produktion von<br />
Roh<strong>stahl</strong>, bei welcher erhebliche Mengen<br />
an CO 2 frei werden [3, 4] . Angesichts der bedeutenden<br />
Rolle, die Stahl in Industrie und<br />
Wirtschaft einnimmt, ist es dabei entscheidend,<br />
die notwendige Defossilierung sowohl<br />
unter ökologischen als auch ökonomischen<br />
Aspekten zu betrachten und umzusetzen.<br />
Hierfür sind verschiedene<br />
Ansätze zu vergleichen.<br />
Ansätze zur Verminderung der<br />
CO 2 -Emissionen der Stahlindustrie<br />
Zum aktuellen Zeitpunkt werden drei verschiedene<br />
Ansätze zur Substitution von<br />
Kohle in der Stahlherstellung mit ausreichendem<br />
Technology Readiness Level zur<br />
mittelfristigen Implementierung diskutiert.<br />
In allen Ansätzen spielt dabei Wasserstoff<br />
eine zentrale Rolle. Da die derzeit<br />
einzige Möglichkeit zur CO 2 -neutralen Bereitstellung<br />
großer Mengen Wasserstoff die<br />
Wasserelektrolyse unter Nutzung erneuerbarer<br />
Energie darstellt, ist hinsichtlich der<br />
Bewertung und Implementierung der verschiedenen<br />
Ansätze neben dem Potential<br />
zur Verminderung der CO 2 -Emissionen<br />
auch der Bedarf an elektrischer Energie ein<br />
entscheidender Faktor. Im Folgenden sollen<br />
deshalb die verschiedenen Ansätze anhand<br />
dieser beiden Faktoren verglichen<br />
werden.<br />
Direkter Einsatz von Wasserstoff<br />
im Hochofen<br />
Förderung<br />
Die Forschungsinhalte wurden im<br />
Rahmen des Fraunhofer-Leitprojektes<br />
„Strom als Rohstoff“ sowie in vom<br />
Bundesministerium für Bildung und<br />
Forschung geförderten Projekten<br />
(03EK3044A / 03ZZ0741A) erarbeitet.<br />
Finanzielle Unterstützung erfolgte<br />
zudem durch die deutsche Bundesstiftung<br />
Umwelt (DBU).<br />
Der direkte Einsatz von Wasserstoff im<br />
Hochofen wurde bereits modellhaft untersucht<br />
[5, 6] . Die durchgeführten Berechnungen<br />
ergaben, dass Wasserstoff als alternatives<br />
Reduktionsmittel zur Substitution<br />
von Einblaskohle im Hochofen eingesetzt<br />
werden kann und so die CO 2 -Emissionen<br />
für den betrachteten Bilanzraum für den<br />
Fall der maximalen Ausnutzung von Wasserstoff<br />
um ca. 20 % verringert werden<br />
können [5] . Die grundsätzliche Machbarkeit<br />
wurde in großskaligen Versuchen der ThyssenKrupp<br />
AG bestätigt [7] . Unter gegenwärtigen<br />
Bedingungen wird die Bereitstellung<br />
von grünem Wasserstoff in der notwendigen<br />
Größenordnung jedoch als kritisch<br />
bewertet. Ein vereinfachtes Fließbild des<br />
in Aspen Plus umgesetzten Ansatzes ist in<br />
Abbildung 1 dargestellt. Als Wasserstoffquelle<br />
wurde eine festoxidbasierte Hochtemperaturelektrolyse<br />
(SOEL – solid oxide<br />
electrolysis) angenommen.<br />
Für die Betrachtungen dieser Arbeit wurde<br />
der Bilanzraum um die peripheren Prozesse<br />
Kokerei, Sinteranlage, Winderhitzer und<br />
Kraftwerk erweitert. Dadurch können die<br />
Auswirkungen des Einbringens von Wasserstoff<br />
in das System auf die gesamte<br />
Stoffintegration abgeschätzt werden. Dabei<br />
konnte der bereits von Yilmaz et al. [6] aufgezeigte<br />
Trend reproduziert werden, dass<br />
Wasserstoff zu einem geringeren Grad als<br />
das primäre Reduktionsmittel Kohlenstoffmonoxid<br />
umgesetzt wird und so zu einem<br />
großen Teil im Gichtgas verbleibt. Da sich<br />
der Energiebedarf der peripheren Prozessschritte<br />
nur in geringem Maße ändert,<br />
wird der eingebrachte Wasserstoff zu einem<br />
großen Anteil im Kraftwerk rückverstromt.<br />
Dies führt zu einem hohen spezifischen<br />
Energiebedarf für die Emissionsreduktion,<br />
wie später im Text aufgezeigt<br />
wird. Außerdem sind mögliche Auswirkungen<br />
der geänderten Brenngaszusammensetzung<br />
und -menge auf das Kraftwerk<br />
zu beachten. Gegebenenfalls sind an dieser<br />
Stelle zusätzliche Investitionen nötig.<br />
Direkter Einsatz von Wasserstoff im Hochofen<br />
Das vereinfachte Fließbild skizziert den in Aspen Plus umgesetzten Ansatz<br />
Stahlschrott<br />
Koks, Kohle<br />
Eisenerz<br />
Gichtgas (periphere Nutzung)<br />
Elektrizität<br />
H 2 O<br />
SOEL<br />
H 2<br />
O 2<br />
Hochofen<br />
Roh<strong>eisen</strong><br />
Konverter<br />
Roh<strong>stahl</strong><br />
Abb. 1: Die Abkürzung<br />
SOEL steht für „solid<br />
oxide electrolysis“ (festoxidbasierte<br />
Hochtemperaturelektrolyse).<br />
16 Oktober <strong>2020</strong> <strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de
Hochtemperatur-Co-Elektrolyse plus Fischer-Tropsch-Synthese<br />
Vereinfachtes Fließbild des betrachteten CCU-Konzeptes<br />
Abgas<br />
Elektrizität<br />
CO 2<br />
H 2 O<br />
SOEL<br />
Synthesegas<br />
Fischer-Tropsch-<br />
Synthese<br />
Produktseparation<br />
Produkte<br />
Wärme<br />
Nebenprodukte, nicht umgesetztes Syngas<br />
Abb. 2: Durch das Ausschleusen<br />
von Abgas<br />
ist der Kohlenstoffnutzungsgrad<br />
limitiert.<br />
Carbon Capture and Utilization<br />
(CCU)<br />
Ein weiterer Ansatz, der sowohl in der Literatur<br />
als auch von Vertretern der Wirtschaft<br />
deutlich häufiger verfolgt wird, ist<br />
die Abtrennung des CO 2 aus dem Abgas<br />
und die Nutzung als Edukt für die Synthese<br />
chemischer Wertstoffe, auch Carbon<br />
Capture and Utilization (CCU) genannt.<br />
Neben verschiedenen Veröffentlichungen<br />
im Bereich der Prozessmodellierung [8–<strong>10</strong>] ,<br />
konnten derartige Prozesse bereits im Pilotmaßstab<br />
demonstriert werden [11] . Als<br />
große Projekte in der Stahlindustrie sind<br />
z. B. Carbon2Chem (ThyssenKrupp) und<br />
Steelanol (ArcelorMittal) zu nennen. Aber<br />
auch für andere Industriezweige, insbesondere<br />
die Kalk- und Zementindustrie, ist<br />
diese Technologie interessant, da ein derartiges<br />
Konzept grundsätzlich jedem CO 2 -<br />
emittierenden Prozess nachgeschaltet werden<br />
kann. Die den hier durchgeführten<br />
Betrachtungen zugrunde liegenden Daten<br />
basieren auf einem bereits vorgestellten<br />
Prozessmodell [8] . Das Konzept kombiniert<br />
eine Hochtemperatur-Co-Elektrolyse mit<br />
einer Fischer-Tropsch-Synthese. Dieser Ansatz<br />
erlaubt sowohl ein hohes Maß an<br />
Stoff- und Wärmeintegration, als auch die<br />
Produktion eines breiten Spektrums verschiedener<br />
Stoffe. Das Modell wurde zur<br />
besseren Vergleichbarkeit um eine Aminwäsche<br />
zur Abtrennung des CO 2 aus einem<br />
Abgasstrom erweitert. Dabei wurde angenommen,<br />
dass der thermische Energiebedarf<br />
der Aminwäsche anlagenintern mit<br />
Abwärme aus exothermen Prozessstufen<br />
gedeckt werden kann und nur der elektrische<br />
Energiebedarf zusätzlich anfällt. Ein<br />
vereinfachtes Fließbild des Konzeptes ist in<br />
Abbildung 2 dargestellt.<br />
Bei diesem Konzept handelt es sich um<br />
einen Kreislaufprozess. Um in diesem eine<br />
Akkumulation von Inertkomponenten zu<br />
verhindern, ist das Ausschleusen eines<br />
Teils des rückgeführten Stoffstromes über<br />
das Abgas nötig. Da dieses kohlenstoffhaltige<br />
Komponenten enthält, ist der Kohlenstoffnutzungsgrad<br />
von CCU-Konzepten limitiert.<br />
Carbon Direct Avoidance (CDA)<br />
Ein Ansatz, der insbesondere von SSAB<br />
(Hybrit) sowie der Salzgitter AG (Salcos)<br />
vorangetrieben wird, ist die vollständige<br />
Substitution von Kohlenstoff bei der Reduktion<br />
des Eisenerzes durch eine komplette<br />
Umgestaltung der Roh<strong>stahl</strong>produktion.<br />
Anstelle eines Hochofens wird, wie in<br />
Abbildung 3 dargestellt, eine Direktreduktionsanlage<br />
für die Eisenerzreduktion genutzt.<br />
Da er ein wesentlicher Bestandteil<br />
des Roh<strong>stahl</strong>s ist, kann im Prozess nicht<br />
vollständig auf Kohlenstoff verzichtet werden.<br />
Dieser wird in diesem Konzept jedoch<br />
ausschließlich zur Aufkohlung und Restreduktion<br />
im Elektrolichtbogenofen genutzt<br />
und so auch nur in dieser Prozessstufe<br />
emittiert.<br />
Die Reduktion vom DR-Pellets mit Wasserstoff<br />
konnte bereits experimentell demonstriert<br />
werden [12, 13] , womit derartige<br />
Anlagen grundsätzlich kurzfristig technisch<br />
umsetzbar wären, jedoch stellt die<br />
Bereitstellung des Wasserstoffs analog zur<br />
direkten Nutzung von Wasserstoff und<br />
auch zum CCU-Konzept ein derzeit nicht<br />
mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand<br />
zu bewältigendes Problem dar. Ein Vorteil<br />
des betrachteten Konzeptes ist jedoch die<br />
Möglichkeit der Nutzung von Erdgas als<br />
Eisenerzreduktion ohne Kohlenstoff<br />
Vereinfachtes Fließbild des betrachteten CDA-Ansatzes<br />
Kohlenstoff<br />
Eisenerz<br />
Elektrizität<br />
H 2 O<br />
SOEL<br />
H 2<br />
O 2<br />
Direktreduktion<br />
Wärme<br />
DRI<br />
Elektrolichtbogenofen<br />
Roh<strong>stahl</strong><br />
Abb.3: Der Ansatz führt<br />
zu einer kompletten<br />
Umgestaltung der Roh<strong>stahl</strong>produktion.<br />
<strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de Oktober <strong>2020</strong> 17
TITELTHEMA: WASSERSTOFF<br />
Politik<br />
Hoffnungsträger Wasserstoff:<br />
Was jetzt wichtig ist<br />
Auf dem Weg zur dekarbonisierten Stahlindustrie soll u.a. der Umbau der Hochöfen durch<br />
Carbon Contracts for Difference abgesichert werden<br />
AUTOREN: Dieter Janecek, MdB, und<br />
Ingrid Nestle, MdB<br />
www.gruene-bundestag.de<br />
DARUM GEHT’S: In ihrer Stellungnahme<br />
ergänzen zwei bündnisgrüne Bundestagsabgeordnete<br />
die Nationale Wasserstoffstrategie<br />
(NWS) der Bundesregierung<br />
um eigene Gedanken. So fordern<br />
sie beispielsweise, Industrieprozessen<br />
Priorität einzuräumen, damit die Branche<br />
die Chance habe, bei „grünem Stahl“<br />
zum „weltweiten Frontrunner“ zu werden.<br />
Wasserstoff gilt als der große<br />
Hoffnungsträger für eine klimaneutrale<br />
Zukunft. Ob CO 2 -freier<br />
Stahl oder klimaneutrale Chemieindustrie<br />
– ohne Wasserstoff ist eine Dekarbonisierung<br />
der Industrie nach jetzigem Stand der<br />
Technik nicht denkbar. Vor wenigen Wochen<br />
hat die Bundesregierung einen eigenen<br />
Handlungsplan für Erzeugung, Transport,<br />
Nutzung und Weiterverwendung von<br />
Wasserstoff veröffentlicht. Das war überfällig.<br />
Doch jetzt muss die Umsetzung möglichst<br />
schnell möglichst konkret werden.<br />
Eines vorab: Wasserstoff ist nicht gleich<br />
Wasserstoff. Klimaneutral ist das Gas nur<br />
dann, wenn es mit Erneuerbaren Energien<br />
und nicht etwa fossilem Erdgas oder gar<br />
Kohle erzeugt wird und Atomstrom als<br />
Grundlage kommt wegen der Risiken nicht<br />
in Frage. Die große Herausforderung: Ausreichend<br />
grünen Wasserstoff zu produzieren,<br />
ohne den Kohleausstieg zu gefährden.<br />
Denn allein für diesen fehlt deutschlandweit<br />
substantiell grüner Strom. Der Zubau<br />
an Windrädern und Solaranlagen für Wasserstoff<br />
muss zusätzlich stattfinden. Das<br />
macht klar: Ohne den ambitionierten Ausbau<br />
der Erneuerbaren Energien und eine<br />
zeitliche Steuerung der Wasserstoffproduktion<br />
in Zeiten mit ausreichend Wind<br />
oder Sonne werden wir den Umbau kaum<br />
schaffen.<br />
Wasserstoff macht die Industrie<br />
klimaneutral<br />
Grüner Wasserstoff ist kostbar und sollte<br />
