Spolien
ISBN 978-3-86859-651-9
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SPOLIEN<br />
HANS-RUDOLF MEIER<br />
PHÄNOMENE<br />
DER WIEDER<br />
VERWENDUNG<br />
IN DER<br />
ARCHI TEKTUR<br />
Prolog: Die neue Lust auf das Alte 7<br />
Spolie als Architekturbegriff 15<br />
Genese des <strong>Spolien</strong>begriffs 16<br />
Konjunkturen der <strong>Spolien</strong>verwendung 21<br />
(Be-)Deutungen 31<br />
Erbekonstruktion und Herrschaftslegitimation 31<br />
Beute und Trophäe 40<br />
Translatio und Renovatio 53<br />
Memoria und Gedenken 73<br />
Zuweisungen und Akkumulationen 86<br />
Objekte und Orte 95<br />
Portale 96<br />
Säulen 106<br />
Inschriften 110<br />
Mall-Fassaden 116<br />
Ortsverbindungen 120<br />
Materialien und ihre Verfügbarkeit 127<br />
Materialität und Materialikonografie 127<br />
Der Zugriff auf <strong>Spolien</strong> 131<br />
Matière grise und Bricolage 139<br />
Praktiken und Wirkungen 149<br />
Ausstellen 149<br />
Bewegen 165<br />
Bezeugen 171<br />
Verkörpern 173<br />
Einverleiben 178<br />
Täuschen 184<br />
<strong>Spolien</strong> und Entwerfen 193<br />
Maß geben 194<br />
Applikationen 195<br />
Entwurf heute 197<br />
Fazit: <strong>Spolien</strong>verwendung und Spoliation<br />
als kulturelle Praxis 207<br />
Präsenz und Absenz 208<br />
Rekonditionierung 209<br />
Die Magie der <strong>Spolien</strong> 211<br />
Kompensation und Authentizitätsversprechen 213<br />
Endnoten 216<br />
Register 224<br />
Quellen- und Literaturverzeichnis 227<br />
Abbildungsnachweis 238<br />
Impressum 239
1<br />
Für die Aktion „Climate<br />
Emergency!“ am<br />
12. Dezember 2019 wählte<br />
Greenpeace das EU-<br />
Ratsgebäude in Brüssel,<br />
dessen Fassade aus<br />
wiederverwendeten Holzfenstern<br />
Nachhaltigkeit<br />
symbolisieren soll.<br />
„Die höchste Lust haben wir<br />
ja an den Fragmenten, […]<br />
nur da, wo wir das Fragment<br />
sehen, ist es uns erträglich.“<br />
Thomas Bernhard, Alte Meister<br />
6
Prolog: Die neue Lust auf das Alte<br />
Am Morgen des 12. Dezembers 2019 protestierte Greenpeace in Brüssel mit<br />
einer spektakulären Aktion gegen die unzureichende Klimaschutzpolitik der Europäischen<br />
Union, deren Staats- und Regierungschefs sich an diesem Tag trafen.<br />
Aktivisten entrollten am neuen Repräsentationsgebäude des Europäischen Rats<br />
Transparente und setzten dieses symbolisch in Flammen 1. Der Ort des Protests<br />
war auch deshalb gut gewählt, weil die äußere Hülle des 2016 fertiggestellten<br />
Gebäudes ein Signal nachhaltigen Bauens sein soll. Die zur Hauptstraße orientierten<br />
Nord- und Ostfassaden bestehen aus rund 3000 wiederverwendeten Holzrahmenfenstern,<br />
die aus verschiedenen europäischen Ländern zusammengetragen<br />
und für das planende Büro Philippe Samyn and Partners aufgearbeitet wurden.<br />
Die Wiederverwendung von tagtäglich bei Sanierungen in die Bauschuttcontainer<br />
entsorgten Fenstern für ein solch prominentes Gebäude war als Zeichen gedacht<br />
für das nachhaltige Bauen, und die Herkunft der Objekte aus unterschiedlichen<br />
Ländern soll für die Einheit in der kulturellen Vielfalt der Europäischen Union<br />
stehen. 1 Die Programmatik der Wiederverwendung von Baugliedern wird an<br />
diesem aktuellen Beispiel ebenso deutlich wie die Rolle, die wiederverwendete<br />
Bauteile im architektonischen Entwurf der Gegenwart haben können. Zahlreiche<br />
andere Beispiele unterstreichen die Bedeutung der Praxis der sichtbaren Wiederverwendung<br />
im aktuellen Architekturbetrieb, seien das Gesimsfragmente und<br />
Bögen aus Vorgängerbebauungen, die in Berlin, Frankfurt, München und anderswo<br />
neue Wohnhäuser zieren, um gediegene Bürgerlichkeit auszustrahlen, seien es<br />
die vielfach mit Altmaterial ausgeführten Gebäude, für die Wang Shu im Jahr 2012<br />
als erster chinesischer Architekt mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde. Im<br />
selben Jahr machte Muck Petzet im Deutschen Pavillon der Architekturbiennale in<br />
Venedig „Re-use“ zum Thema, was seither auf den Biennalen in Venedig vielfach<br />
aufgegriffen wurde. 2 Mit „Matière gris“ war zwei Jahre später auch im Pavillon<br />
de l’Arsenal in Paris der Wiederverwendung von Bauteilen in der Architektur eine<br />
gewichtige und inzwischen weitergewanderte Ausstellung gewidmet, derweil in<br />
der Architektur- und Heritage-Theoriedebatte die „Postproduktion“ zum Thema<br />
geworden ist. 3 Docomomo thematisiert in der jüngsten Nummer ihres Journals<br />
Prolog: Die neue Lust auf das Alte<br />
7
14
Spolie als Architekturbegriff<br />
5<br />
Tropaion-Kapitell, 2. Jahrhundert,<br />
im 6. Jahrhundert<br />
in der Kirche San Lorenzo<br />
fuori le mura in Rom als<br />
Spolie wiederverwendet.<br />
Dargestellt ist eine dem<br />
Feind abgenommene Rüstung<br />
– spolium im antiken<br />
Sinn.<br />
Der Begriff Spolie ist vom Lateinischen<br />
spoliare (= der Kleider berauben) abgeleitet<br />
und bedeutet wörtlich übersetzt<br />
„das Abgezogene, Abgeschnittene“.<br />
Im ursprünglichen antik-römischen<br />
Wort sinn meinte er Beutestücke,<br />
ge nauer: die dem erschlagenen Feind<br />
abgenommene Rüstung 5. So berichtet<br />
etwa der zur Zeit des Augustus<br />
lebende römische Geschichtsschreiber<br />
Titus Livius, dass 200 Jahre vor seiner<br />
Zeit während der römischen Republik<br />
für den Senat zuerst jene ausgewählt<br />
worden seien, die bereits Amtsträger<br />
waren, dann „waren die Leute an der<br />
Reihe, die an ihrem Haus aufgehängte<br />
feindliche Rüstungen (spolia ex hoste) vorweisen konnten“. 17 In einer anderen<br />
Livius-Stelle (42.1.3) zum Jahr 173 v. Chr. wird ein Censor gerügt, weil er zur Zierde<br />
eines Tempels die Dachbedeckung eines anderen Sakralbaus geraubt hatte („sed<br />
spoliis aliorum alii colendi exornandique“), was Fabio Barry als erstmaligen Beleg<br />
für spolia im heute geläufigen Sinn als wiederverwendete Architekturteile interpretiert.<br />
18 Zwar geht es in der zitierten Livius-Stelle tatsächlich um Architekturglieder,<br />
aber der Begriff bezieht sich auf den Aspekt des Geraubten, Abgezogenen allgemein<br />
und hat noch keine spezifisch bauliche Bedeutung. Das wird auch deutlich an<br />
weiteren antiken Belegen. Noch in der Spätantike bezeichnete der römische Historiker<br />
Ammianus Marcellinus mit „spolium“ die Beute, wenn er im Zusammenhang<br />
mit den Vorgehen Kaiser Julians (360–363) gegen die korrupten Höflinge die<br />
von diesen eingezogenen Tempelschätze „templorum spoliis“ nennt. 19 Dagegen<br />
Spolie als Architekturbegriff<br />
15
7<br />
Sebastiano Serlio, Fassadenentwurf<br />
mit <strong>Spolien</strong>säulen,<br />
aus: Architecturae<br />
liber septimus, in quo<br />
multa explicantur, quae<br />
architecto variis locis possunt<br />
occurere, Kap. 42<br />
als produktive Herausforderung nicht negativ konnotiert. Serlio erläutert an neun<br />
Fallbeispielen (Cap. 41–50) die Fassadengestaltung mittels Säulen „state per altro<br />
tempo in opera“. 27 Er geht jeweils von der Annahme aus, dass ein Architekt eine<br />
gewisse Anzahl in beschriebener Weise gestalteter Säulen und teilweise weiterer<br />
Bauglieder gefunden und daraus als Auftrag eine Fassade oder Loggia zu konstruieren<br />
habe. Die wirkliche Kunst bestehe darin, mit den eigentlich zu kleinen oder zu<br />
großen vorgefundenen <strong>Spolien</strong> doch ein wohlproportioniertes Projekt zu entwerfen<br />
7. Die <strong>Spolien</strong> stellen folglich bei Serlio eine künstlerische Herausforderung<br />
dar – womit er das komplette Gegenmodell entwarf zur Erklärung der <strong>Spolien</strong>verwendung<br />
bei seinem Zeitgenossen Giorgio Vasari. Auf dessen Begründung ist im<br />
Folgenden etwas ausführlicher einzugehen, da sein Modell bis an die Schwelle des<br />
20. Jahrhunderts paradigmatisch blieb.<br />
18
8<br />
Rom, Konstantinsbogen,<br />
315. Ansicht von Süden<br />
Im Proömium der zweiten Auflage seiner Lebensbeschreibungen der herausragendsten<br />
Maler, Bildhauer und Architekten beschreibt Vasari als Beispiel für<br />
den Beginn des Verfalls der Kunst in spätrömischer Zeit den Konstantinsbogen<br />
in Rom 8:<br />
„Davon können die Werke der Bildhauerkunst und Architektur, die<br />
zur Zeit Konstantins in Rom geschaffen wurden, ein klares Zeugnis<br />
ablegen, vor allem der Triumphbogen, den ihm das römische Volk<br />
am Kolosseum errichtete. An diesem sieht man, dass man sich aus<br />
Mangel an guten Meistern nicht nur der Darstellungen aus der Zeit<br />
Trajans 28 , sondern auch der <strong>Spolien</strong> bediente, die von verschiedenen<br />
Orten nach Rom gebracht wurden. Und wer erkennt, dass die in den<br />
Tondi dargestellten Votivgaben, sprich die Skulpturen im Halbrelief,<br />
wie auch die Gefangenen, die großen Szenen, die Säulen, Gesimse<br />
und die anderen früher geschaffenen Ornamente oder aus <strong>Spolien</strong><br />
Spolie als Architekturbegriff<br />
19
10<br />
Potsdam, Friedenskirche,<br />
1848. Apsismosaik aus<br />
dem 12. Jahrhundert aus<br />
San Cipriano in Murano<br />
sie ausgestellt, wofür die antiken <strong>Spolien</strong>, die Prinz Carl und Karl Friedrich Schinkel<br />
sowie deren Nachfolger in Italien erworben hatten und in den Fassaden des<br />
Gartenhofs im Schloss Glienicke in Berlin vermauerten, ein gutes Beispiel sind<br />
111. Schinkel erhielt 1824 auf seiner Italienreise ein Schreiben, wonach Prinz Carl<br />
wünsche, „zum Einmauern an seinem Kasino einige Fragmente und Inschriften<br />
aus Italien zu besitzen. Sie würden ihm gewiss sehr gefällig sein, könnten Sie<br />
ihm einige zusenden“. 51 Es folgten dann in den nächsten Jahren und Jahrzehnten<br />
weitere Sendungen mit „Marmorantiquitäten“ aus Rom, Neapel, Pompeji und von<br />
Kunsthändlern in Venedig. 52 In die Wand eingemauert und ausgestellt wurden die<br />
Objekte allein nach ästhetisch-dekorativen Kriterien, Provenienz und kunsthistorische<br />
Bedeutung waren keine Ordnungsprinzipien. Der Blickfang im Glienicker<br />
Gartenhof ist aber keine Spolie, sondern die Kopie einer antiken Brunnengruppe<br />