gezielt dort eingesetzt werden, wo er am<br />
Die avisierten Routen mögen sich unterscheiden, aber im Ziel sind sich Stahlerzeuger und<br />
Politik einig: Der CO 2 -Ausstoß muss signifikant sinken. Mit einem rund 1 400 m 2 großen<br />
Plakat an der Feuerbeschichtungsanlage 7 (FBA 7) in Bochum weist etwa thyssenkrupp<br />
Steel Europe auf den Weg zum Wasserstoff.<br />
dringendsten benötigt wird. Wo ein Prozess<br />
auch gut elektrifiziert werden kann,<br />
ist der direkte Einsatz von grünem Strom<br />
vorzuziehen. In der Industrie gibt es aber<br />
Bereiche, die nur mit Wasserstoff auf klimaverantwortliche<br />
Produktion umstellen<br />
können. Weitere wichtige Bereiche sind<br />
der Einsatz von Wasserstoff als Grundstoff,<br />
der Schwerlastverkehr und die Sicherheit<br />
der Stromversorgung. Zwar war in den<br />
letzten Jahren kaum ein Sektor so erfolgreich<br />
wie die Industrie bei der CO 2 -Reduktion,<br />
dennoch verursacht allein die Grundstoff-Industrie<br />
rund 20 Prozent der europäischen<br />
Treibhausgas-Emissionen. Hinzu<br />
kommt: In vielen industriellen Prozessen<br />
sind die Effizienzpotenziale mit klassischen<br />
Optimierungsmethoden weitgehend<br />
ausgeschöpft.<br />
Zum Beispiel Prozesse in der Stahl- und<br />
Chemieindustrie könnten zukünftig über<br />
Wasserstoff bedient werden. Laut der Wasserstoff-Roadmap<br />
des Fraunhofer-Instituts<br />
könnten auf europäischer Ebene bis zu 560<br />
Terawattstunden an Wasserstoffbedarf für<br />
Industrieanwendungen nötig werden, um<br />
den Sektor zu dekarbonisieren. Mit Blick<br />
auf Deutschland könnte bis 2050 allein in<br />
der Stahlproduktion ein Bedarf von bis zu<br />
56 Terawattstunden entstehen – das entspricht<br />
etwa dem aktuellen Gesamtverbrauch<br />
von Wasserstoff in Deutschland. So<br />
enorm der Bedarf an Strom aus erneuerbaren<br />
Energiequellen für diese Mengen ist,<br />
so wichtig ist es, den Industrieprozessen<br />
Priorität einzuräumen. Der Produktionsstandort<br />
Deutschland ist in Bedrängnis<br />
geraten, zum Beispiel durch den extremen<br />
Marktdruck aus China. China hat seine<br />
Stahlproduktion in den vergangenen 25<br />
Jahren verzehnfacht. Die Produktion von<br />
grünem Stahl hingegen steckt noch in den<br />
Anfängen und Europa hat jetzt die gewaltige<br />
Chance zum weltweiten Frontrunner<br />
zu werden. Damit können wir unseren<br />
Standort nachhaltig stärken.<br />
Gemeinsam sind wir stärker<br />
Der Blick auf den nationalen Bedarf an<br />
Wasserstoff in den nächsten Jahrzehnten<br />
zeigt, dass Deutschland nicht darum herum<br />
kommt substantielle Mengen an Wasserstoff<br />
zu importieren. Gemeinsam mit<br />
unseren europäischen Partnern wollen wir<br />
Quelle: thyssenkrupp Steel Europe<br />
22 Oktober <strong>2020</strong> <strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de
Quelle: Dieter Janecek, MdB; Ingrid Nestle, MdB<br />
verlässliche Partnerschaften nach gemeinsamen<br />
Vorgaben für Klima- und Umweltschutz,<br />
aber auch für die Einhaltung von<br />
Menschenrechten aufbauen. Energiepartnerschaften<br />
mit sonnen- und windreichen<br />
Ländern zum Beispiel aus Nord- oder Westafrika<br />
könnten nicht nur helfen, den Wasserstoffbedarf<br />
der deutschen Industrie zu<br />
decken, sondern auch Wertschöpfung vor<br />
Ort schaffen. Wir wollen Energiepartnerschaften<br />
auf Augenhöhe, die nicht nur den<br />
europäischen Wasserstoffbedarf, sondern<br />
auch die Energiesicherheit und die Energiewende<br />
in den Partnerländern berücksichtigt.<br />
Die freudigen Ankündigungen der Bundesregierung<br />
können nicht darüber hinweg<br />
täuschen, dass die Transportfrage von<br />
einem Kontinent zum anderen noch lange<br />
nicht geklärt ist. Per Pipeline oder Tankschiff?<br />
Im Gemisch mit Methan oder bereits<br />
als Kraftstoff? Auch im Wirtschaftsausschuss<br />
des Bundestages wurde uns von<br />
Seiten der Bundesregierung bescheinigt,<br />
dass Wasserstoffschiffe eine wichtige Rolle<br />
einnehmen, die das begehrte Gas über lange<br />
Strecken transportieren könnten. Da die<br />
Bundesregierung in ihrer Wasserstoffstrategie<br />
massiv auf Importe setzt und nur zu<br />
14 % auf heimischen grünen Wasserstoff,<br />
wäre es höchste Zeit, statt teurer Planungen<br />
von LNG-Terminals für fossiles Gas<br />
jetzt den Bau von Wasserstoffterminals<br />
anzuschieben.<br />
In einem gemeinsamen „Autor*innenpapier“,<br />
so die Eigenschreibweise, skizzieren<br />
die bündnisgrünen Bundestagsabegordneten<br />
Dieter Janecek und Ingrid Nestle<br />
verschiedene Stellschrauben für einen<br />
Leitmarkt für grünen Stahl.<br />
Jetzt konkret werden – Contracts<br />
for Difference und Quoten<br />
können helfen<br />
Neben dem sehr viel ehrgeizigeren Ausbau<br />
der Erneuerbaren Energien hierzulande<br />
(hier dürfen wir uns nichts vormachen: wir<br />
werden deutlich mehr in Windkraft und<br />
Photovoltaik investieren müssen), gilt es<br />
den Einsatz von grünem Wasserstoff in der<br />
Industrie zu ermöglichen. Wasserstoff ist<br />
nicht billig. Klimaneutral hergestellter<br />
Stahl ist bei heutigen CO 2 -Pr<strong>eisen</strong> spürbar<br />
teurer als herkömmlicher Stahl. Ohne faire<br />
Unterstützung hat grüner Stahl auf dem<br />
Weltmarkt keine Chance.<br />
Deshalb ist es zum einen sinnvoll, den<br />
Umbau der Hochöfen durch Carbon Contracts<br />
for Difference abzusichern. Wenn<br />
der Staat mit Unternehmen Verträge für<br />
die Entwicklung von klimafreundlichen<br />
Projekten abschließt, sprich einen festen<br />
CO 2 -Preis über eine gewisse Laufzeit garantiert,<br />
ergibt sich daraus eine Win-Win Situation.<br />
Die Unternehmen haben Investitionssicherheit<br />
und können besser planen,<br />
der Staat unternimmt einen wichtigen<br />
Schritt hin zu Klimaneutralität und verringert<br />
gleichzeitig das Risiko von Überförderung.<br />
Solche Verträge könnten für verschiedene<br />
Verfahren hin zu mehr Klimaneutralität<br />
in der Industrie Schwung in<br />
den Technologieausbau bringen. Wir brauchen<br />
jetzt den Mut, sie umzusetzen.<br />
Zum anderen ist es wichtig, dass europäische<br />
Unternehmen durch die Teilnahme<br />
am Emissionshandel keine Nachteile<br />
haben. Deshalb müssen wir diese weiterhin<br />
mit effektiven Mechanismen ausgleichen<br />
und unsere heimische Wirtschaft vor<br />
Greenwashing der internationalen Konkurrenz<br />
schützen.<br />
Eine weitere Stellschraube für einen<br />
Leitmarkt für grünen Stahl sind entsprechende<br />
Einbringungsquoten und Produktstandards<br />
für CO 2 -arme oder -freie Materialien.<br />
Nach der Einschätzung von AGORA<br />
Energiewende wäre das mächtige Instrument<br />
unter bestimmten Bedingungen<br />
wettbewerbsrechtlich durchaus umsetzbar.<br />
Produzenten von Konsumgütern werden<br />
damit verpflichtet, festgelegte Anteile<br />
von CO 2 -frei produzierten Rohstoffen, bzw.<br />
Materialien zu verwenden. So wird den<br />
Produzenten eine Mindestabnahme garantiert,<br />
die energieintensive Herstellung<br />
kann sich wirtschaftlich für sie lohnen.<br />
Wasserstoff wird zukünftig eine enorme<br />
Rolle spielen. Die Frage ist, ob Deutschland<br />
es schaffen wird, vorne mitzumischen.<br />
Entscheidend dafür wird sein, ob die Bundesregierung<br />
die extreme Dringlichkeit<br />
erkennt. Ohne einen engagierten und deutlich<br />
ambitionierteren Ausbau der Erneuerbaren<br />
Energien, den Aufbau stabiler Wasserstoff-Partnerschaften,<br />
eine klare Priorisierung<br />
von Anwendungsfeldern und die<br />
zügige Umsetzung von Förderinstrumenten<br />
bleibt Deutschland auf der Strecke. Die<br />
nationale Wasserstoffstrategie kann nur<br />
der Anfang sein. Besser gestern als heute<br />
sollten wir die Vorhaben auch tatsächlich<br />
umsetzen.<br />
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TITELTHEMA: WASSERSTOFF<br />
Fördermittel<br />
Projekt Carbon2Chem erhält neue<br />
Förderung über 75 Mio. Euro<br />
Das Projekt von thyssenkrupp Steel Europe soll jetzt u.a. die Langzeitstabilität nachw<strong>eisen</strong><br />
DARUM GEHT’S: Vier Jahre dauerte die<br />
erste Projektphase von Carbon2Chem.<br />
Am Ende standen so erfreuliche Ergebnisse,<br />
dass das Bundesministerium für<br />
Bildung und Forschung die nächste Runde<br />
mit einem hohen zweistelligen Millionenbetrag<br />
unterstützt.<br />
Das von thyssenkrupp initiierte Projekt<br />
Carbon2Chem geht jetzt in die<br />
nächste Phase und soll die Lösung<br />
auf weitere Industrien ausweiten, die Langzeitstabilität<br />
nachw<strong>eisen</strong> und die Marktreife<br />
herstellen. Dafür hat das Bundesministerium<br />
für Bildung und Forschung<br />
(BMBF) neue Fördermittel über 75 Mio.<br />
Euro für den Zeitraum bis 2024 zugesagt.<br />
Gemeinsam mit über ein Dutzend Partner<br />
hatte thyssenkrupp Steel Europe in dem<br />
BMBF-geförderten Projekt in den vier Jahren<br />
zurückliegenden grundlegende Erkenntnisse<br />
über die Umwandlung von Prozessgasen<br />
aus dem Stahlwerk in chemische<br />
Produkte gesammelt.<br />
Ausweitung und Marktreife<br />
In der jetzt gestarteten zweiten Projektphase<br />
wird es darum gehen, nachzuw<strong>eisen</strong>,<br />
dass die erarbeiteten Lösungen im komplexen<br />
Zusammenspiel zwischen Stahlproduktion<br />
und chemischer Synthese über<br />
lange Zeit stabile laufen und die Carbon-<br />
2Chem-Technologie im industrieübergreifenden<br />
Verbund sofort hochskaliert werden<br />
kann. Darüber hinaus steht die Anwendbarkeit<br />
auf weitere Industrien neben<br />
der Stahlherstellung im Mittelpunkt. So<br />
sollen zusätzliche Sektoren als große CO 2 -<br />
Quellen in das Projekt aufgenommen werden<br />
– etwa die Zement- und Kalkherstellung<br />
sowie Müllverbrennungsanlagen. Die<br />
zweite Projektphase soll zudem das Projekt<br />
zur Markreife führen.<br />
Ergebnisse der ersten Phase<br />
2016 wurde das Projekt vom BMBF für die<br />
erste Phase bereits mit mehr als 60 Millionen<br />
Euro gefördert. Nachdem im März<br />
2018 das Technikum in Duisburg die Arbeit<br />
aufnahm, konnten binnen kurzer Zeit erfolgreich<br />
Ammoniak, Methanol und höhere<br />
Alkohole aus Prozessgasen der Stahlproduktion<br />
hergestellt werden. Neben dem<br />
Virtuelle Übergabe des Bewilligungsschreibens für die zweite Förderphase von Carbon-<br />
2Chem (v.l.): Bundesforschungsministerin Anja Karliczek mit den drei Koordinatoren Prof.<br />
Dr.-Ing. Görge Deerberg (stellv. Institutsleiter des Fraunhofer UMSICHT), Prof. Robert<br />
Schlögl (Direktor des Max-Planck-Instituts für Chemische Energiekonversion) und Dr.<br />
Markus Oles (thyssenkrupp AG).<br />
CO 2 aus diesen Gasen nutzt Carbon2Chem<br />
dazu auch Wasserstoff. Um den Weg für<br />
eine klimaneutrale Produktion zu ebnen,<br />
wurde im Technikum eine alkalische Wasser-Elektrolyse<br />
von thyssenkrupp Uhde<br />
Chlorine Engineers mit einer Leistung von<br />
zwei Megawatt betrieben. Es wurde der<br />
Nachweis erbracht, dass die Wasser-Elektrolyse<br />
auch mit sehr volatiler erneuerbarer<br />
Energie betrieben werden kann, ohne Schaden<br />
zu nehmen. Die Durchführung der<br />
chemischen Synthese mit kommerziell verfügbaren<br />
Katalysatoren und der Betrieb der<br />
Gasreinigung mit kommerziell verfügbaren<br />
Prozessstufen durch thyssenkrupp Industrial<br />
Solutions bestätigt den technologischen<br />
Reifegrad (TRL) des Projekts. Zudem wurde<br />
die Wirtschaftlichkeit sowie der positive<br />
ökologische Effekt von allen Projektpartnern<br />
bestätigt.<br />
Hintergrund<br />
Bei thyssenkrupp Steel ist Carbon2Chem<br />
auf dem Weg zur klimaneutralen Stahlproduktion<br />
fest eingeplant. Neben der Vermeidung<br />
von CO 2 -Emissionen durch den<br />
Einsatz von Wasserstoff zur Stahlproduktion<br />
setzt das Unternehmen auf die Technologie,<br />
um anfallende Restemissionen<br />
nutzen und vermeiden zu können. So soll<br />
Carbon2Chem dazu beitragen, die CO 2 -<br />
Emissionen im Hüttenwerk von thyssenkrupp<br />
Steel bis 2030 um 30 Prozent zu<br />
senken und bis 2050 vollständige Klimaneutralität<br />
zu erreichen.<br />
Dr. Klaus Keysberg, Finanzvorstand der<br />
thyssenkrupp AG dankt dem Bundesministerium<br />
für das „Vertrauen und die Unterstützung<br />
für unsere Klimatechnologien.<br />
Carbon2Chem könne gerade „CO 2 -intensive<br />
Industrien auf dem Weg zur Klimaneutralität<br />
unterstützen“, was „nicht nur für<br />
Stahl, sondern z.B. auch für die Zementoder<br />
Kalkproduktion“ gelte, ist er sich sicher.<br />
Im Unternehmen sehe man bereits<br />
weltweites Interesse an dieser Technologie<br />
und mit der fortgesetzten Förderung könne<br />
das Gemeinschaftsprojekt nun zur<br />
Marktreife weiterentwickelt werden. „In<br />
wenigen Jahren bereits wollen wir Carbon-<br />
2Chem industriell einsetzen“, gibt er die<br />
Stoßrichtung vor.<br />
tp/TK<br />
Quelle:: Fraunhofer UMSICHT/Paul Hahn<br />
24 Oktober <strong>2020</strong> <strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de
<strong>2020</strong><br />
Sonderstrecke
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„Fast die Quadratur des Kreises,<br />
diese Technik der Industrie<br />
komplett verfügbar zu machen“<br />
Im Interview verraten vier Partner das Erfolgsrezept des BMBF-Förderprojekts<br />
„ProLMD“zur hybrid-additiven Fertigung von Großbauteilen mit Laserauftragschweißen<br />
AUTOR: Nikolaus Fecht*<br />
DARUM GEHT‘S: Lassen sich Roboter auf<br />
dem Gebiet der additiven Fertigung einsetzen?<br />
Das BMBF-Förderprojekt<br />
„ProLMD” kommt zu einer klaren Antwort:<br />
ja. In Teamarbeit ging es darum,<br />
neue Hybrid-Prozesse, das konventionelle<br />
Fertigungsverfahren mit Laserauftragschweißen<br />
(Laser Material Deposition,<br />
LMD) und drei Robotern zu einem neuen<br />
Fertigungsansatz vereinen. Das Erfolgsrezept<br />
erklären vier Experten des BMBF,<br />
des KIT, von Kuka Industries und dem<br />
Fraunhofer ILT.<br />
<strong>stahl</strong> + <strong>eisen</strong>: Herr Dr. Bossy, was fiel bei<br />
ProLMD besonders auf?<br />
Bossy: Das Projekt hat sich von Anfang<br />
an dadurch ausgezeichnet, dass alle Projektpartner<br />
hochmotiviert und gut koordiniert<br />
an die Forschungsarbeiten herangegangen<br />
sind. Auf Basis der Arbeiten am<br />
Fraunhofer ILT zusammen mit den Anwenderfirmen<br />
ließen sich schnell erste<br />
Erfolge beim Laserauftragsschweißen<br />
kleiner Strukturen auf großflächigen<br />
Bauteilen erzielen. Als innovativ empfand<br />
ich, dass hier zwei Ansätze verschmolzen<br />
werden: die Pulver- und die<br />
Drahtschweißung. Positiv ist auch der<br />
Hybrid-Ansatz, bei dem man die Vorteile<br />
anderer konventioneller Fertigungsverfahren,<br />
wie das Zerspanen oder das Urund<br />
Umformen, mit dieser additiven<br />
Technologie kombiniert.<br />
Dr. Helmut Bossy, BMBF<br />
„Alle Projektpartner<br />
sind hochmotiviert<br />
und gut<br />
koordiniert an<br />
die Forschungsarbeiten<br />
herangegangen“<br />
<strong>stahl</strong> + <strong>eisen</strong>: Was sprach für die finanzielle<br />
Unterstützung, durch die drei Anlagen entstanden?<br />
Bossy: Zunächst hat die Expertengruppe,<br />
die uns bei der Auswahl der Projekte beraten<br />
hat, dieses Vorhaben als hochinnovativ<br />
eingestuft und zur Förderung empfohlen.<br />
Im Übrigen finden die wissenschaftlichen<br />
Erkenntnisse zur additiven<br />
Fertigung erst Einzug in die Praxis, wenn<br />
die erforschten und entwickelten Prozesse<br />
unter industriellen Bedingungen zuverlässig<br />
arbeiten. Um dies schrittweise,<br />
aber auch in einem angemessenen Zeitraum<br />
zu erreichen, waren in diesem Fall<br />
drei Demonstratoren erforderlich. Am<br />
Fraunhofer ILT konnte das wissenschaftliche<br />
Prozessverständnis vertieft und die<br />
notwendigen Verbesserungen an den Pulver-<br />
bzw. Drahtköpfen der bestehenden<br />
Anlagentechnik vorgenommen werden.<br />
Eine weitere Anlage war für die Verknüpfung<br />
der unterschiedlichen Anlagenkomponenten<br />
erforderlich, wie das Roboterschweißen<br />
in kontrollierter Atmosphäre<br />
und die berührungslose Messtechnik zur<br />
Qualitätssicherung - und das alles unter<br />
industriellen Anforderungen. Mit den Erfahrungen<br />
aus beiden Anlagen konnten<br />
dann die Erkenntnisse in einen weiteren<br />
Anlagenaufbau am Fraunhofer ILT einfließen.<br />
Dieser ist speziell auf die mittelständischen<br />
Unternehmen zugeschnitten,<br />
was beispielsweise Verfügbarkeit<br />
und einfache Handhabung der doch<br />
recht komplexen Prozesse der additiven<br />
Fertigung anbelangt.<br />
<strong>stahl</strong> + <strong>eisen</strong>: Herr Neumann, was hat Kuka<br />
zur Teilnahme an dem Förderprojekt und zur<br />
Übernahme der Projektleitung motiviert?<br />
Neumann: Kuka hat im Jahr 2015 bei<br />
der Übernahme von Reis Robotics auch<br />
Reis Lasertec in Würselen in der Nähe des<br />
Fraunhofer ILT Aachen mit übernommen,<br />
um die damals bereits bestehenden<br />
guten Kontakte weiter auszubauen. Deshalb<br />
sind wir auch so affin, was solche<br />
Projekte angeht. Wir sehen die additive<br />
Fertigung als einen Zielmarkt, für den<br />
wir versuchen, mit unserer Robotertechnologie<br />
einen Standard zu setzen. Es gibt<br />
dafür ja bereits hochspezialisierte Werkzeugmaschinen,<br />
die jetzt auf den Markt<br />
kommen. Wir wollten das Ganze aber<br />
günstiger gestalten und eine standardisierte<br />
Roboterzelle entwickeln. Wir werden<br />
niemals die Genauigkeit von einer<br />
Werkzeugmaschine erreichen, aber diese<br />
Präzision braucht es auch nicht überall.<br />
<strong>stahl</strong> + <strong>eisen</strong>: Am Fraunhofer ILT entstand<br />
mit finanzieller Unterstützung des BMBF zudem<br />
eine preiswertere Variante der ProLMD-<br />
Roboteranlage für kleine und mittlere Unternehmen.<br />
Kommt additive Fertigung mit dem<br />
Roboter auch für den kleinen Jobshop infrage?<br />
Neumann: Ja genau. Es war natürlich<br />
ein glücklicher Umstand, dass das BMBF<br />
uns angesprochen hat, ob wir nicht auch<br />
schon etwas für den Mittelstand aufbauen<br />
können. Für diesen entstand eine Lösung,<br />
mit der sich vom Prinzip her genauso<br />
wie mit einer Hightech-Anlage arbeiten<br />
lässt. In Würselen besitzen wir<br />
eine Anlage mit einer kompletten Box, in<br />
der wir unter Schutzgasatmosphäre<br />
hochsensible Teile aufbauen können.<br />
Aber das muss man ja nicht immer haben.<br />
Dazu wurden unsere Kernkomponenten<br />
auf die wesentlichen Funktionen<br />
reduziert.<br />
32 Oktober <strong>2020</strong> <strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de
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<strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de Oktober <strong>2020</strong> 33
POLITIK<br />
MÄRKTE<br />
Meinung<br />
„Es gibt keinen Klimanotstand“<br />
Standpunkt von Prof. Dr. Fritz Vahrenholt, Politiker, Manager und Buchautor<br />
DARUM GEHT’S: Als vormaliger Hamburger<br />
Umweltsenator, Manager in der<br />
Energiewirtschaft und Hochschulprofessor<br />
hat Fritz Vahrenholt so breite Erfahrungen<br />
gesammelt wie nur wenige Klimaexperten.<br />
In seinem Meinungsbeitrag<br />
mahnt er mehr Gelassenheit an.<br />
Das Urteil über CO 2 und die damit<br />
verbundene Industrie ist längst gefällt:<br />
schädlich, gefährlich, abzustellen.<br />
Es ist immer wieder erstaunlich,<br />
dass vergessen wird, dass CO 2 der Baustoff<br />
des Lebens ist und das trotz aller möglichen<br />
negativen Auswirkungen die Erträge<br />
an Nahrungsmitteln, wie etwa Weizen und<br />
Reis, durch das gestiegene CO 2 um etwa 15 %<br />
erhöht worden sind. Wer sagt es den Schülerinnen<br />
und Schülern von Fridays for Future,<br />
dass wir ohne den CO 2 -Anstieg ganz<br />
gewiss zu wenig Nahrungsmittel hätten,<br />
um die Welt satt zu machen? Allein 15 %<br />
weniger Reis, Weizen und Soja wären auf<br />
Dauer für die Weltbevölkerung nicht erträglich.<br />
Das alles spricht CO 2 nicht frei<br />
und auch nicht uns Menschen, die in 150<br />
Jahren einerseits durch Entfaltung der Industriegesellschaft<br />
die Lebensbedingungen<br />
für alle Menschen auf der Erde verbessert<br />
haben, andererseits die CO 2 - Konzentration<br />
von 0,018 % auf 0,041 % „hoch“getrieben<br />
haben. Was wir nicht hinreichend genau<br />
wissen, ist, wie stark dieser und ein weiterer<br />
Anstieg das Klima verändern wird.<br />
Dass die Staatengemeinschaft im Verlaufe<br />
dieses Jahrhunderts reagieren muss<br />
und den CO 2 -Ausstoß reduzieren muss,<br />
darüber besteht kein Zweifel. Die fehlerhaften<br />
Klimamodelle dürfen aber hierfür<br />
nicht zur Grundlage gemacht werden. Sie<br />
laufen um 50 % zu heiß gegenüber der<br />
Realität. Das heißt, wir haben doppelt so<br />
viel Zeit. Nicht 2050 sondern 2<strong>10</strong>0 müssen<br />
wir uns weitgehend von fossilen Brennstoffen<br />
verabschiedet haben.<br />
CO 2 -arme Technologien müssen auf jeden<br />
Fall entwickelt werden. Und da spielt<br />
Deutschland eine miserable Rolle. Alles,<br />
was jenseits von Windenergie und Solarenergie<br />
den Energiehunger der Welt nachhaltig<br />
befriedigen könnte, findet nicht<br />
statt. Jedes Jahr stellen die Grünen im<br />
Haushaltsausschuss den Antrag, die Fördermittel<br />
für die Fusionsforschung einzustellen,<br />
die Erforschung inhärent sicherer<br />
Kernkraftwerke ist in Deutschland verbo-<br />
Prof. Dr. Fritz Vahrenholt<br />
ten, fossile Kraftwerke mit CO 2 -Abscheidung<br />
(CCS) sind ebenfalls untersagt. Nach<br />
der Zerstörung der deutschen Automobilindustrie<br />
will man auch den Kohlenstoff<br />
in der Industrie, bei Stahlwerken, Zementwerken<br />
und Raffinerien ersetzen. Jeder<br />
schaue sich in seinem Umfeld um und<br />
entdecke, worauf er verzichten würde<br />
ohne Petro-Chemie – also auf Pharmaka,<br />
Handy-Bildschirme, Kabelummantelungen,<br />
Kosmetika, Farben, Kunstfasern, Klebstoffe<br />
oder Wasch- und Reinigungsmitteln;<br />
also Stoffe auf die wir tagtäglich angewiesen<br />
sind. Der Strombedarf in Deutschland<br />
würde sich mehr als verdreifachen. Und<br />
dies soll mit dem wahnsinnigen Plan erfüllt<br />
werden, unseren Energie- und Kohlenwasserstoffbedarf<br />
allein durch naturzerstörerische<br />
Windkraftwerke und ineffiziente<br />
Solardächer in Deutschland zu<br />
befriedigen. Es wäre daher ausgesprochen<br />
dumm, sich auf diesen Weg zu versteifen<br />
und andere Optionen a priori auszuschließen.<br />
Wenn die Klimareaktion auf das CO 2 bei<br />