mit Steinwanne aus dem Jahr 1828. Etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts waren es<br />
die sogenannten Period Rooms in den Historischen Museen, die im Kontext der<br />
Selbstvergewisserung der modernen Staaten vielenorts gegründeten wurden, in<br />
denen Bauglieder unterschiedlicher Herkunft zu neuen Einheiten zusammengefügt<br />
und ausgestellt wurden. 53<br />
Im 20. Jahrhundert führten die Zerstörungen der beiden Weltkriege zur Verfügbarkeit<br />
einer zuvor unbekannten Menge an baulichen Fragmenten, die sich allerdings<br />
signifikant unterschiedlich auf den <strong>Spolien</strong>gebrauch im Wiederaufbau auswirkten.<br />
Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte daraus ein neuer Aufschwung der <strong>Spolien</strong>verwendung,<br />
insbesondere, um mit solchen Fragmenten an zerstörte Gebäude<br />
24
zu erinnern. Mit der ab den 1960er Jahren den architektonischen Entwurf wieder<br />
stärker prägenden Auseinandersetzung mit Tradition und Bestand konnten auch<br />
<strong>Spolien</strong> erneut zum Thema werden, wobei dem modernem Regionalismus des<br />
Schweizer Architekten Rudolf Olgiati eine Pionierfunktion zukam. 54 Die Übergänge<br />
zur sogenannten Postmoderne waren fließend, und seither sind <strong>Spolien</strong> für ein<br />
breites Spektrum an architektonischen Positionen – vom Dekonstruktivismus über<br />
Urban Mining und sogenannte Ökoarchitektur bis zu neuem Traditionalismus und<br />
Historismus – wieder eine Option.<br />
Meilensteine der <strong>Spolien</strong>forschung<br />
Inzwischen existiert vor allem zur Spätantike und zum Mittelalter eine schier unüberschaubare<br />
und nicht endende archäologische und kunsthistorische Forschungsliteratur.<br />
Forschungsberichte und Lexikonartikel, die dazu einen Überblick wagen,<br />
liegen zumeist schon einige Zeit zurück, dienen aber immer noch dem Einstieg in<br />
das Thema. 55<br />
Daher seien hier nur wenige Meilensteine der Forschung genannt, die, wie<br />
erwähnt, in den 1930er Jahren mit dem norwegischen Archäologen Hans-Peter<br />
L’Orange und dem deutschen Christlichen Archäologen Friedrich Wilhelm Deichmann<br />
einsetzte. Deichmann systematisierte 1940 die Wiederverwendung antiker<br />
Säulen in frühchristlichen Kirchen und interessierte sich damit mehr für den architektonischen<br />
Entwurf als für Bedeutungsfragen. Interpretationen erfolgten, so<br />
Deichmann, stets a posteriori:<br />
„Sicher haben oft Armut der Menschen oder das Triumphgefühl der<br />
Kirche die Verwendung von <strong>Spolien</strong> veranlasst, doch möglich waren<br />
sie als Schmuckglieder an Sakralbauten nur in Zeiten, deren künstlerische<br />
Gestaltung anderem zugetan war als dem Abbild des Körpers<br />
wie auch den baulichen Körperformen.“ 56<br />
1975 griff Deichmann das Thema nochmals auf und hob hervor, der Schwerpunkt<br />
habe im architektonischen Konzept der Spätantike auf der Gestaltung der Baukörper<br />
und des Raums gelegen, nicht auf der Schaffung von Werkstücken. 57 Das sei<br />
die Folge eines Bruchs mit der Ästhetik des klassischen Altertums, was L’Orange<br />
seinerseits als „disintegration of classical tradition“ bezeichnete, aus der in der<br />
Kunst „a new form of expression“ hervorgegangen sei. 58 Voraussetzung der neuen<br />
Ästhetik war, dass die <strong>Spolien</strong> von den Betrachtern auch als solche wahrgenommen<br />
wurden – eine Grundvoraussetzung für alle folgenden Interpretationsansätze.<br />
Bereits in den 1960er Jahren hatte die <strong>Spolien</strong>forschung durch den Mittelalterhistoriker<br />
Arnold Esch neue Impulse und eine Weitung der Fragestellungen erfahren.<br />
Esch unterschied in einem grundlegenden Aufsatz von 1969 fünf Kategorien der<br />
<strong>Spolien</strong>verwendung. 59 Bei der (1.) rein „materiellen Verwendbarkeit“ werde das<br />
Herkunftsobjekt quasi als Steinbruch behandelt. Die (2.) Bannung eines Objekts<br />
oder Orts durch partielle Wiederverwendung sei eine Art „Exorzismus“, der sich<br />
gegebenenfalls mit der (3.) Interpretatio Christiana überlagern könne. <strong>Spolien</strong><br />
zur politischen Legitimation als vierte Kategorie erläuterte Esch am Beispiel von<br />
Pisa, das sich mittels <strong>Spolien</strong> zum Neuen Rom aufschwingen wollte, wogegen oft<br />
Spolie als Architekturbegriff<br />
25
11<br />
Rom, Porticus Octaviae,<br />
146. Severische Reparatur<br />
mit wiederverwendeten<br />
Bauteilen auf der Innenseite<br />
des Giebels<br />
der römischen Kaiserzeit sind auch erste gesetzliche Bestimmungen bekannt, die<br />
die Entfernung von Ziergliedern von alten Gebäuden zum Schmuck von Neubauten<br />
einschränkten. 75 Die gesetzliche Regelung zeigt, dass die Spoliierung als Problem<br />
offenbar existierte (S. 135). Dass aber auch wichtige Staatsmonumente und<br />
damit Bauten mit höchstem repräsentativen Anspruch und Aufwand mit Altmaterial<br />
errichtet wurden und dies auch deutlich gezeigt wurde, ist ein vor der Spätantike<br />
weitgehend unbekanntes Phänomen. Wenn zuvor, wie für den augustäischen<br />
Apollo-Sosianus-Tempel auf dem römischen Marsfeld, ein Tempelgiebel aus dem<br />
griechischen Eretria nach Italien überführt wurde, so erfolgte der Neuversatz<br />
zwar umgedeutet im Sinn einer Interpretatio Romana, jedoch im ursprünglichen<br />
Verwendungssinn. 76 Auch als Septimius Severus (193–211) die unter Augustus<br />
errichtete und damit rund 200 Jahre alte Porticus Octaviae in Rom restaurierte und<br />
dafür altes Baumaterial wiederverwendete, wurde dieses in seiner angestammten<br />
architektonischen Funktion oder aber den Blicken der Betrachter entzogen<br />
versetzt 11. 77<br />
Erst im späteren 3. Jahrhundert fand dann der für die Architekturgeschichte folgenreiche<br />
und zukunftsweisende Wandel statt, der sowohl als Zeichen einer neuen<br />
Ästhetik als auch eines gewandelten Traditionsbewusstseins zu gelten hat. Aus<br />
der Zeit Kaiser Diokletians (284–305) sind erstmals umfangreiche <strong>Spolien</strong>bauten<br />
überliefert – in Rom etwa der Arcus Novus. Möglicherweise ist aber schon unter<br />
Kaiser Aurelian (270–275) oder unter Gallienus (253–260) im sogenannten Arco di<br />
Portogallo eine Art Vorläufer des diokletianischen „Neuen Bogens“ und schließlich<br />
des Konstantinsbogens zu finden 12. 78 Jedenfalls waren in dem 1662 zerstörten<br />
„Portugal-Bogen“ über die römische Via Lata (heute Via del Corso) hadrianische<br />
Reliefplatten verbaut, die offensichtlich aus einem anderen – nämlich funeralen –<br />
Zusammenhang stammten. Dennoch bleibt der Konstantinsbogen 13 aufgrund<br />
seiner Erhaltung, seiner Qualität und insbesondere seines Entstehungszusammenhangs<br />
an einem – zumindest rückblickend – welthistorischen Wendepunkt der<br />
Initialbau der <strong>Spolien</strong>architektur par excellence.<br />
32
ationalVersion<br />
12<br />
Rom, Arco di Porto gallo,<br />
3. Jahrhundert. Der mit<br />
wiederverwendeten hadrianischen<br />
Reliefs errichtete<br />
Bogen wurde im 17. Jahrhundert<br />
abgebrochen.<br />
Stich von Giovanni Maggi,<br />
Aedificioroum et ruinarum<br />
Romae ex antiquis… Liber<br />
primus, 2. Auflage, Rom<br />
1618 (Privatbesitz)<br />
13<br />
Rom, Konstantinsbogens.<br />
Schema der wiederverwendeten<br />
und erneuerten<br />
Bauglieder auf der<br />
Südseite. Zeichnung Anne<br />
Konstantinsbogen Südseite<br />
Kalthöner<br />
Datierung der wiederverwendeten<br />
oder späteren Bauteile<br />
Trajan<br />
Hadrian<br />
Marc Aurel<br />
Moderne Reparaturen<br />
(Be-)Deutungen<br />
33
des Portalrisalits IV des ehemaligen Stadtschlosses,<br />
dessen Kopie nun 200 Meter entfernt am Originalstandort<br />
die rekonstruierte Fassade des sogenannten<br />
Humboldt-Forums ziert 17. Vor der von der Sozialistischen<br />
Einheitspartei Deutschlands 1950 angeordneten<br />
Sprengung des kriegsbeschädigten Stadtschlosses<br />
hatte ein Wissenschaftliches Aktiv die Reste des<br />
zwischen 1706 und 1713 von Eosander von Göthe<br />
errichteten Portals IV geborgen. 99 Hermann Henselmann<br />
hatte die Idee, die Portalreste bei der späteren<br />
Gestaltung des Zentrums wiederzuverwenden, 100<br />
was dann Roland Korn, Hans Erich Bogatzky und<br />
ihr Jugendkollektiv für den 1962–1964 entworfenen<br />
Neubau aufgriffen. Das aus den renovierten <strong>Spolien</strong><br />
und etlichen Ergänzungen wieder zusammengesetzte<br />
Portal ist der Fassade vorgeblendet. Anders als etwa<br />
im Jüdischen Gemeindezentrum in Charlottenburg<br />
oder dem sogenannten Wappentor der Bauverwaltung<br />
in Hannover 18, wo Mitte der 1950er Jahre jeweils ein<br />
<strong>Spolien</strong>portal einer modernen Rasterfassade vorgesetzt<br />
wurde, übernimmt der Entwurf des Staatsratsgebäudes<br />
wesentliche Maße wie die Geschosshöhen<br />
und die Rhythmisierung der Fassadenelemente von<br />
der Spolie, die fester Bestandteil der Fassade ist. Sinnstiftend<br />
für die Bedeutung des einstigen Schlossportals<br />
für das erste neu errichtete Regierungsgebäude<br />
der DDR im Zentrum der Hauptstadt der Republik war<br />
die Rolle dieses Portals am 9. November 1918. Nachdem<br />
der rechte Sozialdemokrat Philipp Scheidemann<br />
am frühen Nachmittag dieses Tages vom Reichstagsgebäude<br />
aus die freie deutsche Republik ausgerufen<br />
hatte, proklamierte Karl Liebknecht wenig später vor<br />
dem Schloss, auf der Ladefläche eines Lastwagens<br />
stehend, die freie sozialistische Republik Deutschland.<br />
Er wies auf das Portal und rief in die Menge,<br />
durch dieses Tor werde die neue sozialistische Freiheit<br />
der Arbeiter und Soldaten einziehen. 101 Wenig später<br />
wiederholte der Spartakus-Führer die Proklamation<br />
der sozialistischen Republik vom Balkon des Portals<br />
aus, hob hervor, dass das Alte niedergerissen sei, und<br />
ließ die Masse auf die Republik und die Weltrevolution<br />
schwören. 102<br />
Auf diese Tradition der (versuchten) Staatsbildung<br />
der deutschen Arbeiterbewegung berief sich zu ihrer<br />
17<br />
Das am Staatsratsgebäude<br />
wiederverwendete und<br />
rekonstruierte sogenannte<br />
Liebknecht-Portal<br />
(Portal IV) des einstigen<br />
Berliner Stadtschlosses<br />
38
18<br />
Hannover, sogenanntes<br />
Wappentor aus der<br />
Kaserne der Corps du<br />
Gard, 1738, vor dem<br />
Gebäude der Bauverwaltung,<br />
1955, Werner<br />
Dierschke, Fritz Eggeling<br />
und Alfred Müller-Hoeppe<br />
Legitimierung die DDR als junger sozialistischer deutscher Staat, der sich als<br />
Verwirklichung des von Liebknecht Begonnenen verstand. Verdeutlicht wird dies<br />
im wandfüllenden Glasgemälde von Walter Womacka, das die Rückfront des<br />
Foyers einnimmt, das man durch den Portalrisalt betritt: 103 Von unten nach oben<br />
zeigen Szenen den Aufstieg zum Sozialismus, beginnend mit den Porträts von Rosa<br />
Luxemburg und Karl Liebknecht sowie dessen „Trotz alledem“, das einem Gedicht<br />
von Ferdinand Freiligrath entlehnt ist und mit dem Liebknecht allen Niederlagen<br />
zum Trotz den Sieg des Sozialismus verhieß. Entsprechend gipfelt das Glasbild in<br />
der Darstellung einer glücklichen jungen Familie im neuen sozialistischen Staat.<br />
Die Portalspolien materialisieren die für die Legitimation des Staats fundamentale<br />
Verbindung zwischen der Tat von Einst und Jetzt bzw. der Zukunft. Im teleologischen<br />
Geschichtsmodell der DDR erfüllte sich im Regierungsbau das, was Karl<br />
Liebknecht im November 1918 vor dem Portal und auf dessen Balkon begonnen<br />
hatte, aber nicht vollenden konnte: Mit der Gründung des sozialistischen deutschen<br />
Staats war der Bruch mit dem Feudalismus endgültig vollzogen, das Alte<br />
nun wirklich und realiter niedergerissen, weshalb vom Schloss als Repräsentanten<br />
des alten Regimes allein der Ort des zukunftsweisenden Akts von Liebknecht<br />
übrig blieb. Die Distinktion zwischen der die Aufmerksamkeit erregenden Spolie<br />
und dem Neubau ist evident, zugleich wird sie im hegelschen und marxschen Sinn<br />
dadurch aufgehoben, dass die Spolie in den Neubau des formal höchsten Staatsorgans<br />
inkorporiert wurde und den neuen Baukörper mitformte.<br />
Soweit scheint die staatliche Doktrin im Staatsratsgebäude ihre adäquate Form<br />
gefunden zu haben. Und doch erzeugt die Spolie auch hier Ambiguitäten: Neben<br />
der intendierten offiziellen Lesung als Zeichen des proletarischen Triumphs über<br />
den Feudalismus war sie immer auch eine letzte Erinnerung an das Stadtschloss<br />
und nicht zuletzt an dessen Zerstörungsakt. Dem hatte man dadurch entgegenzuwirken<br />
versucht, dass das Portal keine Spuren des Verfalls oder seines fragmentarischen<br />
Charakters zeigt, sondern rundum renoviert wurde, um eben nicht den<br />
Verlust zu thematisieren 17. Zu Zeiten des Kalten Kriegs wurde aber zumindest<br />
im „anderen Lager“ diese Gegeninterpretation stets präsent gehalten, wenn etwa<br />
der Berlin-Kunstführer von Reclam das „ehem. Portal IV des abgerissenen Stadtschlosses“<br />
und nicht Karl Liebknecht erwähnte. 104 Seit dem Zusammenbruch der<br />
DDR und – Ironie der Geschichte – mit der Nutzung des einstigen Staatsratsgebäudes<br />
durch eine private Management-Hochschule hat sich die Sichtweise auf<br />
die Portalspolie erneut verändert und das Spektrum der Möglichkeiten, sie zu interpretieren,<br />
nochmals erheblich erweitert. Das gilt erst recht seit der benachbarten<br />
Rekonstruktion der Fassaden des Stadtschlosses für das Humboldt-Forum. Die<br />
verschiedentlich geforderte erneute Spoliation des Portals zugunsten der Fassadenrekonstruktion<br />
hat der Denkmalstatus des ehemaligen Staatsratsgebäudes<br />
verhindert. 105 Portal IV wurde stattdessen beim Bau des Humboldtforums dupliziert<br />
19, sodass in unmittelbarer Nachbarschaft ein kopiertes Portal am alten Standort<br />
und in formaler Angleichung an das einstige Schloss den Resten des alten Portals<br />
in betont moderner Einbindung gegenüberstehen. Augenfällig unterstreicht diese<br />
Verdoppelung des Portals die Wahrnehmung des Staatsratsgebäudes und des<br />
(Be-)Deutungen<br />
39
13. und 14. Jahrhundert überliefert. Ein sicheres Zeichen der Zerstörung ist es,<br />
wenn ein Quader des Fundaments zur Trophäe wird, wie das vom genuesischen<br />
Turm in Akkon nach der Niederlage gegen Venedig 1258 überliefert ist. Der gewaltige<br />
Stein wurde in der Vorhalle der Kirche San Pantaleon zur Schau gestellt und<br />
regte dort später zu neuen Geschichten an (S. 90). 131 Kurz danach eigneten sich<br />
im Gegenzug die Genuesen Trophäen des venezianischen Palasts in Konstantinopel<br />
an, nachdem der byzantinische Kaiser Michael VIII. Palaiologos die Stadt<br />
1261 zurückerobert hatte. Dieser übergab den verbündeten Genuesen gemäß den<br />
Annalen zum Jahr 1262 den „burgartig gebauten Palast“ der Venezianer, den sie<br />
sogleich „einschließlich der Fundamente“ unter musikalischer Begleitung zerstörten.<br />
Danach schickten sie „von seinen Steinen […] welche auf jenem Schiff in die<br />
Stadt [Genua], von denen einige sich noch im Kommunalpalast […] befinden“. 132<br />
Davon sind im heutigen Palazzo di San Giorgio noch mindestens der von Fabelwesen<br />
umgebene Löwenkopf-Wasserspeier aus prokonnesischem Marmor 23 – ein<br />
schlüssiges Zeichen im nahe bei Carrara gelegenen Genua, dass das Objekt aus<br />
der Ferne stammt – sowie zwei Löwenprotomen und zwei rosafarbene Steinquader<br />
„dall’area del Mediterraneo orientale“ erhalten. 133 Rebecca Müller führt weitere<br />
spätmittelalterliche Beispiele von <strong>Spolien</strong> auf, die allein die Zerstörung ihres<br />
Herkunftsbaus bezeugen sollten – eine Praxis, die offensichtlich in den konkurrierenden<br />
Seestädten Italiens besonders verbreitet war. 134<br />
Schon zu Beginn der modernen Staatenbildung und der damit verbundenen<br />
Zeichensetzungen durch Denkmäler entwickelte sich die seither vielfältig wiederholte<br />
Praxis, die Trümmer der Zeugnisse der überwundenen Feinde für den Sockel<br />
eigener Triumphmonumente wiederzuverwenden. Im November 1793 empfahl<br />
der Maler Jacques Louis David dem französischen Nationalkonvent, „die zerschlagenen<br />
Trümmer“ der durch den revolutionären Bildersturm zerstörten „Standbilder,<br />
die Königtum und Aberglaube erfanden und 1400 Jahre lang vergötterten,<br />
zu einem Berg zusammenzutragen, der als Sockel für das Standbild des Volkes<br />
dienen“ solle, das „unseren Enkeln das erste von einem freien Volke erhobene<br />
Siegeszeichen seines unsterblichen Triumphes über die Tyrannen“ überliefere. „Zu<br />
einem verworrenen Haufen getürmt“ dienten diese Trümmer als Sockel, um „darüber<br />
die Riesengestalt des Volkes, des französischen Volkes, zu errichten“. 135 Als<br />
Material der 15 Meter hohen Statue sah der Ausschuss, der zur Realisierung von<br />
Davids Anregung eingesetzt worden war, Bronze vor, obwohl damit „der Republik<br />
ein für die Verteidigung so notwendiges Metall“ entzogen würde. 136 Doch sei man<br />
zur Überzeugung gelangt, dass die mutigen republikanischen Garden ausreichend<br />
Bronze von den Feinden erobern würden, um neben Kanonen auch noch ein Denkmal<br />
gießen zu können. Das Denkmal wurde aber schließlich nicht verwirklicht und<br />
die Trümmer des Bildersturms 1796 als Baumaterial verkauft.<br />
Das Prinzip, <strong>Spolien</strong> feindlicher Monumente für eigene Denkmäler zu verwenden,<br />
fand in der Moderne im Nachgang von Kriegen vielfache Nachfolge. Geradezu<br />
prädestiniert dafür war ein so stark ideologisch aufgeladenes Objekt wie das<br />
Tannenberg-Nationaldenkmal im ehemaligen Ostpreußen. Es war zur Erinnerung<br />
46
24<br />
Berlin Pankow, Sowjetischer<br />
Ehrenfriedhof Schön -<br />
holzer Heide. Die Säulenhallen<br />
mit den do rischen<br />
Säulen, die aus der Reichskanzlei<br />
stammen sollen,<br />
heben sich auffällig vom<br />
übrigen Baubestand ab.<br />
des deutschen Siegs über die russischen Truppen im August 1914 errichtet<br />
worden. Nachdem der Kaiser zuerst von der Schlacht von Allenstein gesprochen<br />
hatte, ging die Namensgebung schließlich auf einen Wunsch Paul von Hindenburgs<br />
zurück, der damit zugleich die Niederlage der Ritter des Deutschordens gegen die<br />
Polnisch-Litauische Union bei Tannenberg im Jahr 1410 kompensieren wollte. Seit<br />
1934 enthielt das Monument zudem die Gebeine von Reichspräsident von Hindenburg<br />
und dessen Frau. 137 Für die Aufladung des Monuments spricht auch, dass die<br />
Wehrmacht auf dem Rückzug vor der Roten Armee das „Reichsehrenmal Tannenberg“<br />
selbst zu zerstören begann, um es nicht den Siegern zu überlassen. Das<br />
kleinteilige Material der Ruinen, insbesondere die Ziegel, wurden nach dem Krieg<br />
ganz pragmatisch zum Wiederaufbau der umliegenden Dörfer genutzt, während<br />
die Granitplatten des Innenhofs und der Hindenburggruft nach 1949 für das sowjetische<br />
Siegesdenkmal in Olsztyn (Allenstein), für den Bau des Warschauer Kulturpalasts,<br />
die Eingangsstufen zum Gebäude des Zentralkomitees der Polnischen<br />
Vereinigten Arbeiterpartei und die Plinthe eines Partisanen-Denkmals verwendet<br />
wurden. 138 Einer erneuten Spoliation nach 1989 entging das Material bisher. Neuerdings<br />
ist der Kulturpalast allerdings gefährdet, denkt doch die rechts-nationalistische<br />
PiS-Regierung daran, „dieses Relikt der kommunistischen Herrschaft aus<br />
dem Warschauer Stadtzentrum verschwinde[n]“ zu lassen. 139 Das Siegesdenkmal<br />
(Be-)Deutungen<br />
47
die Situation von 1944 festgelegt wurde, mochten die für dieses Baufeld vorgesehenen<br />
Architekten Jourdan & Müller sich nicht an einem NS-zeitlichen Bau orientieren.<br />
Traufseitig richteten sie sich nach dem barocken Fachwerkbau, während<br />
sie an der Giebelseite eine durchfensterte Natursteinmauer hochzogen, die an die<br />
„karolingische“ Stadtmauer erinnern soll, die wohl um 1000 entstand und von der<br />
Reste in diesem Bereich 1905 erfasst wurden 41. Den Übergang akzentuiert in<br />
etwas abenteuerlicher Weise eine Konsole. Übertroffen wird diese bizarre Situation<br />