einer Klimasensitivität (die Erwärmung bei<br />
Verdoppelung der CO 2 -Konzentration in<br />
der Luft) von 1,5-2 Grad liegt, wird die Erwärmung<br />
bis 2<strong>10</strong>0 etwa 2 Grad Celsius<br />
nicht übersteigen. Dann haben wir bis<br />
2<strong>10</strong>0 Zeit, um das vorindustrielle Emissionsniveau<br />
erreicht zu haben – es gibt keinen<br />
Klimanotstand. Dabei ist es unerheblich,<br />
ob Deutschland und Europa 2050 oder<br />
2<strong>10</strong>0 auf Netto-Null kommen. Entscheidend<br />
ist: Was macht die Welt, und vor allem,<br />
was macht China? Zu glauben, dass<br />
China, wie in Paris versprochen, bis 2030<br />
die CO 2 -Emissionen von 8,9 Milliarden Tonnen<br />
auf (nur!) 12,5 Milliarden Tonnen an-<br />
steigen lassen wird, um diese hernach in<br />
20 Jahren auf Null zu senken, wäre schon<br />
arg naiv. Chinas Regierung selbst rechnet<br />
für das Jahr 2050 mit den gleichen Emissionen<br />
wie heute, was schon eine gewaltige<br />
Anstrengung voraussetzt. Oder entspricht<br />
es etwa der europäischen Logik, dass wir<br />
unsere Industriegesellschaft zerstören, damit<br />
China richtig aufblühen kann?<br />
1 600 Kohlekraftwerke werden zurzeit<br />
weltweit in 62 Ländern gebaut, die meisten<br />
übrigens durch chinesische Firmen und<br />
mit Hilfe chinesischer Kredite. Insgesamt<br />
wird die Kohlekraftwerkskapazität weltweit<br />
nicht reduziert, sondern um 43 Prozent<br />
erweitert. Das ist keine theoretische<br />
Modellrechnung, sondern die Realität. Und<br />
Über Autor und Buch<br />
Nach „Kalte Sonne“ aus dem Jahr 2012<br />
erschien Mitte September mit „Unerwünschte<br />
Wahrheiten“ das jüngste<br />
Gemeinschaftswerk von Prof. Dr. Fritz<br />
Vahrenholt und seinem Mitautor Sebastian<br />
Lüning. In dem Werk beleuchten<br />
die beiden 50 Fakten zur aktuellen<br />
Klimadebatte. Dabei kommen sie u.a.<br />
zu der Erkenntnis, die eine vereinfachende<br />
Darstellung in den Medien<br />
den komplexen Zusammenhängen<br />
nicht gerecht wird und zu Angst und<br />
Verunsicherung führt. Die Autoren<br />
verstehen ihr Buch als Streitschrift<br />
gegen eine überhitzte Klimadebatte<br />
und klimapolitischen Aktionismus.<br />
44 Oktober <strong>2020</strong> <strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de
wir steigen bis 2022 aus der Kernenergie<br />
und bis 2038 aus der heimischen Braunkohle<br />
aus.<br />
Katastrophen-Warnungen gab es schon<br />
viele. Die Warnung vor der kleinen Eiszeit<br />
in den 1970er Jahren, die Warnungen des<br />
Club of Rome , dass uns 2000 die Rohstoffe<br />
ausgehen, das Ende des deutschen Waldes<br />
um 2000. Oft kam es auch ganz anders, als<br />
man dachte. Das naheliegendste Szenarium<br />
aber wäre zurzeit: Die Welt stellt sich<br />
bis 2<strong>10</strong>0 langsam um und Deutschland<br />
stürzt in zehn Jahren ab, wenn die Infantilisierung<br />
der Politik auf dem Niveau von<br />
Fridays for future weiter um sich greift.<br />
Es ist nicht zu erwarten, dass neue wissenschaftliche<br />
Erkenntnisse zu einer Änderung<br />
der Politik führen. Zuviel Wohlstandsverluste<br />
wurden und werden von<br />
den Menschen mit einer Politik der Angst<br />
vor der Klimakatastrophe abverlangt, zu<br />
viel wurden <strong>10</strong>0%ige Wahrheiten verkündet,<br />
als dass man offen sein könnte für<br />
Kurskorrekturen. Und wenn es denn so<br />
sein sollte, dass die Notstandssituationen<br />
nicht gerechtfertigt waren, die Klimaprognosen<br />
in sich zusammenbrechen, weil<br />
sich ein Teil der Erwärmung als natürliche<br />
Entwicklung herausstellt, und CO 2 weniger<br />
stark erwärmend wirkt als angenommen,<br />
hat nicht nur die Klimawissenschaft, sondern<br />
die Politik insgesamt ein schwerwiegendes<br />
Glaubwürdigkeitsproblem.<br />
Transformation statt<br />
ökonomischer Erstarrung<br />
Publizist Gabor Steingart redet zwar etablierte Branchen wie die Stahlindustrie schlecht,<br />
regt mit seinem Buch aber zum Nachdenken an<br />
AUTOR: Torsten Paßmann<br />
torsten.passmann@<strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de<br />
DARUM GEHT’S: Eine „messerscharfe<br />
Analyse“ der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen<br />
Folgen der „permanenten<br />
Rettungspolitik“ – sei das neueste<br />
Buch des Wirtschaftsjournalisten Gabor<br />
Steingart laut Verlag. Vollumfänglich<br />
trifft das nicht zu, aber er weist komprimiert<br />
auf viele Baustellen hin.<br />
Corona sei der „Schwarze Schwan für<br />
große Teile der deutschen Volkswirtschaft“<br />
und dieser kreise „über dem<br />
Hochofen von ThyssenKrupp“, überfliege<br />
„die Braunkohlereviere, die Reisebüros von<br />
TUI und die VW-Zentrale in Wolfsburg“<br />
und niste als „Wappentier des bevorstehenden<br />
Unglücks“ auch auf den „Zinnen alter<br />
Macht im Frankfurter Bankenviertel“, ist<br />
sich der Publizist Gabor Steingart sicher.<br />
An anderer Stelle heißt es, dass Stahlwerke<br />
„Auslaufgeschäfte des 20. Jahrhunderts“<br />
und „Altgeschäfte nahe der ökonomischen<br />
Todeszone“ seien. Auch das klingt dramatisch<br />
und wird dabei weder dem Werkstoff<br />
als Grundlage der modernen Gesellschaft<br />
gerecht noch der Branche, die kontinuierlich<br />
an Innovationen arbeitet. Konzeptionell<br />
legt Steingart mit seiner Lust zu apokalyptischen<br />
Formulierungen aber den<br />
Finger in offene Wunden.<br />
Zentrales Bild seines Buches ist jener<br />
Ort, „wo der Kapitalismus ganz bei sich ist“<br />
und wo „immer wieder neu die Antriebs-<br />
und Lebensenergien für ein System“ entstehen,<br />
„das nach Expansion strebt“. Steingart<br />
nennt das den „glühend roten Kern<br />
der Volkswirtschaft“. Dieser Kern werde in<br />
Deutschland jedoch kontinuierlich kleiner,<br />
weil seit Jahren schließlich der Teil der<br />
Wertschöpfung wachse, der auf Daten und<br />
Datenplattformen beruht – was aber vor<br />
allem Unternehmen in China und den USA<br />
erfolgreich monetarisieren. Das hiesige<br />
Erfolgsmodell, was der Autor wenig liebevoll<br />
„die Welt von gestern“ nennt und was<br />
mit „künstlich geschaffenem Notenbankgeld“<br />
gerettet werden soll, indes basiert<br />
bislang weitgehend auf Errungenschaften<br />
aus dem Industriezeitalter. In der als „persönliche<br />
Rede“ getarnten Streitschrift<br />
kämpft Steingart daher voller Leidenschaft<br />
für eine zukunftsorientierte Denk- und<br />
Handlungsweise und fordert das Ende der<br />
ökonomischen Erstarrung und die Transformation<br />
in eine wettbewerbsfähige Digitalgesellschaft.<br />
Als ehemaliger Chefredakteur und Herausgeber<br />
des Handelsblatts gehört Steingart<br />
zweifelsohne zu den profiliertesten<br />
Wirtschaftsjournalisten des Landes. Schreiben<br />
kann er. Im Buch „Die unbequeme<br />
Wahrheit“ indes finden sich auch einige<br />
unangenehme Schwächen. Es fängt beim<br />
Titel an, der sehr stark an Al Gore erinnert<br />
(„Eine unbequeme Wahrheit“), geht mit<br />
der anbiedernden Leseransprache als „lieber“<br />
oder „mein Freund“ und der Verliebtheit<br />
in Phrasen und Metaphern weiter,<br />
etwa aus der Welt der Eisenbahnen. So<br />
gebe es immer wieder „in der Weltgeschichte<br />
stolze Nationen, die ihre Zukunft<br />
verpasst haben, wie man einen Zug verpassen<br />
kann“, heißt es an der einen Stelle;<br />
später dann die „Tür zum Zug in Richtung<br />
Zukunft steht schon offen. Lass uns einsteigen.“<br />
Wer über solche Aspekte hinwegsehen<br />
kann, findet in dem Buch sicherlich<br />
auch anregende Denkanstöße.<br />
Das Buch<br />
Gabor Steingart: Die unbequeme<br />
Wahrheit. Rede zur Lage unserer<br />
Nation, Penguin Verlag, 208 Seiten,<br />
16 Euro. Auch als Hörbuch erhältlich.<br />
<strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de Oktober <strong>2020</strong> 45
POLITIK<br />
MÄRKTE<br />
China-Kolumne<br />
Neue Kreisläufe und einheitliche<br />
Standards<br />
Im Mittelpunkt des kommenden 14. Fünfjahresplans steht die neue Doktrin der „Zwei<br />
Kreisläufe“. China will künftig weniger Werkbank der Welt, sondern Hightech-Schmiede<br />
und Konsumzentrum sein.<br />
AUTOR: Fabian Grummes, China-Korrespondent<br />
Der chinesische Präsident Xi Jinping sprach erstmals<br />
im Mai <strong>2020</strong> davon, dass sich die Wirtschaft<br />
seines Landes weiterentwickeln müsse.<br />
Es gelte, den eigenen Binnenmarkt zu stärken und die<br />
gesamte Bandbreite der Wertschöpfungskette abzudecken.<br />
Dies bedeute aber keine Abkehr von der Globalisierung<br />
und einen neuen Protektionismus. Peking<br />
wünscht sich vielmehr, auch im Hochtechnologiesektor<br />
und bei qualitativ anspruchsvollen Produkten<br />
Marktanteile zu gewinnen, wobei der Binnenmarkt<br />
und der Konsum der Chinesen den Hebel hierfür liefern<br />
sollen. Neu sind diese Gedanken nicht. Bereits im<br />
11. Fünfjahresplan (2006) wurde die Stärkung des<br />
Binnenmarktes gefordert. Der Handelskrieg mit den<br />
USA sowie die Coronakrise aber lassen die Regierung<br />
in Peking dieses Fernziel nun zu einem dringlichen<br />
Nahziel erklären. Die zugrundeliegende Erwartung,<br />
dass die künftigen Wertschöpfungs- und Produktionslinien<br />
anders verlaufen werden und vor allem regionaler<br />
aufgestellt sind, dürfte der zentrale Treiber hierfür<br />
sein. Entsprechend wird das Konzept der „Zwei<br />
Kreisläufe“ der ordnungspolitische Rahmen für den<br />
ab dem kommenden Jahr geltenden 14. Fünfjahresplan<br />
sein.<br />
Konsequenzen für die Stahlindustrie<br />
Wer die gesamte Wertschöpfungskette abdecken will,<br />
der muss bei den Rohstoffen anfangen. Das jüngst von<br />
Vale in der Nähe von Ningbo aufgebaute Werk, das<br />
exklusiv für die chinesischen Stahlwerke spezielle<br />
Eisenerzpellets liefert, ist ein Beispiel hierfür. Vales<br />
Konkurrent Rio Tinto hat bereits den Aufbau eines<br />
eigenen, ähnlich ausgerichteten Werkes in China angekündigt.<br />
Auch wird Chinas Ziel künftig weniger der<br />
Export günstig bepreister Stahlprodukte sein, sondern<br />
der von hochqualitativen Stählen. Ebenfalls wird man<br />
die hierzu notwendigen Maschinen und Anlagen liefern<br />
wollen. Ein Beispiel hierfür wäre das im Jahr 2017<br />
durch ein Joint Venture von Delong Steel und Tsing<br />
San im indonesischen Morowali errichtete Stahlwerk.<br />
An diesem Beispiel wird auch deutlich wie sehr andere<br />
chinesische Initiativen als Wegbereiter für das Konzept<br />
der „Zwei Kreisläufe“ fungieren, beispielsweise<br />
„Made in China 2025“, die „Belt & Road Initiative“ oder<br />
auch „China Standards 2035“. Gerade letzteres greift<br />
stark mit dem Zweikreisläufe-Konzept ineinander. So<br />
erklärte jüngst Li Xinchuang, Vorsitzender des China<br />
Metallurgical Industry Planning and Research Institutes,<br />
dass „einheitliche Standards der Schlüssel für Innovation<br />
und Weiterentwicklung in der chinesischen<br />
Stahlindustrie sind“.<br />
Ein Fragezeichen bei der Umsetzbarkeit<br />
Bei allen diesen großen Plänen sollte aber nicht übersehen<br />
werden, dass China nach wie vor ein Schwellenland<br />
ist. Zwar ist die Entwicklung des Landes mehr als<br />
beeindruckend und auch hat sich die Kaufkraft der<br />
Chinesen in den letzten zehn Jahren nach Kaufkraftparität<br />