im Erdgeschoss mit dem Einbau einer Spolie des damit doch präsenten Umbaus<br />
von 1940: Damals war zur Akzentuierung der aufgewerteten Ecke eine Winzerfigur<br />
geschaffen worden, die als Atlant die Ecke des vorkragenden ersten Geschosses<br />
trug. Heute ist sie unterhalb eines rekonstruierten Kragsteins funktionslos ausgestellt<br />
und wirkt merkwürdig deplatziert. Vielleicht ist es sinnbildlich, dass – um noch<br />
einmal den Vergleich mit der Casa dei Crescenzi zu bemühen – die <strong>Spolien</strong> im römischen<br />
Beispiel im Zeichen der Renovatio Romae tragende Teile der Konstruktion<br />
sind, während sie in der Neuen Frankfurter Altstadt am Markt 40 und der Braubacherstraße<br />
21 nur appliziert sind und damit letztlich Ornament bleiben.<br />
Wiederholt ist inzwischen schon auf die gravierendste Problematik der <strong>Spolien</strong>verwendung<br />
in der Neuen Frankfurter Altstadt hingewiesen worden. Die historischen<br />
Fragmente sollten gemäß den Verlautbarungen der Protagonisten des Projekts<br />
die Historizität des Neubauprojekts verbürgen. Sie sind allerdings, wie bereits die<br />
wenigen besprochenen Beispiele zeigen, zumeist frei von örtlichen oder zeitlichen<br />
Bindungen weitgehend losgelöst von ihren einstigen Kontexten verbaut.<br />
„Originale <strong>Spolien</strong> […] wie nachgebaute <strong>Spolien</strong> wurden auf<br />
verschiedene Nach- und Neubauten verteilt, so dass hier mit der zeitlichen<br />
Ordnung der Vergangenheit gespielt wurde. Man kann zwar<br />
verschiedene Zeitschichten nebeneinander, aber kaum ein Vorher<br />
und Nachher erkennen. Aus dieser Sicht ist die Neue Altstadt eine<br />
Rekonstruktion der Vergangenheit, die die Geschichte als Abfolge<br />
von Bauten und Stilen absichtlich missachtet und durch die Vielzahl<br />
der Zeitschichten Unübersichtlichkeit produziert.“ 242<br />
Es geht also gerade nicht um Historizität, womit sich die Suggestion des Konstrukts<br />
der sogenannten europäische Stadt, das im Zusammenhang mit städtebaulichen<br />
Rekonstruktionen häufig und im antimodernen Diskurs geradezu normativ<br />
bemüht wird, in ihr Gegenteil kehrt: Denn so diffus der Begriff der europäischen<br />
Stadt auch ist, so gehört doch – gemäß der Definition von Walter Siebel – die<br />
sichtbare Präsenz von Geschichte zu ihren konstituierenden Kennzeichen. 243 Gerade<br />
Geschichte wird aber durch die in Frankfurt praktizierte Art der <strong>Spolien</strong>verwendung<br />
negiert. An ihre Stelle tritt ein unbestimmtes „Früher“, ein touristisch und<br />
kommerziell nutzbares „Damals“, in dem der Zusatz mitschwingt, „als die Welt<br />
noch in Ordnung war“.<br />
Zwar hatten in Frankfurt die Wettbe werbe für einige Unruhe in der Archi tektenschaft<br />
gesorgt, doch richtig be lebt haben die Diskussion erst öffent liche Kontroversen<br />
im Feuilleton 2018 im Vorfeld der Eröffnung aufgrund aktueller politischer<br />
70
42<br />
Potsdam, Landtag Brandenburg,<br />
2013, Peter<br />
Kulka. In dem von Peter<br />
Kulka teilrekonstruierten<br />
Stadtschloss sind im<br />
Treppenhaus in deutlichem<br />
Kontrast die Fragmente der<br />
Atlanten aus dem einstigen<br />
Schloss eingelassen.<br />
Debatten um die Deutung des ganzen<br />
Projekts. Dagegen war und sind in<br />
Potsdam die Retro-Urbanisierung und<br />
ihr <strong>Spolien</strong>einsatz seit Beginn von heftigen<br />
Auseinandersetzungen begleitet.<br />
Das zum einen, weil die Umgestaltung<br />
des Stadtzentrums nicht wie in<br />
Frankfurt „nur“ mit dem Abbruch einer<br />
brutalistischen Großstruktur, sondern<br />
mit der weitgehenden Eliminierung<br />
einer teilweise durchaus qualitätvollen<br />
DDR-Architektur und damit mit der<br />
Negierung der baulichen Erinnerung<br />
an diese Epoche verbunden ist. Zum<br />
andern folgt diese Selektion der Stadtbaugeschichte<br />
auch allzu offensichtlich<br />
den privaten Vorlieben und Interessen<br />
einer kleinen, wirtschaftlich potenten<br />
und medial bestens vernetzten Interessensgruppe.<br />
Auf die damit verbundene<br />
Problematik für eine demokratische<br />
Stadtgesellschaft ist hier nicht<br />
weiter einzugehen, zumal die <strong>Spolien</strong> in<br />
den mit diesen Richtungsentscheiden<br />
verbundenen Auseinandersetzungen<br />
nur eine untergeordnete Rolle spielten.<br />
Der wesentliche <strong>Spolien</strong>bau in der<br />
neubarocken Re-Inszenierung des Potsdamer<br />
Zentrums ist der „in den historischen<br />
äußeren Um- und Aufrissen des ehemaligen Stadtschlosses“ 244 errichtete<br />
Brandenburger Landtag, für dessen Raumprogramm man von einer Fusion der<br />
Länder Berlin und Brandenburg ausging. Zu den Rahmenbedingungen gehörte<br />
eine zweckgebundene 20-Millionen-Spende der Hasso-Plattner-Förderstiftung zur<br />
„größtmöglichen Wiederannäherung des Landtagsgebäudes an Gliederung und<br />
Erscheinung der äußeren historischen Fassade des Potsdamer Stadtschlosses“.<br />
In einem Bieterverfahren ging der Auftrag an einen niederländischen Immobiliendienstleister<br />
mit dem Dresdner Architekten Peter Kulka, der einen funktionalen<br />
Neubau in der zurechtgerückten historisch geformten Hülle errichtete. 245 <strong>Spolien</strong><br />
kamen hauptsächlich an der Giebelfassade der Nordseite zum Einsatz, wo etwa<br />
300 Teile von Säulen, des Gebälks und des Giebels des ehemaligen Schlosses<br />
verbaut sind. Mit ministerieller Genehmigung wurden „infolge der vom Vorgängerbau<br />
abweichenden Maße“ beim Einbau der <strong>Spolien</strong> am Portikus des westlichen<br />
Seitenflügels – entgegen der denkmalpflegerischen Auflagen – mehrere<br />
Säulentrommeln gekürzt. 246 Der Einsatz der <strong>Spolien</strong> diente auch in Potsdam der<br />
(Be-)Deutungen<br />
71
ein breiter steinerner Torbogen wölbt, dessen Zwickel mit Waffenreliefs verziert<br />
sind. Der Bogen stammt von dem im März 1945 bei der Bombardierung von Würzburg<br />
zerstörten Hof Oberfrankfurt (oder Huttenscher Hof), den der Barockarchitekt<br />
Balthasar Neumann 1725 im Tausch erworben hatte. Der Torbogen gehörte zu<br />
Neumanns Umbau, ebenso die sogenannte Neumann-Kanzel, ein Belvedere mit<br />
Pfeileraufbau und schmiedeisernen Geländern, das 1955/56 ebenfalls als Spolie<br />
wiederverwendet wurde und das Wohnhaus in bizarrer Weise krönt. 280<br />
Stärker prägen die Fragmente, die in Hannover in der Leinstraße 33 verwendet<br />
wurden 54, die Gestaltung der Wiederaufbaufassade. Auch hier wölbt sich in der<br />
äußersten Achse des Erdgeschosses eines Wohngebäudes ein halbrunder Torbogen,<br />
über dem in den drei Obergeschossen Balkone hervorkragen. Gewändepfosten<br />
und Bogen sind mit gerahmten figürlichen Reliefs verziert; unter anderem bewachen<br />
zwei gerüstete Krieger den Durchgang. Auf dem Bogen ruhen zwei weibliche<br />
Figuren, die eine Inschriftentafel mit dem Zeichen des Baumeisters, dem Monogramm<br />
JP und der verschlüsselten Jahreszahl 1617 (?) flankieren. Relieffriese mit<br />
Ornamenten, Girlanden und anderem Zierrat gliedern als Bänder die Geschosse.<br />
Aber auch die Fenstergewände, die Gesimse und die beidseitige Eckquaderung<br />
bestehen aus <strong>Spolien</strong>, sodass diese die Fassadengliederung vollständig rahmen<br />
und in dem ansonsten typischen Wohn- und Geschäftsbau der 1950er Jahre eine<br />
Fassade der Spätrenaissance durchscheinen<br />
lassen. Die <strong>Spolien</strong> stammen<br />
von dem achtgeschossigen Bürgerhaus,<br />
das Joachim Pape 1617–1624 an<br />
der Leinstraße errichtete und das der<br />
Schriftsteller Wilhelm Blumenhagen<br />
1839 unter dem Namen „Das Haus<br />
der Väter“ beschrieben hat. Die literarische<br />
Reminiszenz erfolgte nicht zuletzt<br />
deshalb, weil damals schon klar war,<br />
dass der mächtige Bau der Erweiterung<br />
des Leineschlosses zu weichen<br />
hatte. Teile davon wurden 1852 für den<br />
Maler Carl Oesterley sen. in der Langen<br />
Laube wieder aufgebaut. Dieses Haus<br />
fiel 1943 Bombentreffern zum Opfer,<br />
worauf <strong>Spolien</strong> davon 1957 am jetzigen<br />
Standort im Haus Nikolai verbaut<br />
wurden. Die <strong>Spolien</strong> kehrten also in Drittverwendung in die Nähe ihres Herkunftsorts<br />
zurück.<br />
Das sind besondere Beispiele einer in den 1950er Jahren alltäglichen Praxis im<br />
Wohnungsbau des Wiederaufbaus. Winfried Nerdinger hebt hervor, dass die Trümmersteine<br />
auch im Wohnungsbau über die rein materielle Funktion hinaus eine<br />
Symbolik erhielten, „die sie fast den Wert von <strong>Spolien</strong> oder Reliquien erreichen ließ.<br />
Nachkriegsarchitekten wie Hans Döllgast in München oder Hans Schilling in Köln<br />
55<br />
Berlin, Jüdisches<br />
Gemeindezentrum an<br />
der Fasanenstraße, 1958,<br />
Dieter Knoblauch und Hans<br />
Heise. Zeitgenössische<br />
Postkarte<br />
82
56<br />
Berlin, Jüdisches<br />
Gemeindezentrum an<br />
der Fasanenstraße. Die<br />
Portalspolie aus der Synagoge,<br />
die in der Pogromnacht<br />
1938 zerstört wurde,<br />
ist dem heutigen Eingang<br />
vorgestellt und gibt dessen<br />
Dimensionen vor.<br />
integrierten Sichtmauerwerk aus Trümmersteinen in ihre Wohnhausbauten, um an<br />
die historische Tradition des Ortes und an die Kriegserinnerung anzuknüpfen“. 281<br />
Die Integration der Spolie in den Neubau schafft eine Verbindung von diesem zum<br />
zu erinnernden Vorgänger und bildet über den Verlust hinweg ein Element der<br />
Kontinuität.<br />
War der Bruch dramatischer, wurde er deutlicher dokumentiert und die Fragmentierung<br />
inszeniert, indem die <strong>Spolien</strong> vom Nachfolgebau abgesetzt wurden. Das<br />
gilt etwa für das Jüdische Gemeindezentrum in Berlin-Charlottenburg: Der Neubau,<br />
den Dieter Knoblauch und Hans Heise 20 Jahre nach der Pogromnacht der Nationalsozialisten,<br />
in der die Synagoge an der Fasanenstraße niedergebrannt worden<br />
war, errichteten 55, soll vom Scheitern der Vernichtungspläne Hitlers zeugen. Wie<br />
der Vorsteher der Gemeinde, Heinz Galinski, in seiner Ansprache zum Richtfest am<br />