fast verdoppelt, aber die US-Bürger sind im<br />
gleichen Zeitraum – in absoluten Zahlen gerechnet –<br />
dennoch vermögender geworden. Die Weiterentwicklung<br />
der chinesischen Wirtschaft hin zu einem stabilen<br />
Konsummarkt ist ein Mammutprojekt, welches<br />
sich nicht innerhalb zwei oder drei Jahren realisieren<br />
lassen wird. Zudem ist es keinesfalls so, dass China<br />
schon in allen Bereichen zum Westen aufgeschlossen<br />
hat und nun vollständig auf das dortige Knowhow<br />
verzichten wird können. Insofern wird es in den kommenden<br />
Jahren spannend zu sehen sei, ob und in<br />
welchem Umfang es China in Sachen „Zwei Kreisläufe“<br />
gelingt, Wunsch und Wirklichkeit in Einklang zu<br />
bringen.<br />
Fabian Grummes<br />
„Einheitliche Standards sind der Schlüssel für Innovation und<br />
Weiterentwicklung in der chinesischen Stahlindustrie.“<br />
Quelle: Shutterstock<br />
46 Oktober <strong>2020</strong> <strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de
POLITIK<br />
MÄRKTE<br />
Wirtschaft<br />
Wirtschaftliche Erholung schreitet<br />
weiter voran, aber verhaltener<br />
Nach einer ersten starken Erholung im Mai und Juni wurde der Prozess im August<br />
unterbrochen. Das Infektionsgeschehen bleibt eine Belastung.<br />
Quelle: Shutterstock<br />
DARUM GEHT‘S: Der Ausblick bleibt angesichts<br />
merklich erholter Auftragseingänge<br />
und einer weiteren Stimmungsaufhellung<br />
seitens der Unternehmen jedoch<br />
positiv. Die Auswirkungen der<br />
Corona-Pandemie auf den Arbeitsmarkt<br />
sind weiterhin markant, es zeigt sich<br />
aber bereits eine leichte Besserung.<br />
Die deutsche Wirtschaft erholt sich<br />
Schritt für Schritt. Nach der ersten<br />
kräftigen Belebung im Mai und Juni<br />
als Reaktion auf das Ende des harten „Lockdowns“<br />
kommt der weitere Erholungsprozess<br />
allerdings mühsamer voran. Die Corona-Pandemie<br />
hat weiterhin Verhaltensänderungen<br />
bei Konsumenten und Investoren<br />
zur Folge. Wirtschaftsbereiche, für die<br />
soziale Kontakte eine große Rolle spielen,<br />
sind davon besonders betroffen. Nichtsdestotrotz<br />
und obgleich des beunruhigenden<br />
Infektionsgeschehens signalisieren die<br />
aktuellen Konjunkturindikatoren jedoch<br />
eine fortgesetzte Erholung der Wirtschaft,<br />
unterstützt durch die umfangreichen konjunkturstützenden<br />
Maßnahmen der Bundesregierung.<br />
So dürfte angesichts des<br />
guten Einstiegs für das dritte Quartal das<br />
bei Weitem höchste Quartalswachstum<br />
ausgewiesen werden, das jemals ermittelt<br />
wurde. Für das vierte Quartal signalisieren<br />
die Indikatoren, wenn auch verlangsamt,<br />
die Fortsetzung des Erholungsprozesses.<br />
Die Wirtschaftsforschungsinstitute gehen<br />
in ihrer aktuellen Gemeinschaftsdiagnose<br />
nunmehr von einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts<br />
im laufenden Jahr um 5,4<br />
Prozent aus. Die Bundesregierung hatte in<br />
ihrer Interimsprojektion von Anfang September<br />
noch einen Rückgang um 5,8 Prozent<br />
projektiert.<br />
Weltwirtschaft weiterhin auf<br />
Erholungspfad<br />
Die Weltkonjunktur ist nach wie vor durch<br />
die Pandemie beeinträchtigt, es gelingt ihr<br />
aber die Erholung mit etwas gedrosseltem<br />
Tempo fortzusetzen. Die globale Industrieproduktion<br />
erhöhte sich im Juli den dritten<br />
Monat in Folge, befindet sich aber noch<br />
um knapp 4,5 Prozent unterhalb des Niveaus<br />
vor einem Jahr. Der Welthandel wurde<br />
ebenfalls ausgeweitet und stieg gegenüber<br />
Juni um 4,8 Prozent, blieb damit jedoch<br />
noch um rund 6,5 Prozent unter<br />
Vorjahresniveau. Grund für Zuversicht<br />
liefern weiterhin die Stimmungsindikatoren.<br />
Insgesamt gab der Einkaufsmanagerindex<br />
von J. P. Morgan / IHS Markit mit 52,1<br />
Punkten im September aufgrund etwas<br />
schwächerer Einschätzungen der Dienstleister<br />
zwar leicht nach, er lag damit aber<br />
weiterhin deutlich über seiner Wachstumsschwelle.<br />
Die Welthandelsorganisation<br />
(WTO) geht mittlerweile davon aus, dass<br />
der Welthandel <strong>2020</strong> (-9,2 Prozent) weit<br />
weniger stark einbrechen wird als zunächst<br />
im Frühjahr befürchtet. Der Internationale<br />
Währungsfonds kündigte ebenfalls<br />
eine leichte Aufwärtsrevision seiner<br />
Prognose für das globale BIP und den Welthandel<br />
an.<br />
Deutscher Außenhandel benötigt<br />
einen langen Atem<br />
Im August wurde erneut ein Anstieg der<br />
Ausfuhren von Waren und Dienstleistungen<br />
verzeichnet. Ihr Wert stieg saisonbereinigt<br />
und nominal um 2,2 % gegenüber<br />
dem Vormonat, nachdem er im Mai/Juni<br />
und Juli bereits zugenommen hatte. Im<br />
Zweimonatsvergleich Juli/August gegenüber<br />
Mai/Juni ergab sich damit ein deutlicher<br />
Anstieg um 11,6 %. Die Waren- und<br />
Dienstleistungseinfuhren hingegen erholten<br />
sich im August um 4,2 %. Im Zweimonatsvergleich<br />
erhöhten sich die Einfuhren<br />
damit um 8,5 %.<br />
Bezüglich des Ausblicks steigt die Zuversicht<br />
bei den deutschen Unternehmen. Die<br />
ifo-Exporterwartungen für das Verarbeitende<br />
Gewerbe etwa lagen im September<br />
per saldo noch deutlicher im positiven Bereich<br />
als schon im August. Die Auftragseingänge<br />
aus dem Ausland erhöhten sich<br />
im August erneut kräftig um 6,5 % und<br />
lagen damit über dem Vorkrisenniveau des<br />
vierten Quartals 2019.<br />
Insgesamt sind die Aussichten für den<br />
deutschen Außenhandel positiv, aber weiterhin<br />
Risiken ausgesetzt. Im Zuge der Erholung<br />
der wirtschaftlichen Aktivität in<br />
einer Vielzahl von Ländern dürfte der deutsche<br />
Außenhandel weiter zunehmen. Allerdings<br />
bleiben die Pandemie-bedingten<br />
Risiken für die Weltwirtschaft hoch. Die<br />
Pandemie ist global noch keineswegs auf<br />
dem Rückzug. Selbst bei Ausbleiben eines<br />
Rückschlags des Welthandels dürfte der<br />
Erholungsprozess des deutschen Außenhandels<br />
noch einige Zeit in Anspruch nehmen.<br />
tp/BMWi<br />
Maschinenbau GmbH<br />
engineering and manufacturing<br />
Equipment and devices for forging industries<br />
Hornstraße 19 45964 Gladbeck Germany<br />
Tel. + 49 (0) 2043 9738 0 Fax + 49 (0) 2043 9738 50 Web www.glama.de<br />
<strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de Oktober <strong>2020</strong> 47
POLITIK<br />
MÄRKTE<br />
Länder<br />
Anlagen<br />
Nachbearbeitung im Walzdrahtwerk von EZDK in Alexandria,<br />
Ägypten<br />
Outokumpu erhält von der SMS group eine Pulververdüsungsanlage<br />
für Edel<strong>stahl</strong>pulver, das als Vormaterial für die additive<br />
Fertigung fungieren soll.<br />
ÄGYPTEN<br />
ABB beendet Modernisierung<br />
in Walzdrahtwerk<br />
bei EZDK<br />
Die Al Ezz Dekheila Steel<br />
Company (EZDK) hat die Fertigstellung<br />
einer vollständigen,<br />
von ABB durchgeführten<br />
Modernisierung des Walzdrahtwerks<br />
in Alexandria,<br />
Ägypten genehmigt. Im Rahmen<br />
des Projekts wurden die<br />
alten Automatisierungs- und<br />
Leitsysteme von ABB komplett<br />
überholt. Nach dessen<br />
Angaben beinhaltete dies unter<br />
anderem das Engineering,<br />
die Konstruktion und die Fertigung<br />
einer neuen Lösung<br />
der Automatisierungstechnik<br />
der Stufe 1, die auf dem neuesten<br />
ABB Ability System<br />
800xA basiert.<br />
CHINA<br />
Wuxi Paike erhält „weltweit<br />
größte“ Ringwalzmaschine<br />
Die SMS group soll die nach<br />
eigenen Angaben „weltweit<br />
größte“ Ringwalzmaschine<br />
zur Herstellung von Komponenten<br />
für Flugzeugtriebwerke<br />
an das chinesische Unternehmen<br />
Wuxi Paike liefern.<br />
Sie verfügt über eine radiale<br />
Walzkraft von 1 000 Tonnen<br />
und eine axiale Walzkraft<br />
von 800 Tonnen. Zudem sei<br />
sie die erste Anlage ihrer Art,<br />
die Triebwerksringe mit einer<br />
Höhe von bis zu 1 500<br />
Millimetern walzen kann.<br />
Dabei handelt es sich um<br />
eine Dimensionierung, die es<br />
Wuxi Paike erlauben soll,<br />
auch die für die kommenden<br />
Generationen von Stahltriebwerken<br />
benötigten Ringe „in<br />
effizienter Weise“ herzustellen.<br />
Ein weiterer wesentlicher<br />
Vorteil ist der SMS<br />
group zufolge das eigens entwickelte<br />
elektrohydraulische<br />
Direktantriebskonzept für<br />
alle Prozessachsen. Dieses ermögliche<br />
neben einer im Vergleich<br />
zum hydraulischen<br />
Antrieb noch präziseren<br />
Steuerung der Ringwalzmaschine<br />
eine „deutliche Energieeinsparung“.<br />
Darüber hinaus<br />
ist die neue Ringwalzmaschine<br />
so ausgelegt, dass sie<br />
neben dem Hauptprodukt –<br />
Ringe für Strahltriebwerke<br />
aus schwer umformbaren<br />
Werkstoffen wie Titan und<br />
Nickelbasislegierungen für<br />
die zivile Luftfahrt – auch<br />
Ringe aus Kohlenstoff<strong>stahl</strong><br />
bis zehn Meter Durchmesser<br />
walzen kann.<br />
HBIS Tangsteel erteilt<br />
Endabnahme für Kontiverzinkungslinien<br />
HBIS Tangsteel hat Primetals<br />
Technologies die Endabnahme<br />
für zwei Kontiverzinkungslinien<br />
(CGL) als Teil der<br />
Erweiterung des Kaltwalzwerks<br />
Nr. 2 im Werk Tangshan<br />
erteilt. Errichtet wurden<br />
die Linien CGL 5 und CGL 6<br />
in einer neuen Halle neben<br />
dem bestehenden Kaltwalzwerk,<br />
das ebenfalls von Primetals<br />
geliefert worden war<br />
und Anfang 2015 die Produktion<br />
aufgenommen hatte.<br />
Mit den neuen Anlagen will<br />
HBIS Tangsteel die Produktionskapazität<br />
für hochfeste,<br />
Die Endlosverzinkungslinien CGL 5 und CGL 6 für das Kaltwalzwerk<br />
von HBIS Tangsteel in Tangshan<br />
beschichtete Metallbleche<br />
um 650 000 Tonnen pro Jahr<br />
steigern. Konkret verfügt die<br />
CGL 5 über eine Kapazität<br />
von etwa 250 000 Tonnen pro<br />
Jahr und verarbeitet Kaltband<br />
im Breitenbereich von<br />
850 bis 1 300 mm und in Dicken<br />
von 850 bis 1 600 mm.<br />
Die CGL 6 kann 400 000 Tonnen<br />
Kaltband pro Jahr im<br />
Breitenbereich von 850 bis 1<br />
600 mm und in Dicken von<br />
0,5 bis 3 mm verzinken. Diese<br />
Linie, so Primetals, bietet<br />
auch die Möglichkeit der Beschichtung<br />
des Kaltbandes<br />
mit einer Aluminium-Silizium-Legierung.<br />
Die Einlaufund<br />
Auslaufgeschwindigkeit<br />
beider Linien beläuft sich auf<br />
250 Meter pro Minute, während<br />
die Arbeitsgeschwindigkeit<br />
180 Meter pro Minute erreicht.<br />
FINNLAND<br />
Outokumpu erhält Pulververdüsungsanlage<br />
für<br />
Edel<strong>stahl</strong><br />
Der finnische Stahlhersteller<br />
Outokumpou hat die SMS<br />
group mit der Lieferung einer<br />
Pulververdüsungsanlage<br />
zur Herstellung von hochqualitativem<br />
Metallpulver<br />
aus Edel<strong>stahl</strong> für die additive<br />
Fertigung beauftragt. Die Anlage<br />
soll unter anderem rostfreie<br />
Stähle, Maraging-Stähle,<br />
Edelstähle, Superlegierungen,<br />
Ni-Basis-Legierungen<br />
und Kupfer-Basis-Legierungen<br />
verdüsen können – und<br />
Quellen: ABB; Primetals Technologies; SMS group<br />
48 Oktober <strong>2020</strong> <strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de
Lesen Sie,<br />
was wirklich wichtig ist!<br />
Einzelhefte und Abonnements finden Sie im Shop.<br />
www.<strong>stahl</strong><strong>eisen</strong>.de/shop<br />
<strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de Oktober <strong>2020</strong> 49
POLITIK<br />
MÄRKTE<br />
Roh<strong>stahl</strong>herstellung<br />
Roh<strong>stahl</strong>herstellung im August <strong>2020</strong><br />
August August % Veränd. 8 Monate Veränderung<br />
<strong>2020</strong> 2019 August 20/19 <strong>2020</strong> 2019 in %<br />
Belgien 470 e 640 -26,5 4211 5 320 -20,8<br />
Deutschland 2830 3266 -13,4 227<strong>10</strong> 27 200 -16,5<br />
Finnland 227 258 -11,9 2176 2415 -9,9<br />
Frankreich 722 <strong>10</strong>50 -31,2 7264 <strong>10</strong> 038 -27,6<br />
Großbritannien 566 509 11,2 4645 4 926 -5,7<br />
Italien 939 856 9,7 12 755 15 373 -17,0<br />
Luxemburg 159 112 41,5 1243 1483 -16,2<br />
Niederlande 472 578 -18,4 4024 4621 -12,9<br />
Österreich 460 e 577 -20,2 4258 5144 -17,2<br />
Polen 600 e 695 -13,7 5344 6301 -15,2<br />
Schweden 258 362 -28,6 2776 3308 -16,1<br />
Spanien 696 1 031 -32,5 6884 9417 -26,9<br />
Tschechien 332 364 -8,7 2907 3203 -9,2<br />
Ungarn 112 121 -7,3 <strong>10</strong>73 1193 -<strong>10</strong>,0<br />
Weitere EU-Länder (32) (e) 470 e 754 -118,3 5 735 8189 -183,9<br />
Europäische Union (28) 9315 11 173 -16,6 88006 <strong>10</strong>8 131 -18,6<br />
Bosnien-Herzegowina 40 e 73 -45,1 345 558 -38,2<br />
Mazedonien 0 0 – 74 152 -51,5<br />
Norwegen 60 e 60 0,4 414 408 1,6<br />
Serbien 115 112 3,2 973 1281 -24,1<br />
Türkei 3238 2634 22,9 22671 22545 0,6<br />
Europa außer EU 3 453 2878 20,0 24476 24943 -1,9<br />
Kasachstan 230 e 369 -37,6 2130 2731 -22,0<br />
Moldawien 20 e 37 -45,5 182 252 -27,7<br />
Russland 5550 e 5816 -4,6 46604 482<strong>10</strong> -3,3<br />
Ukraine 1827 1938 -5,7 13 683 14 655 -6,6<br />
Usbekistan 75 e 63 19,0 616 426 44,6<br />
Weißrussland 225 e 227 -1,1 1723 1758 -2,0<br />
C.I.S. 7 927 8449 -6,2 64938 68033 -4,5<br />
Kanada 825 e 1111 -25,7 7302 8743 -16,5<br />
Mexiko 1 250 e 1511 -17,3 <strong>10</strong> 622 12 690 -16,3<br />
USA 5588 7396 -24,4 47 4<strong>10</strong> 59 128 -19,8<br />
Weitere Länder (3) (e) 25 e 55 -154,6 279 411 -93,8<br />
Nordamerika 7 688 <strong>10</strong> 074 -23,7 65614 80972 -19,0<br />
Argentinien 336 436 -22,8 2132 3173 -32,8<br />
Brasilien 2701 2537 6,5 19 773 22365 -11,6<br />
Chile 85 e 89 -4,0 732 699 4,8<br />
Kolumbien 1<strong>10</strong> e 115 -4,3 711 9<strong>10</strong> -21,9<br />
Weitere Länder (5) (e) 69 e 183 -327,6 822 1343 -198,6<br />
Südamerika 3 301 3359 -1,7 24169 28490 -15,2<br />
Ägypten 415 e 408 1,7 5129 5031 2,0<br />
Libyen 30 31 -3,7 300 364 -17,5<br />
Südafrika 330 e 434 -24,0 2 245 4032 -44,3<br />
Afrika 775 873 -11,2 7 674 9426 -18,6<br />
Iran 2400 e 2094 14,6 18 625 16 739 11,3<br />
Katar 83 229 -63,6 925 1747 -47,1<br />
Saudi Arabien 355 745 -52,3 4650 5692 -18,3<br />
Vereinigte Arabische Emirate 195 286 -31,9 1778 2 163 -17,8<br />
Mittlerer Osten 3033 3354 -9,5 25977 26341 -1,4<br />
China 94845 87499 8,4 688889 664582 3,7<br />
Indien 8478 8868 -4,4 61 111 75283 -18,8<br />
Japan 6 446 8120 -20,6 54720 67593 -19,0<br />
Pakistan 350 e 285 22,8 2234 2254 -0,9<br />
Südkorea 5 800 5905 -1,8 43818 47 953 -8,6<br />
Taiwan, China 1625 e 1 855 -12,4 13 980 15 151 -7,7<br />
Thailand 350 e 380 -8,0 2773 2886 -3,9<br />
Vietnam 2315 1741 32,9 15 397 13 807 11,5<br />
Asien 120 208 114 653 4,8 882922 8895<strong>10</strong> -0,7<br />
Australien 477 501 -4,7 3658 3648 0,3<br />
Neuseeland 66 60 <strong>10</strong>,3 373 450 -17,2<br />
Ozeanien 544 561 -3,1 4031 4098 -1,7<br />
Gesamt 64 Länder (1) 156 244 155 374 0,6 1187 806 1239943 -4,2<br />
1)<br />
Die an worldsteel berichtenden Länder repräsentieren etwa 99 % der Weltroh<strong>stahl</strong>produktion 2018 in 1.000 t. e – geschätzt<br />
52 Oktober <strong>2020</strong> <strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de
WISSENSCHAFT<br />
TECHNIK<br />
Wasserstoff + Stahl<br />
HOFFNUNG<br />
UND WAGNIS<br />
Neun Milliarden Euro schwer ist das Corona-Konjunkturpaket der Bundesregierung für<br />
die Nationale Wasserstoffstrategie (NWS). Wasserstoff ist also der Hoffnungsträger der<br />
Energiewende –aber auch eine große Herausforderung für metallische Werkstoffe und<br />
ein Wagnis für deren Performance.<br />
Quelle: Shutterstock<br />
Wasserstoffversprödung ist seit nahezu anderthalb Jahrhunderten<br />
bekannt. Dennoch ist das hochkomplexe Wechselspiel zwischen<br />
einer ganzen Palette von Wasserstoffeffekten und Defekten im Material<br />
bisher erst in Ansätzen verstanden und noch immer Gegenstand<br />
aktueller Forschung und Diskussion.<br />
<strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de Oktober <strong>2020</strong> 53
WISSENSCHAFT<br />
TECHNIK<br />
Wasserstoff + Stahl<br />
AUTOREN: Dr.-Ing. Florian Schäfer,<br />
Patrick Grünewald, Marc Thiel,<br />
Experimentelle Methodik der<br />
Werkstoffwissenschaften, Universität<br />
des Saarlandes<br />
f.schaefer@matsci.uni-sb.de<br />
DARUM GEHT’S: Wasserstoffversprödung<br />
insbesondere von hochfesten<br />
martensitischen Stählen ist ein seit<br />
nahezu anderthalb Jahrhunderten bekanntes<br />
Phänomen. Aber auch eine<br />
Vielzahl anderer metallischer Werkstoffe<br />
reagiert empfindlich auf einen<br />
fertigungsbedingten Wasserstoffeintrag<br />
oder auf Wasserstoffeintrag aus<br />
der Einsatzumgebung. In den vergangenen<br />
Jahrzehnten wurde eine Vielzahl<br />
von Modellen für die Wirkmechanismen<br />
von Wasserstoff auf die<br />
Festigkeit, die plastische Verformbarkeit<br />
sowie die Bruchzähigkeit und die<br />
Ermüdungsfestigkeit von Metallen<br />
entwickelt. Einige dieser Mechanismen<br />
sind experimentell bereits überprüft,<br />
andere Gegenstand laufender<br />
kritischer Diskussion. Dennoch ist<br />
das hochkomplexe Wechselspiel zwischen<br />
dieser ganzen Palette von Wasserstoffeffekten<br />
auf Defekte im Material<br />
aber bisher erst in Ansätzen verstanden<br />
und noch immer Gegenstand<br />
aktueller Forschung und Diskussion.<br />
Die gezielte in situ Beladung mit Wasserstoff<br />
offenbart im Brückenschlag<br />
zwischen Werkstoffprüfung von der<br />
Makro- bis hin zu Nanoskala einen<br />
tieferen Einblick und erlaubt eine gezielte<br />
bottom-up Materialcharakterisierung.<br />
Wasserstoff wird interstitiell<br />
im Atomgitter von Metallen<br />
eingebaut. Dies sollte ähnlich<br />
wie beim Kohlenstoff im Stahl<br />
grundsätzlich zu einer Festigkeitssteigerung<br />
führen. Dennoch wirkt der Wasserstoff<br />
nicht nur wegen seiner enorm<br />
hohen Diffusionsgeschwindigkeit anders<br />
als klassische Legierungselemente.<br />
Trotz großer Anstrengungen, einen Wasserstoffeintrag<br />
während der Fertigung<br />
beispielsweise beim Aufbringen galvanischer<br />
Beschichtungen oder im Einsatz<br />
auch durch Korrosionsschutz zu vermeiden<br />
oder diesen durch eine nachgelagerte<br />
Wärmebehandlung zu entfernen,<br />
kann ein Vorhandensein von<br />
Wasserstoff im Gefüge des Werkstoffs<br />
selten gänzlich ausgeschlossen werden.<br />
Schon wenige ppm Wasserstoff im Metall<br />
können zu großen Konsequenzen<br />
führen.<br />
Vermeintlich unanfällige<br />
Werkstoffe?<br />
Von einer Vielzahl von metallischen<br />
Werkstoffen wie Titan- und Nickellegierungen<br />
ist massive Wasserstoffschädigung<br />
bekannt. Die Wasserstoffkrankheit<br />
von Kupfer ist ein prominentes Beispiel.<br />
Ob und in welchem Umfang<br />
Wasserstoffeffekte auftreten ist aber<br />
leider nicht so einfach vorherzusagen.<br />
Etabliert ist das Wissen, dass Wasserstoff<br />
hochfeste martensitische Stähle versprödet.<br />
Daher auch der bekannte Begriff:<br />
Wasserstoffversprödung. Beim Einsatz<br />
von Baustählen und von austenitischen<br />
Stählen wähnen sich viele sicher. Ein<br />
Grund für die vermeintliche Immunität<br />
Wasserstoff schädigt auch vermeintlich<br />
widerstandsfähige Materialien<br />
Erst die Gegenüberstellung von makroskopischem Ermüdungsrisswachstum und Abbildung lokaler Dehnungsfelder<br />
auf der Mikroskala erlaubt ein detailliertes Verständnis und eine zielgerichtete Bewertung des Wasserstoffeinflusses<br />
auf das Risswachstumsverhalten<br />
Abbildung 1: Der Schwellwert des Ermüdungsrisswachstums ΔK th , gemessen nach ASTM E 647, wird durch Wasserstoff im Gefüge<br />
deutlich verringert im austenitischen Edel<strong>stahl</strong> X2CrNi19-9. Gleichzeitig erlaubt die Messung der von-Mises-Vergleichsdehnung<br />
an Rissspitze und der lokalen Rissöffnung im in situ Laststeigerungsversuch eine Abschätzung der risstreibenden Kraft (gemessen<br />
mittels Digitaler Bildkorrelation mit der Software VEDDAC im Rasterelektronenmikroskop nach geeigneter Kontrastierung der<br />
Probenoberfläche)<br />
54 Oktober <strong>2020</strong> <strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de
Wasserstoff muss lokal detektiert werden<br />
Um den Effekt von Wasserstoff auf die Mikrostruktur untersuchen zu können, muss zuerst einmal die lokale<br />
Verteilung des Wasserstoffs in Werkstoffen bestimmt werden<br />
Abbildung 2: Schematische Darstellung der Messung lokaler Wasserstoffkonzentration. Die<br />
links im Bild darge-stellte Messspitze wird zur Schwingung angeregt, um aus der Schwingungsamplitude<br />
die elektrostatische Kraft zwischen Spitze und Probe zu bestimmen,<br />
welche sich lokal mit dem Wasserstoffgehalt ändert. Rechts sind die einzelnen Lagen<br />
unseres Messaufbaus zu sehen. Die unterschiedlich dicken Pfeile stehen für die Abhängigkeit<br />
der Diffusionsgeschwindigkeit von Phase (Asutenit/Ferrit) oder Kristallorientierung.<br />
von Austeniten ist die gegenüber kubisch-raumzentrierten<br />
(krz) Stählen um<br />
mehrere Größenordnungen verringerte<br />
Diffusionsgeschwindigkeit des gelösten<br />
Wasserstoffs im kubisch-flächenzentrierten<br />
(kfz) Gitter. Kfz-Stähle gelten<br />
aufgrund ihrer vermeintlichen Unanfälligkeit<br />
daher als Werkstoff der Wahl für<br />
Anwendungen in der Wasserstofftechnologie.<br />
Viele Austenite, abhängig vom<br />
Nickel- und Chromäquivalent, sind<br />
metastabil und wandeln verformungsinduziert<br />
in Martensit um. Dies wird<br />
aber vom Wasserstoff unterdrückt, weil<br />
er die Stapelfehlerenergie senken kann.<br />
Zwillingsbildung kann attraktiver werden<br />
als die Umwandlung in nanoskalige<br />
Martensitlatten. Prinzipiell noch kein<br />
Problem. Was ist aber nun an einer Rissspitze?<br />
Bildet sich weiterhin lokal Martensit,<br />
der das Ermüdungsrisswachstum<br />
aufgrund seiner hohen Festigkeit blocken<br />
kann, oder entfällt die Volumenzunahme<br />
durch die Martensitisierung<br />
an der Rissspitze die letztlich eine Rissspitze<br />
während der zyklischen Entlastung<br />
bei der Ermüdung zudrückt?<br />
Wächst der Riss also schneller oder auch<br />
bei niedrigeren Lasten?<br />
Das zeigen zumindest unsere Versuche.<br />
Im direkten Vergleich zwischen<br />
unbeladenem metastabilen austenitischen<br />
Edel<strong>stahl</strong> X2CrNi19-11 (1.4306)<br />
und ex situ elektrochemisch vorbeladenen<br />
Proben ist der Schwellwert für das<br />
Langrisswachstum ΔK th , gemessen in<br />
Lastabsenkung nach ASTM E 647, in<br />
Gegenwart von Wasserstoff vermindert<br />
(s. Abb.1). Gleichzeitig ist die Rissausbreitungsgeschwindigkeit<br />
in Gegenwart<br />