10. November 1958 ausführte, manifestiert sich im Neubau der Wille der Juden,<br />
sich in Berlin zu behaupten. 282 Daher war in Hinblick auf den Abbruch der Ruine der<br />
Synagoge im Oktober 1957 die Firma Philipp Holzmann AG mit der Bergung einzelner<br />
<strong>Spolien</strong> beauftragt worden, um diese – oder dann eine Auswahl davon – im<br />
Neubau des Gemeindezentrums wiederverwenden zu können. 283 Der baldachinartige<br />
Portalvorbau der zerstörten Synagoge ist dem Zugang zum neuen Gemeindezentrum<br />
vorgesetzt und definiert dessen Eingangsbreite 56. Als zweite Spolie<br />
wurde vor der Nordecke der Fassade die südliche der beiden Pfeilervorlagen der<br />
Westfassade, die an die salomonischen Säulen Jachim und Boas erinnern, an einer<br />
Stahlbetonstütze als „Mahnsäule“ aufgerichtet. Sie steht in keinem funktionalen<br />
oder gestalterischen Zusammenhang mit dem Neubau 55. In der Eingangshalle<br />
(Be-)Deutungen<br />
83
94
Objekte und Orte<br />
65<br />
Brüssel, EU-Ratsgebäude,<br />
2016, Philippe Samyn<br />
and Partners. Detail der<br />
Fassade aus aufgearbeiteten<br />
Holzfenstern<br />
Besonders häufig zu <strong>Spolien</strong> werden Bauteile, die sich leicht aus- und wieder<br />
einbauen sowie vergleichsweise leicht transportieren lassen. Das sind neben<br />
den oft zudem wertvollen Säulen, Reliefs, Inschriften, Wappen und anderen Zierteilen<br />
auch Portal- und Fenstergewände sowie die ebenfalls zu den Mobilien zu<br />
zählenden und im Wert meistens deutlich geringeren Türen und Fenster. Diese<br />
haben den Vorzug, dass sie sich in ihrer angestammten Funktion an gut sichtbaren<br />
zentralen Stellen in Gebäuden verbauen lassen. Andere <strong>Spolien</strong> werden<br />
entsprechend präsentiert, um Aufmerksamkeit zu erregen. Der Ort des Bauteils<br />
am Gebäude – schon am Herkunfts-, aber noch mehr am Zielgebäude – ist folglich<br />
ein zu diskutierender Faktor der <strong>Spolien</strong>verwendung. Das in der Einleitung dieses<br />
Buchs genannte Gebäude des Europäischen Rats in Brüssel mit den Fassaden<br />
aus wiederverwendeten Holzfenstern weist auf einen zweiten Aspekt der Lokalisierung<br />
65. Die Fenster sind sorgfältig und vereinheitlichend aufbereitet verbaut,<br />
sodass ihnen ihr <strong>Spolien</strong>charakter nicht anzusehen ist. Es ist die Herkunftserzählung,<br />
wonach sie aus den verschiedenen Ländern der Europäischen Union stammen<br />
sollen, die sie symbolisch auflädt: Ihre Herkunftsvielfalt ist, gleich den oben<br />
als Machtsymbole genannten Beispielen, auch hier Programm. Das unterscheidet<br />
den Brüsseler Europa-Bau von zahlreichen anderen, die ebenfalls Fassaden mit<br />
wiederverwendeten Fenstern haben. Jüngere Beispiele sind etwa die Noorderparkbar<br />
von Overtreders W und Bureau SLA in Amsterdam, die vollständig aus<br />
online erstandenem Wiederverwertungsmaterial – darunter 42 Fenster – errichtet<br />
wurde, ferner die hauptsächlich aus wiederverwendeten Fenstern zusammengebaute<br />
Notunterkunft La Passerelle von Niclas Dünnebacke in Saint-Denis oder der<br />
Pavillon bauhaus reuse von Robert Huber/zukunftsgeräusche auf dem Tempelhofer<br />
Feld in Berlin, konstruiert aus den bei der Sanierung des Dessauer Bauhauses<br />
ausrangierten Fenstern 66. Sie stehen für die heute durchaus demonstrative<br />
Wiederverwendung von grauer Energie, für Bricolage und informelles Bauen. 315<br />
Nicht als <strong>Spolien</strong> anzusprechen sind dagegen die ungezählten aus Gründen der<br />
Objekte und Orte<br />
95
antike Inschrift nicht inhaltlich, sondern<br />
als solche, als Träger ansehnlicher<br />
Schriftzeichen etwas bedeutete“. 370<br />
Aber auch an bedeutenderen und städtischen<br />
Kirchen hatten Inschriften in<br />
Zeiten, die noch nicht so verschriftlicht<br />
waren wie die Moderne, einen Wert<br />
als solche behalten und wurden daher<br />
auch gerne losgelöst von ihrem Inhalt<br />
bzw. über diesen hinausweisend spolial<br />
zur Schau gestellt. Bruno Klein hat<br />
kürzlich auf die Fassade des Doms von<br />
Benevent hingewiesen, in der mehrere<br />
Inschriftenplatten zum Teil auch quer<br />
oder kopfüber verbaut sind 84, 85.<br />
Manche von ihnen stammen wohl von<br />
Vorgängerbauten, einige sind aber auch<br />
zeitgenössisch mit dem romanischen<br />
Bau. Kleins These, dass mit der demonstrativen Zurschaustellung der Inschriften<br />
das Alter der im 10. Jahrhundert zum Erzbistum erhobenen Institution, ihre Altehrwürdigkeit<br />
und Autorität unterstrichen werden sollte, ist überzeugend. Interessant<br />
ist auch der Gedanke, dass durch die Unordnung der Inschriften die erdbebenbedingte<br />
Zerstörungen der Vorgängerkirchen kommemoriert werden sollten. 371<br />
Damit hätten <strong>Spolien</strong> lange vor Francesco Venezias Projekten in Gibellina Nuova<br />
(S. 84f.) durch ihre anschauliche Andersheit und ihren bewusst disparaten Versatz<br />
an solche Katastrophen erinnert.<br />
Manche Inschriftensteine wurden auch wegen einzelner Worte wiederverwendet.<br />
So befinden sich unter den 16 römischen Inschriftenfragmenten an der stadtzugewandten<br />
Südostecke des Pisaner Doms sechs mit Kaisernamen oder -titulaturen.<br />
372 Und die Bauinschrift des spätrömischen Kastells Vitodurum/Oberwinterthur,<br />
die im Mittelalter nach Konstanz gebracht wurde und im dortigen Münster verbaut<br />
ist, wurde wohl deshalb transloziert, weil sie gut sichtbar den Namen Kaiser Konstantins<br />
nennt und sich damit leicht ein Bogen zu Konstanz schlagen ließ. 373 Aus<br />
ähnlichem Grund haben in der Renaissance die römische Familie der Massimo<br />
Inschriften mit MAXIMVS oder die Porcari solche mit dem Gentilnamen PORCIUS<br />
gesammelt. 374 Ganz offensichtlich wurde Steininschriften eine besondere Autorität<br />
eingeräumt, um die behauptete antik-römische Herkunft zu belegen.<br />
Ebenso der Traditionsversicherung diente die Zurschaustellung alter Inschriften<br />
an der Eingangsfront der Franziskanerkirche in Locarno. Sie wurde ab 1538 von<br />
Giovanni Beretta errichtet. Mit der Fassade, deren Mittelschiff die Seitenschiffe<br />
deutlich überragt und die mit kräftigen Lisenen gerahmt ist, nahm Beretta archaisierend<br />
auf die Mailänder Ordenskirche San Francesco Grande Bezug. 375 Die<br />
sorgfältig gefügten Quader der Fassade 86 stammen hauptsächlich vom einst<br />
benachbarten, 1531 abgetragenen Kastell. Von diesem kommt auch die datierte<br />
86<br />
Locarno, San Francesco,<br />
ab 1538, Giovanni Beretta.<br />
Die Kirche wurde unter<br />
Wiederverwendung von<br />
Quadern des kurz zuvor<br />
abgetragenen Kastells<br />
errichtet.<br />
114
87<br />
Trier, sogenannter Frankenturm,<br />
11. Jahrhundert.<br />
Als Türsturz zum Hocheingang<br />
des Wohnturms verwendete<br />
man eine auf dem<br />
Kopf stehend vermauerte<br />
Spolie eines römischen<br />
Grabmals. Der nur teilweise<br />
erhaltene Text lautet<br />
„... BI ET AMA … AE SE …<br />
CONIUG … VIS FEC …“<br />
gotische Inschrift, die den Auftraggeber<br />
Franchino Rusca und den Architekten<br />
Jacobo de Sala gen. Danese für<br />
die im Jahr 1457 erfolgte Vergrößerung<br />
und Erneuerung des Kastells nennt. 376<br />
Eine zweite Inschrift von 1322 erwähnt<br />
einen Garbardo da Lezzeno und stammt<br />
entweder auch aus der Burg oder aber<br />
aus dem Vorgängerbau der Kirche.<br />
Diesem dürften auch die drei Tierreliefs<br />
aus dem 14. Jahrhundert entnommen<br />
sein, die ebenfalls in die Fassade<br />
eingelassen sind. 377 San Francesco in<br />
Locarno steht hier als Beispiel für jene<br />
vielen Inschriftenspolien, die wegen<br />
ihrer Namensnennungen und Jahreszahlen<br />
wiederverwendet wurden. Diese machen die Qualität der Inschriften aus,<br />
mit denen sich die Kirche zugleich als Ort der memoria auswies. Wie in den häufigen<br />
Beispielen, in denen Bauinschriften und andere epigrafische Zeugnisse eines<br />
Vorgängerbaus zur Bekräftigung der Geschichte, des Alters und der Autorität einer<br />
Institution im Nachfolgebau wiederverwendet wurden, mag auch in Locarno der<br />
Aspekt der Bestätigung des Alters des Klosters mit ein Grund für die Präsentation<br />
der alten, datierten Schrifttafeln gewesen sein. 378 Damit war aber kaum bezweckt,<br />
das aktuelle Gebäude zurückzudatieren, denn dafür sind die auch untereinander<br />
stark differierenden Inschriften zu offensichtlich unterschiedlich.<br />
Wiederverwendete Inschriften können aber durchaus falsche Fährten legen und zu<br />
Fehlinterpretationen führen, wie eine in die Moschee el-Kasr in Tunis eingebaute<br />
Tafel zeigt. Sie kommemoriert eine Genueser Stiftung und die Schlusssteinlegung<br />
einer Kirche in Ajaccio auf Korsika im Jahr 1593, das in römischen Ziffern genannt<br />
wird. 379 Den Inhalt der Inschrift negierte man offensichtlich, weil man ihn nicht<br />
lesen oder verstehen konnte, und so schien die antikisierende Schrift zur merkwürdigen<br />
Architektur der Moschee mit ihren sehr dicken Mauern zu passen. Das<br />
hatte zur Folge, dass man noch bis weit ins 20. Jahrhundert den Bau für besonders<br />
alt hielt, glaubte, er stamme aus vorislamischer Zeit und sei eine umgenutzte<br />
Kirche. 380 Dafür gibt es keine Indizien, doch zeugt die weitgereiste, in völlig<br />
fremdem Kontext spolial vermauerte und offensichtlich nicht verstandene Inschrift<br />
davon, dass auch in der islamischen Welt und damit in einer anderen von einer<br />
Schriftreligion geprägten Gesellschaft der Schrift an sich ein Wert zukam. Und wie<br />
in Europa nicht verstandene arabische Inschriften zu fantastischen Erzählungen<br />
anregten – so die kufische Inschrift auf der Rücklehne des Bischofsthrons in San<br />
Pietro in Castello in Venedig, die zur vielfach anachronistischen Legende führte,<br />
es handle sich um den Thron Petri in Antiochia, den der Doge vom byzantinischen<br />
Objekte und Orte<br />
115
Dafür bedarf es keiner vormodernen Architektur, denn auch die Motive der spätmodernen<br />
Konsumwelt können heute positive Erinnerungen wecken. Während<br />
die Horten-Kacheln aus Hamm im Salbker Lesezeichen als „klassische“ <strong>Spolien</strong><br />
in einem neuen Kontext verbaut sind 106, ging es bei den stadtbildprägenden<br />
Fassadenelementen DDR-zeitlicher Vorgänger von Shopping-Malls in den Stadtzentren<br />
von Dresden und Leipzig um die intendierte bzw. realisierte Wiederverwendung<br />
vor Ort. Man bediente sich dabei jeweils auch begrifflich gewissermaßen<br />
Namensspolien. In Dresden gewann Peter Kulka den Fassadenwettbewerb<br />
für die Centrum-Galerie mit einem Entwurf, der die Wiederverwendung der charakteristischen<br />
Aluwaben des von vielen als schützenswert eingeschätzten Centrum-<br />
Warenhauses vorsah. 393 Realisiert wurde der Neubau dann allerdings 2006–2009<br />
aufgrund von „Sachzwängen“ mit formgleichen Neuanfertigungen 90: statt<br />
<strong>Spolien</strong> nun also ein Architekturzitat. In Leipzig dagegen hat man den westlichen<br />
Abschluss der Höfe am Brühl tatsächlich mit der denkmalgeschützten Alu-Fassade<br />
des Vorgängerkaufhauses, der sogenannten Blechbüchse, verkleidet 91. Anklänge<br />
an das vertraute Bild sollen auf diese Weise die Akzeptanz der an beiden Orten<br />
mit Protesten gegen den Abbruch verbundenen Neubauten erhöhen und so die<br />
Gemüter beruhigen.<br />
Ortsverbindungen<br />
Neben den Konnexen durch die Zeiten verbinden <strong>Spolien</strong> auch Orte miteinander.<br />
Bereits Vasari hob in seiner Beschreibung des Konstantinsbogens hervor, dass die<br />
<strong>Spolien</strong> „von verschiedenen Orten nach Rom gebracht wurden“ (S. 19). Bei den<br />
Columnae vitinea war dann die Rede davon, dass sie Rom mit Jerusalem verknüpften.<br />
Ortsverbindungen strebten auch die translationes der verschiedenen Roma-<br />
Secunda-Konzepte an, die schon mit Konstantins neuer Hauptstadt am Bosporus<br />
und der dorthin translozierten Figurenausstattung begannen. Sie setzen sich mit<br />
Karls <strong>Spolien</strong> in Aachen fort und erreichten mit der massenhaften Überführung von<br />
<strong>Spolien</strong> aus Konstantinopel zur Ausstattung der Fassade der Kirche des Dogen von<br />
Venedig einen Höhepunkt. Die <strong>Spolien</strong> repräsentierten jeweils den bedeutungsüberhöhten<br />
Ort, aus dem sie stammten. Zugleich veranschaulichten sie durch<br />
ihre Verfügbarkeit, dass der Herkunftsort seine einstige Macht als unbestrittenes<br />
Zentrum verloren hatte, wenn Teile seiner definierenden Immobilien beweglich<br />
geworden waren. Durch die Einfügung wurde die Spolie wieder Teil einer auch hier<br />
bedeutungskonstituierenden Architektur mit dem Anspruch auf Dauerhaftigkeit<br />
unter veränderten Umständen am neuen Ort. Darin offenbart sich auch die den<br />
<strong>Spolien</strong> eigene Leistung, die sie vom Architekturzitat unterscheidet, das formal<br />
ebenfalls auf Orte und Bauten alludieren kann. Aber Zitate sind im Prinzip unendlich<br />
oft wiederholbar, ohne dass sich am zitierten Objekt etwas verändert. Dagegen<br />
gewinnt mit den <strong>Spolien</strong> der neue Ort zu Lasten des alten. Die translatio ist<br />
ganz handfest: Was zum neuen Ort transloziert wird, fehlt am alten. Paolo Verzones<br />
äußerte daher die These, Papst Hadrian habe mit der Gewährung der Bitte Karls<br />
des Großen, <strong>Spolien</strong> aus Ravenna in das neue fränkische Zentrum nach Aachen<br />
120
überführen zu dürfen (S. 53), die ehemalige Residenzstadt, deren Erzbischöfe sich<br />
als Erben des byzantinischen Exarchats gerierten, bewusst als selbstständiges<br />
Machtzentrum eliminieren wollen. 394 Gegen diese Interpretation spricht, dass der<br />
Papst Karl auch die Ausfuhr von <strong>Spolien</strong> aus Rom genehmigt hatte. Allerdings gab<br />
es auch in Rom Bauwerke, die der Papst gerne aus den Augen hatte.<br />
Tatsächlich in triumphalistischer Weise hat der Sassanidenherrscher Chosrau Orte<br />
zu Lasten des Gebers verbunden, und zwar mit dem spoliengestützten Transfer<br />
von Antiochia als „Roma“ in die Gegend seiner Residenz Ktesiphon (S. 58). Die<br />
<strong>Spolien</strong> repräsentierten in diesem Fall nicht nur die Translation einer Ortsbedeutung,<br />
sondern waren Bestandteil der Deportation des ganzen Orts inklusive seiner<br />
Bevölkerung. Es mag überzogen erscheinen, hier an die Umsiedlungen im Zusammenhang<br />
mit dem Braunkohleabbau in Sachsen oder Nordrhein-Westfalen zu erinnern.<br />
Dass aber auch diese nicht freiwillig vollzogen werden und zuweilen massive<br />
Staatsgewalt den Umzug erzwang, zeigt drastisch der im Transport-Abschnitt<br />
vorgestellte Fall Heuersdorf (S. 170). Ist dort die ganze Kapelle verschoben worden,<br />
waren es im rheinischen Braunkohlerevier bei der Aufgabe des Immerather Doms<br />
zwölf Erinnerungssteine aus dessen Außenmauern. Diese wurden als Versinnbildlichung<br />
der Grundsteine des himmlischen Tempels mitgenommen und sollten in<br />
die neue Kapelle am Umsiedlungsort eingebaut werden. Mit ihnen nehme man,<br />
wie Pfarrer Günter Salentin im Abschiedsgottesdienst erläuterte, ein Stück der<br />
Kirche mit, um am neuen Ort zu zeigen, dass „die Geschichte und die Tradition<br />
des Ortes, vor allem die Geschichte unseres Glaubens und die Tradition unserer<br />
Gemeinde“ weitergehen. 395<br />
Ganze Kreuzgänge sind transloziert worden, um mittelalterliche Kunst auch in<br />
den USA, einem dem europäischen Mittelalter fernen Ort, mit mittelalterlichem<br />
Kontext ausstellen zu können. In New York ist die Mittelalterabteilung des Metropolitan<br />
Museum of Arts in The Cloisters untergebracht, einer Art Museumskloster<br />
im Ford Tryon Park am Nordrand von Manhattan. Dieses soll den wertvollen Preziosen<br />
aus dem europäischen Mittelalter ein angemessenes Ambiente bieten. Nicht<br />
nur in den Bauformen des Museums hat man sich dafür an mittelalterlichen Anlagen<br />
orientiert. Vielmehr wurden komplette Säulensätze gleich mehrerer Kreuzgänge<br />
romanischer Klöster verbaut, die der amerikanische Bildhauer und Kunstsammler<br />
George Grey Barnard zwischen 1906 und 1914 in Südfrankreich erworben und<br />
– gegen wachsenden Widerstand vor Ort – nach Amerika verschifft hatte 92. 396<br />
Im Dezember 1914 eröffnete er an der Fort Washington Avenue in den Hudson<br />
Heights im Norden Manhattans zwischen seinem Wohnhaus und seinem Atelier<br />
ein privates Museum, das er „The Cloisters“ nannte. Der längsrechteckige Ziegelbau<br />
sollte in der theatralischen Inszenierung der Skulpturen und Architekturteile<br />
an eine mittelalterliche Kirche erinnern. Die Eingangsfassade zierte eine Arkatur<br />
mit Säulen und Kapitellen aus der ehemaligen Zisterzienserabtei Bonnefont. Das<br />
Innere war zweigeteilt: Drei Seiten eines Quadrats ergaben ein dreischiffiges<br />
Langhaus mit Emporen, gebildet aus zwei Arkadenreihen übereinander, unten<br />
mit den <strong>Spolien</strong> aus Saint-Guilhem-le-Désert mit rundbogigen Arkaden, oben<br />
Objekte und Orte<br />
121
126
Materialien und ihre Verfügbarkeit<br />
Die bisherigen Ausführungen haben unterschiedlich bearbeitete Bauglieder als<br />
bedeutungsvolle <strong>Spolien</strong> gezeigt, sodass der Differenzierungsversuch von Brian<br />
Ward-Perkins, zwischen „figured carving as ideologically motivated“ und „the<br />
re-use of block-work“ als „surely purely pragmatic“ 407 offensichtlich nicht aufrechtzuerhalten<br />
ist. Über den Herstellungsaufwand der Werkstücke ist diese Trennung<br />
– so sie denn überhaupt erkenntnisfördernd ist – nicht plausibel vorzunehmen.<br />
Neben Ort und Herkunft sind es vielmehr manche Materialien und bestimmte<br />
Bauteile, die bevorzugt wiederverwendet wurden und werden. Dieses Kapitel<br />
nimmt daher die Materialien, ihre Beschaffung und Verfügbarkeit in den Fokus.<br />
Am Anfang stehen die Materialität der Dinge und die ihnen darüber in der Materialikonologie<br />
zugeschriebenen Bedeutungsaspekte. In Zeiten und an Orten, in<br />
denen es Bauwilligen überhaupt möglich war, zwischen unterschiedlichen Materialien<br />
zu wählen, wird es die Neigung gegeben haben, diese Wahl – meistens ex<br />
post – mit Bedeutungszuweisungen zu begründen. Im 20. und 21. Jahrhundert hat<br />
sich dieses Interesse an der Deutung der Materialien durch die immense Vielfalt<br />
des Materialangebots, aber auch, wie Christian Fuhrmeister postuliert, durch die<br />
nichtfigurative Kunst, bei der die Rolle des Materials oft in stärkerem Maße bedeutungskonstituierend<br />
ist als bei figürlichen Objekten, verstärkt. 408<br />
Materialität und Materialikonografie<br />
Die Wirkung von <strong>Spolien</strong> beruht auf ihrer Materialität. Die ganz konkrete physische<br />
Präsenz des Bauteils aus einem Gebäude aus einer anderen Zeit ist das, was <strong>Spolien</strong><br />
auszeichnet und sie von Architekturzitaten und anderen Formen des Referenzierens<br />
unterscheidet. Form, Funktion und Beschaffenheit des <strong>Spolien</strong>materials<br />
können dabei so vielseitig sein, wie Baumaterialien an sich sind. Die Spolie muss<br />
sich nur in einem Zustand befinden, in dem sie als Bauteil auch tatsächlich weiterverbaut<br />
werden kann, oder – denkt man an frei aufgestellte Säulen – zumindest<br />
Materialien und ihre Verfügbarkeit<br />
127
105<br />
Brüssel, EU-Ratsgebäude,<br />
2016, Philippe Samyn and<br />
Partners. Die Fassade<br />
besteht aus wiederverwendeten<br />
Holzfensterrahmen,<br />
die aus dem ganzen EU-<br />
Gebiet stammen.<br />
Verstand sich diese Bewegung als gegenkulturelle Do-it-yourself-Architektur, so<br />
gehörte Moores Haus in Orinda durchaus zum professionellen Architekten-Œuvre,<br />
was schon seine Entwurfszeichnungen zeigen. Das schlägt den Bogen zu den in<br />
jüngerer Zeit international an Zahl und Bedeutung gewinnenden Büros wie Rotor<br />
(Brüssel), baubüro in situ (Basel und Zürich) oder Bureau SLA und Overtreders<br />
W (Amsterdam), die im Zeichen einer ökologisch begründeten Ressourcenschonung<br />
in ihren Projekten alte Bauteile wiederverwenden. Die Herkunft der Objekte<br />
ist dabei in der Regel ohne Signifikanz; Philippe Samyns eingangs genanntes<br />