von Wasserstoff im Kristallgitter deutlich<br />
erhöht. Dieser Effekt wird allerdings<br />
mit zunehmender Rissausbreitung<br />
aufgrund der geringen Diffusionsgeschwindigkeit<br />
der Wasserstoffatome<br />
im kfz-Gitter auch zunehmend marginalisiert,<br />
da Wasserstoffatome nur erschwert<br />
in die Prozesszone des sich ausbreitenden<br />
Risses eindiffundieren und<br />
schädigend wirken können. Hier zeigt<br />
sich an einem Beispiel das komplexe<br />
Zusammenspiel von atomaren Vorgängen,<br />
dass letztlich die makroskopische<br />
Materialperformance bestimmt.<br />
Die Ausbildung ebendieser Prozesszone<br />
für das Risswachstum vor der Rissspitze<br />
wurde mittels Digitaler Bildkorrelation<br />
im Rasterelektronenmikroskop<br />
untersucht. Dabei zeigt sich, dass die<br />
risstreibende Kraft durch den Wasserstoff<br />
deutlich erhöht wird, weil Risse<br />
bereits früher bei Laststeigerung öffnen.<br />
Dies demonstriert, dass auch austenitische<br />
Stähle eine wasserstoffinduzierte<br />
Degradation der mechanischen Materialeigenschaften<br />
zeigen können. Nun ist<br />
der Wasserstoff im Austenit aber langsamer<br />
als im Ferrit bzw. im Martensit.<br />
Der Effekt dürfte also abhängig von der<br />
Belastungsgeschwindigkeit sein.<br />
Skalenübergreifende Wasserstoffdetektion<br />
Um nun den Effekt der Ausbreitungsgeschwindigkeit<br />
des Wasserstoffs im<br />
Material abschätzen zu können, bedarf<br />
es der Messung der Diffusionsgeschwindigkeit.<br />
Die Messung der Diffusionsgeschwindigkeit<br />
von Wasserstoff in<br />
Festkörpern erfolgt über Permeationsversuche,<br />
standardmäßig nach Devanathan-Stachurski<br />
(ASTM G 148). Dabei<br />
wird die Durchtrittsgeschwindigkeit des<br />
Wasserstoffs durch eine Membran aus<br />
dem zu untersuchenden Material in einer<br />
elektrochemischen Doppelzelle bestimmt.<br />
Auf einer Seite der Membran<br />
wird mit Wasserstoff kathodisch beladen<br />
und auf der Gegenseite wird der<br />
Wasserstoff elektrochemisch detektiert.<br />
So können Diffusionsgeschwindigkeiten<br />
für ein Material bestimmt werden, allerdings<br />
nur als globale Materialeigenschaft.<br />
Wie bei den Untersuchungen der<br />
Rissspitzendehnungsfelder gezeigt, hängen<br />
makroskopische Materialeigenschaften<br />
aber meist von lokalen Vorgängen<br />
in der Mikrostruktur ab. Da die<br />
<strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de Oktober <strong>2020</strong> 55
RECHT<br />
FINANZEN<br />
Energie<br />
Der Verlust von Umlageprivilegien<br />
droht<br />
Die Übergangsfrist für die rechtskonforme Abgrenzung von Strommengen<br />
läuft bald aus<br />
AUTOR: Joachim Bohn, Consultant, enexion<br />
www.enexion.net<br />
DARUM GEHT’S: Zum Jahresende brauchen Unternehmen ein<br />
mess- und eichrechtskonformes Messkonzept, um an Dritte<br />
weitergeleitete Strommengen abzugrenzen. Fehlt dies, droht<br />
der Verlust wertvoller Umlageprivilegien.<br />
Die Frist für das Umsetzen eines gesetzeskonformen Messkonzepts<br />
für die Abgrenzung von Strommengen läuft am<br />
31. Dezember <strong>2020</strong> aus. Der Gesetzgeber hatte in dem Ende<br />
2018 verabschiedeten Energiesammelgesetz entscheidende Änderungen<br />
im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) vorgenommen und<br />
dabei besonderes Augenmerk auf die Abgrenzung von Stromverbräuchen<br />
Dritter gelegt. Die in den §§ 62a, 62b und <strong>10</strong>4 EEG beschriebenen<br />
Regelungen müssen ab dem 1. Januar 2021 nun<br />
zwingend von Unternehmen, die weiterhin Umlageprivilegien in<br />
Anspruch nehmen wollen, eingehalten werden.<br />
Zahlreiche Umlageprivilegien betroffen<br />
Betroffen sind insbesondere Unternehmen, die im Rahmen der<br />
Besonderen Ausgleichsregelung von der EEG-Umlage, der KWKGund<br />
der Offshore-Netz-Umlage befreit werden wollen und Strom<br />
an Dritte weiterleiten. Zudem sind alle Unternehmen betroffen,<br />
die eine privilegierte Abrechnung der §19 StromNEV-Umlage in<br />
Anspruch nehmen. Während die Industrieunternehmen die Drittmengen<br />
bisher schätzen durften, läuft die Übergangsfrist jetzt<br />
aus: Ab dem 1. Januar 2021 erhalten die Unternehmen eine privilegierte<br />
Abrechnung nur noch bei Vorlage einer Erklärung, die<br />
beschreibt, wie an Dritte weitergeleitete Strommengen mess- und<br />
eichrechtskonform erfasst und abgegrenzt werden.<br />
Coronabedingt ist diese Übergangsfrist in vielen Fällen aus dem<br />
Blickfeld geraten. Wenn das Messkonzept zur Drittmengenabgrenzung<br />
aber nicht bis Jahresende umgesetzt ist, drohen betroffenen<br />
Unternehmen schlimmstenfalls der Verlust sämtlicher Umlageprivilegien<br />
und Nachzahlungen für die vergangenen zehn Jahre.<br />
Das kann, abhängig von der Unternehmensgröße und dem Stromverbrauch,<br />
durchaus zu Millionenverlusten führen.<br />
Energieintensive Unternehmen, die hier noch eine offene Baustelle<br />
haben, müssen zeitnah die notwendigen Maßnahmen in<br />
Gang setzen und ein rechtskonformes Messkonzept aufstellen und<br />
umsetzen. Dabei empfiehlt es sich, zuallererst den Netzbetreiber<br />
zu fragen, ob er eine Testierung des Messkonzepts verlangt. Ist<br />
das der Fall, sollte man den Wirtschaftsprüfer rechtzeitig in den<br />
Prozess einbinden, um eine testierfähige Lösung zu entwickeln.<br />
Dritte und ihre Verbräuche erfassen<br />
In einem ersten Schritt sollte man z.B. über Kreditoren oder Zugangslisten<br />
sämtliche Dienstleister und Lieferanten erfassen. Aus<br />
dieser Liste gilt es dann, die Drittverbräuche den Dritten oder dem<br />
Unternehmen zuzuordnen.<br />
Den Betreiber ermitteln<br />
Nutzen Handwerker, Reinigungsfirmen und andere Dienstleister<br />
große Verbrauchsgeräte wie Industriewaschmaschinen oder Hebebühnen,<br />
die sich im Eigentum des Industrieunternehmens befinden?<br />
Wer betreibt die Kantine, die Kopierer und die Industriekaffeemaschinen?<br />
Wem gehören die Geräte, wer trägt das wirtschaftliche<br />
Risiko und gibt die Dienstanweisung? Diese Fragen<br />
sollte man sich bei sämtlichen größeren Stromverbrauchsgeräten<br />
und Leasingverträgen stellen, denn wenn man die drei Betreiberkriterien<br />
Sachherrschaft / Besitz, eigenverantwortliche Bestimmung<br />
der Arbeitsweise / Dienstanweisung sowie wirtschaftliches<br />
Risiko / Eigentum dem eigenen Unternehmen zuordnen kann,<br />
werden auch die Stromverbräuche dem Unternehmen zugerechnet,<br />
was die privilegierungsfähigen Strommengen erhöht.<br />
Quelle: Shutterstock<br />
64 Oktober <strong>2020</strong> <strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de
Typische Beispielfälle finden<br />
Hat man die Betreiberkriterien geklärt, kann man in einem zweiten<br />
Schritt typische Verbrauchskonstellationen und Verbrauchsgeräte,<br />
die für einen geringfügigen Verbrauch sprechen, ermitteln.<br />
Diese lassen sich nach Einschätzung der Bundesnetzagentur<br />
ebenfalls dem eigenen Unternehmen zurechnen. Dazu zählen<br />
beispielsweise Verbräuche von Laptops, Handys oder Wasserkochern.<br />
Geeichte Messung oder Schätzung<br />
Grundsätzlich sind Strommengen, für die volle oder anteilige<br />
Umlagesätze zu zahlen sind, durch geeichte Messeinrichtungen<br />
zu erfassen. Auf von Dritten verbrauchten Strom wird in diesem<br />
Zusammenhang typischerweise der volle Umlagesatz erhoben. Bei<br />
einer geringen Zahl vorübergehend tätiger Dienstleister kann es<br />
praktikabel sein, diese am Werkstor mit mobilen, geeichten Messgeräten<br />
auszustatten. Der Stromverbrauch von fremdbetriebenen<br />
Kantinen auf dem Werksgelände sollte dagegen dauerhaft über<br />
geeichte Zähler mit dem CE- oder MID-Kennzeichen erfasst werden.<br />
Beim Einbau der geeichten Zähler kommen weitere Verpflichtungen<br />
zur Anzeige des Einbaus und zur Dokumentation<br />
der verbauten Geräte aus dem Mess- und Eichgesetz auf die Unternehmen<br />
zu.<br />
Stromverbräuche von Dritten, bei denen eine geeichte Messung<br />
technisch unmöglich oder wirtschaftlich nicht zumutbar ist,<br />
dürfen weiterhin sachgerecht geschätzt werden. Allerdings muss<br />
dabei für jeden Dritten und jeden Stromverbrauch eine individuelle<br />
Einschätzung und Entscheidung getroffen werden. Des Weiteren<br />
ist das Schätzverfahren zu dokumentieren und es ist mit<br />
geeigneten Sicherheitsaufschlägen zu arbeiten.<br />
Auf Bagatellverbräuche prüfen<br />
Am Jahresende empfiehlt es sich, die aufgestellte Liste nach weiteren<br />
Bagatellverbräuchen zu prüfen, die nicht bereits bei den typischen<br />
Beispielfällen aussortiert wurden. Denn Stromverbräuche,<br />
die unter 3 500 Kilowattstunden pro Jahr liegen und einige weitere<br />
Kriterien erfüllen, muss man auch künftig nicht abgrenzen. Als<br />
Ergebnis liegt am Ende des Jahres eine Ergebnisliste vor, aus der<br />
hervorgeht, welche Strommengen das Unternehmen innerhalb des<br />
Jahres regulatorisch gesehen an Dritte weitergeleitet hat. Diese<br />
Mengen können dann im kommenden Jahr im Rahmen von Meldungen<br />
an die entsprechenden Adressaten abgegeben werden.<br />
Erstellen einer Erklärung zum Messkonzept<br />
Die individuelle Ermittlungs- und Abgrenzungssystematik des<br />
Unternehmens von den an Dritte weitergeleiteten Strommengen<br />
muss dann noch schriftlich in Form einer Erklärung festgehalten<br />
werden. Dies betrifft insbesondere den Einsatz von geeichten<br />
Messgeräten und die Anwendung von Schätzverfahren. Die Erklärung<br />
ist auf Verlangen des Netzbetreibers, an den die Meldung<br />
abgegeben wird, zu testieren.<br />
Meldungen 2021 rechtzeitig abgeben<br />
Die Meldung über die aus dem Netz bezogenen und selbstverbrauchten<br />
Strommengen an den Verteilnetzbetreiber muss bis<br />
zum 31. März abgegeben werden (betrifft die privilegierte Abrechnung<br />
der §19 StromNEV-Umlage). Die Meldung zur Endabrechnung<br />
der EEG-Umlage von Unternehmen mit wirksamem<br />
Begrenzungsbescheid des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle<br />
muss bis zum 31. Mai abgegeben werden. Damit<br />
diese Meldungen als vollständig gelten, muss im kommenden Jahr<br />
zudem die Erklärung zum Messkonzept abgegeben werden.<br />
RECHTS-TIPP<br />
Schreiben der Finanzverwaltung zur Rechnungsberichtigung<br />
Das BMF reagiert auf vorangehende Entscheidungen des EuGH.<br />
AUTOR: Prof. Dr. Gunter M. Hoffmann,<br />
Rechtsanwalt und Steuerberater<br />
www.prof-hoffmann.de<br />
Mit Schreiben vom 18. September <strong>2020</strong> hat<br />
das Bundesfinanzministerium (BMF) auf<br />
mehrere vorangegangene Entscheidungen<br />
des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur<br />
Möglichkeit der rückwirkenden Berichtigung<br />
von Rechnungsbelegen reagiert (Schr. v. 18.09.<strong>2020</strong> in DStR<br />
<strong>2020</strong>, 2131 ff.). Der EuGH hatte zuvor geurteilt, dass der Vorsteuerabzug<br />
aus solchen Rechnungen nicht allein deswegen versagt<br />
werden kann, weil die betroffene Rechnung nicht alle formellen<br />
Voraussetzungen nach dem Umsatzsteuergesetz erfüllt (wegen<br />
der Einzelheiten und den maßgeblichen Entscheidungen wird auf<br />
den Text des BMF-Schreibens verwiesen).<br />
Nach dem BMF-Schreiben gilt nun folgendes: Sofern insbesondere<br />
die fragliche Umsatzsteuer korrekt ausgewiesen wird, sind<br />