Europagebäude in Brüssel 105 bildet in diesem Kontext durch die gesuchte und<br />
mit Bedeutung aufgeladene internationale Herkunft des Materials eine Ausnahme.<br />
Meistens ist nicht angestrebt, eine irgendwie motivierte spezielle Beziehung<br />
zwischen Herkunfts- und Zielort herzustellen. Dagegen erfolgte zumindest<br />
in den Anfängen dieser Bewegung die Wiederverwendung durchaus als distinkte<br />
Maßnahme gegen die Monotonie zeitgenössischer Materialien und Formen. Die<br />
142
106<br />
Magdeburg, Salbker<br />
Lesezeichen, 2008/09,<br />
KARO* Architekten und<br />
Architektur + Netzwerk.<br />
Stadtmöbel und offene<br />
Quartiersbibliothek,<br />
errichtet aus den Kacheln<br />
des Horten-Kaufhauses in<br />
Hamm<br />
Wertschätzung der wiederverwendbaren Bauglieder ist also ökologisch und ästhetisch,<br />
unter Umständen auch ökonomisch motiviert. Institutionalisiert ist dieses<br />
Handeln in den Bauteilbörsen, die bereits im vorherigen Kapitel im Zusammenhang<br />
mit dem <strong>Spolien</strong>handel angesprochen wurden (S. 139).<br />
Als zeitgenössisches Beispiel einer aus dem Bauteilhandel gespeisten Architektur,<br />
für die der <strong>Spolien</strong>begriff zutreffend ist, fand das sogenannte Salbker Lesezeichen<br />
einige Aufmerksamkeit in der Architekturszene. 2005 wurde auf Initiative eines<br />
örtlichen Bürgervereins auf einer zentralen Brache im Magdeburger Ortsteil Salbke<br />
mit Bierkisten eine temporäre Freilichtbibliothek errichtet. 471 Der Erfolg dieser<br />
Aktion ermöglichte eine institutionelle Förderung mit dem Ziel einer dauerhaften<br />
Installation, wobei – angeregt wohl durch das Material des temporären Versuchs<br />
– die Nutzung von Recyclingmaterial empfohlen wurde. Als 2007 in der Folge des<br />
Abbruchs des ehemaligen Kaufhauses Horten in Hamm mehrere Hundert sogenannter<br />
Hortenkacheln zum Verkauf angeboten wurden, sicherten sich die Magdeburger<br />
einen Teil dieses Materials zu Sonderkonditionen, mit dem dann KARO*<br />
Architekten aus Leipzig und Sabine Eling-Saalmann Architektur + Netzwerk aus<br />
Magdeburg einen Hybridbau errichteten, der zugleich Gebäude, Möbel und Freiraumgestaltung<br />
ist 106. Während in Dresden und Leipzig die Fassadenelemente<br />
der untergegangenen DDR-Kaufhäuser helfen sollten, die neuen Shopping-Malls<br />
dem nostalgischen Publikum schmackhaft zu machen, ermöglichten in Magdeburg<br />
die Fassadenteile eines paradigmatischen Repräsentanten einer untergehenden<br />
Kaufhaus-Epoche Westdeutschlands die Errichtung einer Stadtteilbibliothek in<br />
Materialien und ihre Verfügbarkeit<br />
143
112<br />
Berlin Friedrichswerder,<br />
Caroline von Humboldt-<br />
Weg, Townhouses, 2007<br />
Konträr dazu entstand eine Generation später und keine zwei Kilometer entfernt<br />
in einer vergleichbaren Situation das sogenannte Townhouse von Jordi & Keller<br />
auf der Friedrichswerderschen Insel 112. Die ebenfalls als Fundstücke auf dem<br />
Gelände sichergestellten Objekte sind zwar auch hier nur auf die Fassade appliziert<br />
und als <strong>Spolien</strong> ausgestellt, doch nimmt die Fassadengliederung auf sie Bezug<br />
und fügt sie in einen kanonischen architektonischen Zusammenhang ein. Wie das<br />
traditionelle klassizistische oder historistische Wohnhaus hat der fünfgeschossige,<br />
drei Achsen schmale Bau das Erdgeschoss<br />
als Sockel ausgebildet, der hier<br />
mit glatten Kalksteinquadern verkleidet<br />
ist. Darüber folgen vier backsteinverkleidete<br />
Geschosse mit hohen französischen<br />
Fenstern mit deutlich artikulierten<br />
steinernen Rahmungen. Ein einfach<br />
profiliertes Gesims über dem ersten<br />
und ein mehrfach profiliertes unter dem<br />
vierten Obergeschoss sind mit <strong>Spolien</strong><br />
bestückt und greifen offenbar deren<br />
Profilierung auf. Zwischen zweitem und<br />
drittem Geschoss verläuft kein Gesims,<br />
vielmehr sind hier die Fenster in der<br />
Achse durch steinerne Flächen verbunden,<br />
sodass in der Gesamtansicht der<br />
113<br />
Berlin Friedrichswerder,<br />
Caroline von Humboldt-<br />
Weg 18, 2007, Jordi & Keller<br />
Architekten. Townhouse<br />
mit wiederverwendeten<br />
Baugliedern vom kriegszerstörten<br />
Vorgänger, die beim<br />
Neubau gefunden wurden<br />
152
Fassade hier eine Art Kolossalordnung anklingt. Oben schließt das Haus mit einer<br />
Attika ab, die als Ort der auffälligsten <strong>Spolien</strong> kräftig ausgebildet ist 113. Ein weit<br />
vorkragendes Gesims durchschneidet quasi als Geison die drei vertikalen Bänder,<br />
die in der Verlängerung der Fensterachsen Stücke eines reichen Kymationfrieses<br />
triglyphenartig inszenieren. Über dem Gesims sind Akrotere in die entsprechenden<br />
Felder eingelassen, wobei ähnlich wie bei den Friesteilen – aber anders gereiht<br />
– jeweils zwei <strong>Spolien</strong> durch eine vereinfachte Neuanfertigung ergänzt sind.<br />
Der Vergleich mit dem zuvor genannten Bau an der Lindenstraße zeigt sogleich,<br />
dass die Differenzen über die unterschiedlichen Aufgaben und die individuell<br />
verschiedenen Architekturauffassungen der beiden Büros weit hinausgehen. Sie<br />
sind signifikant für einen generellen Wandel des Umgangs von Architekten mit<br />
Historie und Ornament, der weiter unten zu thematisieren sein wird (S. 197).<br />
Dafür, dass man <strong>Spolien</strong> ausstellen und sie zugleich in die zeitgenössische<br />
Kon struktion integrieren kann, liefert die gotische Architektur bemerkenswerte<br />
Beispiele. Einleitend habe ich in Übereinstimmung mit Joachim Poeschke<br />
erwähnt, dass ab dem späteren 12. bzw. dem 13. Jahrhundert die convenientia,<br />
die vereinheitlichende Angemessenheit, und damit das Bemühen um die Kohärenz<br />
des Stützensystems in den Vordergrund trat und <strong>Spolien</strong> dadurch meistenorts<br />
seltener wurden. Dort, wo man sie als notwendig erachtete – in der Regel, um<br />
einen Bezug zum Vorgängerbau herzustellen –, suchte man Lösungen, um Säulen<br />
zumindest optisch in das Tragsystem zu integrieren, sie aber zugleich als etwas<br />
Anderes, Besonderes auszustellen. Am Beispiel von San Lorenzo in Neapel wurde<br />
darauf bereits hingewiesen 44, der Magdeburger Domchor bisher erst genannt.<br />
Er sei nun hier ausführlicher erläutert.<br />
Im April 1207 erlitt der von Kaiser Otto I. für das neu gegründete Bistum errichtete<br />
Magdeburger Dom einen gravierenden Brandschaden. Für die Basilika hatte<br />
der kaiserliche Bauherr aus Italien <strong>Spolien</strong>säulen importieren lassen, um damit in<br />
der Tradition Karls des Großen imperialen Anspruch zu dokumentieren. Schon die<br />
Zugriffsmöglichkeit auf antike Monumente Italiens sowie der logistische Aufwand,<br />
diese zu ihrem neuem Einsatzgebiet zu transportieren, ließen diesen Anspruch<br />
evident erscheinen, zumal die Säulen solche Dimensionen haben, dass es sich<br />
heute um die größten antiken <strong>Spolien</strong>säulen nördlich der Alpen handelt. Ein<br />
Teil von ihnen wurde nach 1207 in geradezu demonstrativer Weise im Chor des<br />
Neubaus wiederverwendet 114, für den man sich nach dem Brand entschieden<br />
hatte; weitere Säulen sind heute beim Kaisergrab und im Bischofsgang platziert. 482<br />
In Magdeburg ist allerdings auch sonst in der Zeit vor dem Neubau des Doms eine<br />
Zunahme von Marmorspolien zu beobachten, sodass postuliert wird, der spolienreiche<br />
kaiserliche Vorgänger sei nicht in der Vorgängerkirche unter dem jetzigen<br />
Dom zu vermuten, sondern nördlich davon in dem wohl nie vollendeten Großbau,<br />
dessen Reste nach 2000 archäologisch untersucht wurden. 483 Diesen habe man<br />
noch vor dem Brand der Südkirche aufgegeben, womit <strong>Spolien</strong>material verfügbar<br />
wurde. 484<br />
Praktiken und Wirkungen<br />
153
100 Gebäudeverschiebungen jährlich ausführt 127. 517 Wenn dann das eigentlich<br />
Unbewegliche in Bewegung gerät, sind Stabilität(en) infrage gestellt oder aufgebrochen.<br />
Die Bewegung generiert Bedeutung sowohl für das Objekt wie für den<br />
Transfer, weshalb das Verrücken und Versetzen als kulturelle Praxis in jüngerer<br />
Zeit auch in das Blickfeld der kulturwissenschaftlichen Forschung geraten ist. 518<br />
Schon länger mit dem Thema beschäftigt sich die historische Haus- und Bauforschung.<br />
519<br />
Was macht das Bewegen mit dem bewegten Teil? Die Isolierung vom ursprünglichen<br />
Funktionskontext öffnet Optionen und bietet ein Potenzial, dem Ding auch<br />
eine ganz andere Funktion zu geben oder mit ihm neue Zusammenhänge zu veranschaulichen.<br />
Das gilt für den Prozess der Bewegung, in dem das Objekt durch<br />
seine Isolierung eine neue Funktion erhält, ebenso wie für die Endmontage. Nach<br />
der Dekontextualisierung und dem Bewegen wird durch die Neukontextualisierung<br />
aus dem Fragment wieder Architektur (S. 209).<br />
Der veränderte Kontext führt oft zu Mehr- und Vieldeutigkeiten; Monika Wagner<br />
hat diesen Prozess „vom Ewigen zum Flüchtigen“ als wichtigen Impuls in der<br />
modernen Kunst untersucht, durch ihn werden traditionell mit Dauerhaftigkeit<br />
verbundene Materialien variabel und für verschiedene Arrangements flexibel. 520<br />
Die erwähnte 5 Kontinente Skulptur von De Maria 98 steht dafür als Paradebeispiel,<br />
hatte dieses aus Marmor, Quarz und Magnesit gebildete Objekt doch zuvor<br />
in einer temporären Installation in der Stuttgarter Staatsgalerie eine andere Form.<br />
Bei der <strong>Spolien</strong>verwendung geht der Prozess weiter; die bewegten Dinge werden<br />
als Einfügungen wieder Teil fester Architektur, um dort durch ihre Andersheit aber<br />
zugleich auf die Transformation zurückzuweisen.<br />
Zu unterscheiden ist einerseits zwischen den <strong>Spolien</strong>, die am Ort als Zeugnisse<br />
einer Vorgängerbebauung verwendet werden und deren Bewegung weniger im<br />
Raum als in der Zeit relevant ist, und andererseits denen, die transloziert werden.<br />
Markieren erstere den Status vor der Bewegung, ist bei Letzteren dieses Bewegtwordensein<br />
vielfach Mitgrund ihrer Weiterverwendung. Sie zeigen im neuen<br />
Zusammenhang, dass sie von einem anderen Ort stammen und versetzt wurden:<br />
als Objekt, das als Symbol und zugleich materieller Teil der urbs von Rom an den<br />
neuen Ort transferiert wurde, oder als Erinnerungsglied, das die Menschen vom<br />
alten Ort, der verlassen werden musste, mitgenommen haben, damit sie „Übergänge<br />
zu neuen ‚emotionalen Räumen‘ schaffen können“ 521 (S. 84f.).<br />
Der Akt des Bewegens selbst ist schon deshalb bedeutungskonstituierend, weil<br />
zumindest in vormoderner Zeit die Verrückung architektonischer Objekte von<br />
einiger Größe eine logistische und technische Herausforderung darstellte. Das<br />
gilt besonders ausgeprägt für Binnenorte, weshalb die Peruginer ihre Nachbarstadt<br />
Assisi als Dank für geleistete Hilfe gegen Arezzo auch nur mit einer sehr<br />
bescheidenen Trophäengabe bedenken konnten 22. Die Schwierigkeiten eines<br />
Landtransports von <strong>Spolien</strong> im gebirgigen Gelände werden aus Desiderius’ Bericht<br />
des Säulentransports von Rom auf den Montecassino deutlich (S. 54f.). Möglicherweise<br />
ist es auch bezeichnend, dass es bei den <strong>Spolien</strong> Karls des Großen von<br />
166
der „Bestellung“ der römischen und ravennatischen Säulen bis zu ihrer nächsten<br />
Erwähnung in Aachener Schriftquellen elf Jahre dauerte (S. 56).<br />
Aber auch der Wassertransport per Schiff oder Floss war so kompliziert, dass er<br />
in Schriftquellen oft ausdrücklich thematisiert wird (S. 54). Wer größere Objekte<br />
transportieren wollte und konnte, musste über die Möglichkeiten und Kapazitäten<br />
verfügen, eine entsprechende Infrastruktur zu organisieren und zu finanzieren.<br />
522 Ging es über größere Distanzen und durch fremde Territorien, hieß das<br />
auch, sich mit den Anrainern ins Benehmen zu setzen. Abt Suger von Saint-Denis<br />
erwog daher, sich mit den sarazenischen Feinden zu arrangieren (S. 55). Angesichts<br />
dessen, dass etwa der byzantinische Kaiser dem umayyadischen Kalifen<br />
an-Nasir für dessen andalusische Residenz Säulen angeboten hatte und auch<br />
sonst im Mittelmeerraum der <strong>Spolien</strong>handel über politische Feindschaften hinweg<br />
mehrfach bezeugt ist, 523 erscheint das nicht ganz so verwegen, wie man zunächst<br />
denkt. Aber selbst wenn Suger das gelungen wäre, hätte er das technische Problem<br />
des Transports zu lösen gehabt. Ein Erfolg wäre nicht garantiert gewesen,<br />
denn selbst wenn die <strong>Spolien</strong> auf ein Schiff geschafft waren, drohte immer die<br />
Gefahr eines Schiffsbruchs. Aus der Zeit kurz vor Suger stammt ein entsprechender<br />
Bericht des genuesischen Politikers und Chronisten Caffaro in seinem Liber<br />
de liberatione civitatum Orientis zum Jahr 1100/01: Zufolge dieses Berichts hatten<br />
die Genuesen von Laodicea (Latakia) im vermeintlichen Palast des Judas Makkabäus<br />
– dem es seinerzeit gelungen war, Jerusalem mit Waffengewalt dem Feind zu<br />
entreißen (1 Makk 3), und der daher den Kreuzfahrern als Vorbild und Präfiguration<br />
diente – zwölf Marmorsäulen entnommen und auf ihre Schiffe verbracht.<br />
„Die Säulen hatten einen Umfang von fünfzehn Spannen und waren<br />
verschiedenfarbig, nämlich rot und grün und gelb, und die Menschen<br />
spiegelten sich fast wie in einem Spiegel in ihnen. […] Und das Schiff<br />
mit den Säulen wurde nach Genua gesandt, erlitt aber Schiffbruch im<br />
Golf von Sataliae (Attalia).“ 524<br />
Das Schiffswrack von Marzamemi (S. 155) zeugt vom gleichen Schicksal ein paar<br />
Jahrhunderte früher. Die Säulen der Genuesen waren mit den genannten fünfzehn<br />
Spannen etwa drei Meter lang. Die Länge der Säulen aus den stadtrömischen<br />
Thermen, die Abt Suger im Auge gehabt hatte, kennen wir nicht. Welche<br />
gewaltigen logistischen Probleme aber das Bewegen der großen Thermensäulen<br />
noch 400 Jahre nach Suger bedeutete, ist exemplarisch für die dann in Florenz<br />
als Colonna della Giustizia bekannt gewordene Granitsäule nachzuzeichnen. Papst<br />
Pius IV. schenkte Cosimo de’ Medici in der Folge von dessen Rombesuch im<br />
Jahr 1560 eine elf Meter hohe Säule aus den Caracalla-Thermen. Der Transport<br />
des rund 57 Tonnen schweren Objekts lässt sich detailliert nachvollziehen, insbesondere<br />
durch die regelmäßigen Berichte des Florentiner Botschafters in Rom,<br />
Averardo Serristori, an seinen Dienstherrn in Florenz. 525 Involviert in die Organisation<br />
und Durchführung des Transports waren auch die Architekten Giorgio Vasari<br />
als Koordinator, Nanni di Baccio Bigio in Rom sowie Bartolomeo Ammannati in<br />
Florenz. Im Mai 1562 wurde die Säule in den Caracalla-Thermen zu ihrem Schutz<br />
ummantelt und umgelegt; ab Juli erfolgte – unterstützt von der Fabbrica di San<br />
Praktiken und Wirkungen<br />
167
192
<strong>Spolien</strong> und Entwerfen<br />
Da <strong>Spolien</strong> im Sinn der hier zugrunde gelegten Definition sichtbar und intentional<br />
verbaut werden, ist mit ihrem Einsatz stets eine Gestaltungsabsicht verbunden.<br />
Besonders wenn sie nicht nur akzidentiell auf oder in eine Wand appliziert werden,<br />
ist ihr Einsatz Resultat eines Entwurfsprozesses. Welcher Status den Objekten<br />
dabei zukommt, welche Rolle sie in diesem Prozess spielen, soll im Folgenden vor<br />
allem anhand einiger Beispiele der neueren Architektur diskutiert werden. Begonnen<br />
wird aber wieder mit einem Blick zurück in die Vormoderne.<br />
Erstmals nachweislich und expliziert zum Thema machte Sebastiano Serlio das<br />
Entwerfen mit <strong>Spolien</strong>. Wie erwähnt, formulierte er im 1575 postum publizierten<br />
siebten seiner Bücher über die Architektur in den Kapiteln 41–50 als künstlerische<br />
Herausforderung die Aufgabe, Fassaden mittels vorgegebener Sets wiederverwendeter<br />
Säulen zu gestalten: „colonne, altra volta state in opera, ò antiche ò<br />
moderne“ („Säulen, die zu anderer Zeit an anderem Ort [verwendet wurden], antike<br />
oder moderne“). 612 Die Kunst bestand für ihn darin, mit dem nicht standardisierten<br />
und nicht frei wählbaren Ausgangsmaterial Lösungen zu entwickeln, die dem<br />
Geschmack und dem decorum der Zeit entsprachen 7. Sabine Frommel hat einen<br />
Teil dieser Entwürfe genauer analysiert und vergleichbaren anderen Darstellungen<br />
Serlios gegenübergestellt. Sie konstatierte, im Verlaufe der Projekte des siebten<br />
Buchs lasse sich ein verstärkter Hang Serlios zu capricci und bizzarerie beobachten,<br />
der verbunden sei mit einem zunehmenden Bedeutungsverlust der Wand<br />
zugunsten von komplizierten Säulenanordnungen. 613 Ohne auf das Spezifikum der<br />
Aufgabenstellung – die als Vorgaben angenommenen <strong>Spolien</strong>säulen – einzugehen,<br />
reduziert Frommel die unkanonischen Lösungen auf eine Suche des Architekten<br />
nach Originalität um jeden Preis. Nicht abzusprechen ist Serlio eine Vorliebe für<br />
maximale Kontraste, wenn er als Aufgabenstellung für einen adeligen Landsitz<br />
besonders kleine und für ein einfaches Wohnhaus besonders große Säulenschäfte<br />
verarbeitet haben wollte. Über das Fassadendesign hinaus ging er fallweise auch<br />
auf die Statik ein, wenn er beispielsweise für die besagten kleinen Säulen empfahl,<br />
<strong>Spolien</strong> und Entwerfen<br />
193
206
Fazit: <strong>Spolien</strong>verwendung und<br />
Spoliation als kulturelle Praxis<br />
Weil die Wiederverwendung von Baumaterial etwas Naheliegendes und über<br />
lange Zeit Selbstverständliches war – und es aktuell wieder verstärkt wird –, sind<br />
auch die Gründe mannigfach, warum man einzelne Teile als <strong>Spolien</strong>, das heißt<br />
sichtbar und bewusst intendiert, wiederverwendete und weiterhin wiederverwendet.<br />
Das Phänomen erlaubt entsprechend unterschiedliche Betrachtungsweisen,<br />
das Material schier unbegrenzte Möglichkeiten, es zu gruppieren und zu kategorisieren.<br />
Für die Analyse kultureller Techniken ist es grundlegend, Instrumente zur<br />
Distinktion der Phänomene der realen Welt zu beschreiben. 640 <strong>Spolien</strong> sind Medien<br />
der Distinktionserzeugung. Eine in den obigen Kapiteln immer wieder angesprochene<br />
elementare Differenzierung unterscheidet in der gestalterischen Beziehung<br />
zwischen dem Neubau und der Spolie, ob sich diese zu jenem integrierend<br />
oder distinguierend verhält. Die integrierende Verwendung setzt voraus, dass der<br />
Neubau mit der Spolie und damit mit ihrem Herkunftsbau gestalterische Elemente<br />
teilt, mit der Spolie folglich Ähnlichkeit erzeugt wird. Handelt es sich dabei um<br />
eine rekonstruierende <strong>Spolien</strong>verwendung, geht es um die Re-Inszenierung des<br />
alten, vertrauten oder erinnerten Platz- und Stadtraums. Den formalen Gegenpol<br />
dazu bildet die Dekonstruktion als radikale Variante der distinguierenden <strong>Spolien</strong>anwendung.<br />
Generell haben beide die durch die sichtbare Verwendung angestrebte<br />
Steigerung der Aufmerksamkeit gemein: <strong>Spolien</strong> sind Aufmerksamkeitserreger.<br />
Als Objekte machen sie durch ihre Präsenz aufmerksam auf den Ort ihrer Verwertung,<br />
regen an zur Frage, wie das Ding an den Ort kommt und wo bzw. in welchem<br />
Zusammenhang es verfügbar gemacht wurde.<br />
An einem neuen Bauwerk ist die Spolie ein Mittel der Hierarchisierung: Die Stelle,<br />
an der sie angebracht ist, wird – positiv oder negativ – hervorgehoben. Bezogen<br />
auf das Gebäude und seine Positionierung gilt oft, dass der Ort, an dem sich<br />
ein Bauwerk befindet, das <strong>Spolien</strong> nutzt, insofern akzentuiert wird, als die Spolie<br />
zur Frage nach lokalen Gründen der Verwendung anregt. In scheinbar konträrer<br />
Verweisstruktur können <strong>Spolien</strong> daher sowohl zur örtlichen Kontinuitätsbehauptung<br />
als auch zur zeichenhaften Verbindung einander ferner Orte zum Einsatz<br />
Fazit: <strong>Spolien</strong>verwendung und Spoliation als kulturelle Praxis<br />
207
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