sonstige Mängel der Rechnung durch ergänzende Belege des den<br />
Vorsteuerabzug geltend machenden Unternehmers behebbar,<br />
und zwar in dem Zeitraum, in dem die Leistung auch tatsächlich<br />
bezogen wurde.<br />
Das BMF-Schreiben ist in der Praxis von enormer Bedeutung,<br />
weil es immer wieder zu fehlerhaft ausgestellten Rechnungen<br />
kommt, wobei diese Fehler allerdings schlicht auf Nachlässigkeiten<br />
beziehungsweise kleineren Unkorrektheiten des ausstellenden<br />
Unternehmens beruhen (Schreibfehler im Adressatenfeld, unvollständige<br />
Anschrift des beziehenden Unternehmens, unvollständige<br />
Leistungsbeschreibung usw.), während der Umsatz tatsächlich<br />
durchgeführt wurde. Die deutsche Finanzverwaltung nahm viele<br />
Jahre die formale Position ein, dass bereits solche kleinen Fehler<br />
den Vorsteuerabzug ausschließen, da ein Verstoß gegen die §§<br />
14 und 14a UStG vorliege. Zusammengefasst hat der EuGH diese<br />
Praxis dahingehend eingeengt, dass der Ausschluss des Vorsteuerabzugs<br />
immer an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit<br />
gemessen werden muss. Dem beziehenden Unternehmen wird<br />
daher die Möglichkeit eingeräumt, zur Geltendmachung des Vorsteuerabzugs<br />
Belege bzw. Informationen nachzureichen, so dass<br />
die verbleibenden Unkorrektheiten praktisch ohne Belang sind.<br />
<strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de Oktober <strong>2020</strong> 65
STYLE<br />
STORY<br />
Technik<br />
Dass sich hier einmal das größte Metallurgiekombinat der DDR befand, lässt diese Luftaufnahme erahnen. Heute im Besitz von Arcelor-<br />
Mittal werden hier im ostbrandenburgischen Eisenhüttenstadt nach wie vor Flachprodukte für Autos, Haushaltsgeräte und die Bauindustrie<br />
hergestellt. Breit im Vordergrund ist das Kaltwalzwerk zu erkennen, während sich im Hintergrund, unweit des Oder-Spree-Kanals, der<br />
Hochofenraum befindet.<br />
70 Jahre Eisenhüttenstadt:<br />
Zwischen Stalin und Stahlwerk<br />
Der auf dem Reißbrett geplante Wirtschaftsstandort feiert Geburtstag<br />
AUTOR: Niklas Reiprich<br />
niklas.reiprich@<strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de<br />
Nähere Informationen<br />
DARUM GEHT‘S: Als sozialistische Planstadt<br />
für die Arbeiter des sogenannten<br />
„Eisenhüttenkombinats Ost“ entstand<br />
vor 70 Jahren in der ehemaligen DDR<br />
der Kern von Eisenhüttenstadt. Zum Jubiläum<br />
wagt <strong>stahl</strong> + <strong>eisen</strong> einen Rückblick<br />
auf ihre Entstehung, ihre bis heute<br />
andauernde Entwicklung als Stahlstandort<br />
und die Herausforderungen, die sie<br />
heute beschäftigen.<br />
Wer darüber berichtet, dass der<br />
Hollywood-Star Tom Hanks einmal<br />
in einem kultigen „Trabbi“<br />
durch die ostbrandenburgische Gemeinde<br />
Eisenhüttenstadt fuhr, blickt vermutlich<br />
in überraschte Gesichter. Für den bekannten<br />
Schauspieler selbst, der den kleinen<br />
Ausflug in einer Drehpause für den Film<br />
Für einen Gesamteindruck ist die Chronik des Eisenhüttenkombinats<br />
Ost hier in seinen wesentlichen Abschnitten aufgegriffen.<br />
In voller Gänze kann die Historie auf der Website des derzeitigen<br />
Betreibers des Werks, ArcelorMittal Eisenhüttenstadt, nachgelesen<br />
werden. Scannen Sie hierzu einfach den hier aufgeführten<br />
QR-Code mit Ihrem Smartphone.<br />
„Ein Hologramm für König“ unternahm,<br />
scheint die Erfahrung jedenfalls eine aufregende<br />
gewesen zu sein. Denn kurz darauf<br />
schwärmte er im US-Fernsehen von<br />
dieser „faszinierenden“ Stadt, die er liebevoll<br />
„Iron Hut City“ nennt.<br />
Nun ist es keine Seltenheit, dass Leinwandgrößen<br />
wie Hanks mit ihrer Popularität<br />
das Scheinwerferlicht auf jene Ortschaften<br />
richten, die vorher nur peripher im<br />
Gedächtnis der Menschen verankert waren.<br />
Schlagzeilen machte in der Vergangenheit<br />
schon das beschauliche Idar-Oberstein<br />
allein durch die Tatsache, dass Actionlegende<br />
Bruce Willis dort geboren ist. In Eisenhüttenstadt<br />
verhält es sich dagegen<br />
etwas anders. Denn wirkliche Bekanntheit<br />
erlangte die Stadt, die in diesem Jahr ihr<br />
70-jähriges Jubiläum feiert, durch ihre reiche<br />
metallurgische, und zuweilen auch<br />
umstrittene Historie.<br />
Quelle: ArcelorMittal Eisenhüttenstadt<br />
70 Oktober <strong>2020</strong> <strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de
Quellen: ArcelorMittal Eisenhüttenstadt; Peter Kaminsky, Berndroth*<br />
Eine sozialistische Idealstadt,<br />
verflochten mit dem Stahlwerk<br />
Im Mittelpunkt dieser Vergangenheit steht<br />
das sogenannte Eisenhüttenkombinat Ost<br />
(EKO) – ein Stahlwerk, ohne dass es die<br />
Eisenhüttenstadt wohl nie gegeben hätte.<br />
Auf Betreiben der sowjetischen Besatzungsmacht<br />
sollte es die damalige Deutsche<br />
Demokratische Republik (DDR) unabhängig<br />
von Stahlimporten machen, zumal<br />
sie vom industriell starken Ruhrgebiet<br />
aufgrund der Teilung Deutschlands abgekoppelt<br />
war. Aus sowjetischem Erz und<br />
polnischem Koks sollte hier der Stahl für<br />
den Aufbau des Landes geschmolzen werden.<br />
Der DDR-Minister für Industrie, Fritz<br />
Selbmann, war es dann, der am 18. August<br />
1950 auf einem Stück Heideland zwischen<br />
Fürstenberg und Schönfließ den Startschuss<br />
für den Bau erteilte. Heute ist bekannt,<br />
dass der Standort aufgrund seiner<br />
logistischen Beschaffenheit ausgewählt<br />
wurde. Denn das mittelalterliche Städtchen<br />
Fürstenberg befindet sich gleich an<br />
der Einmündung des Oder-Spree-Kanals.<br />
Für insgesamt 16 000 Mitarbeiter, die zu<br />
den Hochzeiten im EKO beschäftigt waren,<br />
musste daraufhin entsprechender Lebensraum<br />
geschafft werden. So entstand eine<br />
Siedlung aus diversen Wohnkomplexen<br />
nach dem Vorbild ähnlicher Industrie- und<br />
Wohnstädte in der Sowjetunion – eine sozialistische<br />
Idealstadt, verflochten mit dem<br />
Stahlwerk. Ursprünglich war es geplant,<br />
die Stadt anlässlich des 70. Todestages von<br />
Karl Marx zu benennen. Der Tod Josef<br />
Stalins am 5. März 1953 veränderte die<br />
Situation jedoch, woraufhin sie – aus propagandistischen<br />
Gründen – den Namen<br />
„Stalinstadt“ erhielt. Die Ideologien des<br />
„Stählernen“, so zumindest eine gängige<br />
Bedeutung von „Stalin“, sollten das außenwirksame<br />
Bild der Stadt für acht weitere<br />
Jahre prägen.<br />
Eine Reihe von politischen, wirtschaftlichen<br />
und gesellschaftlichen Reformen,<br />
die sich gegen Stalins totalitäre Herrschaftsform<br />
richteten, resultierten letztlich<br />
darin, dass der Name auf dem Papier<br />
verschwand. 1961 wurde Stalinstadt mit<br />
Fürstenberg und Schönfließ zusammengelegt<br />
und trägt seitdem den Namen Eisenhüttenstadt.<br />
Ausbau des metallurgischen<br />
Kreislaufs in Eisenhüttenstadt<br />
Kurz darauf entwickelte sich das EKO zum<br />
größten Roh<strong>eisen</strong>produzent der DDR und<br />
wurde zu einem der wenigen Industriebetriebe<br />
des Landes, die den Produktionsplan<br />
erfüllten. Zu diesem Zeitpunkt wurde<br />
das Roh<strong>eisen</strong> in Form von Masseln zur<br />
Weiterverarbeitung in die Stahlwerke der<br />
Republik transportiert. Obwohl der sowjetische<br />
Regierungschef Nikita Chruschtschow<br />
Zweifel an den Perspektiven der<br />
ostdeutschen Stahlindustrie äußerte, beschloss<br />
die DDR-Regierung im März 1964<br />
den Ausbau des metallurgischen Kreislaufes<br />
in Eisenhüttenstadt. Um den Interessen<br />
der sowjetischen Regierung zumindest<br />
partiell zu entsprechen, sollte zunächst ein<br />
Kaltwalzwerk errichtet werden, denn entsprechende<br />
Bleche und Bänder wurden<br />
sowohl in der Sowjetunion als auch für den<br />
DDR-Maschinenbau dringend benötigt.<br />
Nach dreijähriger Bauzeit wurde das Werk<br />
in Betrieb genommen und stellte fortan<br />
hochwertige Stahlerzeugnisse her, die sich<br />
zu begehrten Produkten im In- und Ausland<br />
entwickelten.<br />
Anfang der 1970er Jahre gehörte die<br />
Herstellung kaltgewalzter, oberflächenveredelter<br />
Bleche und Bänder in der DDR zu<br />
den zentralen wirtschaftlichen Aufgaben,<br />
die eine besondere Förderung erfahren<br />
sollten. So galt es für das EKO, das Produktionssortiment<br />
qualitativ und quantitativ<br />
zu erweitern, um insbesondere der Konsumgüterindustrie<br />
hochwertigen Flach<strong>stahl</strong><br />
zu liefern. Auch spielte dem Werk zu,<br />
dass sich derzeit die politische Lage auf<br />
internationaler Ebene entspannte – ein<br />
Umstand, der es ermöglichte, auch mit<br />
westlichen Partnern Verträge zu realisieren.<br />
Da der neueste technologische Stand<br />
in Osteuropa nicht zu finden war, erwies<br />
sich dies als besonders wichtig. So wurden<br />
etwa die Verzinkungs- und Kunststoffbeschichtungsanlagen<br />
1974 von einer französischen<br />
Firma gebaut und die Breitbandprofilierungsanlage<br />
als Lizenz von SKET<br />
Magdeburg realisiert.<br />
Die Wiedervereinigung und der<br />
Übergang in die Marktwirtschaft<br />
Ungeachtet großer Investitionen in den<br />
1970er Jahren war es der DDR-Metallurgie<br />
noch immer nicht gelungen, die Versorgung<br />
der eigenen Volkswirtschaft zu gewährleisten.<br />
Insbesondere die Stahlproduktion<br />
und die Erzeugung von Warmband<br />
reichten bei weitem nicht aus, um<br />
teure Importe abzulösen. Aus diesem<br />
Grund beschloss die DDR-Regierung 1979,<br />
in ein schlüsselfertiges Sauerstoffblas-<br />
Was hier euphorisch bejubelt wurde, war<br />
die feierliche Inbetriebnahme des ersten<br />
Hochofens des Eisenhüttenkombinats<br />
Ost – nach nur neun Monaten seit seiner<br />
Grundsteinlegung.<br />
Das Eisenhüttenkombinat Ost wurde 1984<br />
auch auf einer Briefmarke gewürdigt.<br />
Stahlwerk zu investieren und danach eine<br />
Warmbandstraße zu errichten. Vergeben<br />
wurde der milliardenschwere Großauftrag<br />
an die heutige Voestalpine in Österreich,<br />
dessen Ingenieure in den 1950er Jahren das<br />
Linz-Donawitz-Verfahren entwickelten –<br />
also jene Vorgehensweise, mit der auch im<br />
EKO fortan Stahl erzeugt werden sollte.<br />
Und ebendiese Technologie war es auch,<br />
die Eisenhüttenstadt das Renommee verschaffte,<br />
über eines der modernsten Stahlwerke<br />
Europas zu verfügen.<br />
Nach der Wende 1990 legte die EKO-Leitung<br />
ein Konzept zum Übergang in die<br />
Marktwirtschaft vor. Aufgrund des dramatischen<br />
Wandels der politischen und wirtschaftlichen<br />
Rahmenbedingungen gestaltete<br />
sich der Übergang zu einem echten<br />
Überlebenskampf. Unter Treuhandverwaltung<br />
wurde das EKO in eine Aktiengesellschaft<br />
umgewandelt und firmierte seitdem<br />
unter dem Namen EKO Stahl AG. Nunmehr<br />
im wiedervereinten Deutschland war das<br />
Unternehmen dem Wettbewerbsdruck eines<br />
übermächtigen Stahlmarktes ausgeliefert<br />
und rutsche prompt in eine schwere<br />
Krise. Hoffnungen gab es jedoch seitens der<br />
Treuhandanstalt, die EKO Stahl als „sanierungsfähig“<br />
einstufte. Daraufhin nutze die<br />
<strong>stahl</strong>und<strong>eisen</strong>.de Oktober <strong>2020</strong> 71
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